Wo sitzt wer eigentlich?

Wo sitzt wer eigentlich?

Und warum stellt man sich nahezu ständig Fragen ?

Beobachtungen zur Dramaturgie des Alltags.

Master-Thesis zur Erlangung des akademischen Titels „Master of Advanced Studies“ (Angewandte Dramaturgie), „MAS“ Wo sitzt wer eigentlich?

Und warum stellt man sich nahezu ständig Fragen ?

Beobachtungen zur Dramaturgie des Alltags.

Vorgelegt durch: Andreas Wilhelm Geis Betreut von : Mag.a Barbara Kremser, PhD Institut für Kulturmanagement und Gender Studies ( IKM) Universität für Musik und darstellende Kunst Wien ( mdw)

Herzlichen Dank meiner Betreuerin Mag.a Barbara Kremser, PhD und Prof. Dr. Carl Hegemann für die inspirative Unterstützung bei dieser Arbeit.

„Wer bloß an meiner Pflanze riecht, der kennt sie nicht, und wer sie pflückt, bloß um daran zu lernen, kennt sie auch nicht“ ¹

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Hölderlin, Hyperion oder Der Eremit in Griechenland, S. 9

10 20 24 34 44 56

64 72 80 88 98 106 110 118

Einleitung/Abstract Wie hat es begonnen Rien à faire.

Night on Earth Ferm Ferm Blumen verkaufen im Lockdown Stage me tonight Mütze Cafe am Heumarkt Je promène le chien Sparkling Squid Rest and Reservoir Only over my dead body…

Conclusio

Einleitung/ Abstract

Das Studium ist mein Projekt: So habe ich meine Idee für das neben dem Motivationsschreiben verlangte Projektvorhaben zur Bewerbung zum Studium für angewandte Dramaturgie vorgestellt.

Meine berufliche Herkunft ist der Gestaltung und dem Handwerk zuzuordnen und zunächst einmal fern von jedweder Beziehung zur Dramaturgie. Zumindest dachte ich so.

Mein Wissen über das Theater, das, was ich dort bislang gesehen hatte und glaubte, verstanden zu haben, war immer das Wissen und die Reflexion eines Rezipienten und nie das einer Person, die sich aus beruflichen Gründen mit dem, was auf der Bühne geschieht, beschäftigt.

Tatsächlich war dies auch einer der Gründe, warum ich keinerlei Ansätze für ein konkretes Theater bezogenes Projekt vorweisen konnte.

Dieses für mich absolute Neuland, sich vier Semester auf eine professionelle Weise mit diesen dramaturgischen Strukturen zu beschäftigen, war und ist in der Tat ein Projekt für mich, welches ich in meiner Masterarbeit genauer betrachten und erzählen möchte.

Was bedeutet Dramaturgie eigentlich? Befragen wir Menschen in unserer Nähe dazu, hat jede/-r eine Vorstellung und fast jede/-r hat aber auch keine. Woran liegt das?

Ich komme bei meinen Überlegungen immer wieder zu einem Punkt, an dem ich feststelle, dass sich das, was ich unter dramaturgischem Handeln oder dramaturgischen Strukturen verstehe, dort, wo sie absichtlich und gesteuert vollzogen werden und da, wo sie unbeabsichtigt geschehen, Überschneidungen stattfinden.

Kann ein sich Bewegen im täglichen Leben von dramaturgischen Wegen durchzogen sein und muss sich dieses Navigieren nicht zwangsläufig auf gesteuerte, durchdachte szenische Handlungen reduzieren, oder ist diese Überlegung viel-leicht ein Denkfehler?

Auf der Bühne, auf die wir diese Handlungen heben, bekommen sie eine besondere und spezielle Aufmerksamkeit, da wir sie von ihrem eigentlichen Ursprung entfernen.

Durch den Anspruch der Kunst erkennen wir in ihnen oder glauben zumindest, dass wir dies tun, eine andere Form der Wirklichkeit im Gegensatz zum täglichen Leben, das zumeist auf völlig ungelenktem Weg dem Prinzip einer Tragödie und Gott sei Dank auch häufig dem einer Komödie folgt. Ist es das, was den Unterschied von angewandter Dramaturgie zur Dramaturgie im klassischen Sinne macht?

Gibt es wirklich eine Dramaturgie des Alltags oder ist das, was ich mittlerweile neu oder anders in meinem Alltag sehe, nur deshalb so da, weil mein Blickwinkel sich verändert hat?

Mein Vater starb im Februar vor 15 Jahren, es war Faschingszeit.

Auf dem Land, dort, wo ich aufgewachsen bin, ist es nicht wie in der Stadt üblich eine Parte zu verschicken, das würde bedeuten, diese an Hunderte von Menschen zu adressieren.

Die übliche Vorgehensweise ist der Gang zur lokalen Zeitung, um dort eine Traueranzeige aufzugeben.

An einem verschneiten Februartag gingen also meine Mutter und ich nach telefonischer Vorankündigung zum Nassauer Boten, so hieß die Zeitung damals, und baten um eine Mitarbeiter*in, welche sich unserem Anliegen annehmen sollte.

Wir nahmen in einem kleinen Raum Platz und warteten.

Nach einiger Zeit saß uns ein als indigene Person der Vereinigten Staaten von Amerika verkleideter Mensch mit einem Federkopfschmuck gegenüber.

Sichtlich unerfreut darüber, dass wir ihn offensichtlich beim Faschingsumtrunk gestört hatten, nahm diese Figur sich widerwillig unserem Begehren an, unterwanderte sämtliche Versuche nach individueller Gestaltung unseres Ansinnens und verschwand relativ rasch wieder, um sich zurück in die Runde anderer maskierter Menschen zu begeben.

Ausgedacht und komponiert würde dieses Szenario Gefahr laufen, als geschmacklos und an der Grenze dessen, was erlaubt ist, gehandelt zu werden. Schließlich war der Anlass das Ableben meines Vaters.

Hinzu kommt, dass auch die während der mittlerweile vergangenen Zeit geführten Diskussionen, beispielsweise jene über kulturelle Aneignungen, ein solches Setting gar nicht mehr zulassen würden, und die Debatte darüber an sich schon die Dramaturgie des Szenarios völlig verändert hätte.

Passiert ist dies alles jedoch völlig ungelenkt und zufällig und mit Abstand betrachtet muss ich noch immer über diese irgendwie geniale, zufällig entstandene Komödie lachen.

Die Sichtweise auf das Geschehen um mich herum hat sich durch die neuartige Beschäftigung mit all diesen Fragen rund um diese dramaturgischen Strukturen verändert. In den einzelnen Seminaren des Studiums wurden diese von den unterschiedlichsten Blickwinkeln her diskutiert.

Die folgenden meiner Masterarbeit zugrunde liegenden Texte beschäftigen sich damit, diese einzelnen Bausteine erneut zu betrachten, zusammenzufügen und mit diesem Zusammenfügen einen Bogen zu dem, was täglich so passiert, zu spannen.

„Life is not what it seems“, wie wir spätestens seit Falco wissen.

„Jedes Phantasiegebilde, jedes Geschöpf der Kunst muss sein Drama haben, um zu existieren, das heißt ein Drama, dessen handelnde Person es ist und durch das es zur handelnden Person wird. Das Drama ist der Seinsgrund der Person; es ist ihre Lebensfunktion, die sie braucht, um existieren zu können." 2

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Photo Archiv Andreas Geis Pirandello, Sechs Personen suchen einen Autor, S. 19.

Wo sitzt wer eigentlich?

Und warum stellt man sich nahezu ständig Fragen, ist hier die Frage, so denke ich irgendwie: So… oder so ähnlich, glaube ich zumindest.

Wie hat es begonnen

Irgendwie war es einfach da, oder ist es vielleicht ein Mythos, ein selbst gemachter, gebauter erdachter M. …..also mir ist dieses Kürzel M. in vielfacher Weise einfach sympathischer, warum weiß ich eigentlich gar nicht, aber es ist so.

Also irgendwie war es einfach da, hat sich in meinen Kopf eingebrannt, obwohl ich doch auch sagen muss, dass es mir von Zeit zu Zeit gelungen ist, einfach die Gedanken abzuschalten.

Aber auch hier weiß ich schon wieder nicht, ob das wirklich so stimmt, denn die meiste Zeit oder sagen wir sehr häufig bin ich damit beschäftigt, darüber nachzudenken, nicht nachzudenken, so oder so ähnlich glaube ich, tatsächlich, könnte es sein.

Wie auch immer, ich habe festgestellt, dass ich das eigentlich gar nicht so schlimm finde, oder zumindest, dass ich beim darüber Nachdenken zu keinem klaren Ergebnis komme, also ich rede jetzt davon, ständig nachzudenken und über die Frage, ob das alles schlimm ist für die Gesundheit, und so ne Nummer wie, mach doch mal ne Pause, sonst liegst du irgendwann auf dem runden Haufen, so sagen die Menschen in Hessen (warum sagt man das eigentlich so, auf dem runden Haufen irgendwie schräg und dann nicht mehr rund und schon wieder eine Frage), aber dann denke ich mir immer, das musst Du doch, das musst Du und manchmal tröste ich mich selbst, in dem ich dann sage …… musst Du nicht.

Aber das ist nicht so einfach.

Ich möchte nicht ständig über etwas nachdenken, aber genauso will ich es dann plötzlich doch.

Deshalb weiß ich nicht, wie das ist mit dem M., aber vielleicht sollte ich darüber einfach nicht so viel grübeln, könnte sein, dass es dann einfacher ist, wird oder sein kann, so irgendwie.

Jedenfalls war es einfach eines Tages da, gehen wir jetzt einmal davon aus, dass das so stimmt, es war da, hat herumgesessen und irgendwas erzählt. Völlig verrückt könnte man meinen, ist es aber nicht, denn bei genauerem Nachdenken ist es völlig klar, dass es so hat kommen müssen.

Warum ausgerechnet bei mir, vielleicht hat das so sein müssen oder vielleicht gibt es tatsächlich so etwas wie Bestimmung, usw., aber das lassen wir jetzt einfach und ich nehme es so hin, sonst müsste ich noch über Religion nachdenken und dann würde ich höchst wahrscheinlich wirklich verrückt, oder so ähnlich irgendwie, also jedenfalls es war da und bei mir und offensichtlich wollte es zu mir, das muss als Antwort genügen.

Seit dem Tag, wo es da war, war es wirklich da, also ich meine ständig in meiner Nähe und manchmal habe ich gedacht, hau ab, aber um die Wahrheit zu sagen, wollte ich das auch nicht wirklich.

