Berührt_Katalog zur Ausstellung

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BerĂźhrt ! Katalog zur Ausstellung 2020

Februar bis Dezember 2020

3512 Walkrigen

www.sensorium.ch


Texte: Frédéric Blanvillain Fotos: Sensorium © 2020, Sensorium Stiftung Rüttihubelbad Rüttihubel 29 CH-3512 Walkringen


„Bitte nicht anfassen!“ – Eine Absurdität der modernen Welt. Wenn man die Neugier als Ausgangspunkt zur gesunden Entdeckung unserer Umgebung betrachtet, dann muss man auch berühren. Berühren, um die Welt kennenzulernen; berühren, um Kontakte zu knüpfen; berühren, um sich zu vergewissern. Unsere haptischen Rezeptoren erfüllen im Wesentlichen zwei Aufgaben: Sie stellen eine Verbindung zu anderen her und ermöglichen es uns, unsere Umwelt zu erkunden und zu entdecken.


Berührung: nur ein Sinn? Der Tastsinn ist wohl der am wenigsten erforschte Sinn und, paradoxerweise, derjenige, der uns am vertrautesten ist, da wir ihm im Alltag nur wenig Aufmerksamkeit schenken. Das kalte Wasser eines Bachs auf meinen Händen, der Wind in meinem Gesicht, der beruhigende Kontakt mit einem Geländer, das mich bei einem schwierigen Durchgang leitet – dieses Gefühl weckt meine Achtsamkeit für die Schönheit oder die Gefahren in dieser Welt. Die tröstenden Streicheleinheiten eines geliebten Menschen ermöglichen es mir, die Bedeutung unserer gesellschaftlichen Beziehungen zu verstehen. Wir sind jedoch niemals zu Tränen gerührt, wenn wir die Vielseitigkeit und die aussergewöhnlichen Fähigkeiten unseres Nervensystems bedenken, das wir als „Tastsinn“ bezeichnen. Wir bewerten ihn als passiv oder aktiv, je nachdem, ob wir Informationen erhalten oder suchen. Ist es daher sinnvoll, ihn als einen einzigen Sinn zu bezeichnen? Er liefert unzählige unterschiedliche Informationen, darunter die Wahrnehmung unseres Körpers im Raum und wesentliche physiologische Bedürfnisse. Die Haut umfasst viele mechanische Rezeptoren, um jede Art von Verformungen der Lederhaut wahrzunehmen, wie Druck, leichte Berührungen, Schläge und Verletzungen. Sie umfasst zudem Rezeptoren für Wärme und Schmerz. Die Haut, die untrennbar mit dem Tastsinn verbunden ist, hat selbst auch eine Reihe von Funktionen und unberechenbaren Attributen, wie der Schutz, Zierde und Zugehörigkeit, Erkundung, Ausdruck von Emotionen, das Aussenden von Gerüchen zu verschiedenen Zwecken und der Ausdruck von Kultur oder Persönlichkeit. Der Tastsinn ist in jedem Augenblick unseres Lebens somit genauso präsent wie versteckt. Wenn wir den Begriff „berühren“ verwenden, beziehen wir uns häufig auf den Kontakt der Hand mit einer Person oder einem Objekt, während der Begriff verschiedene Gegebenheiten abdeckt, wie wir gerade gesehen haben.


Berühren, um die Welt kennenzulernen; berühren, um Kontakte zu knüpfen; berühren, um sich zu vergewissern.

