oder zur Vermeidung der Steinwerdung bei Formungen des Augenblicks durch
Master-Thesis zur Erlangung des akademischen Titels „Master of Advanced Studies (Angewandte Dramaturgie)“, abgekürzt „MAS“
Andrea Habith
Betreuerin: Mag.a Barbara Kremser, PhD Wien, 24.01.2024
Institut für Kulturmanagement und Gender Studies (IKM)
Universtität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw)
Die Beschäftigung mit der Materialität Stein und der Versuch eine Methode anzuwenden, die die Nichtversteinerung als Form einer sichtbaren Unbeweglichkeit oder unbeweglichen Sichtbarkeit verhindert, fasst die Aufgabenstellung dieser Arbeit im Fach der angewandten Dramaturgie zusammen.
Der Umgang damit in Form einer freien Recherche und sich erschließender Perspektive auf die eigene künstlerische Praxis, wie auch der Widerhall der Thematik in Gesprächen wurden zu Eckpfeilern in den Räumen, die sich mir für diese Arbeit erschlossen, oder die ich beginnen konnte zu bauen. Gesucht werden fehlende Narrative und Räume dazwischen. Ausgangspunkt ist Dramaturgie die sich in einem bestimmten Rhythmus zwischen der kleinsten Beobachtung und der großen Erzählung bewegt. Wie schafft sie als solche methodisch sich zu bewegen und zuzulassen, dass eine Dramaturgie etwas ist, das erst durch die Beobachtung entsteht. Was ist beobachtbar und woher kennen wir dieses paradoxe Verhalten? Wie lässt sich das Widersprüchliche in den Disziplinen erhalten und welches Experimentierfeld ist erzählte Zeit? Die uns zum Narrativ führt und damit wieder zur Frage, wer liest das, wer nimmt die Details auf? Was kann eine Anforderung an eine angewandte Dramaturgin sein, wenn nicht ein multidimensionales Denken, das Präzision in Fluidität durch Bewegung vom Grossen zum Kleinen erzeugt. Vom technischen Überblick zur Befindlichkeit in Sekunden. Die das Wissen einzelner zum Schwarmdenken einer Gruppe rangieren lassen kann
Es zeichnet sich ein Streben nach Bewegung aus dem Stein und folgt ein Stolpern zu einer Logik der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als Debatte im Feld. Die Anwendung der Dramaturgie in der Produktion möchte sich zur strukturellen Sichtbarkeit bekennen, während die Anwendung als schöpferischer Prozess in der Dynamik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als solche Geltung erfährt.
The research into the materiality of stone and the attempt to apply a method that prevents petrification as a form of visible immobility or immovable visibility summarises the task of this work in the field of applied dramaturgy.
Dealing with this in the form of research and an emerging perspective on my own artistic practice, as well as the echo of the topic in conversations, became cornerstones in the spaces that opened up to me for this work, or that I was able to begin to build. I am looking for missing narratives and spaces in between. The starting point is dramaturgy that moves in a certain rhythm between the smallest observation and the grand narrative. How does it manage to move methodically as such and allow a dramaturgy to be something that only emerges through observation? What is observable and how do we understand this paradoxical behavior? How can the contradictory be preserved in the disciplines and what field of experimentation is narrated time? Which leads us to the narrative and thus back to the question of who reads it, who takes in the details? What can be a requirement for an applied dramaturge if not a multidimensional way of thinking that creates precision in fluidity through movement from the large to the small, from the technical overview to the state of mind in seconds, from the knowledge of individuals to the swarm thinking of a group.
A striving for movement emerges from the stone and is followed by a stumbling towards a logic of visibility and invisibility as a debate in the field. The application of dramaturgy in production seeks to acknowledge structural visibility, while the application as a creative process is recognized as such in the dynamics of visibility and invisibility.
Table of Contents
1 2 3 +1
Anfang
1.1 Herangehensweise
1.2 Was ist Stein?
1.3 Körper der Formenden
1.4 Erziehung durch den Stein
1.5 Suche nach Bewegung
1.6 „de fora para dentro- de dentro para fora“
1.7 Blicken aus der Bewegung
1.8 Unsichtbarkeit oder Sprechen über das Handeln
1.9 Früchte der Arbeit, Früchte des Zorns
2.1 OC’s Katze
2.2 Die Frage nach der Transparenz
2.3 How To Exit The Stomach Of The Monster You Find Yourself In?
2.4 Amputation of Direction
2.5 Stein im Glashaus
3.1 Angst vor Monsterwellen
3.2 Anwendung des Ungefähr(lichen)
3.3 A sagt Dramaturg*innen arbeiten nicht mit Zahlen, Wer sagt B?
3.4 Umkehrungen zu Fragestellungen
3.5 Sculpting Light
4 Abwesenheit
Literatur
Anfang
Das Leben hat begonnen. Ich hörte meine Stimme, leise flüsternd, mich mit geschlossenen Augen eine Erinnerung gebend, während ich das Tropfen von Wasser hörte, ich war dabei, dachte ich mir, ich war bei einem Moment dabei,
Den es sonst nicht zu erleben gilt, da sofort, wenn es passiert mensch etwas dagegen unternimmt, gegen das Tropfen von Wasser aus einer kleinen durchsichtigen Vase, die umgefallen war. Das Leben hat begonnen. Regelmäßige Tropfen vom Stockbett auf ein Handtuch am Boden. Wie lange wird das dauern, bevor jemand, in diesem Fall ich, die da gerade ihr Handy unter der Matratze hervorholt, um sich kurz vor dem Einschlafen selbst eine Erinnerung geben zu können, die Vase wieder aufstellt? Wie lange kann ich in diesem Nichtmoment bleiben, zuhören und mir Gedanken machen über die kurze Nachricht, die ich mir selber geben werde für den nächsten Tag, während es tropft und ein kleiner Strauß mit Blumen und Pfefferminze, den ich mir nach dem Nachhause kommen auf das Bett gestellt habe, was ich während dem Zähneputzen und Versorgen vier weiterer Sträuße wieder vergessen hatte, als der Strauß im Dunkeln umfällt. Während ich es vergessen habe.
Um nicht die Situation und weiteres zu vergessen, gab ich mir eine Sprachnachricht für den nächsten Tag, wofür ich das Mobiltelefon unter der Matratze hervorholen musste. Und während ich das Tropfen hörte, kam eine wichtige Erinnerung in mir hoch, an eine Szene in einem Theaterstück, wo es um Pygmalion gehen sollte. In einer Zwischenszene gibt es einen technischen Umbau, der von einer Schauspielerin und einem Schauspieler gemacht wird. Sie verschieben ein zuvor als Tisch fungierendes Bühnenelement so, dass eine Blumenvase unfällig, zufällig oder überfällig umgestoßen wird, langsam fließt das Wasser aus der Vase, die Blumen liegen schimmernd am nassen Bühnenboden und verschwinden langsam im Black das die nächste Szene andeutet.
Das Leben hat begonnen. Ich hatte also fünf Sträuße in meiner Wohnung stehen, einer war bereits umgefallen. Die anderen vier waren verteilt in der Wohnung auf Tischen oder Tischchen, einer am Boden auf einer Steinplatte vor meinem Zimmer. Die Woche davor hatten wir meine Großmutter begraben. Sie war verstorben, als ich im Zug war und die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte. Meine Mutter hatte mich angerufen, ich fuhr direkt hin und löste sie ab. Es war mein erster Kontakt mit einer toten Person und da es viele Personen gab, die nicht anwesend sein konnten, beschloss ich in dieser ruhigen Stunde ein Bild der Großmutter, eine Totenmaske zu zeichnen. Ich hatte in dieser Zeit zwei Gedanken, die mich später, als das Wasser von meinem Hochbett tropfen sollte, als Sprachnachricht erinnern würde. Wenn ich sterbe, möchte ich alleine sein und jetzt, da ich die zwei Gedanken aufschreibe, fällt mir noch einiges zu der Konversation ein, die ich stumm mit der toten Vorfahrin geführt hatte. Der zweite klare Gedanke war, dass ich mir wünschte, dass alles voller Blumen wäre und zwar für mich einerseits, aber auch für die Gesamtsituation, der Tot als opulentes Moment, ein Momentum, dass das Blühen neben sich verträgt und das in hohem Maß. Am Abend davor, kurz nach einem Vortrag von Friedl Kubelka, war ich das erste Mal zugegen, als weit nach Dienstschluss drei Blumenbinder*innen für das jüdische Neujahr am nächsten Tag noch einige Bestellungen bearbeiteten.
Ich trat ein, in das Geschäft, und für einige Stunden konnte ich etwas beobachten und gleichsam jetzt in der Erinnerung nur berichten, dass ich es nicht gesehen hatte. Sechs eifrige Hände heben sich ab vom dunklen Boden, umringt von den leuchtenden Farben ihrer unzähligen Protagonistinnen. Unter strengem Regiment durfte ich kleine Sträußchen binden, oder einzelne Blumen holen und während ich einen kurzen Schritt in eine Richtung machte, schien schon wieder ein Bouquet fertig da zu liegen, oder in einer Vase zur Abholung bereit zu warten. Es war nicht sichtbar, wann welcher Schritt kam, es war ein Fluss, ein tänzeln, es war unsichtbare Perfektion, es war spielen mit Farbe und Form, hinter der sich Jahre der Übung und harte Arbeit nicht zeigte. Einfach nicht zeigte. Hätte es das, wäre es vorbei, es wäre wie ein nachvollziehbares Wunder oder ein erklärter Zaubertrick, ein provozierter Zufall, ein von sich oder „der Wahrheit“ überzeugtes Theaterspiel. Die Dramaturgie war nicht sichtbar. Wenn sie es wäre, wäre sie es nicht selbst, die sich zeigen würde. Im Dunkeln, zwischen den Szenen, kurz vor dem Einschlafen, tropft es vom Hochbett hinunter auf ein Handtuch. Meine Augen schließen sich und es folgt das BLACK. Ich bleibe für eine Nacht im Szenenübergang mit der umgefallenen Vase, und verstecke das Gerät mit der Nachricht an mich selbst noch unter der Matratze.
1.1 Herangehensweise
Gefragt werdend von Menschen in meiner Umgebung, oder Menschen die sich kurzzeitig in meiner Umgebung befindend: während ich an der Nichtsteinwerdung arbeite, werde ich auf unterschiedliche Arten in ein Gespräch zu meiner Arbeit verwickeln.
Da ich den eingereichten Titel meiner Arbeit manchmal verlernt1 hatte, musste ich auf eine andere Art und Weise darauf zu sprechen kommen. Aus dieser Praxis entwickelte sich aus der Vermeidung der Steinwerdung die Verhinderung der Steinwerdung und mündet in der von mir gebräuchlichen Begrifflichkeit der Nichtsteinwerdung. Luise Knott zitiert die Schriftstellerin Nelly Sachs in ihrem Buch „Denkwege bei Hannah Arendt“ und dem zweiten Kapitel „Verlernen“ : „Du in der Nacht mit dem Verlernen der Welt beschäftigte.“2
In einer Buchhandlung in Tartu, der europäischen Kulturhauptstadt 2024 finde ich in dem kleinen Regal für ausländische Druckwerke das Buch: „Levi Strauss- Mythologica- Das rohe und das gekochte, über die Bildung von Mythen.3 Beim Spaziergang entlang der Linda4 denke ich über die Zeilen am Buchrücken nach. Ich denke auch, vielleicht sollte ich noch mehr über Pilze5 lernen und gehe die gerade Gasse entlang, bis zum Ende, drehe um und gehe wieder zurück. Ich habe in der Zeit der Recherche zur Nichtsteinwerdung einige Ideen dazu gehört, mir Kontexte eröffnen lassen, Erklärungen oder Visionen darüber angehört und darüber nachgedacht.
1 Vgl. Marie Luise Knott, Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt, Berlin: Matthes & Seitz 2011.
2 Marie Luise Knott, Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt, Berlin: Matthes & Seitz 2011 S. 61.
3 Claude Lévi-Strauß, Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Berlin: Suhrkamp 132000.
4 Anmerkung: Kleine Straße in Tartu, Estland
5 Vgl. Anna Lowenhaupt Tsing, Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Berlin: Matthes & Seitz 2018.
Beim Streuen des Begriffs konnte ich unwillkürliche Reaktionen beobachten oder mich mit meinen Gesprächspartner*innen aus unterschiedlichsten Feldern in verschiedenen Formen manchmal auch ohne Worte darüber austauschen. Meist, konnte ich eine bestimmte Art den Kopf zu Bewegen feststellen, eine Art interessierter, wenn auch befremdeter Widerhall zeichnete sich verblüffend ähnlich ab. Vielleicht ist das eine Bewegung die ich gerne sehen wollte, um meine Recherchevorhaben zu verwirklichen.
Die körperliche (unwillkürliche Reaktion) meiner Gegenüber auf den poetisch-abstrakt umschriebenen Titel dieser Arbeit, gab mir Inspiration und bestärkte mich im Versuch meine Forschung und den damit verbundenen Versuch eine angewandte Dramaturgie als solche zu fassen, was sich als schwierig, wenn auch umso reizbarer erwies. In jedem Fall erzähle ich in dieser Fassung der Nichtsteinwerdung die Version, die sich im Frühsommer 2023 aufkommend und im Spätsommer 2023 konkret begonnen hat für mich als Abschluss des angewandten Dramaturgie Lehrgangs an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, zu spinnen. Eine tiefe und weite Erfahrung zwischen Sicherheit und Verlorenheit, die sich rhythmisch in der Vita integriert und sich hier als Annäherung an ein methodisches Vorgehen, als auch Überlebensstrategie im freien Schaffensprozess erweisen kann. Da ich, mitunter durch die Theaterarbeit gewohnt bin in Räumen
1.2 Was ist Stein?
Das Meer betrachte ich am liebsten von den rauen warmen Felsen aus, die Sicherheit und Festigkeit im Rücken, als würde ich ihre Form durch die Hitze der Sonne annehmen und unter dem Betrachten der ständigen Bewegung des Wassers aufweichen. Die liebste Form der Nichtsteinwerdung.