Photo Archiv Andreas Geis

Rien à faire.

Rigel Flammend und Alex Stuchlik lernte ich bei einem von den Wiener Festwochen organisierten Workshop kennen.

Beide sind Schauspieler inklusiver Theatergruppen und Menschen mit kognitiven Einschränkungen.

Der Workshop war Teil eines Labs zum Thema „Wie demokratisch kann Theater sein“ und wurde geleitet von Bruce Gladwin und Scott Price, Intendant und Schauspieler des Back to Back Theatre, einer inlusiven Theaterkompanie aus Australien.

Gemeinsam in einer zehn Menschen zählenden Gruppe versuchten wir den Fragen nach Demokratie, Gleichberechtigung und Toleranz im Theaterbetrieb nachzugehen, wir diskutierten viel, machten Bewegungsübungen und vor allem arbeiteten wir an einer kleinen Stückentwicklung, die wir miteinander am Ende des Workshops aufführen wollten. Der Bühnenraum, in dem wir uns drei Tage lang bewegten, war eine Industriehalle, die aktuelle Spielstätte des Theater Brut. Diese ist im hinteren Teil der Bühne mit einem Vorhang von einer Wand abgetrennt.

Unser erarbeitetes Stück folgte keiner klaren erzählerischen Struktur, vielmehr wollten wir die Vorführung aus vielen einzelnen szenischen Bildern zusammensetzen und die Dramaturgie sollte durch Emotionen eine durchgängige Struktur bilden. Der Beginn der Aufführung war so konzipiert, dass Rigel und Alex seitlich den Raum betreten, diesen durchqueren und den offene Vorhang auf der Rückseite der Bühne schließen sollten. Mit dem Schließen des Vorhangs fand genau das Gegenteil von dem statt, was normalerweise zu Beginn einer Aufführung passiert, wir schlossen den hinteren Raum, um den Vorderen zu öffnen.

Die Szene entstand zufällig bei einer Probe, während die beiden den Vorhang aus welchem Grund auch immer schlossen und dies mit einer solch absoluten Hingabe und Genauigkeit taten, was alle zu diesem Zeitpunkt nicht Involvierten gebannt zuschauen ließ.

Sie zogen den schwarzen Stoff, strichen ihn glatt, zogen ihn weiter, strichen ihn erneut glatt und wiederholten das Ganze so lange bis die vordere Kante exakt mit der Markierung am Boden bündig abschloss.

Was sie dabei nicht bemerkten war, dass sich der Vorhang im hinteren Teil durch das Ziehen und Glattstreichen weiterbewegte und somit wieder öffnete.

Dieser Auftritt hatte eine anrührende Komik von ungeheurer Kraft, die es nahezu unmöglich machte, sich ihr zu entziehen. Es wurde überlegt, das, was hier gerade geschah, ins Spiel zu integrieren, aber dies setzte voraus, dass die Szene wiederholbar war, was die meisten bezweifelten.

Aber egal wie oft Rigel und Alex den Vorhang bewegten, sie taten es stets mit der gleichen Konzentration und Sorgfalt, die sich auf das Schließen des vorderen Teils des Stoffes konzentrierte, sodass sie das Öffnen am anderen Ende nie bemerkten. Wir redeten viel darüber, ob es in Ordnung sei, die beiden mit ihrer akribischen, unbedarften Genauigkeit vielleicht zum Lacher der Vorstellung zu machen. Aber die Szene war zu stark, um sie zu ignorieren, und Rigel und Alex versicherten uns, dass es für sie OK sei, wenn das Publikum über sie lacht. Die Premiere kam und es lachte niemand, viel zu faszinierend und berührend war dieser Auftritt.

Vielmehr schafften sie es erneut alle, und dieses Mal das vollbesetzte Theater, in ihren Bann zu ziehen.

Rigel und Alex schufen mit ihrem puren Spiel, das so anders gegenüber dem üblichen Blick aufs Szenische und Dramaturgische war, etwas Einzigartiges, sie führten das, was wir manchmal als absurdes Theater bezeichnen ad absurdum, sie zeigten, dass die Wirklichkeit absurd sein kann und die Absurdität Realität.

Fast möchte ich sagen, sie haben mir Beckett erklärt, wenn dies überhaupt möglich ist, jedenfalls hatten sie die Bühne zu einem poetischen Ort voller Kraft gemacht, an dem es plötzlich ganz leicht schien, etwas vermeintlich nicht Verständliches zu verstehen.

écoute-les s`a jouter les mots aux mots sans mot le pas aux pas un à un Hör sie hinzukommende Wörter zu den Wörtern, wortlos, die Schritte zu den Schritten, nacheinander. hör sie dazukommen Worte zu Worten wortlos Schritte zu Schritten einer nach dem anderen3

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Beckett, Flötentöne, S. 20-21.

Photo Archiv Andreas Geis abgebildetes Motiv Zeichnung Andrea Habith

Was soll das eigentlich bedeuten?

Mit dieser Frage kommt plötzlich M. wieder um die Ecke, wen interessiert es eigentlich, wer wann einen Vorhang so bewegt, dass er genau mit einer Bodenmarkierung bündig ist und für was soll das alles überhaupt gut sein.

Gute Frage: Menschen, die mit ihrer eigenen Realität ihre Umwelt in Aufruhr bringen und mit ihrem Handeln von uns verlangen, unsere Vorstellung einer logischen Welt infrage zu stellen, begleiten mich schon seit meiner Kindheit. Später sogar für fast zwei Jahre in einem sehr intensiven beruflichen Kontext. Der Begriff geistige Behinderung stört mich nicht nur in diesem Zusammenhang schon länger, impliziert doch das Wort Behinderung immer, dass etwas verhindert wird. Für die Kunst kann dieses Infragestellen jedoch eine große Chance sein. Dabei denke ich an Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen und daran, dass hier gegen die Diktatur der Vernunft plädiert wird.

Von jemandem lernen zu können, die Vernunft (so, wie sie von einem nicht kognitiv eingeschränkten Menschen definiert wird) zumindest ein stückweit stillzulegen, ist etwas sehr Besonderes und sollte als Hilfestellung zum Eintritt in eine andere Realität und nicht als Veroder Behinderung für etwas betrachtet werden. Poetische Momente entstehen eben häufig, wenn die Ratio etwas im Hintergrund bleibt und sich uns dadurch Welten öffnen, die wir beim übermäßigen Einschalten unserer Synapsen nie betreten könnten.

Night on earth

Auf dem Weg zu einem Begräbnis in Frankfurt am Flughafen spät am Abend in einen falschen Zug gestiegen und eine Strafe von 60,- gezahlt.

Alles wie in einem schlechten Film.

Eine "scheissen" Schaffner*in, gefolgt von einem/r nicht ganz so "scheissen" aber trotzdem "scheissen" Schaffner*in, wie Ernst Jandl vielleicht schreiben würde.

Diskussionen über medizinischen Mundnasenschutz und korrektes und höfliches Verhalten, wenn Mann in einen Zug steigt, für den kein gültiges Ticket vorhanden ist. Die Alte hat den Knall nicht gehört, als ob ich das mit Absicht gemacht hätte. Aber vernünftig und hörig wie ich (manchmal) bin und mir die Situation vor Augen haltend, bin ich nicht durchgedreht.

Im Dorf, in dem ich groß geworden bin, angekommen, Gott sei Dank hemmungsloses Besäufnis mit meinem Cousin, dessen Mutter gestorben war und einem gemeinsamen, sehr engen Freund. Dringend notwendig und dem Füreinander förderlich.

24 h später Flughafen Wien, schon wieder in den falschen Zug gestiegen, in die falsche Richtung gefahren und in Fischamend gestrandet.

Fischamend, wer oder was ist das und für wen oder was ist das gut?

Das Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie aus freien Inhalten sagt mir dazu Folgendes: Fischamend liegt in einem Industrieviertel in Niederösterreich.

Die Stadt liegt am Zusammenfluss von Fischa und Donau, wenige Kilometer südöstlich von Wien. Die Fläche der Stadtgemeinde umfasst 24,91 Quadratkilometer. Davon sind 40 Prozent landwirtschaftliche Nutzfläche, 21 Prozent sind bewaldet, 11 Prozent entfallen auf Gewässer und 22 Prozent auf Start- und Landebahnen des Flughafens Wien-Schwechat. Ein kleiner Teil des Gemeindegebietes liegt nördlich der Donau.

Fischamend besitzt keinen Bahnhof, sondern nur ein Irgendwas von zugemülltem und vollgekotztem Warteraum. Hier bin ich also gestrandet mitten in der Nacht.

Müde bin ich und kalt ist es. Draußensitzen ist hier die einzige Option.

Der gläserne Warteraum eine einzige Zumutung, ich sitze also auf einer Plattform mit links und rechts einem Gleis. Der nächste Zug fährt in einer Stunde, es gibt kein Taxi, das ich rufen könnte, es ist 23 Uhr 50, Weiterfahrt 0 Uhr 45 und das alles nach einem verkaterten Morgen und einem Begräbnis von jemandem, den ich sehr gerne gemocht habe.

Ich beginne mir selbst leid zu tun.

Es gibt hier einen größeren Parkplatz, auf dem hin und wieder Autos eine Runde drehen, es ist kalt, der Wind weht geräuschvoll, Blätter fliegen umher und irgendwie ist alles wie in einem schlechten Film.

Ich bin mir sicher, David Lynch war irgendwann bei Dunkelheit einmal in Fischamend. Kurz kommt die Überlegung, einen Tobsuchtsanfall zu bekommen, aber dazu fehlt mir die Energie. Deshalb beschließe ich, die Stunde Aufenthalt an diesem entrischen Ort zu nutzen, um die Situation irgendwie zu inszenieren.

Ich sitze also an diesem Elend der Welt, mitten in der Nacht auf einem verlassenen so was wie Bahnhof und werde mir am iPad den Kastanienmann, eine Netflixserie, bei der ein psychopathischer Mörder seinen Opfern die Hände und Füße absägt, anschauen. Das ist der Plan.

Ich sitze und schaue und kriege eine Scheißangst, vor allem, wenn wieder ein Auto im Kreis auf dem Parkplatz herumfährt. Warum fährt jemand in Gottes Namen um diese Uhrzeit auf so einem entlegenen Parkplatz im Kreis?