Berührung: unsere soziale Bindung? Eine der vorrangigen Funktionen des Tastsinns ist es, gesellschaftliche Beziehungen zu ermöglichen. Er ist der erste Sinn, der sich entwickelt und mit dem wir kommunizieren können. Die Haptonomie ist hierfür ein Beispiel. Durch das Auflegen der Hände auf den Bauch einer werdenden Mutter kann sich ein erster Kontakt zum Fötus entwickeln. Wenn dieser reagiert, ruft diese erste Interaktion bei dem- oder derjenigen, der/die sie erlebt, ein intensives Gefühl hervor. Dieser kurze Augenblick alleine zeigt zwei Funktionen der Berührungen auf: das Gegenüber entdecken können und einen Kontakt mit ihm herstellen, und alles dank eines ersten Körperkontakts. Die Zwillinge nehmen im Bauch der Mutter durch die Berührung, welche sich in den ersten Schwangerschaftsmonaten entwickelt, die Gegenwart des anderen wahr. Dies ist tatsächlich der einzige Sinn, der bereits im Uterus voll funktionsfähig ist. Dank ihm ist es bereits in den ersten Momenten des Lebens möglich, sich selbst kennenzulernen, indem man seine Körperglieder bewegt und sie anschliessend zum Mund führt. Wir wissen mithilfe des Spiegeltests, dass ein Kind ca. ab dem 18. Lebensmonat das erblickte Spiegelbild wahrnimmt und versteht, dass es sich selbst sieht (man setzt ihm eine Markierung auf die Stirn, und erst in diesem Alter beginnt es, sich an die Stirn zu fassen, statt den Spiegel zu berühren). Mit anderen Worten, in diesem Moment nimmt man seinen Körper als untrennbares Ganzes wahr.


Wenn der Auf bau seiner Selbstwahrnehmung durch die Erkundung der eigenen Körperteile beginnt, dann trägt auch der Kontakt zu den anderen dazu bei, dass man seine Existenz realisiert. Wenn man berührt wird, dann unterscheidet man den anderen von sich selbst. „Ich“ bestimmt sich durch das, was sich unter der eigenen Haut befindet, und der/die andere durch das, was aussen ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass einige Philosophen den Tastsinn als eigenständigen Sinn etabliert haben. Er vermittelt uns den Eindruck, zu existieren und uns von den anderen und vom Rest der Welt abzuheben. Ab dem ersten Augenblick nach der Geburt spielt der Tastsinn eine wesentliche Rolle beim Überleben. Es ist nachgewiesen, und unstrittig, dass ein Neugeborenes gefüttert werden muss. Es benötigt zudem, und zwar mit gleicher Priorität, Fürsorge und Zuneigung, was Bowlby und Ainsworth mit der Bindungstheorie nachwiesen. Der Zweite Weltkrieg, wie auch jeder andere Konflikt, führte zu einer erheblichen Anzahl von Waisen. In den Vereinigten Staaten mussten sie mit vielen ansteckenden Krankheiten kämpfen. Es wurde daher beschlossen, die Kinder zu isolieren (um sie vor Viren und Bakterien zu schützen). Sie hatten somit auch keinen Kontakt und keine Zuneigung.

Akousmaflore


Die Sterblichkeitsrate stieg, statt zu sinken, was ein Widerspruch zu sein schien. Hierdurch wurden wichtige Untersuchungen und Erforschungen der Gründe für diese Sterblichkeitsrate möglich. Diese führten zu der Erkenntnis, dass der Mensch ein gleichwertiges Bedürfnis nach Nahrung, Kontakt, Fürsorge und Zuneigung hat, um zu überleben und anschliessend zu wachsen und zu gedeihen. Die Zärtlichkeit gegenüber seinem eigenen Kind (oder jedem Kind, sogar gegenüber Jungtieren) ist daher weder Zufall noch eine Eigenart der Natur, sondern eine Reaktion auf ein tiefes Bedürfnis der Zugehörigkeit. Derjenige, der zärtlich berührt, wird somit in der Welt der Menschen aufgenommen. Er gehört ihr an und lernt durch sie, wie man sich anderen gegenüber verhält, wie man sie in seinem Wirkungsfeld und gelegentlich in seiner Privatsphäre aufnimmt. Wir empfinden alle Freude an Zärtlichkeit, und berücksichtigt man, dass alle unsere Verhaltensweisen nützlich sind, dann kann man mit Vernunft behaupten, dass Zärtlichkeit uns dazu zwingt, die Gesellschaft der anderen zu suchen. Einzelgänger haben häufig ein Begleittier, dessen Kontakt für Beruhigung und Freude sorgt. Der Tastsinn ist mechanisch und geht weit einzig über die Verformung der Haut durch Druck hinaus. Wir besitzen mindestens vier unterschiedliche Rezeptoren, die ihre eigenen Informationen über verschiedene Nervenfasern senden. Einige von ihnen sind besonders auf die Wahrnehmung von Zärtlichkeiten ausgerichtet, wenn die Haut leicht und vorsichtig gerieben wird. Ist es möglich, dass wir einen speziellen Rezeptor für Zärtlichkeiten haben? Eine kürzlich gemachte Entdeckung scheint dies wahrscheinlich zu machen. Es wurden Versuche an einer Person durchgeführt, die an Neuropathie litt.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass einige Philosophen den Tastsinn als eigenständigen Sinn etabliert haben.


