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Meine Familie will was anderes als ich…

IIch habe einen Termin bei IMMA e.V., um dort ein Interview zu führen. Die Beratungsstelle befindet sich in einer ruhigen Gegend, sehr zentral in München.

Ich klingle, gehe die Treppe hoch und die Kollegin von Anna B. öffnet mir die Tür. Hier arbeiten nur Frauen. Die Beratungsstelle ist hell und schön eingerichtet. Jede Beraterin hat einen Raum, in dem in Ruhe Gespräche geführt werden können. Ich darf mir alle Räume ansehen. Es gibt auch eine kleine Küche. Dann gehen wir in das Büro von Anna B.. An der Wand steht ein Regal mit Flyern und Büchern zu verschieden Themen. Die Organisation Wüstenrose berät zu den Themen „Zwangsverheiratung“, FGM-C (weibliche Beschneidung *) und Gewalt „im Namen der Ehre“. Es gibt auch Fortbildungen und Präventions-Angebote. In unserem Gespräch geht es heute um das Thema „Zwangsverheiratung“ – und warum Anna B. das Wort nicht gut findet. Wir setzen uns an einen kleinen Tisch. Anna B. arbeitet schon viele Jahre für Wüstenrose, erzählt sie mir. Ich fühle mich wohl, ich habe das Gefühl, ich kann ihr vertrauen. Ich erzähle erst mal ein bisschen von ArrivalAid. Sie hört aufmerksam zu. In dem Gespräch lerne ich viel dazu. Und über ein paar Themen muss ich danach auch selbst ein bisschen nachdenken.

ArrivalNews: Können Sie sich kurz vorstellen? Wer sind Sie und was machen Sie bei Wüstenrose?

Anna B.: Gerne! Ich berate Menschen, die eine Familie haben, die andere Dinge will als die Person selbst. Zum Beispiel, wenn die Familie sagt, wen jemand heiraten soll. Und die Person das nicht will. Oder wenn die Familie sagt: Du darfst diese Person nicht treffen. Ich höre erst einmal zu. Wir können die Probleme meistens nicht lösen. Aber wir können erklären, welche Möglichkeiten es gibt und wo die Person Hilfe finden kann. Unsere Beratung ist anonym. Und geheim. Ich darf niemandem erzählen, was ich von den Menschen gehört habe.

ArrivalNews: Schafft ihr es auch manchmal, den Konflikt zwischen der Person und der Familie zu lösen?

Anna B.: Ehrlich gesagt, sehr selten. Oft gibt die Familie nicht nach. Für die Menschen, meistens junge Frauen, ist es eine schwierige Wahl: Mache ich, was die Familie sagt? Oder gehe ich weg? Wir helfen dabei, wenn Menschen an einem anderen Ort ein neues Leben beginnen möchten. Aber natürlich ist das auch sehr schwer, die Familie zu verlieren und den Kontakt abzubrechen. Oft müssen die Menschen in eine andere Stadt gehen. Sonst ist es zu einfach, sie zu finden. Die Menschen stehen unter großem Druck. Oft wird Gewalt angedroht. Ich mache diese Beratung schon viele Jahre. Dadurch kann ich meistens ganz gut einschätzen, wie groß die Gefahr ist. Das hilft den Menschen, die richtige Entscheidung zu treffen. Für Menschen, die sehr viel Gewalt erfahren haben, ist es manchmal einfacher, wegzugehen. Schwerer kann es zum Beispiel für die Menschen sein, die eine gute Kindheit hatten. Und jetzt einfach nur die falsche Freundin oder den falschen Freund haben und die Eltern deswegen Stress machen.

ArrivalNews: Wer sind denn die Menschen, die zu euch kommen?

Anna B.: Viele junge Frauen, manchmal auch junge Männer. Den Männern helfen wir auch.