Fischamend wird zur Bühne des Horrors und zur Kulisse des Wahnsinns, zumindest in meiner Fantasie. Der Zeiger der Bahnhofsuhr bewegt sich langsam, ich verstehe plötzlich, was damit gemeint ist, wenn manchmal davon gesprochen wird, dass die Zeit nicht immer gleich schnell vergeht.

Ich könnte mir ja auch Heidi oder die Biene Maja anschauen, aber es gibt kein WLAN an diesem Ort und downgeloadet habe ich nun einmal nur den Kastanienmann.

0 Uhr 45, der Zug nähert sich und von der Ferne sehe ich die Lichter der Lok auf mich zukommen. Der Zug fährt langsam in diesen so was wie Bahnhof ein, ich erwarte Schreckliches, die Türen öffnen sich und ich steige ein.

Vermutlich war dies die schrägste Location für einen Kinobesuch, die ich je hatte.

Fischamend, Night on Earth and a killing Joke….

Was passierte dann?

Nachdenken, nachdenken, nachdenken, bis das Hirn platzt, bis alles wieder raus kommt. Wo? Raus kommt, gute Frage, wo kommt das eigentlich alles wieder raus, kotzen sagt man nicht, sich übergeben ist irgendwie auch nicht passend für mich, also wo jetzt da wo es rein gekommen ist, jedenfalls nicht das wäre komisch, aber lustig ist das alles schon lange nicht mehr, interessant schon irgendwie, also ich meine die Frage, warum ist das eigentlich alles so gekommen, interessant schon, aber lustig auf gar keinen Fall.

Also ja, wie viel kann ein Mensch nachdenken, ohne dabei verrückt zu werden, stellt sich die Frage, was ist verrückt und da sind wir schon wieder bei einer Überlegung.

Jedenfalls fuhr der die oder das M. mit ans Meer usw. und war auch da immer dabei und manchmal hats genervt, aber irgendwie auch doch nicht, um die Wahrheit zu sagen, weiß ich das nicht mehr so genau oder wahrscheinlich glaube ich, dass ich es nicht mehr so genau weiß, das ist ein Unterschied, denke ich zumindest.

Wäre ich in die Berge gefahren, wäre es sicher auch mitgekommen, aber ich habe das nicht ausprobiert, war nur am Meer und deshalb bleibt dies eine ungeklärte Frage. In Fischamend jedenfalls, und das weiß ich genau, war M. dabei und hatte Freude daran, mir beim Angsthaben über die Schulter zu blicken…

Wie ist das eigentlich, wenn eine Frage total geklärt ist, also ich meine, es so völlig gar keinen Zweifel mehr gibt… vielleicht ist das großartig, vielleicht aber auch unbefriedigend, denn es gibt ja dann nichts mehr nachzudenken, aber vielleicht habe ich da jetzt auch einen Denkfehler, so was kann ja auch passieren und ich würde das dann tatsächlich in eine andere Kategorie von Denken einsortieren, aber auch hier gibts nicht so die ganz klare Antwort, bin ich mir ziemlich sicher.

Jedenfalls hat das viele Nachdenken und das nicht Aufhörenkönnen in Fischamend zu einem unfreiwilligen Horrorfilm geführt. Zum Schreiben eines Drehbuches, obwohl ich doch gar kein Drehbuchautor bin.

Manchmal wird man eben nicht gefragt.

M. saß jedenfalls irgendwo und lachte, während ich mich fürchtete.

Ferm Ferm

Im Rahmen einer Gastvorlesung, bei der die Autorin und Dramaturgin Anne-Kathrin Schultz vom Wiener Volkstheater bei uns im Lehrgang eingeladen war, erhielten wir im Vorfeld des Seminars von ihr einen Arbeitsauftrag.

Es ging um einen für meine Leseverhältnisse sperrigen Text, „Die Politiker“ von Wolfram Lotz, der kurze Zeit später im Volkstheater auf der großen Bühne zur Aufführung gebracht werden sollte. Die uns gestellte Aufgabe bestand darin, uns im Vorfeld der Vorlesung erste Gedanken zu einer szenischen Umsetzung zu machen und dabei Bilder, Ideen, vielleicht sogar konkrete Ansätze für eine mögliche Inszenierung zu sammeln.

Eine spannende erste Anforderung für das Neuland, in dem ich mich bewegt hatte zu Beginn der Studienzeit. Interessant dabei vor allem in weiterer Folge, die eigenen Ideen mit denen des Volkstheaters vergleichen zu können.

Eine Herausforderung, auf die ich mich sehr gefreut hatte und bei der ich mir sentimentalerweise genau überlegte, wo und wie ich damit beginnen wollte.Ein paar Tage Urlaub am Meer erschienen mir als der richtige Rahmen dafür.

Angekommen in den Ferien begann ich also den Text zu lesen und versuchte mit zugegebenermaßen großen Unsicherheiten, einen Zugang dazu zu finden. Gibt es eine richtige und generelle Vorgehensweise bei der Arbeit mit Texten und wenn ja, wie funktioniert diese? Ich wünschte mir ein konkretes Rüstzeug, das ich jedoch nicht hatte. Es sperrte sich viel in mir, während ich den Text immer wieder las, aber gleichzeitig entstanden trotz allem sehr viele Bilder in meinem Kopf. Dennoch, der Versuch, dieses Stück, das literaturwissenschaftlich so unterschiedlich zugeordnet wird inhaltlich zu verstehen, scheiterte immer wieder kläglich, und die angestrengt nachdenkende Beschäftigung damit stand mir ständig im Weg. Tatsächlich kam ich nur dann weiter, wenn ich versuchte, mein Hirn etwas auszuschalten. Vielleicht geht es ja genau darum, also um ein emotionales Verständnis einer Arbeit und nicht nur um die rein logische Herangehensweise, dachte ich mir zu diesem Zeitpunkt immer häufiger und versuchte, mit diesem Ansatz weiter zu arbeiten.

Das Zimmer, in dem ich immer wohnen darf, wenn ich bei meinen Freunden zu Besuch bin, liegt im dritten Stock eines alten Hauses, direkt in erster Reihe zum Hafen.

Bis gegen Mitternacht herrscht dort meist reges Treiben.

In der Nacht jedoch wird es ruhig und es ist möglich, bei offenem Fenster zu schlafen. Die ständige Präsenz der Politiker während dieser Tage machte auch in der Nacht keinen Halt und ich träumte regelmäßig von ihnen.

Die ich rief, die Geister werd ich nun nicht los,

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heißt es an anderer Stelle.

Eines Nachts, vermutlich gegen Ende meines Aufenthaltes, wachte ich gegen fünf Uhr geweckt von einem leisen Surren auf.

Die Sonne war gerade dabei aufzugehen und das Licht war ein ganz besonderes.

Ich stand auf und schaute aus dem Fenster, denn ich wollte wissen, welches Geräusch mich beim Schlafen gestört hatte.

Beim Blick hinab auf die Promenade sah ich einen Mann, der damit beschäftigt war, mit einem elektrischen Laubbläser die wenigen Blätter, die sich am Boden befanden, herumzuwirbeln. Der Laubbläser mit seinem ungewöhnlich sanften Geräusch wirkte wie ein Spielzeug und nicht wie die Waffen, die sonst jeden Herbst gegen die Stille kämpfen.

Verschlafen und müde sah ich ihm aus meiner Rangloge zu.

Das bläuliche Licht des Morgens ließ diesen Straßenkehrer wie eine Figur aus der Commedia dell'arte wirken. Der letzte Spieler einer Aufführung in der Maske eines unbeholfenen Darstellers.

Tollpatschig und anrührend war er offensichtlich der einzige noch verbliebene Schauspieler eines in der Nacht stattfindenden Schauspiels.

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Goethe, Gedichte, :Studienausgebabe, S.234

Weder präzise noch gewissenhaft verrichtete er seine Tätigkeit, er blies einfach mit dem Laubbläser drei Blätter hin und her, vermutlich weil dies sein Job war, über den er nicht pflegte nachzudenken.

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit seiner Verrichtung stellte sich nicht, er tat nur seine Arbeit und ich bildetet mir ein, er spielte dabei für mich.

Eine ganz besondere Szene bot sich mir dar und noch heute kann ich die Bilder dazu sehr deutlich abrufen.

Ob dieser Straßenkehrer wirklich gespielt oder nur ungeschickt seine Arbeit verrichtet hat, ich weiß es nicht und vermutlich möchte ich es auch nicht wissen. Für mich jedoch waren nach diesem Auftritt sämtliche Fragen, mit denen ich mich die letzten Tage beschäftigt hatte, nicht mehr so schwer zugänglich. Ich hatte das Gefühl, obwohl mir nichts konkret erklärt worden war, einen Einstieg zum Umgang mit dem Text von Wolfram Lotz gefunden zu haben. Ich legte mich wieder hin und schlief weiter.

Als ich einige Zeit später erneut aus dem Fenster schaute, war die Aufführung zu Ende, nur die drei Blätter waren immer noch da.

Das Gras ist struppig und grün so wie Gras eben ist.

Und der Wind geht da hindurch Der Wind der Wind Geh doch schuften, kleiner Mann, wen interessiert’s geh doch buckeln, kleiner Mann geh ruckeln, kleiner Mann, geh zuckeln Es ist Nacht es ist Nacht es ist Nacht es ist Nacht es ist Nacht es ist Nacht es ist Nacht und ich bin hier es ist Nacht es ist Nacht es ist Nacht Die Politiker gehen am Stadtrand durch die Nacht suchend suchend suchend aber sie finden nur Verzwizzle Ach und wir? Was findet wir?

Was findet wir und wo? Ich mag das irgendwie

Blitz Donner Fick

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Lotz, Die Politiker, S. 10, 22, 23, 39 und 71.

Photo Archiv Andreas Geis

M. is back

Glaubst Du wirklich selbst dieser Lotz macht es dir so einfach, mit seinem Text etwas anzustellen?

Und schon ist sie wieder da diese Unsicherheit, die sich mit Ehrfurcht verbindet und alles zu einem riesigen, scheinbar nicht auflösbaren Klumpen knetet, diese Sehnsucht nach einer konkreten und schlüssig erklärten Definition, die aber manchmal so nicht einfach geliefert werden kann. Klarerweise ist dies alles, was Grundlagenwissen genannt wird, wichtig und essenziell. Deshalb jedoch sollte nicht die Chance ungenutzt bleiben, das Pferd vielleicht auch einmal von hinten aufzuzäumen. Ein Schritt zur Seite und eine Betrachtung von außen können dabei bestimmt ungemein hilfreich sein. In meinem beruflichen Blumenalltag habe ich in den vielen Jahren, die ich diesen schon praktiziere, auf ganz natürliche Art diese Erfahrung gesammelt.