Sie war nicht in der Lage, den geringsten Hautkontakt wahrzunehmen oder zu spüren, und dennoch verspürte sie ein gewisses Wohlbefinden, als sie gestreichelt wurde (obwohl sie keine Berührung wahrgenommen hatte). Die zärtliche Berührung beruhigt uns. Dies ist vermutlich auch der Grund, weshalb wir aktiv nach der Gesellschaft anderer Lebewesen unserer Art suchen. Die Sozialisierung stärkt uns und fördert daher das Überleben. Es ist vor allem durch den Tastsinn, dass Beziehungen geschaffen werden. Wenn uns etwas bewegt, sagt man, dass einen etwas berührt.

Berührung: Hängt sie von unseren kulturellen Codes ab? Und berührt man sich deswegen, egal wie und in jeder Situation? Natürlich nicht. Der Tastsinn ist extrem kodifiziert und jede Kultur hat ihre eigenen Codes. Die Haut, welche unseren Körper bedeckt, wird somit zu einem Spiegelbild der Kultur, in der wir leben. Man kann grob sagen, dass der Tastsinn immer mehr zu erwarteten Verhaltensweisen während einer Begegnung gehört, oder wenn man seine Zuneigung kundtut, je mehr man sich dem mediterranen Raum nähert. Je mehr man jedoch nach Norden oder nach Südostasien blickt, desto mehr neigen die Menschen dazu, Distanz zu ihrem Gesprächspartner zu wahren. Die Haut und der Körper erzählen unsere gesellschaftliche Geschichte. Sie drückt zudem Dominanzverhältnisse aus: Wer hat das Recht, den anderen zu berühren? Wer hat das Recht, die Initiative zu ergreifen? An welcher Stelle berührt man den Körper des anderen? Wann gilt es als mangelnder Respekt, als Zeichen der Beruhigung

Ist es möglich, dass wir einen speziellen Rezeptor für Zärtlichkeiten haben?


oder als Eindringen in die Privatsphäre, ja sogar als Aggression? Obwohl die zwischenmenschlichen Beziehungen niemals einfach sind, so sind diejenigen, welche zum Kontakt zwischen den Körpern führen, immer komplex, sofern kein vollständiges Vertrauen zwischen den Betreffenden besteht. Eine Berührung ist niemals unschuldig, unnütz oder überflüssig. Berühren und berührt werden bedeutet, gesellschaftlich zu existieren.

Berührung: die Welt entdecken? Die zweite wesentliche Funktion des Tastsinns ist viel offensichtlicher. Wir entdecken die Welt durch unsere Augen, wir entdecken und lernen sie jedoch mit unseren Händen kennen, und noch umfassender mit unserem Körper. In den ersten Jahren unseres Daseins koordinieren wir unsere motorischen Fähigkeiten und unsere Gefühle, insbesondere jene in Bezug auf den Kontakt. Babys verbringen ihre Zeit damit, auf Gegenständen herumzudrücken, um den Widerstand zu erleben, und sie zu streicheln, um den Baustoff kennenzulernen und wiederzuerkennen.