1.3 Körper der Formenden
„Stein“ im Suchfeld der städtischen Bibliothek wird eingegeben. Ich stoße auf ein Buch, dass sich als Romanbiografie versteht. Es zeichnet im „Stakkato-Stil“, wie TheEagle236 es auf amazon. de rezensiert, das Leben einer gewissen Camille Claudel mit dem Titel „Ein Leben in Stein“ im Jahr 1990 erschienen, nach. Verfasst von einer Bewunderin der Bildhauerin namens Barbara Krause (Barbara K.) : „1982 lese ich in einer französischen Frauenzeitschrift die Rezension über das Buch von Anne Delbée: „Eine Frau. Camille Claudel. Damit beginnt der lange Weg der Annäherung.“7
Ich traue Barbara K’s Ausführungen nicht ganz, keine Quellen zu den Zitaten. Der/die anonyme Rezensent*in The Eagle23 formuliert es in der berüchtigten Verkaufsplattform wie folgt:
„Denn eine Romanbiografie ergibt dann Sinn, wenn für eine echte Biografie zu wenig Material existiert. Und das scheint über Claudel der Fall zu sein. Also bettet Krause die bekannten Fakten in eine kontinuierliche Handlung ein, die in den letzten Jahrzehnten von Claudels Leben dann flüchtiger wird, soweit ich das richtig erahne. Denn die zweite Hälfte habe ich zum Teil querund zum Teil gar nicht mehr gelesen. I’m so sorry. (…)“8
Die Lektüre, es lässt sich nicht verneinen, ist ein Einstieg in das Thema Stein und ich bin froh Camille Claudel dafür gefunden zu haben. Was von der Künstlerin ohne über interpretieren-, oder sich ihrer Biographie bemächtigen zu wollen- bleibt, ist ihr bildhauerisches Werk, eine Annäherung von außen nach innen, weniger von innen nach außen kann folgen. Bezeichnend für die Rezeption ihres Werkes ist, dass sie kaum alleinstehend genannt wurde und genannt wird.
Erst im Jahr 1984 findet eine große Retrospektive der von 1864 bis 1943 in Frankreich geborenen Künstlerin im Rodin-Museum statt.9 Ich erinnere mich nicht mehr daran, wann mir ein Bild von „Der Gedanke“ in der Recherche das erste Mal auffiel. Bestimmt aber, bevor ich ein Foto einer ihrer Skulpturen sah. Eine Marmorbüste mit dem Namen „La Pensée“, geschaffen ca. 1895 von Auguste Rodin. Die Büste zeigt Camille Claudel, die Bildhauerin in einem Marmorblock. Camille Claudel, die Körper in Stein geformt hat und die Kunst des Bildhauens durch ihre Arbeitsweise maßgeblich beeinflusst und etwa 30 Jahre ihres Lebens in einer französischen Irrenanstalt verbrachte. Die Büste zeigt sie in diesem rechteckigen Block aus Stein.
1.4 Erziehung durch den Stein
Beim Schreiben erkenne ich meine Hände nicht wieder, bin eine Fremde vor der Lektüre und beginne Kreise zu ziehen.
Das Buch von Barbara Krause ist in der Bücherei bereits aus dem Handapparat ausgeschlossen worden und muss aus dem Magazin geholt werden, was sich machen lässt. Wie auch ein Gedichtband, der sich durch das „Stein“ im Titel heben lässt: „Erziehung durch den Stein“ von João Cabral de Melo Neto, einem brasilianischen Diplomaten und Lyriker geboren 1920 in Recife. Gedichte auf Portugiesisch und Deutsch, eine Auswahl.
9 Vgl.Barbara Krause, Camille Claudel. Ein Leben in Stein, Berlin: Verlag Neues Leben GmbH, 21991, S.7.
„A Educação Pela Pedra10
para aprender da pedra, frequentá-la; captar sua voz inenfática, impessoal (pela de dicção ela começa as aulas).
A lição de moral, sua resistência fria ao que flui e a fluir, a ser maleada; a de poética, sua carnadura concreta; a de economia, seu adensar-se compacta: lições da pedra (de fora para dentro, cartilha muda), para quem soletrá-la.
Outra educação pela pedra: no Sertão (de dentro para fora, e pré-didática).
No Sertão a pedra não sabe lecionar, e se lecionasse, não ensinaria nada; lá não se aprende a pedra: lá a pedra, uma pedra de nascença, entranha a alma.
10 João Cabral de Melo Neto, Erziehung durch den Stein. Gedichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1989, S.233.
Erziehung durch den Stein
Erziehung durch den Stein: durch Lehren; um vom Stein zu lernen, mit ihm zu verkehren, seine unpathetische, unpersönliche Stimme einzufangen (mit der Ausdrucksweise beginnt er den Unterricht).
Die Lehre der Moral, seine kalte Widerstandskraft gegen das Fließende und das Fließen, das Geformtwerden, die der Poetik, seine konkrete Fleischigkeit, die der Ökonomie, sein kompaktes Sichverdichten:
Lehren des Steins (von außen nach innen, stumme Fibel) für den, der sie buchstabieren will.
Eine zweite Erziehung durch den Stein: im Sertao (von innen nach außen, und vordidaktisch).
Im Sertao versteht der Stein nicht zu unterrichten, und unterrichtet er, er würde nichts lehren; dort lernt man nicht den Stein: dort beherbergt der Stein, ein Stein von Geburt, die Seele.“
Alles beginnt bei Camille. Cabral folgt ihr, als Schulabbrecher wegen Krankheit und Autodidakt und auch er hat sich in seiner Lyrik, ähnlich wie Camille Claudel in der Bildhauerei, gegen Strömungen ihrer und seiner Zeit mit künstlerischen Mitteln zur Wehr gesetzt.11
Im Buchdeckel, wo eine Beschreibung zu Cabral eingeklebt wurde, ich denke es handelt sich um den Klappentext der Ausgabe, mit lindgrünen Büchereistempeln aus den 1990ern, heißt es: „In Brasilien gilt João Cabral de Melo Neto als der „große Befreier der Poesie von der Pest der Metaphorik“. Ich schlage den Gedichtband auf. Bei der Suche nach „Erziehung aus dem Stein“, das mich eine Bewegung vorausahnen lässt, die ich brauche, um dieses Material des Steins begreifen zu lernen, begegnet mir nach „Mit Kaugummi zu Kauen“ und „Landschaften aus dem Telefon“ endlich dieser Perspektivwechsel in Verbindung mit dem Stein. Es zeichnet sich eine Bewegung ab, in dieser Materialität, welche Heidegger, gelesen in Byul Chung Hangs „Im Schwarm“ als „das bloßes Ding, (ein Stein, hat kein Licht in sich)“
11 João Cabral de Melo Neto, Erziehung durch den Stein. Gedichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1989, S.279.
12 Byung-Chul Han, Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Berlin: Matthes & Seitz 42017, S.279.
1.5 Suche nach Bewegung
Frei nach Efva Lilja:
Exercise 2013
„Express your opinion about what constitutes movement and write it down. Do it.“
Warmer Stein
Kalter Stein
Machen Sie ein kleines Feuer an einem Fluss, dessen Ufer mit großen Steinen bedeckt ist. Warten Sie bis es dunkel ist und ganz leicht regnet. Nehmen sie zwei ihrer engsten Vertrauten mit. Sammeln sie das Holz, dass nur oberflächlich feucht ist und legen sie einen Kreis von großen Steinen. Zwei von ihnen können damit beginnen das Feuer zu machen, während die dritte Person entweder (schon) schläft, oder das gesammelte Holz mit Hilfe des Schienbeins in kleinere Stücke bricht. Wärmen Sie sich am Feuer und rücken Sie die Steine nahe an die Glut. Essen Sie etwas, das sich am Feuer erwärmen lässt, aber auch anders verzehrt werden kann. Legen Sie, so oft nach, wie Feuerholz da ist und gehen sie abwechselnd auch einmal eine Runde vom Feuerplatz weg, in die Dunkelheit. Das Feuer sollte nicht höher als 35 cm hoch brennen. Versuchen sie im Schein des Feuers (vegane) Würstchen zu grillen und Ketchup darauf zu verteilen. Werfen Sie rohe Kastanien in die Glut und verbrennen Sie sich nicht zu sehr beim öffnen der Schalen (die sie vorher eingeritzt haben, mit unterschiedlichen Mustern). Löschen Sie das Feuer mit Wasser vom Fluss, dass sie mit ihren Händen zur Feuerstelle transportieren. Nehmen sie für den Nachhauseweg je einen kalten und einen warmen, großen Stein und vergleichen sie lange und wiederholt ihre Empfindungen was die Bewegung des Materials betrifft. Alle können alle Steine halten und vergleichen.
13 Efva Lilja, 100 ÖVNINGAR FÖR EN KOREOGRAF OCH ANDRA ÖVERLEVARE. 100 Exercices for a Choreographer and Other Survivors, Borås, 2017, S.26.
Warmer Stein Kalter Stein, mit: Michi Schmidl, Foto Andrea Habith, 30.10.2023, Kritzendorf bei Wien
Warmer Stein Kalter Stein, mit: Michi Schmidl, Foto Andrea Habith, 30.10.2023, Kritzendorf bei Wien
1.6 „de fora para dentrode dentro para fora“14
Die Bewegung hat zwei Richtungen, die eine von außen nach innen, „für den, der sie buchstabieren will“, wie es heißt. Die Formel lautet „de fora para dentro“. Die zweite als „de dentro para fora.“ „vordidaktisch“ im „Sertao“ einer halbwüstenartigen Landschaft im Nordosten Brasiliens, in dem der Dichter und Diplomat aufgewachsen ist, als Gegenpolung. „Es ist immer etwas Fernes, was der Mensch bei sich trägt.“ , findet sich als Richtwert im Nachwort von Curt Meyer-Clason, wenn dieser sich fragt: „Transzendente Immanenz oder umgekehrt“? Und er Cabral im Gespräch darüber antworten lässt:
„In dem Menschen, in dessen Leib ein Messer (eine fixe Idee, eine Obsession) steckt, ist zwangsläufig all sein Feuer entfacht, all seine Empfindlichkeit, all seine Fähigkeit: Er kann sich weder entspannen noch vergessen, er kann auch nicht aufgehen in seiner Umwelt. Immer wird er überwach, überempfindlich sein wegen jener Schmerzspitze: des in seinem Muskel begrabenen Messers.“15
„Mithin eine radikale Dichtung?“ fragt sich der Rezensent, während er einen Vergleich zum jungen Karl Marx zieht, für den radikal sein hieß, „ (…) die Sache an der Wurzel (radix) fassen „weil die Wurzel für den Menschen der Mensch selbst ist“.16
Auch Cabral sieht das Wort17 als Ding: „ Minerals ist das geschrieben Wort“ und wie Meyer-Clason weiter ausführt ist Cabrals Dichtung „ein unaufhaltsames Abenteuer des Sichtbarmachens, der unablässige Aufbruch zur Bestandsaufnahme der Welt“.18
14 João Cabral de Melo Neto, Erziehung durch den Stein. Gedichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1989, S.233.9
15 João Cabral de Melo Neto, Erziehung durch den Stein. Gedichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1989, S.284-285.
16 Ebd.
Naturhistorisches Museum Wien, Eintrittskarte, Foto
Verlag, 1989, S.289.
18 Ebd.
Andrea Habith
17 João Cabral de Melo Neto, Erziehung durch den Stein. Gedichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Das ist ein Startschuss, eine Sprengung, passend zu der Lektüre über die Bildhauerin. Der Sommer endet, ich suche am ersten Regentag, die Stadt dampft noch, mit allen gebliebenen Tourist*innen das Naturhistorische Museum auf. Die Fenster sind geöffnet um etwas frische Luft in die alten Räume zu lassen, das Licht von der Welt draußen fällt ein, ich bin umgeben von einer realen Vielzahl an Steinen und Farben, eine Welt aus Steinen in künstlichem Licht mit Gedanken von draußen die mit einander zu kommunizieren scheinen, die ich aber durch die Glasscheiben nicht begreifen kann.
Immer wieder neu das Form-finden, hier um über meine Theatererfahrung zu schreiben, schreiben zu können. Die Arbeit als Regisseurin, später als angewandte Dramaturgin konnte ich stets als Arbeit in einer Kreisform fassen. Etwas, was mich am multidimensionalen Arbeiten durchwegs fasziniert. Die Dimensionen sind komplexe Sichtweisen und werden zu erlebten Inhalten über Erfahrungen, gerichtet auf eine Bühne. Es sind aber auch Lebensabschnitte und Verwirklichungen einer Person, die für Zeiten den Blick in diese Richtung wirft, oder geworfen hat. Was dieser Zeit für mich gleich bleibt ist eine stetige Bewegung hin und weg von dem was vielleicht allgemein als Theater begriffen wird. Eine Annäherung und damit oft (wenn auch nicht immer) verbunden eine bewusste oder unbewusste Entfernung, um sich wieder zu ver-orten, um zu heilen oder sich nicht blicken zu lassen.