Wahrscheinlich, weil die Intuition und die Kommunikation mit den Menschen sich immer an das handwerkliche angedockt hat. Was das Theater anbelangt, habe ich offensichtlich erst das Vater/SohnGespann Hypnos den Gott des Schlafes und seinen Sprössling Phantasos, den zuständigen für die Fantasie, treffen müssen, um zu dieser Einsicht zu gelangen. Es ist manchmal gar nicht so einfach, von gängigen Strukturen, die unser Handeln und Denken bestimmen, loszulassen, würden wir dies öfter tun, zöge vielleicht auch wieder mehr Leichtigkeit in unser Leben ein.

M. überlegt, stimmt mir nicht zu, aber widerspricht mir auch nicht.

M. ist wie Karlsson vom Dach. Ein unglaublich besserwisserisches Wesen, aber irgendwie dann doch liebenswert und faszinierend.

M. besitzt übrigens keinen Propeller.

Mach dich locker setz dich hier mal auf den Hocker.

Ich hab dir was zu sagen. Heißt es bei Wolfram Lotz.

Wieder aufstehen nicht vergessen, heißt es bei mir.

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9 Lotz, Die Politiker, S. 31.

Photo Archiv Andreas Geis

Blumen verkaufen im Lockdown

Bei dem Blumenladen, in dem ich seit mehr als zweiundzwanzig Jahren arbeite, handelt es sich um ein gassenseitiges Geschäftslokal mit zwei großen Auslagen. Das Interieur besteht überwiegend aus den Materialien Glas, Metall und Beton. Die Möbel für die Schaufenster im Speziellen, aus fünf eigens angefertigten großen Betonblöcken, die den Blumen, die dort gezeigt werden, als Bühne dienen.

Ist alles so, wie wir es gewohnt sind, betreten die Menschen das Geschäftslokal und werden zu Käufer*innen oder Zuschauer*innen.

Es gibt, ähnlich wie auf einer Theaterbühne, viel zu entdecken und die für ein Blumengeschäft ungewöhnlich Größe und Höhe des Raumes lässt viele, die kommen, manchmal vergessen, dass sie sich in einem Geschäft befinden.

Während der Lockdowns der Corona-Pandemie war, wie allseits bekannt, nichts mehr so wie wir es gewohnt waren.

Alles stellte jede/-n vor neue Herausforderungen und dies galt auch für den Verkauf von Blumen.

Keine*r durfte mehr unser Geschäft betreten und eine neue Notwendigkeit, unsere Ware verkaufen zu können, war die Möglichkeit zu schaffen, dass alles, was sonst in dem großen Raum zu entdecken ist, von der Straße aus in beiden Schaufenstern sichtbar zu machen.

Bei meiner Arbeit als Blumenbinder entsteht der künstlerisch handwerkliche Aspekt meiner Tätigkeit nicht immer - aber sehr häufig durch Anweisungen meiner Kund*innen.

Viele Menschen, die bei uns einkaufen, haben eine große Freude daran, als Regisseur*in zu agieren. Sie geben Aufgabenstellungen, die sehr oft mit ihren Emotionen oder Befindlichkeiten verknüpft sind und somit indirekt Anweisungen, die Hinweise auf das von ihnen Gewünschte geben. Blumen verkaufen, so wie ich es verstehe, hat also sehr viel mit zwischenmenschlicher Interaktion zu tun. Was aber passiert in einer so neuen Situation, bei der sich Kommunikation nur auf das Nötigste beschränken kann und wo ein persönliches Gespräch maximal die Dauer hat, die es braucht, um die Ladentür zu öffnen, um dabei schnell eine Bestellung entgegenzunehmen.

Blumen hatten in dieser verrückten Zeit eine besondere Wichtigkeit für viele Menschen, das Bedürfnis, sich etwas Schönes und etwas, das mit dem Leben zu tun hat, in die Wohnung zu holen, war groß.

Dementsprechend auch an manchen Tagen der Andrang auf dem Gehsteig.

Das Miteinander bekam plötzlich eine völlig andere Dynamik.

Statt wie gewohnt die persönlichen Wünsche zu besprechen, kamen die Anweisungen der Käufer*innen nun von außen und zumeist waren diese gestisch und weil wir wie in einem Glaskasten hin und herliefen und hinter der Scheibe nicht hörten, was zu uns gesprochen wurde, war diese neue Art zu verkaufen, zunächst sehr gewöhnungsbedürftig.

Auch wenn wir großteils wunderbare Kund*innen haben, mit denen über das Verkaufsgespräch hinaus auch oft interessante andere Themen verhandelt werden, so gibt es selbstverständlich auch Situationen, bei denen der Wunsch auftaucht, niemanden mehr sehen zu müssen.

In solchen Momenten reden wir manchmal über eine witzige und fast schon absurde Wunschvorstellung von Christine, meiner Arbeitgeberin. Diese, man könnte es auch Spinnerei nennen, beginnt wie so oft mit einem großen Lottogewinn und dem dadurch möglichen ungehemmten Einkauf von vielen, vielen wunderbaren und exklusiven Blumen. Christine träumt dabei von Hunderten ihrer Lieblingsblumen „Gloriosa superba“, exklusiv wie eine Flasche Röderer Christall und der Orchidee „Vanda rothschildiana“, die mit ihren lustigen Punkten den Beschützerinstinkt im Blumenbinder weckt. Üppigst bestücken wir damit den großen Blumenladen und insbesondere dabei die Schaufenster.

Wir arbeiten und dekorierten ganz, als ob alles wie immer sei. Die große Pracht und Schönheit ist allerdings nur für uns und egal, wie sehr sich die Menschen vor der Auslage auch bemühen, wir öffnen niemanden die Tür und wir lassen uns weder beirren noch verleiten, etwas zu verkaufen. Wir arbeiten in unserer luxuriösen schönen Welt ganz für uns alleine. Seltsam war es, als diese träumerische Vorstellung plötzlich zu Teilen Wirklichkeit wurde, mit dem einzigen Unterschied, dass wir uns den Luxus, all das Schöne für uns zu behalten, leider nicht leisten konnten und doch auch bemerkten, dass uns die Menschen, die sonst zu uns kommen, fehlten.

Zurück zum wahren Leben: Zeigen auf dies und zeigen auf das. Klopfen an die Scheibe, Daumen hoch und Daumen runter, waren neue Gesten der Kommunikation.

Miteinander reden, ohne sich dabei zu hören, erzeugte zuweilen amüsante Bilder.

Wie Schauspieler*innen auf der Bühne liefen wir hin und her und versuchten die Situation irgendwie in Griff zu bekommen. Nach einer gewissen Zeit jedoch bekamen diese neuen Verhältnisse eine eigene Dynamik und das Verkaufen der Blumen wurde so ganz nebenbei zur Performance. Lustigerweise gehörte zu den Menschen, die während dieser neuartigen Situation Blumen bei uns kauften, auch häufig ein berühmter Theaterregisseur. Ein Outside Eye hatten wir also auch noch bekommen.

Das Verhalten unseren Kund*innen gegenüber hatte sich völlig verändert, aus dem Geschäftemachen wurde ein Spiel und weil dieses Spiel Spaß machte, perfektionierten wir es auch bis zu einem gewissen Grad.

Die Kommunikation mit den Menschen, die sonst nicht nur wegen der schönen Blumen zu uns kommen, sondern auch wegen dem Miteinander, hatte sich auf eine völlig andere Ebene verlagert.

Flüchtig und somit analog zum Theater waren diese Vorstellungen nur in einer Spielzeit zu sehen.

Ein Blumengeschäft, das gleichzeitig ein Theater ist

irgendwie verrückt, aber auch spannend, wenn ich so darüber nachdenke, meldet sich M. plötzlich wieder zu Wort.

Verstehe ich richtig, neben dem Verkaufen von Blumen habt ihr also auch noch eine Show aufgeführt oder abgezogen oder wie soll ich das Ganze verstehen? Passt zu dieser seltsamen Zeit, in der alles wie in einem schlechten Film gewirkt hat. Das mit dem Film stammt übrigens nicht von mir, sondern das haben ja alle ständig gesagt während dieser komischen zwei Jahre. Metaphern erschöpfen sich leider auch irgendwie mit der Zeit.

Grundsätzlich wäre es ja vermutlich sowieso am besten, nicht mehr über diesen viralen Infekt der Welt nachzudenken, auch wenn dies natürlich quasi unmöglich ist. Um so besser, wenn es etwas gibt, das gute Erinnerungen hervorruft.

Wenn ich diese Zeit Revue passieren lasse, muss ich oft darüber nachdenken, wie es eigentlich dazu gekommen ist. Vielleicht war es das große Schaufenster und die Situation mit den Betonblöcken, die sofort Assoziationen mit einer Bühne hervorriefen. Vermutlich auch die wirklich harte Abgrenzung von Zuschauer*innen und Akteur*innen durch eine Glasscheibe.

Interessant vor allem, dass beide Seiten sich auf dieses Spiel eingelassen hatten und es wohl allen in irgendeiner Form Freude bereitet hat.

Die größte Parallele zum Theater jedoch ergibt sich für mich durch die nicht planbare Situation, die dort entstanden ist. Bis zu einem gewissen Punkt wurde alles genau vorbereitet, und dann hat die seltsam von den Umständen bestimmte Kommunikation und Interaktion beider Seiten das Spiel bestimmt.

Stage me tonight

Es ist alles schon schlimm genug, hatte diese seltsame Person gesagt, bevor sie sich vor mehr als 20 Jahren in das mit weißem Papier zugeklebte Geschäft gedrängt hat.

Auch wenn der Blumenladen zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre existiert hatte, alles begann mit diesem Spruch. Wir hatten geschlossen, um eine Ausstellung vorzubereiten, aber das beeindruckte diese Dame offensichtlich nicht. Sie drängte sich durch den kleinen Spalt in der Tür und begann sofort die Probleme ihres Tages über uns zu ergießen.

Es ist alles schon schlimm genug, auch wenn alles weitestgehend in Ordnung ist, vielleicht Affirmation und Aphorismus zugleich?

In der Nacht, wenn all die verrückten und weniger verrückten Ereignisse des Alltags sich in den Ruhemodus begeben, beginnt an diesem Ort eine Art Metamorphose. Was vom Tage übrig blieb, „The Remains of the Day“10 , heißt es an anderer Stelle.