Die Wahrnehmung von Gewicht


Sie bewerten die Distanz, die zwischen ihnen und einem gewünschten Gegenstand liegt, indem sie mit den Händen durch den freien Raum wedeln. Wir testen Objekte, die uns umgeben, während unserer gesamten Kindheit, mit manchmal desaströsem Ergebnis, zum Beispiel wenn wir einen zerbrechlichen Gegenstand kaputt machen oder uns verbrennen. Es ist jedoch entscheidend, die Grenzen dieser Welt und die eigenen Grenzen kennenzulernen. Im Laufe unseres gesamten Lebens wollen wir das berühren, was uns umgibt, um es besser kennenzulernen. Wer hat denn niemals seine Hand in einen Sack voller Körner oder Linsen gesteckt, wie Amélie Poulain in ihrer Welt? Wer konnte jemals der Versuchung wiederstehen, ein massives Holzmöbel, einen lebenden oder einen gefällten Baum im Wald zu berühren? Wer fühlt denn nicht die Qualität eines Stoffs, bevor er es kauft? Der Heilige Thomas, als er sich Christus gegenübersah, glaubte erst, dass dieser am Leben sei, als er seine Finger in seine Stigmata gesteckt hatte. Es gibt da diese Redewendung „Ich traue meinen Augen nicht“, doch es gibt keine Redewendung, die besagt „Ich traue meinen Händen nicht“.

Berührung: ein gefährdeter Sinn? Der Mensch richtete sich vor einigen Tausend Jahren auf, und als er sich vom Erdboden entfernte, ersetzte er einen grossen Teil seines Geruchssinns durch sein Sehvermögen, was ihm einen wichtigen und offensichtlichen Vorteil gegenüber den Vierbeinern verschaffte. Wir wissen jedoch, dass der Geruchssinn ein wertvoller Verbündeter ist, weshalb wir Hunde zur Hilfe nehmen. Heutzutage investieren wir immer mehr Zeit in eine Art der besonderen Betrachtung: wir lernen andere kennen und knüpfen Beziehungen grösstenteils über elektronische Medien. Unsere Finger dienen in diesem Fall dazu, über eine Tastatur oder einen Touchscreen Zugang zu Informationen, oder zu Freundschaft, zu erhalten. Man erkundet die Welt nicht mehr direkt, oder zumindest immer seltener. Sind wir möglicherweise gerade dabei, unseren Tastsinn durch einen Sinn zu ersetzen, der es uns ermöglicht, eine virtuelle Welt in unserem Kopf zu erschaffen?


Vielleicht wird uns dies ja einen Vorteil verschaffen … aber gegenüber wem oder was? Wenn unsere haptische Sinnesschärfe abnimmt, werden wir uns dieses Sinns bedienen können, wenn wir das Bedürfnis dazu bekommen? Auf eine gewisse Weise möchten wir uns definieren, das einzig Gewisse ist jedoch, dass wir menschgewordene Wesen sind und dass wir nicht überleben werden, wenn wir kein gesundes und physisches Verhältnis zu unserer Umwelt und den anderen bewahren. Wir müssen also berühren und anfassen! Klopfen Sie auf Holz, damit alles gut geht – wenn Sie abergläubisch sind – andernfalls berühren Sie es der Freude wegen, reiben Sie sich an den Bäumen, rollen Sie sich im Moos, tauchen Sie ein in das kalte Wasser unserer Bäche, und falls möglich… nicht alleine.