Die Beschäftigung mit der Materialität, die wie wenig anderes Zeit trägt, Manifestation ist, für das Dasein in stummer Form, war mir ein Rätsel, das ich mir um die Tür zu dieser Arbeit zu öffnen selbst gegeben habe. Die Beschäftigung mit Stein, wie sich zeigte, ist eine Form der Schürfung, der Abtragung, ein hingehen und zu Tage treten lassen. Ein Grund für mich die Möglichkeit zu ergreifen, das Studium der angewandten Dramaturgie für 2 Jahre zu absolvieren war ein nötiger Schliff für meine Auseinandersetzung im Feld. einerseits und ein Schliff für die manchmal leise, manchmal schrille aber immer komplexe und vieldimensional gefühlte und durchlebte Zeit dieser stetigen Bewegung hin und wieder weg. Im Theaterdenken, in der Theatertechnik, im zeigen und Beobachtung ermöglichen, Blicke generieren.
Naturhistorisches Museum Wien, Eintrittskarte, Foto
Andrea Habith
1.7 Blicken aus der Bewegung
DIALOG ZUGFAHRT GEGEN DIE
FAHRTRICHTUNG
1: Nein ich bin nicht alleine hingegangen
2: du warst mit jemandem unterwegs?
1: ja ich war am Weg dahin, mit jemandem unterwegs
2: hat diese Person auch?
1: was meinst du? ob sie auch, hineingegangen ist?
2: nein, ich meine ob die Person auch etwas aufgehoben hat.
1: wir sind zusammen auf die idee gekommen
2: aber du hattest den Stein in der Tasche.
1: ja ich habe den Stein in der Tasche gehabt.
2: auch im Theater?
1: ja ganz besonders da. ich habe ihn jedoch an der Garderobe abgeben.
2: um ihn dann abzuholen.
1: um ihn, den Stein dann abzuholen, als ich in der Pause gegangen bin.
2: um nicht zu vergessen.
1: um nicht zu vergessen?
2: in der Pause zu gehen..
1: ..ja vielleicht.
2: um nicht zu vergessen den Stein mitzunehmen, aus der Garderobe
1: den Stein nicht zu vergessen, der mich erinnert.
2: an was erinnert? an deinen Mantel in der Garderobe?
1: das ich gehen kann!
2: du kannst hineingehen, also kannst du auch hingehen, rausgehen..
1: mit dem Stein gehe ich leichter
2: in der Pause. du bist in der Pause gegangen.
1: habe ich dir von dem Stein erzählt?
2: erst viel, viel später. ich erinnere mich nicht
1: ich meine ihn gezeigt zu haben, verschmizt lächelnd.
2: mir nicht. ich wusste nichts davon, aber ich habe es geahnt.
1: was?
2: dass du in der Pause gehen würdest.
1: ich habe die ganze Nacht gebraucht um meine Wut zu sortieren.
2. wie meinst du das? warst du wütend, weil du gegangen bist?
1: ich war nicht wütend, weil ich gegangen bin
2: hast du dir gedacht, dass du gehen würdest?
1: ich habe mir die möglichkeit offen gehalten, es für wahrscheinlich gehalten.
1: was?
2: dass du in der Pause gehen würdest.
1: ich habe die ganze Nacht gebraucht um meine Wut zu sortieren.
2. wie meinst du das? warst du wütend, weil du gegangen bist?
1: ich war nicht wütend, weil ich gegangen bin
2: hast du dir gedacht, dass du gehen würdest?
1: ich habe mir die möglichkeit offen gehalten, es für wahrscheinlich gehalten.
1: sitzt du gerne in die fahrtrichtung?
2: ich mag beides. du?
1: jetzt sitze ich gerne gegen die fahrtrichtung
2: hast du den stein dabei?
1: nein, natürlich nicht.
2: ist das ein marmorstein?
1: das ist gut möglich.
2. wird dir nicht schlecht? wenn du so sitzt?
1: du meinst, wie gestern?
2: gestern war dir schlecht?
1: ja, aber anders schlecht.
2: du hättest dich im theater nicht umdrehen können.
1: vielleicht hätte ich aber die zweite hälfte dann gesehen.
2: gehört meinst du.
1: ja genau, gehört. das klingt einfacher.
1: ich habe die ganze nacht gebraucht, um sagen zu können, was war.
2: war was? was war?
1: also um beiläufig zu klingen wenn ich etwas sage, oder genau sage, was war.
2: hast du geübt?
1: ich übe gerade.
2: wie hast du das gemacht?
1: ich habe sortiert.
2: gegen die fahrtrichtung
1: ja, so hat es sich angefühlt.
2: wie fühlt es sich jetzt an.
1: wenn ich tief einatme kann ich es dir sagen.
2: du musst auch ausatmen.
1: ohne dabei zu sprechen.
2: klingt einfach.
1: bestellst du dir etwas?
2: ja, unbedingt.
1: kannst du mir beschreiben, was du siehst?
2: du meinst aus dem fenster sehend?
1: nein, ich meine ob du die gruppe, siehst, zu der wir gehören?
2: die gruppe, sitzt am ende des Speisewagens
1: sie sind weit genug weg?
2: du meinst weit genug weg, um sie in ruhe beschreiben zu können?
1: ja um sie beschreiben zu können.
2: ohne dass sie das gefühl haben
1: ich spräche über sie
2: du hättest dich vorher auf diese seite setzen können
1: ja es waren beide seiten frei
2. du wolltest die gruppe nicht anschauen
1: der abstand ist weit genug, aber lieber nehme ich in kauf, dass mir ein bisschen schlecht wird
2: sie haben bestellt und sitzen eng gedrängt da, sie lachen immer wieder, hörst du eh
1: ja ich höre es. ich kann es mir vorstellen, wie sie über gestern abend reden.
2. der kellner kommt jetzt gleich an uns vorbei
1: ich mache die augen zu, bestellst du für mich Tee?
2: ja, kein Problem.
2: warum hast du ihn nicht angeschaut?
1: ich konnte nicht, ich wollte den Gedankengang nicht verlieren
2: er wird bald wiederkommen
1: das macht mir nichts
2: ich dachte, sie würden schon anfangen zu trinken
1: das gelächter klingt ein bisschen so
2: sie sitzen jetzt noch enger, es gibt jede menge flaschen und gläser, tassen und kännchen
1: daher die geräusche
1: jetzt sprechen sie von gestern?
2: ja und von heute, also den erwartungen
1: wie sind deine erwartungen
2: ich habe sie sortiert
1: wann?
2: gestern abend.
1: nach dem theater?
2: währenddessen, ausser in der Pause
1: ich habe als wir vorhin geübt haben, über das von gestern zu reden, einen blick gespürt
2: du meinst, sie haben herübergeschaut? da gab es mehrere momente
1: es gab mehrere momente, bestimmt
2: als ich noch dort war, und dort kein platz für dich frei war, bist du hierher gegangen
1: ich bin hierher gegangen und habe aus dem zugfenster geschaut, gegen die fahrtrichtung
2: und das war der moment wo alle hingeschaut haben
1: bestimmt, von ganz hinten im Speisewagen, es war ziemlich dunkel dort, oder?
2: es sind die gleichen fenster, aber ja es war bestimmt dunkel
1: wenn ich mich anders hingesetzt hätte
2: hätten sie deinen blick gespürt
1: die ganze zufgahrt lang, oder gehört.
2: je nach dem, aber ja, die ganze zugfahrt lang
1: kann ich meine sachen dalassen, ich muss kurz rüber
2: ja mach das, ich bleibe hier
1: du kannst dich auch gerne kurz auf meinen platz setzten
2: so lange wird es doch nicht dauern? oder.. willst du aussteigen?
1: ich habe kurz daran gedacht, aber..
2: du hast nicht einmal einen stein..
1: ..genau, eben geht nicht. du kannst sie wenn ich nicht da bin aber nicht beobachten
2: warum nicht?
1: das ist zu auffällig
2: ich versuche durch die spiegelung im fenster zu schauen
1: erzähl mir genau, was ich verpasst habe
2: mache ich, aber dein Tee wird kalt werden
1: ich beeile mich, erzähl mir vor allem, wenn sie laut lachen
2: mach die augen auf, wenn du durch den Speisewagen gehst
1: mach ich
1: ich freue mich, dass wir gesprochen haben, über gestern
2: fühlst du dich besser?
1: ja ich fühle mich leichter, vielleicht sehe ich mir die zweite hälfte einmal an
2: glaub ich nicht
1: nein eh nicht, bestimmt nicht
1.8 Unsichtbarkeit oder Sprechen über das Handeln
Es scheint manchmal schwieriger als gedacht über die verbrachte Zeit zu berichten. Eine Möglichkeit Wege zu finden, um zu berichten ist, diese mit erzählbaren Handlungen zu füllen. Der Wunsch zu belegen, dass die Zeit verbracht wurde, kann dazu führen einer Tätigkeit nach zu gehen, die sich in der Zeit insofern manifestiert, als erzählbar wird. Folgen wir dem Wortspiel: alles ungefähr also ungefährlich, liegt in der Präzision ein mögliches Gefahrenpotential? Wie Präzise lässt sich Zeit verbringen und ist es wirklich die Verschwommenheit einer Tätigkeit, oder auch nur die Verschwommenheit einer Erinnerung an eine Tätigkeit die uns eine Art von Sicherheit im Sinn von nicht gefährlich vermittelt?
Könnte sein. Es kann aber auch sein, dass es sich umgekehrt verhält, und in einer gewissen Unsichtbarkeit, wie zum Beispiel einer Blackbox im Theater eine, gefährliche da nicht ungefähre Präzision erreicht werden kann, die sich dadurch erst ermöglicht, da wie in einem Labor, von Einflüssen vom Außen abgeschnitten, nicht aber isoliert sondern in der Gesellschaft, aber ohne zu erzählen, als wäre diese erlebte Wahrheit, also das was erlebt und schlüssig wieder gegeben wird, schon gefährlich. Gefährlich im Sinn von nicht verdaubar als kompakte Form, da sich nicht in das Gesetz von werden- und entstehen einbringend, künstlich geschaffen.
Warum trägt aber diese Präzision Gefahr? Gefährlich für wen, wäre die erste Frage. Gefährlich für das Geschöpf, das es erschafft, weil es angreifbar wird, fest und unbeweglich da steht in der akuten Gefahr, es also zu dem wird, was es vertritt. Das Risiko einer präzisen Aussage, greift für eine Zeit in das Vermögen einer stetigen Entwicklung ein. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen der schöpfenden Person und der Schöpfung. Das wäre eine Möglichkeit um über Schauspiel und Regie und Dramaturgie zu schreiben, und über die Variablen in der Handhabung, die damit verbunden sind. Noch, haben wir uns der Gefahr nicht ganz angenähert.
Die Gefahr beläuft sich darauf, dass sich das was beobachtet wird verändert, in der Wechselwirkung der Beobachtung. Es entsteht der Beginn einer „Feedback- Schleife“19 Wo es das wird, was wir befürchten, das es ist, was es nicht ist, aber was es werden könnte, wenn wir zu nahe hin gehen. Es zu genau nachzeichnen für ein anderes Augenpaar, was eine gestockte Aufnahme wäre, einer Idee, was sich also aus der Möglichkeit der Entwicklung nimmt. Durch die Beobachtung. Diese Gedanken in einem Gespräch nachzeichnend, wurde der Gedankengang als metaphysisch bezeichnet, was ich insofern verstehen kann, als es sich hier um Begrifflichkeit handelt. Am Theater, wo etwas geschaffen wird, was dann nur für eine sehr kurze Zeit da ist, danach nie mehr wieder, wo die Zuschauer*innen als Gegenüber den Raum erst öffnen20, geht es meiner Erfahrung nach sehr technisch zu. Es gilt ein Handwerk zu verstehen und anzuwenden, das sich wie folgt beschreiben lässt, was ich gerne hier machen möchte, um die Diskussion für kurze Zeit auf den Theaterkontext zu beziehen.
Die handwerkliche Sichtweise und das Wissen um die mögliche Verschiebung von Vorzeichen, wenn etwas auf eine Bühne gehoben wird, ist etwas was, sich gedanklich vereinfacht beschrieben in einem Dreieck abspielt. Die Regie vermittelt über eine textliche Grundlage einem Schauspieler oder einer Schauspielerin die Geschichte und darauf entsteht die Figur, die handelt, und deren Handlungsraum von den Zusehenden generiert wird. Was wird gesehen? kann im Theater beantwortet werden durch, was wird beleuchtet, wo wird die Aufmerksamkeit hingelenkt, und das ist der Punkt wo sich diese dreieckige Blickachse wieder zur Regie zurück bewegt, da diese mit Hilfe der Dramaturgie, die einekreisbildende Funktion hat, dieses Handeln über das Publikum denkt.
19 Erika Fischer-Lichte. Ästhetik des Performativen, Berlin: Suhrkamp 2004, S.59.
20 Vgl. Ebd.
Rein technisch ist es also ein komplexer Vorgang, an dem sich die Regie sehr nahe dem Spielenden annähert, dessen Spiegel wird, den Raum aufmacht um sich danach aufzulösen, und dem Publikum diese Aufgabe zu übertragen. Der Blick aber ist geformt, manipuliert, wenn auch nicht bestimmt, da alle Möglichkeiten immer da sind, etwas zu sehen. Der trapantisch anwesende erste Zuschauer21 bzw. die Versicherung über den Bestand des Produktionsraumes übernimmt klassisch die Dramaturgie, deren Frequenz von Anwesenheit und Abwesenheit im Probenprozess fundamentale, strategische Mittel sind. Abwesenheit als bewusstes Distanz-nehmen. Die Dramaturgin Marianne van Kerkhoven zitiert Susan Sontag in ihrer Aufzählung über das dramaturgische Arbeiten „Sehen ohne den Stift in der Hand: „( ) Distanz ist oft mit dem intensivsten … Gefühlszustand verbunden, in welchem die Kälte oder Unversöhnlichkeit, mit der etwas behandelt wird, das Maß für das unstillbare Interesse ist, das ein Gegenstand für uns hat.“22
So in etwa könnte einen Formulierung zu den Spielregeln in einer Blackbox, dem geheimen Schaffensraum einer Theaterproduktion lauten.