Alles, was passiert ist, passieren hätte können oder vielleicht irgendwann passieren wird, erwacht zum Leben und bekommt eine eigene Dynamik. Täglich gräbt sich in diesem Raum der dramaturgische Wahnsinn des Alltags in die DNA des Ortes und dringt dabei in die Substanz seiner Fundamente. Ähnlich dem Pflanzensaft der unzähligen Blumen, die hier in den letzten 23 Jahren Zwischenstation gemacht haben und deren herabfallende Blätter beim Vorbereiten für den Verkauf dabei oft zertreten und zerquetscht werden.

Schon häufig habe ich mir vorgestellt, was nachkommende Generationen, wenn sie Teile des Steinfußbodens finden, für Vermutungen anstellen würden und welche Rückschlüsse sie aus diesem Sammelsurium von unterschiedlichstem pflanzlichem Erbgut ziehen.

10

Ishiguro, The Remains of the Day.

In meiner kindlichen Vorstellung erwachen hier, wenn es draußen dunkel ist und sich kein menschliches Wesen mehr im Geschäft befindet, die Dramaturgien des Alltags zum Leben.

Aus allen Ecken und Winkeln erscheinen sie, spuken umher und erzählen ihre Geschichten, die sie am Tage nicht zu Ende erzählen konnten. Vielleicht sind es die Gegensätze der menschlichen Natur, die sich hier im Spiel auf eine andere Ebene begeben.

In einer Zusammenkunft, wo alles möglich erscheint und nichts infrage gestellt wird, und bei der eine Grundvoraussetzung bedingungsloses Zulassen sinnlicher Wahrnehmung ist.

Es gibt nichts, was hier nicht verhandelt werden könnte und selbst das Abwegigste bekommt seinen Platz in der Handlung. Was sich am Tag der Schönheit, der Umgebung und der Logik des Menschseins unterordnet, erobert bei Nacht seinen Raum.

Dies alles nimmt Gestalt an und dort, wo sonst Blumen verkauft werden, entsteht ein heimliches Theater.

Gespielt wird nur für die geschlossene Gesellschaft der Nacht und was auf dem Spielplan steht, bleibt immer eine Überraschung. Es kann natürlich passieren, dass ab und zu jemand von der Straße aus durch eines der großen Schaufenster hineinschaut. Ob sich diesem nicht geladenen Gast jedoch das Schauspiel zeigt, hängt einzig von seiner Bereitschaft ab.

DIES DIES DIES DIESES ENTZÜCKEN ICH KLEBE AN DIESER ERDE an dieser hinschmelzenden Erde an diesem Baldachin eines Junihimmels dessen Bläue in Wellen gebauscht und mit tiefen Schwalben: ich meine trunken und zuweilen verborgen, scheinen sich zu verbergen in irgend Buchten und Malven Holunderbäumen: wilden Monstranzen ... die Luft ist wie damals, ja, die Luft wie damals in D., die Zirren nein Zirben die Wolfsmilchstauden VON ANBEGINN: alle Schmerzen aller Wahn schon Ewigkeiten vorher seit Ewigkeiten erlitten, die lilies Magnolienfelder, von oben von irgendwoher ich glaube aus verhülltem Gezweig diese einzelne Stimme mich durchdringt: mein unsichtbarer Liebster in dieser Baumkrone ach jubiliert! diese Lust diese Süsze ich KLEBE an dieser Flammen Erpressung an diesem Licht an diesem Himmel, sage ich, etwas Hawai oder möchte in BURGUNDISCHEN GÄRTEN über Maszliebchen Erde..was! Flitzerei / plötzlicher Engel, habe diesmal versäumt die ersten Schwalben zu sichten in ihrer Inbrunst nicht wahr, diese Luftbeute, Wollust der Augen, ach ich KLEBE an diesem Leben an diesem LEBENDGEDICHT.11

11

Mayröcker, Gesammelte Gedichte, S. 692-693.

Sobald der neue Tag beginnt...

endet die Zusammenkunft. Die Geschichten hören auf, erzählt zu werden und alles ist wieder so wie zuvor.

Sonntags werden im Blumenladen immer die Spuren der vergangenen Tage beseitigt und es wird vorbereitet, damit die neue Woche reibungslos beginnen kann. Wenn alles so leer, pur und aufgeräumt ist, mag ich das Geschäft besonders gerne.

Diese nüchterne Aufgeräumtheit, die den Raum so gänzlich anders zu der sonst herrschenden Üppigkeit zeigt, hilft mir den Kopf frei zu bekommen. Das dritte fröhliche Reich des Spiels und des Scheins beschäftigt mich, seitdem Carl Hegemann in einem Seminar darüber gesprochen hat.

Abseits der philosophischen Theorie, die Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen verhandelt, hatte ich sofort Bilder im Kopf, die sich ungewollt selbständig machten.

Diese Bilder haben mich während der gesamten Studienzeit begleitet und sie haben mich nicht losgelassen. Es sind fünf kurze, mit einer Handykamera aufgenommene Filme daraus entstanden. Alle immer mit der Idee der nächtlich stattfindenden Verselbstständigung der Dinge.

Die Vorstellung des Theaters der Nacht hilft mir vielleicht mit dem ganzen Wahnsinn, der hier ständig eine Liaison mit der Schönheit der Blumen eingeht, zu filtern. Was am Tage immer Vorgaben und Notwendigkeiten unterliegt, kann sich in der Nacht von all dem befreien und seinem Spieltrieb folgen.

Mütze

Once there was a Cap, die war ekelig und grindig und diese Mütze hing aus irgendeinem Grund mit einer roten Pinnwandnadel an einer Pinnwand.

Wo? Jedenfalls in der Nähe einer Toilette, bei der ein Spiegel schlechte Stimmung macht, so wurde mir erzählt. Ich persönlich kenne weder die Toilette noch den Spiegel, da ich aus Gründen der Genderpolitik diesen Raum nie betrete.

Also jedenfalls hing diese Mütze sehr lange dort und war eklig, sie war eklig, wenn jemand vorbeiging und sie war eklig, wenn niemand vorbeiging. Auch in der Nacht, wenn das Gebäude menschenleer war und nicht niemand, sondern gar niemand vorbeiging, war sie ekelhaft und grindig. Vielleicht kam ab und zu ein Nachtwächter vorbei, aber ich gehe davon aus, dass die Mütze auch dann ekelig war. Vermutlich kann so was wie ekelig nicht in einen Flug- oder Nicht-Stören-Modus geschaltet werden.

Deshalb bin ich mir nahezu sicher, dass sie, also die Mütze, auch in der Nacht ekelig war. Genau aber werden wir es nie wissen.

Um die Wahrheit zu sagen, ist mir dieses asoziale Ding nie wirklich aufgefallen bis zu dem Tag, an dem ich darauf aufmerksam gemacht wurde. Von wem, das bleibt unerwähnt und an dieser Stelle nicht besprochen. Jedenfalls ab dem Zeitpunkt, an dem ich darauf aufmerksam gemacht wurde, war es vorbei.

Absolut und völlig vorbei.

Aus. Vorbei. Over.

Der, die, das, wer, wie, was wieso, weshalb, warum wer nicht fragt, bleibt dumm.

Aber die Mütze hing nicht in der Sesamstraße, wie jetzt fälschlicherweise vermutet werden könnte, sie gehörte auch weder Ernie noch Bert, soviel ist sicher, nein, sie hing in der Nähe des Raumes, den ich aus Fragen der Genderpolitik niemals betreten werde und in dem ein Spiegel hängt, der eine schlechte Laune hervorruft.

Zumindest wurde dies mir so berichtet, also dass der Spiegel schlechte Laune macht, usw. ...

All das war irgendwann einfach zu viel für mich und ich konnte diesen Zustand, dieses Gefühl beim Betrachten der Mütze nicht mehr ertragen.

Zu viel ist zu viel, wie der Volksmund sagt.

Oder vielleicht besser, was zu viel ist, ist zu viel, wir lernen ja immer eine schöne Sprache zu verwenden.

Also bin ich zur Mütze gegangen, habe sie vorsichtig mit der roten Pinnwandnadel von der Pinnwand entfernt und dann, wohlbemerkt ohne sie zu berühren in den Mistkübel geschmissen. Hierzu war ein besonderes Maß an Geschick notwendig, man könnte sogar sagen ein ausgeklügeltes System unabdingbar.

Es folgte ein Triumph.

Alle Fragen, wem dieses grindige Ding eigentlich gehört hat, unter welchen Umständen es oder sie an der Tafel mit der roten Pinnwandnadel gelandet ist, waren plötzlich unwichtig.

Es fühlte sich an wie ein Befreiungsschlag.

Es war vorbei.

Sorgt euch also nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage.

Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus.

Photo Archiv Andreas Geis

Café am Heumarkt

„Als wäre die Zeit stehen geblieben“, eine gerne verwendetet Metapher. Im Café am Heumarkt, einem am namensgebenden Heumarkt in der Wiener Innenstadt gelegen Kaffeehaus, könnte diese Metapher auf eine neue Ebene gelangen, denn hier ist die Zeit nicht stehen geblieben, sondern sie beginnt immer und immer wieder von vorne, jedes Mal beim Betreten des Ortes.

Wie bei einem Sprung durch ein Zeitfenster tauchen die Besucher*innen ein in eine Welt anders existierender Zeit.

Dieser Ort mit seinen hier arbeitenden Menschen wirkt wie eine Theatervorstellung, die seit Jahrzehnten zu gleicher Stunde beginnt und bei der die Stückentwicklung auch nach so vielen Jahren noch immer nicht abgeschlossen ist.

Auf dieser Bühne mit seinem stets gleichen Bühnenbild, dessen leichte Abwandlungen nur geübten und häufig vorbeikommenden Zuschauer*innen auffallen, herrschen besondere Regeln.

Auch wenn diese Regeln uns an bekannte Gesetzmäßigkeiten des täglichen Lebens erinnern, so entsprechen sie dennoch nicht dem, was wir glauben zu kennen, sondern sie werden stets und ständig neu erfunden. Selbst ein Augenblick transformiert sich hier zu einem neuen Zeitmaß, das vom Publikum verstanden werden muss und jedweder Versuch, sich diesem Verständnis entgegenzustellen, führt zu einem Missverstehen der Inszenierung. Die Handlung des hier stattfindenden Bühnenspiels variiert durch das Erscheinen seiner Protagonist*innen, die großteils verständliche und leicht nachvollziehbare Rollen haben.