Die Tastegalerie


DIE STATIONEN Akousmaflore Unser Körper produziert eine feine elektrostatische Energie, die auf Pflanzen als natürliche und lebende Sensoren, die empfindlich auf Energieflüsse reagieren, übertragen wird. Diese von der Pflanze wahrgenommenen Strömungen werden hier in eine klangliche Interaktion umgesetzt. An diesem Kunstwerk können wir uns bewusst werden oder uns daran erinnern, dass die Natur um uns herum lebendig ist. Es ist äusserst wichtig, dass jede Interaktion von Respekt geprägt ist und dass ein Dialog zwischen uns und den Pflanzen entsteht. Diese Installation ist eine Werk der Künstler Scenocosme: Grégory Lasserre & Anaïs met den Ancxt: www.scenocosme.com


Lights contacts

Dieses Kunstwerk lädt dazu ein, reale Elemente, die für uns unsichtbar oder für die wir unempfänglich sind, zu erforschen und zu fühlen. Die Künstler, die dieses Werk geschaffen haben, nennen diese Elemente die energetischen (elektrostatischen) Wolken, mit denen jedes Lebewesen bedeckt ist. Manchmal kreuzen sich diese Wolken und tauschen Informationen aus. Die Technik macht es hier möglich, die aussergewöhnlichen Beziehungen zwischen den Menschen zu enthüllen und nachzuzeichnen. Diese Installation ist eine Werk der Künstler Scenocosme: Grégory Lasserre & Anaïs met den Ancxt: www.scenocosme.com

Pinart

Ein Körper, der in zwei Dimensionen wahrgenommen wird, ist notwendigerweise eine Minderung der Schönheit der Natur. Der Körper ist rund und warm, nehmen Sie sich hier Zeit, jede Kurve zu entdecken.


Der Klangstein

Schall ist ein Druck, der übertragen wird. Er wird in der Luft oder auf dem Boden zu einer Vibration. Diese Schwingung kann von verschiedenen Teilen unseres Körpers gespürt werden, weil sie so kraftvoll ist. Unsere Tastkörperchen sind mechanisch und damit auch druckempfindlich.


Homonkulus

Penfield ist der Forscher hinter dieser Darstellung des menschlichen Körpers. Sie zeigt uns, dass nicht jeder Teil unseres Körpers den gleichen Platz im Gehirn einnimmt. Was den Tastsinn betrifft, haben wir viel mehr taktile (somatosensorische) Rezeptoren auf unseren Lippen und Händen als auf unserem Rücken.


Das Barfuss-Labyrinth

Unsere Haut ist wie eine Festungsmauer zwischen uns und der Welt um uns herum. Sie sch체tzt uns und informiert uns 체ber jegliche Gefahr. Daher ist sie extrem sensibel und kann Strukturen und Materialien sehr gut erkennen. Zum Beispiel sind die beiden Arten von Platten, auf denen Sie hier laufen, gleich, nur sind sie auf der einen Seite grob poliert und auf der anderen Seite rau. Das wirft eine Frage auf: Warum berauben wir uns der Informationen, die uns unsere Fusssohlen geben, indem wir bei jedem Aufenthalt im Freien, unabh채ngig von der Temperatur, Schuhe tragen? Um schneller zu gehen. Barfuss zu gehen, verlangsamt unseren Schritt. Sie haben das auf unserem Barfuss-Pfad sicherlich bemerkt. Falls Sie das Leben zu schnell finden, bringt Sie diese Erfahrung vielleicht auf eine Idee, um es langsamer angehen zu lassen?

Die Temperatur meines Abdrucks

Keine Magie, keine Science-Fiction. Die Markierung, die Sie sehen, ist eine Reaktion der in dieser Wand abgelagerten Pigmente auf W채rme. Diese Malerei wird als Thermochromie bezeichnet.


Die Struktur von Steinen

Bestimmt haben Sie es geschafft, den Stein, den Sie unter dem Tisch berührt haben, auf dem Tisch – mit Ihren Augen – zu finden. Die Übung mag Ihnen leicht gefallen sein. Ihr Gehirn musste jedoch Informationen aus inkompatiblen Systemen koordinieren (elektromagnetische Informationen der Augen und mechanische, räumliche und vibratorische Informationen der Hand). Diese komplexe Fähigkeit wird Intermodalität genannt. Wir trainieren sie von Geburt an, zum Beispiel mithilfe einer Rassel. Diese Rassel macht ein Geräusch, das ich identifizieren kann, sie hat eine Form und eine Farbe, die ich mit meinen Augen erkennen kann und eine Struktur, die ich zu begreifen lerne. All dies ist ein und dasselbe Objekt. Ein von Geburt an blinder Mensch, dem durch eine Operation das Augenlicht gegeben würde, würde das, was er taktil weiss, nicht visuell erkennen. Das Erlernen des Matchings (Sehen–Berühren) braucht vermutlich Zeit – es ist nicht angeboren, sondern erworben.