1.9 Früchte der Arbeit, Früchte
des Zorns
Es scheint manchmal schwieriger als gedacht über die verbrachte Zeit zu berichten. Eine Möglichkeit Wege zu finden, um zu berichten ist vermutlich, diese mit erzählbaren Handlungen zu füllen. Der Wunsch zu belegen, dass die Zeit verbracht wurde, kann dazu führen einer Tätigkeit nach zu gehen, die sich in der Zeit insofern manifestiert, als erzählbar wird, sich manchmal in einem Objekt oder ganz anderen Formen niederschlägt.
21 Vgl. Marianne van Kerkhoven, „Sehen ohne Stift in der Hand“, Theaterschrift 5/6 1994,S.142. 22 Ebd.
Früchte der Arbeit
Früchte des Zorns , Abschlussarbeit MDW Wien 2023
2
Um über den Stein zu sprechen, bedeutet in dieser Arbeit, Komponenten zu heben, die nach dem sie sich füllen lassen verschwinden. Das Festhalten eines Erlebens, das Vertrauen in den Rhythmus und Wechsel der Dinge, das Lernen dieser Fertigkeit erfordert dieses zu einem hohen Maß auch im Schreiben selbst.
Keine Kritik ohne Konstruktion
(Er-Zeug(er)*innen)
Er-Zeugung (er)* innen -er
Zeug*innen
Zeug*er innen
2.1 OC’s Katze
Wir hatten wohl ein Jahr nicht mehr gesprochen, am Telefon. Eines Abends, als ich außerhalb der Stadt W. die Katze meiner Eltern versorgte, die in die S verreist waren, läutete mein Telefon. Ich hörte es nicht, rief aber sofort zurück. Es regnete den ganzen Abend und OC rettete mich vor dem Fernseher. Nicht nur das, wir hatten eines unserer langen Gespräche, das verschiedenste Themen streifte, manchmal auch alte Geschichten und Erzählungen beinhaltete. Ich bezeichne nach wie vor OC als meine/n erste/n Theaterfreund*in. Da sie der freundlichste Mensch sind und waren, der mir je am Theater im Allgemeinen begegneten. Als ich sehr müde von der Reise zu einer Produktion stieß, die sich schon kurz vor der Premiere befand, bot mir OC in diesem Moment freundlich an, von dem für die an der Produktion Beteiligten reservierten Kaffeetisch, mit den üblichen Keksen und ein paar Mandarinen und Trauben, einen Kaffee zu trinken. Die Geschichten sind voller kleiner Details, die Wendepunkte im Erleben darstellen. Anekdoten einer großen Beobachtenden OC. OC und mich verband also eine Vergangenheit am Theater, schon damals konnten wir über so manches lachen und es verteufeln.
OC bezeichnet das Theater tief lachend als einen verfluchten Ort, und hat es seit der Arbeit damals nur auf Einladung betreten, hat sich seit vielen Jahren keine Theaterkarte mehr gekauft und „vermisse es auch nicht“ wie sie meinen, das Tr.
Ich hatte, ohne das T-Wort zu erwähnen von meinen Forschungen zum Thema der Nichtsteinwerdung erzählt, und bin ins Strudeln geraten, weil schnell bemerkte wurde, da sei ein Problem an der Sache: „ahhh du spricht ja vom Theater, da geht es darum wer etwas richtig oder falsch macht, oder so ähnlich.“ Was ich verstand und wo sie wusste, dass ich es verstand, was er meinte. Weil das Theater, wie sie meinte „immer versucht Recht zu haben“.
Immer noch, „und es sei Teufelszeug“. Ich lachte und erinnerte mich, an OC’s Trenchcoat und einen Spaziergang in B. Ich wechselte das Thema zur Verhinderung der Steinwerdung von der institutionellen Unsichtbarkeit zur Sichtbarkeit, während wir das Tr mit dem Film „Ladybitches“ der Regisseur*innen Marina Prados und Paula Knüpling und ihrer unabhängigen Gen-Z Produktionsfirma Ladybitches genau da gut aufgehoben fanden (und Ruhen lassen konnten?).
Der Film erzählt als Mockumentary über die Theaterproduktion von Frank Wedekinds „Lulu“ und wird großteils in Proberäumen der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin gedreht. Die Regisseur*innen nehmen zum Produktionsprozess Stellung und sprechen von „vielfältigem Storytelling“, das einen „kaleidoskopischen Arbeitsablauf“23 brauche.
Ein, wie ich meine, exzellentes Beispiel für Sichtbarmachung von Strukturen im Theateralltag 2022. Nicht etwa in den 70ern, 80ern oder 90igern des letzten Jahrhunderts. Insofern ist Theater mehr als vieles andere Produktionsprozess, Produktionsgeschichte. Jede theoretische oder künstlerische Auseinandersetzung die das nicht berücksichtigt oder die Prozesse nicht reflektiert, verhält sich demnach museal.
«Ein Museum ist eine nicht gewinnorientierte, dauerhafte Institution im Dienst der Gesellschaft, die materielles und immaterielles Erbe erforscht, sammelt, bewahrt, interpretiert und ausstellt. Öffentlich zugänglich, barrierefrei und inklusiv, fördern Museen Diversität und Nachhaltigkeit. Sie arbeiten und kommunizieren ethisch, professionell und partizipativ mit Communities. Museen ermöglichen vielfältige Erfahrungen hinsichtlich Bildung, Freude, Reflexion und Wissensaustausch.»24
24 Nationalkomitee des Internationalen Council of Museum (ICOM), „ICOM Museumsdefintion“, icomoesterreich.at, 11.07.2023, http://icom-oesterreich.at/news/icom-museumsdefinition, 09.01.2023.
Die Tanzwissenschafterin Bojana Kunst stellt sich mit der Vorstellung organischer Institutionsstrukturen „which would behave more like a plant a weed, stuck in the ground, but nevertheless connected with the surrounding habitat.“25, gegen die Idee eines Optimums und spricht in ihrem Artikel „The Institution between Precarization and Participation“ von stubborn institutions:
„The institution of such a kind would not work towards continuous immunization, but actually deeply disturb the smooth operations of social logistics today and intervene with their material strength, because they would also be able to be changed and influenced by what they create organize and put into practice.“26
Das Theater als gesellschaftliche Funktion kann oder muss sich nicht als Institution neu erfinden, es steht da, oder wächst mit uns Gegenwart erzeugend. Eine Forderung zu einer aktiven Haltung setzt die italienische Soziologin und Schriftstellerin Elena Esposito im Essay „Die Konstruktion von Unberechenbarkeit“ und zieht den Vergleich einer postzeitgenössischen Haltung im Finanzmarkt mit „vielleicht auch eine[r Anm.] postzeitgenössische[n Anm] Kunst“. 27 Weiter heißt es:
„Die post-zeitgenössische Lage könnte die einer Gegenwart sein, die mit der Offenheit einer Zukunft konfrontiert ist, die nicht deshalb unerkennbar und unbestimmt ist, weil sie unabhängig von uns, unserem Handeln und unseren Erwartungen ist, sondern gerade weil sie von der (zeitgenössischen) Gegenwart konstruiert wird und ohne unser Eingreifen nicht zustande kommen würde.“28
Die Theaterproduktion als Parabel gesellschaftlicher Vorgänge. Demnach ist der Produktionsprozess Theater nicht nur auf der Bühne Zeit-Zeugin und arbeitet sich an Themen des Menschseins ab. In der ständigen Wiederholung der mit der Sprache als Faden geknüpften Stoffen, verändert sich die Form, und das ist bemerkenswert, denn dadurch haben wir die Möglichkeit im Vergleich, gemeinschaftlich die Zeit in der wir uns befinden zu erkennen. Mehr oder weniger kathartisch durchleben wir den Prozess hinter der Bühne, als das, was dann nach vorne streut. Werden (Er)Zeug(er)*innen in diesem Produktionstriumvirat, so, wie in der echten Welt, die wir produzieren, konsumieren. Wir als Gesellschaft sind es, die die abstrakten und tatsächlichen Räume konfigurieren.
Warum also OC das Theater als Teufelszeug bezeichnet bleibt natürlich ihnen überlassen. Das anachronistische an der Aussage, korreliert aber mit der Vereinbarung die wir als Publikum eingehen, wenn wir (eine elitäre Minderheit) die Institution mit der architektonischen Schwelle betreten. Im Fall des institutionalisierten Theaters betreten wir (noch) größtenteils einen Ort der alte Rollenbilder reproduziert, was allein im strukturellen Aufbau einer Produktion ersichtlich sein kann.
Die Frage nach der Haltung des wohlmeinende, beteiligten Individuums oder möglichem Fehlverhalten des künstlerischen oder produzierenden Egos, beides Formen die in Ladybitches Raum finden, steht hier noch gar nicht zur Diskussion.
Um bei dem musealen Vergleich zu bleiben, kann das Betreten des Theater-museums als zustimmende „Geste“29 interpretiert werden. Oder als (teuflischer) Pakt, der da sagt: ich gehe ins „Theater“ um mir strukturelle Produktionsprozesse aus der unmittelbaren Vergangenheit anzusehen, und gleichzeitig: ja das ist Theater, das mir ermöglicht die Gegenwart zu antizipieren. Ein Theater das für eine kleine, sehr kleine Gruppe von Menschen produziert wird, die von der Reproduktion dieser- will heißen als gesamtarchitektonisches Konstrukt museal zu sehendeStrukturen profitieren, zu denen ich als Besucherin dann gehöre. Mich darin wiederkenne und erbaue, vielleicht sogar denke, an gesellschaftlichen Veränderungsprozessen mitzuwirken. In der Unbeweglichkeit der Institution und der Unfähigkeit sich in diesen hierarchischen Strukturen lösen zu können, scheint sich die katholische Kirche als Institution mit dem staatlich-geförderten deutschsprachigen Stadttheater als Vergleich anzubieten, was die Problematik von veralteten Strukturen und Machtmissbrauch betrifft. Die Frage die sich mir hier vereinheitlichend stellt ist, ob es möglich ist inhaltliche Erneuerungen in veralteten Formen der Produktion und veralteten architektonischen Räumen zu verwirklichen. Sehr treffend formuliert es die aus Belgien stammende Performancekünstlerin und Autorin Sarah Vanhee in ihrem Essay The Fantastic Institution wenn sie fordert:
25 Bojana Kunst, „The Institution between Precarization and Participation“, Performance Research, 20/4 2015, S.12-13.
26 Ebd.
„The progressive politics presented on the programs on their facades do not even remotely correspond to the interior politics. There seems to be a tacit mutual agreement on this hypocritical attitude by almost all parties involved with the institution: board, directors, employees, artists, audience. Working inside these structures and complying with them takes away most of the potential political capacities of the work. I would suggest the existing institutions – the ones that have a little bit of resistance left towards their own ongoing neoliberalizationcould attempt to engage in a process of transformation towards a feminization, colouring and queering of the institution.“30
Ein Lichtblick passiert mit der transmedialen Intervention Ladybitches, dem Film, der wie es im Presseheft heisst, versucht ohne „Gut und Böse“31 zu bedienen:
„ein Licht auf all die Grauzonen des Missbrauchs zu werfen, die oft übersehen werden, aber nicht weniger schmerzhaft oder zerstörerisch sind. Er [der Film Anm.] spricht über das unsichtbare Trauma hinter Machtmissbrauch, sexueller Gewalt und emotionaler Manipulation. Aber vor allem ist es ein sicherer Raum, um zu reden, zu heilen und uns, die Überlebenden, zu stärken.“32
Also erhellende Handlung hinsichtlich derer sich die Kritik konstruktiv aus der Form des Theaters selbst schält und über das Medium Film eine Sichtbarmachung passiert, die vielschichtig ist und sich in der künstlerischen Form transformiert, Dramaturgie anwendet.
29 Vgl. Rebecca Schneider, „Besideness, Amongness, Wit(h)ness, Reenactement as Likeness or Call and Respons? The Future of Reenactment“, Conference, Duke University, 2017, S.7.23
30 Flanders Arts Institute, „Sarah Vanhee: The Fantastic Institution,“ kunsten.be, 04.05.2020, https://www.kunsten.be/en/now-in-the-arts/the-fantastic-institutions, 04.12.2023.
Später sprachen OC und ich über einen Youtube Kanal und über London. Wir sprachen auch über OC’s Atelier in B. und ich zeichnete nebenbei herum. OC erzählte von einer Dokumentation in L. wo es um ein verfluchtes Haus ging und da ich gerade alleine in einem Haus war, mit der Katze wurde es mir etwas komisch und ich ließ die automatischen Rollläden hinunter. Die Erzählung ging weiter und weiter und endete erneut in einem Gelächter beiderseits. OC hatte in dieser Dokumentation (auf Youtube) einen alten Turnschuh auf einem Filmausschnitt aus dem Haus entdeckt (!) und das unter dem Video gepostet. Sie bekamen sehr viel Zuspruch und Kommentare, was alle freute, und mich amüsierte. Ich war froh, über den Ausgang dieser gruseligen Anekdote. Was ist Triumph, stand dann auf dem Zettel, auf dem ich simultan mit einem bunten Stift zeichnete. Über die Unsichtbarkeit hatten wir auch gelacht. „Das Non-Plus Ultra“, meinten OC, „wäre es unsichtbar sein zu können, und sich die Welt anzusehen wie sie eben sei. Wie billig doch die Vereinbarung im Theater, dass das Publikum nicht da sei.“ „So einfach“, dachte ich mir und sie nannten mir zwei Filmhinweise: The Invisible man und Kentucky Fried Movie. Ich hatte mich wieder orientiert, dank OC, so wie damals, als ich dieses eine Tr das erste Mal betrat. OC und ich teilten noch eine gemeinsame Erinnerung an eine Ort in der S, wo es uns beiden sehr gut gefallen hatte. Wir waren unabhängig voneinander dort gewesen und es war ein ziemlich großer Zufall, dass wir beide genau diesen Ort in der S gut zu kennen schienen und mit besten Erinnerungen daran, davon sprechen konnten.