Es gibt jedoch auch Figuren, deren Darbietung sehr viel Freiraum für Interpretation gibt und deren Auftritt darin besteht, zuweilen ohne ersichtlichen Grund die Bühne zu betreten, um dort ihre Runden zu drehen. Eine Choreografie des Irrwitzigen, dessen magische Wirkung sich nur für jene erschließt, die sich diesen Abläufen hingeben, ohne sie zu hinterfragen. Gegenstände, deren Funktionalität auf den ersten Blick logisch und nachvollziehbar erscheinen, werden innerhalb dieses Settings hin- und hergeschoben.

Der dramaturgische Kniff hierbei besteht darin, dass Funktionalität zum rein ästhetischen Moment wird.

Einen zentralen Punkt der Bühnengestaltung bildet ein vitrinenähnlicher Kasten, der sich in der Mitte der gesamten Anordnung befindet. Dieses Objekt beginnt in unregelmäßigen Abständen, angekündigt durch ein leichtes Stottern laut zu brummen und seine rätselhafte Anwesenheit wirft immer wieder neue Fragen auf. Dass willkürliche Einsetzten des Geräusches bildet einen Rhythmus und gleichzeitig einen Cut, der jeweils eine neue Szene einleitet.

So unverhofft und irritierend diese Störung einsetzt, so plötzlich und abrupt hört sie auch wieder auf. Das Publikum ist im Café am Heumarkt immer integrativer Teil der Inszenierung und sitzt über die gesamte Bühne verteilt mitten im Geschehen. Diese Präsenz räumt allerdings keine allzugroße Einflussnahme auf den ganzen Spielverlauf ein. Die vierte Wand ist auf das Natürlichste ausgehebelt und somit gar nicht erst vorhanden.

Das Stück folgt seinen eigenen Regeln, die von den Hauptakteuren (da gibts keine Frauen im Personal) bestimmt werden. Dieser Ort hat seinen eigenen Kosmos, eine eigene Welt in einer real existierenden Welt, in der Wirklichkeit und Traum nicht ganz klar voneinander zu trennen sind.

Was geht hier eigentlich vor?

„Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein12“ schreibt Theodor W. Adorno in „Minima Moralia“, seinen Reflexionen aus dem beschädigten Leben.

Im Café am Heumarkt scheint mir die Wahrheit befreit vom Anspruch Kunst sein zu müssen, um magische Momente zu erzeugen.

Becketts Figuren und Stimmen haben keinen Kompass, sie finden kein neues Land. Worte umgeben sie.

Fast scheint es, dass sie in eine unmögliche Unsterblichkeit hineinreichen, wo die Uhren nicht mehr zurückgestellt werden müssen. Aber die Figuren vertreiben sich auf höchst ungewöhnliche Weise die Zeit. Es gibt keine Begrenzung für Spekulationen, kein Ende ist in naher Sicht.13

Was Ria Endres hier schreibt, klingt fast wie eine Rezension über dieses seit Jahren aufgeführte Stück. Ob sie das Café am Heumarkt kennt, entzieht sich meiner Kenntnis.

12 13

Adorno, Minima Moralia, S. 254.

Endres, „Verstehe, wer kann“.

Photo Archiv Andreas Geis

Je promène le chien

Im Herbst 2022 war ich Teilnehmer bei einem Nachwuchsworkshop, organisiert vom „Interuniversitären Forschungsverbund Elfriede Jelinek“.

Der Workshop dauerte drei Tage und fand in Montpellier, Frankreich statt.

Das Bild dieser französischen Kleinstadt ist geprägt durch studentisches Leben, das sich während der warmen Jahreszeit großteils auf den vielen Plätzen, die im historischen Kern der Stadt zu finden sind, abspielt. Zu Ende des Workshops waren alle Teilnehmer*innen aus Österreich verabredet, um gemeinsam bei einem Abendessen die miteinander verbrachten Tage abzuschließen.

Wir trafen uns in einem Restaurant, das auf einem der kleinen Plätze direkt hinter einer großen Kirche lag. Während wir dort saßen, kam in regelmäßigen Abständen eine Frau mit ihrem Hund an uns vorbei. Sie tauchte hinter der Kirche auf, überquerte den Platz und verschwand, als sie diesen passiert hatte, wortlos wieder auf der gegenüberliegenden Seite.

Ich beobachtete jeden Auftritt der Dame mit Hund, da ich genau in der Sichtachse ihres Erscheinens saß und überlegte dabei die ganze Zeit angestrengt, womit ich ihr Erscheinen in Verbindung brachte. Etwas Besonderes lag in ihrem Auftauchen und ich fühlte mich an etwas erinnert, das mir einfach nicht einfallen wollte. Der Abend dauerte an und ich wartete mittlerweile schon auf ihren immer wiederkehrenden Gang über den Platz. Geschuldet der Zeit, der Anzahl ihrer Rundgänge oder der Menge der getrunkenen Gläser Wein, ich weiß es nicht, war die Erinnerung an das, was mir die ganze Zeit keine Ruhe gelassen hatte, plötzlich wieder da.

Es war ein Theaterstück, eine Aufführung von Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“, das ich 2015 in einer Inszenierung des Regieduos Ene-Liis Semper & Tiit Ojasoo bei den Wiener Festwochen gesehen hatte.

In dem Stück, untertitelt als „poetischer Weltentwurf des Flüchtigen“, bewegen sich Menschen über einen fiktiven Platz, begegnen einander wortlos im Vorbeigehen und verlassen den Ort wieder ohne miteinander gesprochen zu haben.

Es gibt keine Kommunikation im klassischen Sinne, alles, was an Information weitergegeben wird, geschieht durch die flüchtigen Bewegungen, mit denen die stummen Protagonist*innen einander begegnen. Die unausgesprochenen Geschehnisse ihres Alltags, die jede/-r Einzelne mit sich herumträgt, erzählen Episoden, die ohne Worte auskommen.

Nie wissen die Zusehenden genau, worum es bei diesen Begegnungen geht, wir können nur vermuten und damit unsere eigene Geschichte schreiben.

An einer anderen Stelle in einem Seminar bei Ferdinand Schmalz habe ich schon einmal über diesen Abend geschrieben, die damalige Aufgabenstellung war das Verfassen eines Dialogs.

Präfatio: Denke ich an diesen Abend, denke ich an eine Farbe, die irgendwie zum Anfassen war, auch wenn die Farbe, die ich gespürt habe, natürlich nur zu sehen war und nicht zu berühren, aber sie war da und sie war dick und satt und wie wir bereits beim Straßenkehrer in R., der die drei Blätter mit dem Laubbläser verblasen hat, gelernt haben, kann Sehen auch Fühlen sein. Denn wir müssen nicht immer alles anfassen, um es zu spüren.

Jedenfalls waren wir da mit einer Gruppe von Menschen, die gerade miteinander drei Tage intensiv nachgedacht hatten, freiwillig in diesem Fall, ohne darüber nachzudenken, ob es vielleicht nervt oder zu anstrengend ist, dieses Nachdenken. Und wir waren in M., dieser Stadt am Meer und saßen dort in der Nacht auf einem Platz und dann passierte Folgendes.

Die handelnden Personen: Madame: mit einem Hund über einen Platz rund um eine Kirche gehend Ich: mit einer Gruppe von Menschen am Tisch sitzend, die vorher drei Tage lang freiwillig miteinander pausenlos nachgedacht haben VL: mit mir und den anderen am Tisch sitzend Ein Hund: an der Leine von Madame und vielleicht, wie sich später herausstellt, gerne in einem Zelt wohnend M: sozusagen als ständig da seiendes Denkgebilde (Position nicht lokalisierbar) Ich: Sag mal, kennst Du eigentlich dieses Stück von Peter Handke, wo sie die ganze Zeit über einen Platz gehen und keiner miteinander redet?

VL: Gehört habe ich davon, aber gesehen oder gelesen habe ich es nicht.

M. brabbelt die ganze Zeit etwas, das nur halb verständlich ist, aber vermutlich zählt M. die gesehenen Inszenierungen dieses Stückes auf, auch wenn der, die oder das M sehr liebenswert ist, ist M doch auch sehr, ich möchte sagen, oberschlau.

Ich: Die Madame, die die ganze Zeit über den Platz um die Kirche herumgeht, erinnert mich daran. Ist dir aufgefallen, dass sie schon seit wir hier sitzen, das fünfte Mal über den Platz auf uns zukommt?

VL: Ja. M (besserwisserisch wie immer): Ja klar, around, and around, and around, usw. Das gehört doch dazu, sonst wäre es doch das falsche Stück.

VL: Die hat einen Hund dabei, Rasse nicht zu erkennen, nicht groß und nicht klein.

Ich: Ja, ob der Hund so oft pinkeln muss?

VL: Glaube ich nicht.

M: Denkt doch einfach einmal nach.

Ich (bekomme natürlich irgendwie mit, dass M. mich zum Nachdenken animiert und finde das fast schon unverschämt, aber hörig wie ich bin und da es hier ja um einen Dialog geht, sage ich einfach etwas): Gassi, Gassi, Gassi*, (und am Liebsten würde ich dies völlig hysterisch in die Nacht schreien): Gassi, Gassi, Gassi*… was für ein völlig gestörtes, beklopptes infantiles Scheißwort, also Gassi, meine ich! (* Wichtig ist hierbei, dass Gassi mit einem leicht übertriebenen, den französischen Akzent imitierenden, in die Länge gezogenen letzten Buchstaben zu sprechen ist, etwa wie Gassiiiiiii.)

VL: Da kommt sie wieder.

Die anderen Österreicher*innen am Tisch bemerken nicht, dass wir mitten in einer Inszenierung sind, sie haben schon sehr viel getrunken. Am allermeisten ein junger Mann namens Wurzelsepp.

Das Gelächter und die Unterhaltungen der anderen stören die Inszenierung nicht, im Gegenteil, sie unterstützen sie sogar.

Ich: Sollen wir sie ansprechen?

VL: Das machen wir frühestens, wenn sie beim nächsten Mal über den Platz kommt.

M: Ihr seid nicht nur zu faul zum Nachdenken, sondern ihr seid auch feige, FF sozusagen.

Ich: Leck mich, M.!

VL: Vielleicht ist es ja Donna Haraway!? (Lacht.)

M: Denk doch mal nach…

Ich: Glaubst Du? Nein, also ich glaube, es ist nicht Donna Haraway und ich denke auch nicht darüber nach.

M: Typisch.

Ich: Fick dich.

VL: Hund mit Mehrwert. (Lacht.)

M: Non e aucun cas.