Das Schleifpapier

Im Alltag reicht uns ein Blick, um ein Material von einem anderen zu unterscheiden. Allerdings ist die taktile Wahrnehmung von Strukturen effektiver als die visuelle Wahrnehmung. Dies gilt insbesondere für Oberflächen mit sehr feiner Körnung. Warum ist das so? Wir erforschen Texturen, indem wir über sie streichen. Dann laufen zwei Prozesse ab: eine räumliche und eine vibratorische Darstellung. Also eine komplexe Verarbeitung der Informationen, die sie präziser macht. Zusammen mit dem Sehen passiert etwas Verblüffendes: Man muss die Oberfläche mit den Fingern viel schneller erkunden, um die Textur zu spüren. Umgekehrt verschwindet beispielsweise ein Gittermuster, wenn wir uns schnell vor ihm bewegen, aus unserem Blickfeld.


Bauen im Dunkeln

Beim Bauen wird deutlich, dass die Orientierung von Objekten im Raum ohne visuelle Hinweise schwieriger wird. Die Berßhrung ist effektiv zur Mustererkennung, zur Identifizierung von Materialien, verarbeitet aber gleichzeitig nur wenige Informationen. Sehen erfasst unmittelbar und auf einen Blick den kompletten Raum, bleibt aber andererseits oberflächlicher.


Tragen = Tasten?

Ein Kleidungsstück kann körpernah oder weit, kurz oder lang geschnitten sein. Wie fühlen sich die diversen Varianten an? Können sie eine Verbindung herstellen zwischen dieser taktilen Erfahrung und die Art der Kleidung die sie bevorzugen? Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Form der Kleider in unseren westlichen Gesellschaften stark verändert. Die damaligen Kleidungsvorschriften geben Auskunft über die Schwerpunkte einer Zeit und einer Gesellschaftsschicht. Heute haben wir mehr Freiraum um auszuwählen was wir tragen wollen. Wie weit aber lassen wir uns noch von aussen beinflussen?

Kunst zum Anfassen

Wenn Sie das hier vorgestellte Bild durch Berührung erkannt haben, liegt das an unserer regelmässigen Praxis, das, was wir sehen und berühren, zu assoziieren. In den ersten Monaten unseres Lebens erkunden wir die Welt mithilfe unserer Sinne, von denen jeder auf eine bestimmte Art und Weise funktioniert. Es ist die wiederholte Übung, beide Modalitäten miteinander zu verbinden – wie die Flasche, die ich berühre, und die Flasche, die ich sehe –, die uns erlaubt, die Flasche durch Sehen und Anfassen als einen Gegenstand wahrzunehmen. Eine Person, die von Geburt an blind ist und erst spät im Leben sehen kann, braucht sehr lange, um zu erkennen, was sie sieht, obwohl sie die meisten Gegenstände durch Berührung kennt.


Die Wasserklangschale

Das Streicheln oder Reiben der Henkel lässt die Schale nicht kalt, sie reagiert. Durch die durch Reibung erzeugte Schwingung vibrieren die Schüsselwände. Wir hören diese Vibration und sehen sie im Wasser. Auch uns sind Streicheleinheiten nicht egal. Sie wirken sich positiv auf das Kind aus, sie beruhigen und geben ihm ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Streicheln schafft eine sehr starke Bindung zwischen Menschen. Wie das Higgs-Teilchen, das erklärt, wie Elementarteilchen eine Masse bilden, würde das Streicheln das Zugehörigkeitsgefühl jedes Menschen zur Menschheit erklären.