Geste33 als Konstruktion
(Er-Zeug(er)*innen)
Er-Zeugung (er)* innen -er
Zeug*innen
Zeug*erinnen
Publikum als Zeug*in
Was ist nun aber, wenn wir uns aus dem Stein als solchem gelöst haben?
2.2 Die Frage nach der Transparenz
Die Verhinderung der Steinwerdung löst sich aus der Erstarrung als eine Formsuche zur Findung einer Praxis, die versucht zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als bewusste Entscheidung zu handeln. Es führt zur Möglichkeit sich in komplexen Feldern zu bewegen ohne sich selbst als Position festschreiben zu müssen, dies aber beispielsweise zur Raumgebung tun kann.
Im Diskurs um die Dramaturgie als theoretisches Fach wie auch als Fach das sich mehr oder weniger unsichtbar im Theaterraum bewegt(e), stellt sich die angewandte Dramaturgie hier als schöpferische Tätigkeit dar. Diese möchte gesehen werden, da sie sieht und durch das Sehen, nicht nur als „leidenschaftlich Blickende34 funktioniert, sondern auch als eine die erfindet, die Entscheidungen fällt, die Räume schafft und als solche sich unabhängig bewegen kann. Sichtbar in Nachvollziehbarkeit und Professionalität in der Produktion, als auch handwerklich geschult und spielerisch im Schaffen. Alle möglichen Lautstärken35 die diese Arbeit verlangt beherrschend, wissend um die Möglichkeit um Wirkung sich in einem komplexen System zurechtfindend, ohne exklusiv, binären Schlussstrich oder ein bequemes sich auf eine Seite schlagen. Eine in diesem Sinne paranoide Tätigkeit, die den Rhythmus in der Bewegung sucht, als wäre die Produktion eine organische Substanz, bestehend aus den Mitwirkenden, den feinen Voraussichten, dem Geplanten, und dem freien Spiel anhaftend. Dramaturgie, die zeigt und in Szene setzt, weiß um die Wichtigkeit aus dem inneren heraus zu arbeiten, das sich oftmals dem Planbaren, dem künstlichen Licht entzieht, im Unsichtbaren entsteht, einer stetigen Bewegung folgend und der Dramaturgie, die sich erlaubt anders über Zeit, Raum und Angst, also über Begrifflichkeiten, die unser Leben generieren (nach)zu denken.
33 Vgl. Rebecca Schneider, „Besideness, Amongness, Wit(h)ness, Reenactement as Likeness or Call and Respons? The Future of Reenactment“, Conference, Duke University, 2017, S.10
34 Vgl. Marianne van Kerkhoven, „Sehen ohne Stift in der Hand“, Theaterschrift 5/6 1994, S.142.
35 Ebd.
Diese Arbeit versucht sich methodisch diesem neuen Feld zu nähern und es als Disziplin der Fluidität und Meister*innenschaft des Unsichtbaren insofern zu greifen, als die Sichtbarmachung von Prozessen im gemeinschaftlichen Gefüge als Schutz gegen strukturellen Missbrauch ein sehr wichtiges Element ist, das angewendet werden kann. Das Potential in sich trägt, die Regie als isoliert handelnde, sprachlich dem Regime nahe liegende Größe, eine funktionierende, bewegliche, prozessuale Struktur entgegen zu setzen. Das wäre eine Seite, die Beleuchtung findet und mit Beispielen gedreht und gewendet, eine vieldimensionale Option für den Arbeitsprozess von aussen, die Produktion vorschlägt. Hier ein Beispiel.
2.3 How To Exit The Stomach
Of The Monster You Find Yourself In?
Das Krokodil war vor dem Stein im Glashaus da, hat damit aber nicht nur die Spielstätte gemein. Eigentlich war das Krokodil als Geschichte auch ein Fund, wie der Stein später, aber eben kein Stein, eine gebundene Ausgabe mit Grotesken von Dostojevski36 war es. Es kam aber zu mir, wie die Spielstätte zu mir kam und Covid über die Welt hereingebrochen ist. Ein paar Monate danach, als spazieren gehen erlaubt war, fand ich im 20. Bezirk, in den ich gezogen war, in Wien den Glaskasten an, verwaist, mit schmutzigen Fenstern, einem dunkelblauen fake-Samttuch und einem stehenden A4 Schild drinnen, wo so etwas stand wie Auslage in Arbeit.
36 Fjodor M. Dostojewski, Drei Erzählungen. Das Krokodil. Eine außerordentliche Begebenheit oder Eine Passage in der Passage, Berlin: Eulenspiegel Verlag 1985, S.75.
Ein üblicher Satz, der besagt, dass hier nichts los ist. Das machte mich neugierig, und ich begann den Platz und den GK zu umkreisen, fand einen Beobachtungsposten an einem Baum und nach einiger Zeit der Überlegung ein Formular, dass ich ausfüllte und an den Bezirk online abschickte, mit Interessensbekundung nach dem Objekt sehr gezielt und Komplimenten eher allgemein zum 20. Bezirk, den ich sehr mochte. Das brachte mir einen Termin beim Bezirksmuseumsdirektor ein, an einem Tag, wo wir dann, nachdem der freundliche Direktor mir das Museum gezeigt hatte, und seine selbstgedrehten Zigaretten im Büro zu Rauch und Asche geworden waren, beschlossen, gemeinsam Richtung Augarten zu spazieren. Nicht weit weg, wo er seinen Freund, der ein wichtiges Amt bekleidete treffen würde. Es war ein Nachmittag, wo es schon früh dämmrig wurde und der Himmel unheilvoll aber schön mit Wolken behangen war. Wir spazierten an der Straße entlang, in der der Direktor schon seit Jahrzehnten wohnte und fanden Hubschrauber am Himmel und ein großes Aufgebot an Polizei und Feuerwehrautos in seiner Straße an. Es war der Tag, wo sein Freund dort schon auf ihn wartete und die Decke im Untergeschoss seines Hauses in den Keller gestürzt war. An diesem Tag, bekam ich ein
rechteckiges, goldenes Packet mit zwei riesigen Schlüsseln in die Hand, von dem Freund mit der wichtigen Funktion, der laut Abmachung diesen bis dahin verwahrt hatte. In dem Packet war der Schlüssel zum Glaskasten, mit der Möglichkeit dort etwas zu gestalten. Die Vereinbarung lautete, nichts anstössiges ansonsten freie Hand und der Pakt war geschlossen. Das ging schnell und unbürokratisch. Anfangs war ich fast überfordert, mit den Möglichkeiten, die sich plötzlich boten und ich begann heimlich mich dem GK zu nähern. Die Annäherung dauerte Wochen, anfangs ging ich im Morgengrauen hin um die Fenster zu putzen und dabei nicht gesehen zu werden. Vielleicht wollte ich mir die Möglichkeit der Anonymität so lange wie möglich erhalten, vielleicht war ich scheu und verstand, dass dieser Ort den Alltag von sehr vielen Menschen prägte.
Der Glaskasten ist nicht aus sich heraus unauffällig. Das vom Bezirk in den 1970er Jahren gebaute Ansichtsobjekt, welches solide in den Boden eingegossen ist und vierseitig mit großen Glasplatten von gusseisernen Stehern umrahmt ist, stehtmitten in einem Durchgang zwischen Straße und Markt. Der Kubus mit einer trapezförmigen Grundform kann von mehreren Personen gleichzeitig betreten werden, die linke Tür lässt sich bis ganz nach oben öffnen, was Luft bringt und die Möglichkeit große Objekte in den GK zu bemühen, erleichtert. Um die Reaktionen zu testen, begann ich, nach einigen Wochen das Schild im Glaskasten zu manipulieren. Das brachte mir einen sofortigen Anruf ein, ich wusste also, der öffentliche Raum wurde begutachtet und mein Erscheinen im Bezirk, als Hüterin der Schlüssel und Künstlerin mit Interesse hatten die Runde gemacht. Soweit die Anfänge. Während ich also im Bezirk wohnte und dort spazieren ging, lebten wir in Österreich mit strengen Restriktionen und einer Ausgangssperre ab 21:00. Es waren für längere Zeit verboten sich zu versammeln und mit diesen Maßnahmen einher ging auch die Entscheidung den Kunst- und Kulturbetrieb für die Zeit der Restriktionen zu schließen. Ich ging auf und ab, verdeckte zeitweise den GK mit Seidenpapier und Kleister um einen Raum im Raum zu erschaffen, der Name Teehaus wurde geboren. Manchmal gab es dort Tee. Es kam ein neues Jahr, 2021 und der Frühling, mit der Hoffnung auf Öffnung. Die Theater spielten nicht und in mir wuchs ein Plan für ein Experiment, das in der ersten Welle der Öffnung und Möglichkeit zur Versammlung umgesetzt werden sollte, mit einem doppelten Boden, falls die Lage sich binnen weniger Tage wieder so verschlechtern sollte, dass die Maßnahmen wieder strenger werden müssten: ein Theaterstück im öffentlichen Raum, mit Publikum oder Passant*innen. Diese Idee ergab sich aus den Umständen und animierte mich zu meinem Handwerk zurück zu kehren, dass ich für einige Jahre, was die Anwendung betrifft ad acta gelegt hatte. Nicht wegen Covid sondern, weil es mir nach 2 Jahren als Regieassistentin unmöglich war, ein Theater, geschweige denn eine Blackbox für mehr als 2 Minuten zu betreten. Ich hatte mich dem analogen Film zugewandt und bearbeitete meine Erlebnisse im klassischen Stadttheaterbetrieb auf allen erdenklichen Möglichkeiten, nicht aber in einer Produktion.
2.4 Amputation of Direction
AMPUTATION DER RICHTUNG
AMPUTATION DER AUSRICHTUNG
AMPUTATION DER ANORDNUNG
AMPUTATION DER LEITUNG
AMPUTATION DER ANLEITUNG
AMPUTATION DER LENKUNG
AMPUTATION DER VORGABE
AMPUTATION DER ANWEISUNG
WEISE DER RICHTUNG
WEISE DER AUSRICHTUNG
WEISE DER ANORDNUNG
WEISE DER LENKUNG
WEISE DER VORGABE
WEISE DER LEITUNG
WEISE DER ANWEISUNG
RICHTEN
ANORDNEN
LENKEN
GEBEN
WEISEN
LEITEN
LENKENDE DER ANLEITUNG AMPUTATION DER LENKUNG
VORGEBENDE DER RICHTUNG AMPUTATION DER VORGABE
RICHTENDE DER VORGABE AMPUTATION DER RICHTUNG
WEISE DER ANWEISUNG AMPUTATION DER WEISUNG
WEISE DER ANWEISUNG AMPUTATION DER WEISEN
RICHTUNG DER VORGABE AMPUTATION DER RICHTIGEN
VORGABE DER RICHTUNG AMPUTATION DER VORGEBENDEN
LENKUNG DER ANLEITUNG AMPUTATION DER LENKENDEN
WEISUNGSKÖRPER
KÖRPER DER WEISUNG
WEISER KÖRPER
WEISUNG DER KÖRPER
ANWEISUNG AN KÖRPER
AMPUTATION DER WEISUNG
KÖRPER.
F.M.Dostojewski Das Krokodil, Erzählung. Foto: Andrea Habith
Tag 0 Teppich, Orangensaft, Donauinsel
Es ist kalt. Ich bin sehr nervös und trage einen sehr schweren Teppich. Ich frage mich warum und gleichsam, stehe ich mitten am Handelskai in Wien und warte auf meinen Assistenten. Ich stehe mitten in einer Unternehmung die für mich innerlich einer mittelgroßen Lawine gleicht, die ich losgetreten habe, und die etwas mit einem Zeitungsartikel von Dostojevski zu tun hat. Mit Theater. Mit meiner Theatervergangenheit. Aber auch mit meiner Zukunft. Heute ist der erste Tag, an dem ich fünf neue Menschen kennen lernen werde, nach dem langen Lockdown im Winter und im Frühjahr. Der Teppich wird den Raum abgrenzen. Es ist Mitte April und ein viel zu kalter Wind weht. Wir suchen den Ort an dem wir am meisten Luft, also Sicherheit und Bewegungsfreiraum nahe der Stadt finden können und entscheiden uns für die Donauinsel. Wir wollen, dass die Schauspieler*innen, die sich zu dem Casting angemeldet haben, einen Schritt machen, aus ihrem gewohnten Raum. Aus der vermeintlichen Sicherheit der Wände in denen wir uns alle eingesperrt haben. Ob wir überhaupt wissen, wo wir gelandet sind? Wir, das sind Hannes und ich. Hannes hat sich auf ein Abenteuer eingelassen. Ich habe mich auf eine wilde Fahrt eingelassen, wo sich Vergangenheit und Zukunft als Gleise in der Gegenwart des 20. Bezirks in Wien treffen. Eine Zeit wo eine kleine Tür aufgeht, ein Frühling der mehr verspricht als Frühlinge die ich bislang erlebt habe. Weil so vieles die langen Wochen davor nicht möglich war. Weil so vieles verboten war. Jetzt wollen wir surfen, an der schneidigen Kante der Öffnungsschritte im öffentlichen Leben. Wir wollen niemanden und auch uns nicht fahrlässig behandeln. Es wird wie ein Spiel werden, eine Art Tanz, zwischen dem, was möglich ist, was wir für eine Inszenierung eines Zeitungsartikels brauchen, für die Koordination eines Teams um einen Glaskasten im öffentlichen Raum zu bespielen, und einem Premierendatum in greifbarer Nähe. Mir ist schlecht. Wir entscheiden uns für Wasser und Orangensaft. Fast wie im Flieger. Der Teppich und noch eine halbe Stunde Zeit, bis die erste Person dort irgendwo auf der Donauinsel auftauchen wird. Drei Tage lang, werden wir dort verbringen und jede Stunde eine Person empfangen. Wir suchen einen zentralen Punkt, von ein paar Bäumen gesichert. H hält die Stimmung wie eine kleine Kugel in seiner Hand, ich erinnere mich nicht mehr genau was er gemacht hat, irgendwann ist er auf einen Baum geklettert.