VL: Da kommt sie wieder, ich frage sie jetzt.

Ich: Ok. VL fasst allen Mut zusammen und spricht die Dame mit Hund an.

Sein Französisch ist auf einem mittleren Niveau.

VL: Bonsoir Madame, quèst-ce quels ont chien mignon, cèst vraiment charmant.

Madame: O merci beaucoup, il est si confiant quel dormirait ici avec vous dans une tente.

Bonne nuit et au revoir.

VL: Bonne nuit.

Ich: Bonne nuit.

M: Je promène le chien.

Und so, wie Madame fünf Mal einfach so über den Platz gekommen ist… war sie auch plötzlich wieder weg und hatte uns ein Rätsel aufgegeben, über das wir bis heute nachdenken.

Wir hatten das Stück verändert, indem wir die Frau mit Hund angesprochen hatten. Bis dahin war alles so wie vorgesehen.

Was Du gesehen hast verrate es nicht; Bleib in dem Bild.

(Aus den Sprüchen des Orakels von Dodona)14 14

Handke, Die Stunde da wir nichts voneinander wußten, S. 7.

Sparkling Squid

Bei Nacht an Deck eines Segelbootes. Irgendwo an der Lykischen Küste. In der Ferne feiert auf einem anderen Boot eine Gruppe von Menschen. Ich sitze mit einem Freund am Vorderdeck, während sich der Rest der Besatzung im hinteren Teil des Schiffes befindet. An diesem Abend erfahre ich, wie Tintenfische gefangen werden. Ich lerne, dass sie mit Licht gelockt werden und halte zu diesem Zweck den Strahl einer Taschenlampe ins Wasser. Hoffend auf Beute.

Es ist wie ein sich Zurückversetzen in die Zeit des Kindseins und in die vielen Stunden geduldig an Gewässern wartend auf schwimmendes Getier. Das Fest irgendwo in der Bucht geht weiter und neben den Stimmen der feiernden Gruppe, die über die See getragen werden ist auch zu hören, wie einige von ihnen ausgelassen ins Wasser springen.

Bei Dunkelheit im Meer zu schwimmen hat eine Faszination, die etwas mit dem Gefühl von Freiheit und Angst zu tun hat. Zwei Empfindungen, die eng beieinander liegen. Obwohl auch der Tag nicht sichtbar macht, was sich beim Baden in der Tiefe verbirgt, die Nacht scheint dieser Ungewissheit noch eine weitere Dimension hinzuzufügen. Kein Kalmar fühlt sich angelockt von meinem Lichtstrahl und eine kindliche Enttäuschung, die offensichtlich selbst Erwachsenen nicht verloren geht, macht sich in mir breit. Und doch, plötzlich bewegt sich etwas im Wasser. Im Schein meiner Taschenlampe sehe ich ein Blubbern unter der Meeresoberfläche. Wasserspeiend taucht nach kurzer Zeit ein Gesicht vor uns auf. Wie der kleine Fischkopf mit seinen aufgeplusterten Backen aus Arnold Böcklins Werk „Im Spiel der Wellen“ glotzt es uns an.

Dieses Bild hatte ich als Kind in einem Buch mit dem Titel „Die berühmtesten Gemälde der Welt“, einer Weihnachtsedition der Kaffeefirma Eduscho entdeckt. Meine Tante Hanna hatte es uns geschenkt, nicht wissend, dass dieses Buch für mich eine Tür in die Welt der Kunst und der von ihr ausgehenden Faszination öffnen sollte.

Unendlich oft hatte ich es mir angeschaut und noch heute, wann immer ich es betrachte, zieht mich die naturalistische Darstellung einer noch nicht erzählten Geschichte in ihren Bann. Eine Geschichte, die jedesmal eine andere Handlung hat und deshalb niemals langweilig wird.

„Hello,… I´m coming from Atlantis“, sagt der vom Meeresgrund erschienene Triton, der Bote des versunkenen Reiches zu uns, bevor er wieder abtaucht, um nicht wieder zurückzukehren.

Langsam, mysteriös und bedächtig war sein Gruß aus der Tiefe gekommen. Atlantis, dieses versunkenen Land, über dessen mysteriöse Existenz schon so viel gesagt wurde und das die Kunst zu unendlich vielen Geschichten inspiriert hat. In dieser Nacht war ich unerwartet an einen fremden Ort gebracht worden. Atlantis gehört, wie ich mittlerweile weiß, zu den Stätten, die wir Menschen nur einmal im Leben besuchen können. Ich denke, manchmal, sind es die einmaligen Erlebnisse, die uns besonders in ihren Bann ziehen.

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Böcklin, Im Spiel der Wellen, Bildmontage: Andreas Geis.

Kleine Taschenlampe brenn

Später, in einem ganz anderen Zusammenhang erfuhr ich, betrachtet man die Welt von oben und bei Dunkelheit, sind an der Küste Japans unzählige Lichtpunkte zu sehen. Es handelt sich dabei um tausende Fischerboote, die jede Nacht bei Dunkelheit mit Licht auf Fischfang gehen.

Rest & Reservoir

In seiner fotografischen Serie „rest and reservoir“ beschäftigt sich der Künstler Matthias Klos mit brachliegenden Orten im urbanen Raum.

Die Arbeit besteht aus einem subjektiven fotografischen Kompendium urbaner Natur auf Brachflächen der Städte Berlin und Wien sowie einem Text, in dem der Künstler die Wechselwirkungen zwischen Boden und Zeit über Epochen, Katastergrenzen und Vegetationsräume hinweg verfolgt.16 Betrachte ich die Fotografie [Wien, Favoriten (01 101) 1435/46], eines der Bilder dieses Arbeitszyklus, sehe ich ungeachtet des künstlerischen Konzeptes einen Ort voller Geheimnisse und Geschichten, Geschichten, die bereits geschehen, aber nie erzählt worden sind.

Ob der Öffentlichkeit des Ortes sind diese Erzählungen vermutlich unendlich in ihrer Anzahl und Unterschiedlichkeit. Ich denke an die hier stattgefundenen Ereignisse dieses innerstädtischen Gebietes und an jene Begebenheiten, die dieses Territorium über sich selbst erzählen würde. Mich macht neugierig zu erfahren, was hier passiert, wenn niemand anwesend ist, also dann, wenn kein Mensch diese Umgebung betrachtet. Ist die Poesie dieses Ortes auch existent, wenn kein kulturell geprägter Blick sich auf ihn richtet?

Ich stelle mir weiterhin die Frage, ist vielleicht die Natur, die sich hier diesen Platz erobert hat, Dramaturg*in oder Gestalter*in, in welcher künstlerischen Disziplin auch immer, oder ist es einzig der Künstler Matthias Klos, der zum richtigen Zeitpunkt die Szenerie fotografisch eingefangen hat und diese für die Betrachter*innen zur Kulisse eines imaginären Stückes macht?

Alltagsdramaturgien, so wie ich sie verstehe, bestehen zumeist aus flüchtigen Begegnungen und zufälligen Beobachtungen, die in unserer Fantasie zu Geschichten und Szenen gebildet werden, oder aber auch anders herum, aus künstlerischen Betrachtungsweisen, die wir über den Alltag legen, um diesen damit neu zu deuten und zu rahmen. Wie aber, wenn diese Vorgänge einfach so ohne menschliches Zutun geschehen und ihre Existenz für die Betrachtenden nur dadurch hervorgehoben wird, weil der Künstler zu einem bestimmten Zeitpunkt den Auslöser der Kamera gedrückt hat?

In [Wien, Favoriten (01 101) 1435/46] ist die Zeit wie in jeder fotografischen Aufnahme ein nicht veränderbares Dokument eines Momentes, und dennoch, so habe ich das Gefühl, läuft auf einer anderen Ebene das Geschehen weiter. Alles, was erzählt werden könnte, wird erzählt, und alles, was passieren könnte, passiert oder eben auch nicht.

Der Entstehung der Bilder liegt ein komplexes Konzept zugrunde, welches durch die von Matthias Klos verfassten Texte, die Bestandteil der Edition sind, sich von der eindimensionalen Form einer fotografischen Aufnahme löst und diese in Bewegung setzt.

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Klos, rest und reservoir.

Von Erkundungsgängen zu den Brachen handeln diese literarischen Aufzeichnungen und sie berichten über Menschen und deren Erinnerungen. Ob diese fiktiv oder real sind, bleibt unbeantwortet und einerlei zugleich.

Gerüche und andere sinnliche Wahrnehmungen werden durch die geschriebenen Worte visualisiert und fügen den Bildern eine neue Ebene hinzu.

Aber auch ohne diese begleitenden Texte scheinen die Bilder in Bewegung zu sein, ähnlich einer Theaterbühne mit unsichtbarer Besetzung.

Die Empfindung eines Augenblicks ist nicht reproduzierbar, denn der gleiche geschichtliche Moment wiederholt sich nie mehr,“ eine These aus Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk in Zeiten seiner technischen Reproduzierbarkeit“ und genau in dieser Aussage liegt für mich ein Teil der Faszination von [Wien, Favoriten (01 101) 1435/46].

Die Empfindung des Augenblick ist zwar in seiner Einmaligkeit festgehalten, der Blickwinkel jedoch, aus dem heraus der Künstler ihn betrachtet hat, macht den Moment immer wieder zu einer neuen Einzigartigkeit. Beide, Künstler und Betrachter*in werden zu Schöpfer*innen einer anderen Welt, die sich ständig und stets neu erfindet, vielleicht deshalb, weil die erzählten Geschichten im Hintergrund immer wieder zu neuen Erzählungen werden. Die Dramaturgien des Alltäglichen scheinen nie still zu stehen und bewegen sich ständig neu und anders in dieser Szenerie. „Ich warte auf Licht“, schreibt Matthias Klos in einem seiner Texte und beschreibt damit die Zeit, die vor dem Einfangen des Momentes steht.

Auf das Licht warten und gespannt sein, was geschieht.

Ein schöner Gedanke.

17 18

Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Ono, Drinking Piece for Orchestra.

Only over my dead body…

Einer der stärksten „Richtungswechsler“ in unserem Leben ist wohl der Tod. Nichts verändert die Geschichte unseres Lebens so radikal und kompromisslos. Egal wie die Geschehnisse des Alltags verlaufen, ob geplant oder ungelenkt, kommt der Tod ins Spiel, wird die Richtung vorgegeben, ob wir wollen oder nicht. Unsere Planung wird unaufgefordert für uns übernommen. Ganz gleich, ob das Ende unseres Daseins auf dieser Erde absehbar oder völlig unerwartet eintritt. Steht der Sensenmann einmal vor der Türe, ist in Sekundenschnelle alles anders und wir müssen immer wieder aufs Neue feststellen, egal wie gut vorbereitet wir sind, eine Generalprobe gibt es jetzt nicht mehr.