Die Wahrnehmung von Gewicht

Es ist etwas Besonderes, das Gewicht eines Gegenstands zu beurteilen, da dies nicht mit Rezeptoren in unserer Haut, sondern in unseren Muskeln, Sehnen, Gelenken und Knorpeln passiert. Die Wahrnehmung von Gewicht entspricht damit eher einer Erfahrung von Gleichgewicht als der des Erforschens eines Objekts.


Der Barfussweg

Warum tragen wir Schuhe? Stellt man diese Frage Schülerinnen und Schülern, bekommt man immer die gleiche Antwort: „Um sich nicht zu verletzen.“ Dennoch sind viele vergangene und gegenwärtige Zivilisationen ohne Schuhe ausgekommen. Die Erklärung liegt vielmehr in dem Rhythmus, den unsere modernen Gesellschaften vorgeben: Wir tragen Schuhe, um uns schneller bewegen zu können.


Die „Bauerle“-Wasserschale

Durch die Oberflächenspannung des Wassers, die das Ergebnis der Organisation von Molekülen ist, können wir Druck auf Wasser ausüben. Durch das Spiel mit diesem Druck gelingt es uns, ein Wellenphänomen zu erzeugen und den Eindruck zu erwecken, durch Berührung mit dem Wasser zu kommunizieren.


Der Dunkelraum

Unsere Geschmacksrezeptoren sind chemisch, sie sind diejenigen, die es uns erlauben, die Aromen zu riechen. Aber auch die Konsistenz dessen, was wir essen, wie sie von unseren taktilen (mechanischen) Rezeptoren wahrgenommen wird, trägt wesentlich zu dem Genuss bei, den wir daraus ziehen.

Der Schmerz

Sie haben gerade eine Illusion von Schmerz erfahren. Die Hand erhält widersprüchliche Informationen zu „heiss“ und „kalt“. Sie schickt sie an das Gehirn, das sie nicht interpretieren kann. Im Zweifelsfall betrachtet unser Nervensystem diese Information als Gefahr und sendet ein Schmerzsignal. Würden Sie es noch einmal wagen, wenn Sie wüssten, dass es kein wirklicher Schmerz ist? Sammlung Museum der Hand UNIL-CHUV.


Die Gummihand

Der Besitz des eigenen Körpers ist ein grundlegender Aspekt der Selbstwahrnehmung. Das Gefühl unserer Körperlichkeit und körperlichen Präsenz kommt sowohl von den ständigen Botschaften, die das Gehirn von allen Teilen unseres Körpers erhält (Propriozeption), als auch von unserem Geist, der unsere Körperwahrnehmung beeinflussen kann. Hier erleben Sie eine Illusion, wie sie mit jedem Sinn erscheinen kann. Sammlung Museum der Hand UNIL-CHUV.


Was bedeutet „lauwarm“?

Wärme oder Kälte empfinden wir nicht absolut, sondern immer in Bezug auf eine Umgebungstemperatur oder im Vergleich zur Körpertemperatur. Deshalb erweckt die Gewöhnung an zwei unterschiedliche Temperaturen den Eindruck, dass der mittlere Balken je nachdem, welche Hand ihn berührt, heiss oder kalt ist – obwohl er in Wirklichkeit der Raumtemperatur entspricht. Sammlung Museum der Hand UNIL-CHUV.


Gefühlte Temperaturen

Wir definieren Kälte oder Wärme in Abhängigkeit von unserer Körpertemperatur, sodass ein Gegenstand mit einer Temperatur von 20 Grad C. als kalt empfunden wird. Warum vermittelt nicht jedes Material auf dieser Platte den gleichen Eindruck von Kälte? Weil jedes von ihnen die Temperatur mit einer anderen Geschwindigkeit leitet: Metall wird die Wärme sehr schnell von unserem Körper auf die Platte, auf die wir unsere Hand legen, übertragen, wodurch ein Kältegefühl entsteht. Auf der anderen Seite wird Holz, das ein schwacher Leiter ist, unsere Wärme so langsam übertragen, dass wir es gar nicht merken. Wir haben also den Eindruck, dass wir etwas berühren, dessen Temperatur der unseres Körpers entspricht.