Es gab Becher mit Saft, zwei Decken, es war viel zu kalt um ruhig zu sitzen, auf dem Teppich, unserer schwarzen Box. Ich bin äußerlich ruhig, wir blödeln vor Aufregung herum und lachen, weil alles so ungewöhnlich ist. Noch ein paar letzte Anweisungen über das Prozedere, alles ist geplant. Ein paar Fragen. Ein bisschen Text zum Vorspielen, wir haben einen Fragebogen mit den wichtigsten Fragen vorbereitet. Wir werden eine Routine finden, für dieses Casting, für diesen riesigen Castingraum, auf dem Boden blüht der Löwenzahn, die Wiese ist gelb. Wer wird auftauchen? Wer wird welche Fähigkeiten mitbringen. Über wie viele Schatten sind diese Menschen bereit mit uns zu springen. Welche theatralen Mittel werden wir testen dürfen. Wie weit werde ich mit meinem Versuch gehen können, alles klassisch gelernte hervorzuholen und systematisch umzukehren.
Es werden 8 Wochen mit vielen Etappen und wir stehen erst am Anfang. Jeder Schritt ist neu und noch immer ist die erste Person nicht aufgetaucht. Werde ich mutig genug sein, alleine genug um mich konzentrieren zu können, fokussiert genug um alles im Auge behalten zu können. Frei genug um nicht kontrollieren zu müssen und auf den Moment zu reagieren? Nichts läuft in gewohnten Bahnen und mein System ist hellwach und jedes Geräusch, jede Bewegung der Beteiligten wird sich in meinem Arbeitsgedächtnis niederschreiben. Ich suche Hinweise, logische Verhältnisse und das Aufbrechen bekannter Muster. Die Geschichte zum Krokodil ist nicht in dramatischer Form, es gibt keine klassische Rollenverteilung. Ich suche Widerstand und Einverständnis. Bereitschaft und Korrelationen in Ds Kapitalismuskritik, die er aus Geldmangel nicht vervollständigen konnte, und unserer Situation. Den individuellen Situationen von Fremden, die doch eine nie da gewesene Art der Zeit verbindet. Wir verfolgen ein System, aber H und eigentlich niemand weiß, wie ich vorgehen werde. Er kennt mein Ziel nicht, zu testen, ob ein inszenatorischer Moment mit den Schauspieler*innen oder Lai*innen stattfindet. Obwohl das Casting als Raum aufgebrochen ist. Obwohl man kaum etwas verstehen kann, weil der Wind so laut ist. Obwohl der zu lernende Text schier unmöglich darstellbar ist. Obwohl es Ameisen an den Bechern gibt, oder Orangensaft auf dem Teppich, der farblos ist.
Wir wissen nie ob jemand Spaziergänger*in ist, oder genau die Person, die uns sucht. Ein kurzes intimes Treffen ist vereinbart. Etwas sehr ungewöhnliches. Um uns hunderte Meter gelbe Wiese und die rhythmische Geräuschkulisse der U Bahn. Bei der Ausschreibung haben wir den Punkt zwischen den Bäumen, wo der große Teppich liegt genau angegeben. Trotzdem, man kann diesen von drei Seiten erreichen. Da wir den ersten Besucher hinter uns haben, und diesen auch wieder verabschiedet, (wer markiert wo die Tür, die den Schall abschneidet, ab 10 Metern, ab 20 Metern? in welche Richtung bläst der Wind, und trägt unsere Blicke nicht mehr weiter, ab wann können wir unsere Eindrücke vergleichen?) Aber es geht schnelle. Wir nehmen uns viel Zeit für das Gespräch, die Befragung und vor allem für die Improvisation. Ich lasse mich von H kurz über den nächsten Gast informieren und laufe ein paar Runden im Kreis oder am Rand der Wiese entlang um nicht zu sehr zu frieren. Eine Schnelle mit Helm radelt direkt auf uns zu. Ich möchte zu Hannes rufen: komm, schnell komm es geht weiter, doch er hat sich über 50 Meter weiter weg in einem organisatorischen Gespräch verwickelt und deutet mir mit dem Handzeichen, dass er aufmerksam ist. Ich biete der Person mit den roten langen Haaren einen Orangensaft an, und weil ich schon im Gehen bin, beginnen wir das Gespräch im Gehen. Ich möchte sie dazu bringen, mit mir rückwärts am abgemähten Teil des Rasens zu laufen und habe eine Partnerin dafür gefunden.
2.5 Stein im Glashaus
Gespräch im Anschluss
Angefangen hat alles mit einem Besuch eines Theaterstücks in Wien. Der Protagonist war für etwa 90 Minuten auf der Bühne, nach dem Applaus verließ er diese Endgültig für etwa 10 Minuten, währenddessen zwei Stühle auf der Bühne auftauchten und das Scheinwerferlicht sich darauf konzentrierte.
Mit Mikrofon ausgestattet tauchte auch eine junge Dame sehr frisch auf, die sich bereit machte für ihren Auftritt, für den Moment, wo das Gesehene besprochen würde. Wo das Publikum die Möglichkeit hätte Fragen zu stellen, an den Künstler oder die Künstlerin. Dieser tauchte unverzüglich wieder auf, nach wenigen Minuten, es standen ihm noch Schweissperlen auf der Stirn, aber er lächelte. Und die Person aus dem akademischen Feld begann ausladend über eine Begegnung zu sprechen, die sie an das gesehene Stück erinnert hatte, sie schuf ein Bild, eines Schiffes an einem Hafen, ein Weitblick, irgendetwas der Art. Professionell versuchte sie dem Stück den Kontext zu geben um es einzuordnen. Noch ausser Atem, begann der Künstler sich auf die Ebene des Gesprächs einzulassen, in den lobenden, begeisterten, amicalen Talk. Manche Details waren Horizont erweiternd, aber irgendetwas störte mich zutiefst an der Etabliertheit dieser Situation. War es nicht so, dass das Risiko hier nicht gleich verteilt war? Ging es hier nicht um viel mehr, als die Möglichkeit aufkommende Fragen direkt an den Künstleroder die Künstlerin richten zu können? Bemächtigte sich nicht das akademische Feld einem Prozess, der risikohaft von Anfang bis Ende sich aus sich selbst heraus generierte. Was bleibt der Person, die das Fragen beantwortet, über als sich noch einmal zu präsentieren und dem Scheinwerferlicht auszusetzen, diesmal ganz ohne Waffen, nackt und verschwitzt, verschmitzt zu lachen?
Im Glaskasten am Hannovermarkt Mitten in der Brigittenau findet zwischen Juli und August eine Serie von Artist Talks statt. Einmal im Monat sind zwei Künstler*innen eingeladen im Glaskasten einen Dialog zu führen und Spuren ihrer Arbeit zu hinterlassen. So entsteht ein dialogischer Austausch hinter den Glasscheiben und ermöglicht eine Wechselwirkung mit dem alltäglichen Treiben und den Passant*innen rund um den Hannovermarkt. Die Ausstellung ist dem Publikum rund um die Uhr am Glaskasten zugänglich, die Talks werden filmisch dokumentiert und online zugänglich gemacht.
Stein im Glashaus - Artist Talks
Ein Projekt, in Kooperation mit dem aktivistisch arbeitenden Künstler Pablo Chiereghin, dass tatsächlich mit einem Stein zu tun hatte und sich als experimentelles Format im öffentlichen Raum generierte. Der Fokus liegt für mich auf dem multiperspektivischen Moment in dieser Arbeit, der kritische Auseinandersetzung eines etablierten Formats als künstlerische Antriebskraft dafür und die Platzierung der Idee als künstlerisches Projekt im öffentlichen Raum des 20. Bezirks in Wien. Es ist schwierig, hier nicht der Metaphorik des Steins zu verfallen und den „Stein des Anstosses“ zu nennen der mich dazu bewegte, im Frühling 2021 einen Testlauf zu machen. Wir setzten uns an einem Samstagvormittag mikrophoniert in den Glaskasten muskovit im 20. Bezirk und sprachen für eine gute halbe Stunde über unsere Arbeit. Die Person, die den Stein, ein zu einem etwa 15x15 cm geschliffenen Randstein aus Marmor, in der Hand hatte, dran zu sprechen oder auch umgekehrt. So viel zum Testlauf. Daraus entstand ein langfristig stattfindendes Projekt im öffentlichen Raum.
Outreach
Es konnte sich, durch die Regelmäßigkeit der Talks (jeweils an einem Samstag im Monat) einerseits und die Mehrschichtigkeit der inhaltlichen Präsenz andererseits, ein Format etablieren, das verschiedenste Interessierte anzog. Daher kann zum Thema Outreach dieses Projektes festgestellt werden, das eine breite Gruppe an Publikum erreicht werden konnte: wir konnten zu den Talks, die an den stark frequentierten Samstagvormittagen neben dem Hannovermarkt stattfanden jeweils ein Stammpublikum, das sich an den Gesprächen beteiligt hat, sich den gesamten Talk angehört hat, über unsere Werbekanäle wie Instagram, Facebook etc. erreicht wurde von etwa 30-50 Zuschauer*innen jeweils ausgehen. Das Laufpublikum erhöht die Zahl der Besucher*innen um etwa 100-150 Personen pro Talk.
Durch die dritte Ebene, nämlich der Etablierung eines Ausstellungsraumes nach den Gesprächen von den jeweiligen Künstler*innen, konnte nicht nur inhaltlich eine visuell erlebbare, Koproduktion zweier in Wien ansässiger Künstler*innen entstehen, sondern der öffentliche Raum des 20. Bezirks für die Dauer von 5 Monaten mit wechselnden Ausstellungen bespielt werden. Das erreicht wiederum täglich und rund um die Uhr eine große Anzahl an Personen, und zwar Menschen, die neugierig sind, die sich über dieses Format freuen, die interessiert sind, oder deren Interesse geweckt wird.
Unser Projektziel inhaltlich ein neues Format zu etablieren und gleichsam einen besonderen Ort im 20. Bezirk mit einer niederschwelligen Alltagsintervention im friedlichen Rahmen zu bespielen, kann als ein sehr erfreuliches und erfolgreiches Projekt verstanden werden. Die geladenen Künstler*innen konnten sich im Format entfalten und über die Gesprächsebene hinaus neue Kooperationen untereinander beginnen.
3.1 Angst vor Monsterwellen
Heute Morgen- und das ist für diese Arbeit unerheblich, denn die Leser*innen werden selbigen nie mit mir teilen, trotzdem möchte ich diesen Morgen, als Einstieg nutzen, -las ich online einen Artikel, der besagte, dass ein junger Forscher namens Dion Häfner federführend an einer neuen Studie beteiligt war, die es laut zitierter Tageszeitung ermöglicht, das Rätsel „um die Entstehung und Vorhersage von Monsterwellen“ mit Hilfe von KI zu lösen.“37
„ ..aus Daten von einer Milliarde Wellen haben Forschende mithilfe künstlicher Intelligenz eine Formel für die Vorhersage dieser Meeresungeheuer ermittelt.“38
Weiter ist zu lesen:
„Hauptautor der neue Studie, , ist der KI-Forscher Dion Häfner, dessen kürzlich verteidigte Dissertation den Titel «An Ocean of Data» trägt.“39
Warum ist das aber so interessant, dass ich nicht nur meinen Morgen, sondern auch den Anfang dieses Kapitels und damit die Leser*innen direkt damit in Verbindung setze? Im Abstract zu seiner Arbeit formuliert er in klaren Sätzen im letzten „Vers“: „Finally, I discuss the implications of our findings for future rogue wave research, and outline how machine learning can augment the scientic method and guide us towards scientic discovery.“40
Das Abstract der Dissertation Dion Häfners am Niels-BohrInstitut in Kopenhagen liest sich mir wie ein Theatertext. Da die Formatierung auf der Homepage des Instituts für Physics of Ice, Climate and Earth an der Universität Kopenhagen einen Formatierungsfehler aufweist, gibt es Absätze, die an ein Schriftbild in Versform erinnern.
37 Klaus Taschwer, „KI löst Rätsel um die Entstehung und Vorhersage von Monsterwellen“, der standard.at, 29.11.2023, https://www.derstandard.at/story/3000000197193/ki-loest-raetsel-umdie-entstehung-undvorhersage-von-monsterwellen, 30.11.2023.
