KULTUR
Im Hotel zur Blauen Kugel
(Teil 2)
Von Karl-Heinz Sparber Ein 50-seitiges Tagebuch aus dem „Hotel zur Blauen Kugel“ im Wipptaler Hof (heute „Vinzenz – zum feinen Wein“) der Familie Stötter in Sterzing gibt Einblick in die bürgerlichen Verhältnisse vor 120 Jahren. Die gesellige Tischgesellschaft unternahm zahlreiche Ausflüge in die Umgebung, feierte dann am Abend am runden Tisch im Familienkreis (Hausherr Karl Stötter hatte elf Kinder) oder mit geladenen Gästen. Am 12. Mai 1891 nahm zum ersten Mal auch Frau Dr. Sophie Piwocki an einem Ausflug nach Stange teil. Überhaupt besuchten immer wieder neue Persönlichkeiten das „Hotel zur Blauen Kugel“ im Stötterhaus: Tanten und Nichten aus Innsbruck, Hall, Lienz, Meran, Bozen und Klausen wechselten sich ab, bekannte Sterzinger nahmen an der geselligen Runde teil: Bürgermeister Heidegger, die Herren von Leutner, Häusler, Obexer, Dalla Torre, Rampold, Domanig und andere mehr. FAMILIE PIWOCKI Dr. Stanislaus Piwocki (1859 – 1922) war aus Lemberg (ursprünglich polnisches Land, 1772 – 1918 Teil der Habsburgermonarchie, heute ukrainisch) nach Innsbruck gezogen und studierte dort Medizin. Nach einigen Jahren als Sekundararzt im allgemeinen Krankenhaus in Innsbruck sowie als Bahnarzt in Pettneu am Arlberg und in Strengen (Nordtirol) wirkte er für zehn Jahre bis 1894 als Kurarzt in Gossensaß. Nun trat er seine Stelle als Hausarzt in Sterzing an und betreute nebenher die Hydro- und Elektrotherapie im neuen Parkhotel „Stötter“. Er engagierte sich im Vereins- und alpinis-
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Dr. Luis Liebl wurde 1916 zum Ehrenbürger von Sterzing ernannt. tischen Leben der Stadt und war zudem ein begnadeter Sänger. Am 24. März 1895 begründete er in Sterzing den Verschönerungsverein. Als ständiges Ausschuss-Mitglied ließ er Prospekte in Auftrag geben, Wege markieren und 1902 den Bau des Weges durch die Vallerbach-Schlucht in den Kühberg-Wald in Angriff nehmen. Seit 1895 war er beitragendes Mitglied des Männergesangvereins und vom 19. Dezember 1900 bis zum 7. Dezember 1901 auch dessen Obmann. Als Altvorstand organisierte und finanzierte er 1902 die Realisierung eines Banners für den MGV. Erster stolzer Fahnenträger war Josef Stötter (1869 – 1926). Am 11. Februar 1902 lud der Männergesangverein seine Mitglieder zu einem geselligen Abend in die „Alte Post“: Dr. Stanislaus Piwocky hielt dabei einen Vortrag über die „Bergkrankheit“. Im Anschluss daran sangen Fräulein Anna Stötter (damals 22 Jahre alt) und Fräulein Lina Nader ein Duett mit Klavierbegleitung. Der Arzt war mit der Innsbrucker Kaufmannstochter So-
fie Trautner verheiratet und hatte fünf Söhne im Alter von sieben bis 14 Jahren, doch war seine Gattin bereits sterbenskrank. Sie verstarb nach sehr langem Leiden an Blutvergiftung am 15. Jänner 1904 in Sterzing. Drei Monate später ehelichte der 45-jährige Witwer Piwocki die Tochter von Karl Stötter, Anna Stötter (25) in Trens. 1908 kam der gemeinsame Sohn Konrad zur Welt. Dr. Piwocki war seit 1898 Vorstand des hiesigen Alpen-Vereins (Sektion Sterzing des Österreichischen Touristenklubs) und als solcher leitete er die Umbenennung der Gilfenklamm in Kaiser-Franz-JosefsKlamm in die Wege. 1904 wurde der Weg über Schmuders zum Hühnerspiel (Amthorspitze) neu gebaut. Zudem nahm der Verein zahlreiche Verbesserungen an der Einrichtung der neuen Sterzingerhütte vor. Im Jahr 1912 wurde Piwocki zum Sterzinger Sprengelarzt im Sprengel 2 ernannt und vertraglich angestellt. Er hatte seine Praxis im Stötterhaus Nr. 159, im „Hotel zur
Blauen Kugel“. Den Sprengel 1 leitete Dr. Alois Liebl (1853 – 1928). Dr. Piwocki war ein sehr geschäftstüchtiger und vielseitiger Zeitgenosse. Am 10. Februar 1913 wurde ihm auf seine Erfindung, eine Zahnreinigungsvorrichtung, das österreichische Patent erteilt. Er war bereits Mitbesitzer des Stötterhauses und am 13. März 1918 kaufte er das benachbarte „Vigil Raber“-Haus Nr. 161 von Dr. Oskar Czibulka, der nach Feldkirch übersiedelte. Seine fünf Söhne bewährten sich als tapfere Soldaten im Ersten Weltkrieg. Paul erhielt 1916 die Tapferkeitsmedaille in Silber, Johann wurde im November 1914 in Olmütz am Oberarm verwundet. Er arbeitete in Koflers Apotheke in Sterzing und später an der Illing’schen Apotheke in Bozen als Pharmazeut. Sein Vater hatte ihn 1922 zum Universalerben eingesetzt, doch bereits am 26. Juni 1926 nahm er sich mit Gift im Kaffee das Leben. Peppi (1895 – 1937) arbeitete sein Leben lang in der Holzhandlung des Karl Stötter. Max war Postoberoffizial in Bozen, doch wurde er am 31. Dezember 1923 beim Telegraphenamt fristlos entlassen. Am 3. Juni 1924 verstarb er an einer Hirnblutung. Er hinterließ seine Frau Franziska mit drei kleinen Mädchen. Dr. Stanislaus Piwocki war zwar ein gebürtiger Pole und somit ein so genannter „Zugewanderter“ aus Lemberg, doch die Sterzinger Bürger nahmen ihren Gemeindearzt bereitwillig auf, wenngleich dies in der damaligen Zeit sehr schwierig erschien: Mit einem „Piwocki“ bezeichnete man damals allgemein einen polnischen Strolch, wie eine Zeitungsmeldung 1910 völlig grundlos vermeldete. Im Jahr 1910 beispielsweise, nachdem Dr. Piwocki bereits seit über 20 Jahren als Gemeindearzt in