Eine taktile Botschaft

Unsere Dermis (Haut) ist mit mechanischen Rezeptoren durchzogen, die den Druck erkennen. Obwohl diese ungleichmässig über den Körper verteilt sind (viele auf den Fingerspitzen und nur wenige auf dem Rücken), spüren wir den Kontakt überall und können uns sogar ein geistiges Bild davon machen.


Die Tastegalerie

Wie Sie erfahren haben, gibt es fünf Eigenschaften eines Gegenstands, die allein durch Berührung erkannt werden können. Was aus dem Tasten den komplexesten Sinn macht, den wir haben. Das Sehvermögen verrät uns im Vergleich vier Eigenschaften: Temperatur und Gewicht entfallen, dafür kommt Farbe hinzu.


Essen ist ein multisensorisches VergnĂźgen

Unsere Geschmacksrezeptoren sind chemisch, sie sind diejenigen, die es uns erlauben, die Aromen zu riechen. Aber auch die Konsistenz dessen, was wir essen, wie sie von unseren taktilen (mechanischen) Rezeptoren wahrgenommen wird, trägt wesentlich zu dem Genuss bei, den wir daraus ziehen.


Olivias Kuriositätenkabinett

Diese Station wurde von der bildenden Künstlerin Olivia Malena Vidal gestaltet. Sie empfängt Besucher in einem persönlichen Raum, der im Gegensatz zu den Renaissance-Kabinetten keine ungewöhnlichen, den Gelehrten vorbehaltenen Gegenstände präsentiert. Auch die Archivierung von Sammlungen, wie sie in den Vitrinen leidenschaftlicher Entomologen des 19. Jahrhunderts erscheinen, steht nicht im Mittelpunkt. Dennoch bietet sie einen geheimen Garten, den der Erinnerung, des Gedächtnisses, der die gesammelten, dekonstruierten und dann zusammengeflickten Gegenstände und Bilder wieder zusammensetzt. Das Kabinett ist das der „naturalia“, Exemplare der Natur, und das der „artificialia“, seltener oder bizarrer Objekte. Modifiziert sind die Gemälde, Zeichnungen und Objekte ein verzerrtes Echo der raffinierten Ästhetik vergangener Jahrhunderte: Farben, Materialien, Formen sind von besonderem Charakter. Die Besucher sind eingeladen, mit den Augen und durch Berührung in sie einzutauchen. Das Kabinett ist nicht mehr der heilige und eisige Ort wie das traditionelle Museum, sondern ein Juwel, dessen Sensorium den perfekten Rahmen bildet.


GEMEINSCHAFTSAUSSTELLUNG

„Berührt: Kabinett der künstlerischen Kuriositäten“ Marie Acker

marie.acker7@gmail.com - www.marieacker.net

Valérian Felder

valerian.felder@gmail.com - www.vfelder.com

Agnès Ferla

mail@agnesferla.ch - www.agnesferla.ch

Carina Kirsch

carina.kirsch@posteo.eu

Isabelle Klaus

ik@artamis.org - www.isabelleklaus.ch

Esther Michaud

mcd.esther@gmail.com - www.esthermichaud.fr

Dylan Quiquerez

dylan@quiquerez.ch - www.dylan.quiquerez.ch

Myriam Streiff

myriam.streiff@yahoo.fr - www.myriamstreiff.ch

Yaeka Tabara

niiya1120@outlook.fr - www.niiya1120.wixsite.com/yaeka

Olivia Malena Vidal

ovidalch@gmail.com - www.oliviamalenavidal.com


EXPOSITION COLLECTIVE

“Touché : cabinet de curiosités artistiques” Marie Acker

marie.acker7@gmail.com - www.marieacker.net

Valérian Felder

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Agnès Ferla

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Carina Kirsch

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Dylan Quiquerez

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Myriam Streiff

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Yaeka Tabara

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Olivia Malena Vidal

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