Manchmal sind es auch Paare – oft sind es binationale Paare. Ein Beispiel: Eine syrische Frau und ein afghanischer Mann. Oder Paare, bei denen eine Person aus Deutschland kommt und die andere nicht. Meistens melden sich nicht die Menschen selbst bei uns, sondern Freund*innen, Lehrer*innen, oder Ausbildungsbetriebe. Die bekommen das meistens als Erste mit. Man kann einfach anrufen und das Problem anonym erklären. Wir können auch an Orte kommen, wo die Menschen sind und dann dort sprechen. Zum Beispiel in die Schule oder in den Ausbildungsbetrieb. Damit die Familie auf keinen Fall mitbekommt, dass die Person von uns beraten wird.

ArrivalNews: Ratet ihr den Menschen immer, die Familie zu verlassen?

Anna B.: Nein, auf keinen Fall! Es ist zu 100 Prozent die Entscheidung der Person, was sie tun will. Wenn eine Person sagt: „Ich mache, was meine Familie erwartet“, dann ist das absolut okay. Es wäre falsch zu sagen: „Wenn du deine Familie verlässt, dann wird alles einfach und du wirst ein glückliches Leben führen.“ Das kann ich nicht, denn es stimmt so nicht. Je nach Fall muss die Person selbst für sich den richtigen Weg finden.

Es gibt den Begriff „Zwangsheirat“. Den finde ich schlecht. Das macht die Person zu einem Opfer, das keine Wahl hat. Und so ist es eben oft nicht. Ich habe den Begriff mal aus Versehen verwendet. Die Frau, die ich beraten habe, fand das schlecht. Sie hat gesagt: „Ich habe es selbst entschieden, den traditionellen Weg zu gehen. Und den Mann zu heiraten, den meine Familie für mich ausgesucht hat. Ich wurde nicht gezwungen!“ Daher sage ich lieber: „eine arrangierte Ehe, die man nicht will“.

Und: ganz ehrlich, es ist auch bei uns in Deutschland nicht egal, wen du heiratest. Entscheiden in Deutschland wirklich immer alle ganz frei, wen sie heiraten? Ich glaube nicht. Ich kenne zum Beispiel den Fall, bei dem die Familie gesagt hat: „Wenn du diesen Mann heiratest, dann kaufen wir euch ein Haus“. Natürlich ist das nochmal was anderes als Gewalt. Aber Konflikte und Gewalt gibt es überall. Innerhalb und außerhalb der Ehe. Und es gibt natürlich auch viele Familien aus anderen Ländern, bei denen alle sich ihre Ehepartner*innen selbst aussuchen dürfen!

ArrivalNews: Vielen Dank für das Interview! Es war sehr interessant, mehr über die Arbeit von Wüstenrose zu lernen!

Anna B.: Sehr gerne, es hat mir auch Freude gemacht!

Du bist selbst in der Situation oder kennst eine Person, die Beratung zu diesem Thema brauchen kann? Ruf einfach an! Eine Mitarbeiterin von Wüstenrose (IMMA e.V.) spricht anonym mit dir. Du kannst auch eine E-Mail schreiben!

Telefon: 089/4521635-0

E-Mail: wuestenrose@imma.de

Die Telefonzeiten sind:

Montag: 14:00 Uhr - 16:00 Uhr

Dienstag: 10:00 Uhr - 12:00 Uhr

Donnerstag: 13:00 Uhr - 15:00 Uhr der Zwang, Zwänge etwas tun müssen, sonst passiert Gewalt; Unterdrückung die Beschneidung, -en Operatives Entfernen eines Teils der äußeren Genitalien die Ehre, -n Achtung, Ruf, Anerkennung die Prävention, -en Vorbeugung; etwas, das etwas anderes aufhält anonym unbekannt, ohne Namen zu nennen der Konflikt, -e Streit, Auseinandersetzung etwas abbrechen beenden, aufhören, stoppen der Druck, -e Belastung, Stress jemandem etwas androhen sagen: "wenn du nicht machst, was ich sage, dann passiert etwas Schlechtes" etwas einschätzen beurteilen, bewerten binational aus 2 Nationen/Staaten jemanden verlassen weggehen, aufgeben der Zwang, Zwänge etwas tun müssen, sonst passiert Gewalt; Unterdrückung die arrangierte, -n Ehe, -n die Eltern/die Familie bestimmen den*die Ehepartner*in und/oder den Zeitpunkt der Heirat die Verstümmelung, -en schwere körperliche Verletzung