38 Ebd.
3.2 Anwendung des Ungefähr(lichen)
Das fällt mir neben dem frappierenden Beweis einer Anwendung neuer technischer Errungenschaften, neben dem Zusammenstoß einer brauchbaren Metapher der Wellen als stetiger Bewegung und des Meeres als Zeichen für Unendlichkeit, auf. Oder, in diesem Fall ganz real eine Monsterwelle ins Auge, weniger eine Metapher als ein Faktum, das die Schifffahrtsbranche seit Jahrhunderten zu beschäftigen scheint.
Die Metapher, die „der Ingenieur“ VGL Melo Neto abgeschafft hat (VGL Kapitel 1), wird hier wieder gesucht. Die Wichtigkeit dieser, findet auch bei M.L. Knott und ihren Ausführungen über Hannah Arendt einen Widerhall, wenn sie schreibt: „Im Verähnlichen stiftet der Witz wie die Metapher einen neuen Zusammenhalt der Welt, überbrückt geistige und zwischenmenschliche Abgründe.“41Wer ist Dion, der mit Hemd und Krawatte in demütiger Haltung vor einem großen Werk steht und bereits mit in sehr jungem Alter etwas geschafft hat, das als bahnbrechend gelten kann und nach einer Geschichte ruft.
39 Ebd.
40 University of Copenhagen, Niels Bohr Institut, „Congratulations to Dion Häfner“, nbi.ku.dk, 11.05.2022,https://nbi.ku.dk/english/research/pice/news/news-2022/congratulations-to-dionhfner/, 02.12.2023.
41 Marie Luise Knott, Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt, Berlin: Matthes & Seitz 2011 S. 28.
Ich bin dem jungen Forscher Dion dankbar für seine Entdeckung und finde auch, dass er stolz sein kann auf den Vergleich, wie sein Doktorvater Markus Jochum im Zeitungsartikel zitiert wird, wenn er seiner Begeisterung Ausdruck verleiht:
„Tycho Brahe sammelte über Jahrzehnte astronomische Beobachtungen, aus denen Kepler mit viel Versuch und Irrtum die Keplerschen Gesetze ableiten konnte. Dion benutzte Maschinen, um mit Wellen das zu machen, was Kepler mit Planeten gemacht hat. Für mich ist es immer noch schockierend, dass so etwas möglich ist.»42
Für Dion Häfner scheint das nichts Besorgnis erregendes zu sein. Im besten Fall sorgt seine Doktorarbeit dafür, dass Schiffsunglücke wegen Monsterwellen verhindert werden können. Die Anwendung einer neuen Technologie kann sich sowohl ins Positive als auch ins Negative auswirken, je nach Anwendung.
Was der Philosoph Byung-Chul Han als düstere Zukunftsvision in seinem Buch „Im Schwarm. Ansichten des Digitalen“ zum Beispiel über die metaphysische Bedeutung zum Prozess des data minings vorzeichnet: „Data mining macht kollektive Verhaltensmuster sichtbar, deren man sich als einzelner nicht bewusst ist, so erschließt es das Kollektiv-Unbewusste.“43 Dieser Vorgang kann in einem gesamt-gesellschaftlichen Zusammenhang laut Byung-Chul Hang durchaus dystopisch gelesen werden, wenn er seine Ausführungen zur „Psychopolitik“44 beendet und Sichtbarmachungen vergleicht:
„Die Kamera ist ein Medium, das etwas zum Vorschein bringt, was sich dem bloßen Auge entzieht, nämlich das Optisch- Unbewusste. (..) In Analogie zum Optisch-Unbewussten kann man es auch das Digital Unbewusste nennen. (…) Die digitale Psychopolitik bemächtigt sich des sozialen Verhaltens der Massen, in dem sie auf seine unbewusste Logik zugreift. Die Überwachungsgesellschaft, die den Zugang zum Kollektiv-Unbewussten, zum zukünftigen sozialen Verhalten der Massen hat, entwickelt totalitäre Züge.“
Die Frage nach der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, der Transparenz, drängt sich auf, wenn Han das „Ende der Steinzeit der Kommunikation“ postuliert: „Die Geschichte der Kommunikation45 lässt sich als Geschichte einer zunehmenden Illuminierung des Steins beschreiben. ( …) Der Stein als Ding ist eine Gegenfigur zur Transparenz.“ Ist es möglich, mit diesen gespaltenen Aussichten auf unsere Zukunft, wo einerseits (Schiffs-)Unglücke verhindert werden können, dieses Potential aber droht über unsere Beweglichkeit, unsere Fähigkeit zu wählen in Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit zu existieren entscheiden wird? Gibt es Gegenmittel die sich bewähren?
42 Klaus Taschwer, „KI löst Rätsel um die Entstehung und Vorhersage von Monsterwellen“, der standard.at, 29.11.2023, https://www.derstandard.at/story/3000000197193/ki-loest-raetsel-umdie-entstehung-undvorhersage-von-monsterwellen, 30.11.2023.
43 Byung-Chul Han, Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Berlin: Matthes & Seitz 42017, 100-101.
44 Byung-Chul Han, Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Berlin: Matthes & Seitz 42017, S73.
45 Ebd.
46 Ebd.
3.3 A sagt Dramaturg*innen arbeiten nicht mit Zahlen, Wer sagt B?
Jedoch. Begleitet von den Gedanken um die Monsterwellen, hatte ich an einem Abend, nach einem langen Wochenende, den Gedanken, dass Dramaturg*innen per se nicht mit Zahlen arbeiten. Bestimmt mit Menschen arbeiten, die mit Zahlen arbeiten, aber dass ihre Arbeitsgrundlage das Erzählerische ist, und die Genauigkeit der Zahlen zu grob ist für das Narrativ. Eine (wieder) eher pessimistische Aussicht zum Narrativ findet sich bei Byung- Chul Han:
„Die digitale Kultur beruht auf dem zählenden Finger. Geschichte ist aber Erzählung. Sie zählt nicht. ...Das Narrative verliert massiv an Bedeutung. Heute wird alles zählbar gemacht, um es in die Sprache der Leistung und Effizienz umwandeln zu können. So hört alles was heute nicht zählbar ist, auf, zu sein.“47
Menschen die dramaturgisch arbeiten, also, Menschen die, obwohl es um produktionstechnische Verfahren geht, Menschen, die nicht in Zahlen denken? Ich möchte es im Raum stehen lassen, gerne auch im digitalen Raum.
Dion Häfner ist vermutlich jemand, der als Doktorand im NielsBohr-Institut der Kopenhagener Universität vornehmlich mit Zahlen arbeitet. Was lässt sich über diese Figur erzählbares im Netz finden? Seine Entdeckung, und die Anwendung neuer technischer Möglichkeiten, auf so etwas reales wie Monsterwellen hat mich neugierig werden lassen. Als ich seinen Namen in einer Suchmaschine eingebe, erscheint als erstes sein Profil auf github, „The world’s leading AI-powered developer platform“, betitelt mit „lets build from here“.48 Dion H.’s Profil öffnet sich mit einem willkommen heißenden „Hey!“49
47 Byung-Chul Han, Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Berlin: Matthes & Seitz 42017, S.50.
Bevor ich die Links durch klicke, öffne ich seinen spotify account und entscheide mich zwischen der Playlist „Dions TOP 100 of all time“ und „Infernal Tunes- Indie that’s just hot as hell“. Während ich Dion’s Songs zuhöre, folge ich einer Liste von Links, an Hand derer es ermöglicht wird, den, wie er sich in seinem Profil vermutlich selbst beschreibt „research engineer, open source developer und tech enthusiast“50 kennen zu lernen. Es ist möglich ihm über Twitter zu schreiben, seine wissenschaftlichen Artikel auf googlescholar zu lesen oder sich seinen CV downzuloaden. Dort fallen mir- neben den faszinierenden, wenn auch als geisteswissenschaftlich blickende Researcherin schwer bis kaum zugängliche Topi- Offenheit und Zugeständnisse auf, die sich in meiner sprachlichen Vorstellung zu einer Figur formulieren lassen. Auch wenn der Bereich in dem Dion H. sich spezialisiert hat, für mich also kaum zu erschließen ist, sein Profil wirkt nahbar, analytisch, klar, strukturiert und spielerisch in einer Form, die bei mir ein zuversichtliches Gefühl hinterlässt. Besonders interessiert mich eine Beschreibung in seinem Lebenslauf, der zumindest bis 2022 aktualisiert zu sein scheint. Dort findet sich in der Kategorie „Other Skills and Interests“ das Statement: „A special interest in effective communication through writing, oral presentations, and data visualization. I take the quality of my publications seriously, and love to present my work.51
Ob Dion H. ein fleißiger Optimist ist? Nr. 29 auf Dion’s All Time Top 100 führt uns auf eine Fährte: Optimist von City and Colour, (ein Song mit monatlichen 1.229.257 Hörer*innen). Könnte ein Hinweis darauf sein. Seine nicht unsympathische indie-lastige Playlist verspricht eine gewisse Leichtigkeit. Kein eigenbrötlerischer Zahlenfreak? Darauf lässt auch ein Artikel mit einer Tendenz zu psychologischer Anwendung statistischer Denkansätze schließen, in dem sich Dion H. 2016 Mit der Angst vor terroristischen Attacken in Westeuropa auseinandersetzt und gezielt etwas aufzeigen möchte. In dem Essay „Why you should not be afraid of terrorism“52 argumentiert er nachvollziehbar und an Diagrammen, veranschaulicht, warum diese Ängste, statistisch gesehen kein Begründung finden. Diese Form der Anwendung ist beeindruckend, klar nachvollziehbar und auf eine gewisse Art und Weise beruhigend.
BILD SONG
52 Dion Häfner, „Why you should not be afraid of terrorism“, dionhaefner.github.io, 26.03.2016, https://dionhaefner.github.io/2016/03/why-you-should-not-be-afraid-of-terrorism/, 09.12.2023.
3.4 Umkehrungen zu Fragestellungen
„Je länger ich schaue, umso rätselhafter wird diese Welt.“
Hier ist ein Narrativ verloren gegangen oder, alle Bücher, die zufällig auf meinen Arbeitsstapel fallen, werde ich nicht abweisen.
So auch ein Buch, mit dem 1. Kapitel, Erzählung der Quantentheorie, sich also der Königinnendisziplin des Beobachtens widmet. Wie ich meinen Aufzeichnungen aus den ersten Tagen des neuen Jahres entnehme, scheint das Buch aus der Büchersammlung G’s an der nördlichen Küste Estlands von einer Holzstiege auf meinen Stapel mit Arbeitsmaterialien gefallen zu sein.,
Nachdem ich am nächsten Morgen eingeheizt hatte, begann ich wie schon einige Jahre zuvor, den Schilderungen Werner Heisenbergs und seinen Erinnerungen zu „Quantentheorie und Philosophie“ im Reclam Verlag erschienen, zuzuhören. Die Beobachtung als solche erfährt in dieser Zeit eine neue Wirkung. Der Prozess und das Ringen um diese neuen Entwicklungen, werden sehr persönlich und dem alltäglichen erleben Heisenbergs nahe, geschildert. So, dass es sich anfühlt wie ein Epos, wenn Heisenberg nach der bahnbrechenden Erforschung der Quantenmechanik von Albert Einstein nachhause eingeladen wird, und die beiden noch ein bisschen grundsätzlich diskutieren. Was passiert wohl in einem Menschen, wenn er, wie Heisenberg, die Zeit vor seinen bahnbrechenden Studien beschreibt: „Meine Pläne wurden nun durch ein äußeres Hindernis mehr gefördert als gestört.“ Kurz davor begibt er sich nämlich auf einen, „undurchsichtigen Weg“, den er mit einer Wandererfahrung in der Nähe des Achensees erinnert, wo er mit einigen Freunden durch ein nebelverhangenes Gebiet gehen muss: „in dem wir beim besten Willen keinen Weg mehr erkenne konnten. Wir versuchten trotzdem an Höhe zu gewinnen. (...) Der Nebel wurde stellenweise so dicht, dass wir die anderen aus dem Blickfeld verloren, und uns nur noch durch Rufen verständigen konnten.“56
53 Cees Nooteboom, Karl Blossfeldt und das Auge Allahs. München: Schirmer/Mosel, 2017, S7.
54 Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, Stuttgart: Reclam 2016. S.26.
55 Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, Stuttgart: Reclam 2016. S.24.
Die sich so in der Natur ereignete Erfahrung, sich nicht gewohnter Sinneseindrücke bedienen zu können, sich möglicherweise zu verirren, kann erst zu einem neuen, noch nicht erwarteten Ergebnis führen. Was sich über ein Vierteljahrhundert als Entwicklung der Quantenmechanik festlegen lassen wird. Es folgt ein Ringen um eine neue Sichtweise, die sich in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik niederschlägt.57
Die Ereignisse finden um das Jahr 1926 statt, in der in Kopenhagen laut Heisenberg nach „Monaten von Diskussionen wie viele Physiker glauben, befriedigende Klärung der ganzen Situation. Aber es war keine Lösung, die man leicht annehmen konnte. Ich erinnere mich an viele Diskussionen mit Bohr, die bis spät in die Nicht dauerten und fast in Verzweiflung endeten.“58
Bevor er ansetzt den Lösungsweg durch die Umkehrung der Fragestellung zu beschreiben, wiederholt er die Frage beim nächtlichen Spaziergang im benachbarten Park: „immer und immer wieder die Frage, ob die Natur wirklich so absurd sein könne, wie sie uns in diesen Atomexperimenten erschien.“59
3.5 Sculpting Light
Das gefällt mir, ich suche nach Umkehrungen zu Fragestellungen und erinnere mich an meine Zeit in der Schule Friedl Kubelka für unabhängigen Film. Eines der prägendsten Ereignisse in der Friedl Kubelka Schule für unabhängigen (analogen) Film, die von der Filmemacherin Friedl Kubelka vom Gröller 2006 in Wien gegründet wurde60, war neben der Arbeit mit der Materialität und der Arbeit im Dunkeln der Workshop Shaping Light mit Philipp Fleischmann. Die Erfahrung, einen Raum, in diesem Fall eine Camera Obscura zu betreten, der bis auf ein kleines Loch vor einem Fenster völlig abgedunkelt ist, war für mich maßgebend.