Stop: Alles zurück auf Null, ab hier gelten jetzt andere Regeln.

Unzählige Annäherungsversuche durch die Künste hat es bereits gegeben, seit der Mensch begonnen hat, sich dieser sprichwörtlich unfassbaren Zumutung zu nähern.

Vermutlich erhoffen wir durch die Erzeugung von Bildern eine Erleichterung im Umgang mit dieser schwierigen Situation zu erreichen, aber in letzter Konsequenz bleibt doch alles nur Fiktion, denn, bekanntermaßen hat uns noch nie jemand von der anderen Seite erzählt. Faszinierend und in einer speziellen Art poetisch ist für mich das Bild der Überfahrt über den Fluss, der zwischen der irdischen Welt und dem Eingang zum Totenreich, dem Hades, liegt. Der Fährmann Charon muss vor Fahrtantritt für diese Reise bezahlt werden und zu diesem Zwecke bekommen die Toten den Hades oder Charonspfennig unter die Zunge gelegt.

Vielleicht ist es der Gedanke, doch einen gewissen Einfluss auf das gesamte Geschehen zu haben, was mir an diesem Mythos so gefällt, denn ohne Cash keine Überfahrt. Bleibt natürlich zu hoffen, dass genügend Kleingeld für den Fahrschein am Ende des Lebens vorhanden ist bzw. dass die Entscheidung, auf der anderen Seite des Flusses zu bleiben, die Richtige ist. Es soll jedenfalls Menschen geben, die sich darauf vorbereiten und immer eine entsprechende Münze in der Tasche bei sich tragen.

Bei traditionellen christlichen Bestattungen am Wiener Zentralfriedhof steht stellvertretend für den Fährmann immer eine mit einem grauen Kittel gekleidete Person am Grab. Symbolisch für den Platz in Charons Barke reicht er den Trauernden eine Schaufel mit Erde, deren Verwendungszweck in diesem Zusammenhang, denke ich, allseits bekannt ist. Der Hadespfennig als Reisekostenbeitrag muss jedoch trotzdem entrichtet werden und deshalb steckt man ihn dem Totengräber dabei abweichend zur mythologischen Handlung in die Außentasche seines Arbeitsmantels. Was die Höhe des entrichteten Entgelts für die Überfahrt anbelangt, sind auch hier Änderungen zum Original-Script erlaubt und durchaus willkommen.

Und wieder könnte hier der Versuch einer Einflussnahme auf die Handlung unterstellt werden, denn der Beitrag, den die einzelnen Trauergäste leisten, hängt zumeist vom Beliebtheitsgrad der verstorbenen Person ab.

Jedes Mal aufs Neue, und hier sind wir wieder bei einer Inszenierung dieser Unfassbarkeit, überkommt mich das Gefühl, die Totengräber an diesem geschichtsträchtigen Friedhof werden für ihre Rolle gecastet, denn anders ist mir ihr skurriles Auftreten nicht zu erklären.

Wir mythologisieren den Tod und interpretieren ihn und benutzen dabei häufig die Kunst, um ihn in die Mitte unseres Lebens zu holen. Die Kunst ist hierbei ein guter Transmitter, ist sie doch zumeist abstrakt genug, um die nötige Distanz zu wahren.

Zurück zum Tod als Gamechanger. Lydia Davis hat in ihrem Erzählband „Kanns nicht und wills nicht“ auf eine wunderbar pointierte Art und Weise die Plötzlichkeit des Richtungswechsels, den der Tod mit sich bringen kann, folgendermaßen in Worte gefasst:

Ödön von Horváth wanderte einmal in den bayerischen Alpen, als er in einiger Entfernung von dem Wanderweg das Skelett eines Mannes entdeckte. Der Mann war offensichtlich ein Bergwanderer gewesen, denn er trug noch immer einen Ranzen. Von Horváth öffnete den Ranzen, der so gut wie neu aussah. Er fand darin einen Pullover und andere Kleidungsstücke; eine kleine Tüte mit etwas, das einmal Essen gewesen war; ein Tagebuch; und eine bereits adressierte Postkarte von den bayerischen Alpen, auf der zu lesen stand: »Verbringe eine wunderbare Zeit».19

Ob der Wanderer freiwillig aus dem Leben geschieden ist oder ob ihm diese Entscheidung von anderer Stelle abgenommen wurde, bleibt den Wunschvorstellungen des Lesers überlassen. Die Handlung der Geschichte kann immer genau aus der Perspektive betrachten werden, die einem momentan am angenehmsten ist. Der Tod jedoch hat die Dramaturgie bestimmt und die Postkarte lässt uns schmunzeln oder stimmt uns nachdenklich.

19 Lydia Davis, Ödön von Horvárth auf Wanderschaft, S. 144.

Über viele Jahre habe ich meine T-Shirts bei einer, ich möchte sagen, sehr speziellen Schneiderin gekauft. Es war nicht ein Einkauf von Kleidung, so wie wir ihn kennen. Im Gegenteil, im Vorfeld musste eine Eignungsprüfung zum Tragen ihrer Mode absolviert werden. Nach geglückter Aufnahme in den erlesenen Kreis ihrer Käufer*innen durfte man sich allerdings nicht zu der Annahme verleiten lassen, nun alles, was sie im Angebot hatte, kaufen zu können, geschweige denn damit nach Gutdünken umzugehen. Jede Anprobe wurde kommentiert und eine unsachgemäße Handhabung der Textilie bspw. beim Aus- oder Anziehen wurde konsequent geahndet.

Alles folgte strengen Auflagen, deren Zuwiderhandlung einen Ausschluss aus der Käufer*innenschaft zu Folge hatte. Eines Tages teilte sie mir mit, nun zu alt zu sein, um dieses Geschäft weiter betreiben zu können, und überhaupt habe kaum noch wer die nötigen Manieren und das ästhetische Feingefühl, ihrer Mode gerecht zu werden. Kompromisse einzugehen, um überleben zu können und dabei gezwungen zu sein, an Menschen zu verkaufen, die nicht verstünden, worum es ihr bei ihrer Arbeit gehe, koste sie zu viel Energie und deshalb sei der Schritt, ihr Geschäft zu schließen, die einzige Möglichkeit für sie. Ihre schräge Art, die mich immer fasziniert hatte und die aus ihrer Konsequenz entstandenen Kleidungsstücke waren mittlerweile längst Bestandteil meines Lebens geworden.

So wenig, wie sie Kompromisse beim Verkaufen einzugehen bereit gewesen war, konnte ich mir mein optisches Auftreten ohne ihre Kreationen vorstellen. Tatsächlich trug ich seit Jahren nichts anderes als ihre Shirts. Die Besonderheit lag im Material, einem besonderen Viskosegewebe, welches sich faltenlos am Körper anschmiegte und dessen Verarbeitung keinerlei sichtbaren Nähte aufwies. Ihrer Stammkundschaft wurde die Möglichkeit eingeräumt, die letzten Stücke zu Sonderpreisen zu erwerben, um sich dann mit dem Gedanken anzufreunden, dass alles einmal ein Ende hat und somit der von ihr geprägte Style nun eben einfach verschwinde.

Schockiert über diese Nachricht überlegte ich einige Tage, wie ich nun mit der Situation umgehen sollte. Vielleicht konnte ich ihr ja das Geheimnis ihrer speziellen Stoffe entlocken, diese wo anders besorgen, um sie dann von jemand anderem schneidern zu lassen. Aber allein der Gedanke daran wurde sofort gestraft. Beim Versuch, ihr die Bezugsquelle dieser besonderen Viskose zu entlocken, sagte sie zu mir: „Weißt Du, ich habe noch zwei Ballen auf Lager, damit lasse ich mich einwickeln, bevor ich ins Grab gelegt werde.“

Conclusio: Es bleibt dabei…

„Wer bloß an meiner Pflanze riecht, der kennt sie nicht, und wer sie pflückt, bloß um daran zu lernen, kennt sie auch nicht“ ¹

¹

Hölderlin, Hyperion oder Der Eremit in Griechenland, S. 9

Literatur und Quellenverzeichnis

Adorno Theodor W., Minima Moralia, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2019.

Beckett Samuel, Flötentöne, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981.

Böcklin Arnold, Im Spiel der Wellen, online unter: https://www.pinakothek.de/kunst/arnoldboecklin/im-spiel-der-wellen(zuletzt abgerufen: 31.8.2023).

Davis Lydia, Ödön von Horvárth auf Wanderschaft, in: Lydia Davis, Kann nicht und Wills nicht, Literaturverlag Droschl: Graz/Wien, 2014, S. 144.

Endres Ria, „Verstehe, wer kann“, online unter: https://www.deutschlandfunk.de/verstehewer-kann-100.html (zuletzt abgerufen: 31.8.2023).

Goethe Johann Wolfgang von, Der Zauberlehrling, in:Reclams Universalbibliothek Nr.18519, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2008.

Handke Peter Handke, Die Stunde da wir nichts voneinander wußten, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992.

Hölderlin Friedrich, Hyperion oder Der Eremit in Griechenland, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig, 2016.

Ishiguro Kazuo, The remains of the day, London: Faber and Faber, 1999, Klos Matthias, rest und reservoir, online unter: https://www.m-klos.com/cms/website. php?id=archive/071.php (zuletzt abgerufen: 31.8.2023).

Lotz Wolfram, Die Politiker, Frankfurt am Main: S.Fischer Verlag, 2019.

Mayröcker Friederike, Gesammelte Gedichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004.

Mayröcker Friederike, Schwarmgesang Szenen für die poetische Bühne, Berlin: Rainer Verlag.

Ono Yoko, Drinking piece for orchestra, Twitter-Post vom 2.3.2021, online unter: https:// twitter.com/yokoono/status/1357026328713834503 (zuletzt abgerufen: 31.8.2023).

Pirandello Luigi , Sechs Personen suchen einen Autor, Berlin: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH, 2013.

Danke

Euch allen, die mich in den letzten zwei Jahren auf meiner spannenden und großartigen Reise begleitet und unterstützt haben.

aus meinem kopf viele Antennen zu meinen Menschen Freunde 21

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Mayröcker, Schwarmgesänge Szenen für die poetische Bühne, S.186 Photo Archiv Andreas Geis