Ein stiller Moment, wo alle sich hinsetzen und etwa 15 Minuten warten, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, das Licht erkennbar wird, das sich durch dieses etwa 1cm kleine Loch bündelt, und in den Raum streut. In der Bündelung trägt es Information in den Raum, die sich langsam verortet. Es zeigt sich einer die Realität von draußen als umgekehrtes Bild auf der Wand gegenüber der kleinen Kameraöffnung. In diesem Fall sehen wir die Hausfassade des Neubauhof in 1070 Wien, wo sich die Schule im 1. Stock befindet. Diese Erfahrung war für mich und mein Wirklichkeitsverständnis fundamental wichtig. Ich würde es seither als sinnvoll erachten, dass dieses so einfache, wie auch wirksame Experiment wie das Lernen der Buchstaben, um Lesen und Schreiben zu können, bereits an Volksschulen gezeigt wird. Es birgt Potential, unser Verständnis der Wirklichkeit anzuschärfen und unseren optischen Apparat und die damit verbundenen Möglichkeiten, die materielle Welt begreifen zu können in sich. In einer Camera Obscura gewesen zu sein, und die Relation zu unserer alltäglichen Wahrnehmung ganz von selbst auf den Prüfstand stellen zu können, ist eine Erfahrung, die dem Besuch eines Theaterstücks gleichen kann. Das Gefühl, ein gewisses Abbild einer Realität zu erleben, in einer gefühlten Zeit, in der wir in dem Moment gleichsam wissen, dass wir aus der erlebten Zeit aussteigen. Und vielleicht hat sich hier schon ein Vergleich des Theaters mit dem Filmapparat angestrengt.
Wir lernen im Laufe des 3- tägigen Workshops die Arbeiten Philipp F’s kennen. Die Möglichkeiten, analoge Projektionen zu sehen, sind begrenzt. Die Apparatur und das Filmmaterial hat hohe Ansprüche und lässt eine Verwandschaft zum Theater in der Erzeugung eines Jetzt-Momentes gelten. Jede Projektion ist eine einzigartige Sichtung des Materials, die sich nicht wiederholen lässt. Das Projizieren hinterlässt Spuren auf dem Filmstreifen, die Geräusche des Projektors erzeugen auch ohne Filmtonspur eine Geräuschkulisse, einen Rhythmus. Einige Zeit später finde ich meine Notizen aus dieser Zeit zu Philipp Fs filmischer Arbeit „Austrian Pavillon“, 35mm umgesetzt im Giardini della Biennale in Venedig 2019. Eine kleine Anmerkung am Rand sticht mir ins Auge. Philipp F. einsperren Fragezeichen.
56 Ebd.
57 Vgl. Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, Stuttgart: Reclam 2016. S.21.
58 Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, Stuttgart: Reclam 2016. S.19.
59 Ebd.
60 Schule Friedl Kubelka für unabhängigen Film, schulefriedlkubelka.at, http://www.schulefriedlkubelka.at/filmschule/de/info/die-schule/2/, 12.12.2023.
4 Abwesenheit
Ich habe eine Frage an ihn, die ich mir auf einer Notiz vermerkt habe, ich habe das Gefühl, es wäre gut ihm diese Frage zu stellen. Wir haben über Mail ein Treffen im Café mit dem Namen der weltberühmten österreichischen Schriftstellerin ausgemacht. Es trägt allerdings nur ihren Namen, und hat sonst mit ihr nichts zu tun, auch wenn viele Portraits von berühmten Menschen an den Wänden hängen. Es haben sich auch ein paar Portraits von weniger berühmten Menschen darunter gemischt, aber dafür gibt es einen Holzofen der im Winter wirklich brennt. Dort haben wir uns also verabredet und ich hatte ein mulmiges Gefühl, da ich mir nicht vorstellen konnte, wie sich die Erzählung meiner Arbeit im gesamten unteren Stock des Wiener Kaffeehauses ausbreiten würden und vermengen, mit Gerüchen, Geräuschen und anderen Gesprächen, ich stellte den Zuckerstreuer auf die Frage auf dem Zettel auf dem Tisch und wartete. Ich wartete noch ein bisschen länger und irgendwann begann ich, darüber nachzudenken, dass ich wartete und einen Tisch auf der anderen Seite zu beobachten, während ich innerlich eine Gewissheit darüber aufbaute, das mein Gesprächspartner, Spezialist für Kamerabauten, heute nicht erscheinen würde. Während das bei mir einsickerte und ich mich nach links und rechts umdrehte, mich fragend ob das wohl auch bei meinen Tischnachbarn und Nachbarinnen eingesickert war, begann ich einer Szene zuzusehen die sich direkt vor mir aufbaute. Nämlich eine Szene mit einer jungen Frau, die sehr umständlich ein kleines Geschenk bei sich hatte, die Form eines Buches, in einer ähnlichen Farbe wie ihr Kleid, das Blumen, ich glaube sogar rote, oder war es der Lippenstift, in jedem Fall war Farbe im Spiel, trug. So richtig entspannt wirkte sie nicht. Bevor sie etwas aus ihrer Tasche auspacken konnte, kam ein etwas älterer Typ herein, mit einem Irokesen und einem sehr großen Ring am Finger, vielleicht ein Totenkopf oder etwas ähnliches war darauf, ich habe es verdrängt.
Er war nicht ganz rasiert aber auch nicht ganz unrasiert. Er wirkte gepflegt, also war frisch gekleidet aber der Irokese ließ mich auf eine Vergangenheit in den frühen 80er Jahren und sehr dichtes volles Haar schließen, er war wohl um die fünfzig. Sie schienen sich schon länger zu kennen, ich konnte aber nicht ganz entziffern, um welche Art von Bekanntschaft es sich handelte. Die Aufregung lag in der Luft, obwohl es erst kurz nach 10 war, 15 nach 10. Es gab bislang keine Berührungen ausser einer Art von Umarmung vielleicht ein förmliches Wange links und Wange rechts. Kein Händeschütteln, sie erkundigte sich nach seinem Befinden und bedankte sich für sein kommen, obwohl er viel zu tun habe oder so ähnlich. Sie bestellten ein Frühstücksei, was nicht weiter verwunderlich war.
Verwunderlicher war , wie ich bemerkte, dass der Kellner mir Darjeeling mit lauwarmem Wasser gebracht hatte, das war für mich, auch wenn ich langsam aber sicher war, dass ich kein komplexes Gespräch mehr vor mir hatte, doch ein bisschen zu lau. Ich vergass die Misere aber zügig, als am Tisch gegenüber das Geschenk ausgetauscht wurde, irgend ein Buch, während der Mann mit dem Totenkopf der jungen Frau einige seiner noch nicht lange zurück liegenden Erfolge mitteilte, es handelte sich um einen Schriftsteller. Es war mir irgendwie unangenehm, aber ich konnte nichts machen und trank den Tee. Er bedankte sich bei ihr und dann kam ein kurzes Schweigen auf. Das sie brach mit einer eindeutigen Geste, sie griff in ihre Tasche und zog ein riesiges Mikrofon heraus, es folgte noch eines. Der gesamte Tisch wurde, alle Frühstücksgegenstände ignorierend, mikrofoniert. Einfach so, und als sie dann auf eine seiner berechtigten Fragen, ob es hier nicht zu laut sei noch meinte, dass die Kaffeehausgeräusche sich gut auf der Aufnahme machen würden, beschloss ich ein Mail zu schicken, mit der Frage, ob alles ok sei. Ich war kurz wütend, sowas war mir noch nie passiert glaube ich, aber dann hoffte ich einfach, dass der anderen Person nichts passiert war und disziplinierte meine Demut der Recherche gegenüber, war anwesend.
Die Abwesenheit des Gesprächspartners erleichternd als Notiz vermerkend, nahm ich den Zuckerstreuer von der Frage und gab bisschen Zucker in den Tee. Sie sprachen dann und ich konnte den Inhalt auch wegen des Raschelns der Zeitung die ich begonnen hatte zu lesen nicht verstehen und das war gut so, sie sprachen über seine Arbeit. Sie wirkte eloquent und jagte eine Antwort. Die Szene erinnerte mich an einen Comic, den ich vor kurzem gelesen hatte, spielte in den 80ern wahrscheinlich der Irokese. Als das Interview beendet war, und noch etwas Zeit oder Kaffee übrig, ich war bereits am Gehen, schnappte ich auf, wie er sie fragte ob sie es geschafft habe dieses Letzte, was sie ihm geschickt habe, zu veröffentlichen. Ihre Antwort war kurz, ihre Kopfbewegung sah ich in Zeitlupe. Mit einem Auge schielte ich hinüber und mit dem anderen suchte ich auf meinem Handy einen Essay mit dem Titel „Edouard Glissant, lecteur de Claudel“.61 Glissant fiel mir über seine „Leitbegriffe der Opazität und Akkumulation“ auf.62 Bei Claudel handelt es sich um den Bruder von Camille. Den französischen Schriftsteller Paul Claudel, der offenbar von Glissant gelesen wurde, was eine Professorin namens Elena Pessini, die den Essay auf französisch verfasst hat und die aus Parma stammt, interessiert(e). Als ich aber versuche die Seite zu öffnen, erscheint der Artikel „The analysis of liberalisation of the electricity market in Slovenia“.63 Ein guter Moment, fand ich, um hinaus zu gehen, in die frische Luft. Ich notiere noch die Charaktere für das nächste Stück und den letzten Satz, denn es schließt sich der Kreis nicht, wie er bricht.
61 Elena Pessini, „Edouard Glissant lecteur de Claudel“ academia.edu, 2019, https://www. academia.edu/81297320/Édouard_Glissant_lecteur_de_Claudel, 03.01.2013.
62 Natascha Veckmann, „Trauma und Opazität“, Literatur Nachrichten Nr.117, 2013, S.4-7, hier S.4.
63 Stefan Bojnec/ Drago Papler, „The analyses of liberalisation of the eletricity market in Slovenia“, Managerial Economics 20/1, 2019, S.7-26.
Literatur
Anna Lowenhaupt Tsing, Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Berlin: Matthes & Seitz 2018.
Barbara Krause, Camille Claudel. Ein Leben in Stein, Berlin: Verlag Neues Leben GmbH, 21991, S.7.
Bojana Kunst, „The Institution between Precarization and Participation“, Performance Research, 20/4 2015, S.12-13.
Byung-Chul Han, Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Berlin: Matthes & Seitz 42017.
Cees Nooteboom, Karl Blossfeldt und das Auge Allahs. München: Schirmer/Mosel, 2017.
Claude Lévi-Strauß, Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Berlin: Suhrkamp 132000.
Efva Lilja, 100 ÖVNINGAR FÖR EN KOREOGRAF OCH ANDRA ÖVERLEVARE. 100 Exercices for a Choreographer and Other Survivors, Borås, 2017.
Elena Esposito, „Die Konstruktion von Unberechenbarkeit“, Der Zeitkomplex Postcontemporary, hg. v. Armen Avanessian/Suhail Malik, Berlin: Merve Verlag 2016, S. 37-42.
Elena Pessini, „Edouard Glissant lecteur de Claudel“ academia.edu, 2019.
Erika Fischer-Lichte. Ästhetik des Performativen, Berlin: Suhrkamp 2004.
João Cabral de Melo Neto, Erziehung durch den Stein. Gedichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1989.
Marianne van Kerkhoven, „Sehen ohne Stift in der Hand“, Theaterschrift 5/6 1994.
Marie Luise Knott, Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt, Berlin: Matthes & Seitz 2011.
Marina Prados, Paula Knupling, „Ladybitches Pressbook: Stellunganahme“, Ladybitches. de, 2022, HYPERLINK «https://ladybitches.de/wp-content/uploads/2023/03/PresseheftLADYBITCH_de.pdf» \t «_top» https://ladybitches.de/wp-content/uploads/2023/03/ Presseheft-LADYBITCH _ de.pdf , 26.12.2023
Natascha Veckmann, „Trauma und Opazität“, Literatur Nachrichten Nr.117, 2013, S.4-7.
Rebecca Schneider, „Besideness, Amongness, Wit(h)ness, Reenactement as Likeness or Call and Respons? The Future of Reenactment“, Conference, Duke University, 2017.
Stefan Bojnec/Drago Papler, „The analyses of liberalisation of the eletricity market in Slovenia“, Managerial Economics 20/1, 2019, S.7-26.
Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, Stuttgart: Reclam 2016.
Eidesstattliche Erklärung
„Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst, noch nicht anderweitig für Prüfungszwecke vorgelegt oder veröffentlich, keine anderen als die angegebenen Quellen benutzt und wörtliche und sinngemäße Zitate als solche gekennzeichnet habe. Die vorliegende Arbeit stimmt mit der beurteilten, bzw. in elektronischer Form eingereichten Arbeit überein.“
Danksagung
Ich bedanke mich bei allen, die für mich gekocht haben.
Vor allem:
M+P und meiner Familie
Colleen
Aphex Twin, Stone in Focus
MV
MW
A’s
MS
PA
UB
Gustav + Titouan
HP
Niko + Luca
Marianna
Ilia
Vika
Barbara Kremser und allen Lehrenden des ADRAMA Lehrgangs