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Aufgefrischte Erinnerungen aus meiner Kindheit in Altheide Bad und Polanica Zdrój (Tala

Das Fernsehen denkt in jedem Falle, Es denkt für mich, für dich, für alle. Drum kann ich mir mein vieles Denken Für heut und alle Zukunft schenken.

Es hat mein Volk nur sehr wenig dazugelernt in den vielen Jahren. Die Medien machen das Volk denkfaul. Mir hat die Stadt Halle so viel an Wissen und Erfahrung vermitteln können. Ich bin bis heute der Literatur treu geblieben, vier Bucherscheinungen liegen vor sowie mehrere Teilnahmen an Anthologien. Bin an Heimatkalendern der Schlesier seit Jahrzehnten beteiligt. Befinde mich zweimal im Monat in einem Schreibkreis zu Hause.

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So hat mein langjähriges Leben in Halle aus einem Hinterwäldler aus den schlesischen Bergen einen denkenden Mitbürger gemacht. Dafür bin ich der Stadt Halle dankbar sowie meinem Schicksal. Ich beende diese Geschichte mit den Worten von Kant: 'Ein jeder habe den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.'

Dieser Satz hat in der vergangenen Zeitgeschichte so wie heute viel Ärger eingebracht. So mancher brave Bürger hat durch sein aktives Denken sein Leben verloren. Es haben meine vier Zeilen auch nichts an ihrer Aussage verloren und ich bin mit ihnen sehr alt geworden. Ich danke meinem Schicksal am Ende dieser Geschichte von ganzem Herzen.

Aufgefrischte Erinnerungen aus meiner Kindheit in Altheide Bad und Polanica Zdrój

Frau Tala, Altheide Bad/Polanica Zdrój, heute: Wrocław

Kontaktaufnahme über Frau Susanna Wycisk-Müller, Anschrift und Tel. sh.am Schluss

Ich blättere in den letzten Jahrgängen des „Altheider Weihnachtsbriefes“ und in „Altheide Bad, gestern und heute“ und versetze mich in meine Kinder- und Jugendzeit zurück, in die Jahre in Neuwilmsdorf/Nowy Wielisław, Falkenhain/Sokołówka und Altheide Bad, das ich 1961 verließ und nach Breslau umsiedelte, um mein Studium der Polonistik an der Universität Wrocław aufzunehmen.

Ich schließe die Augen und finde mich auf dem Gelände des Hofes von Johann Koeppe1 wieder: meine Mutter arbeitet auf dem Feld, mein Vater im Sägewerk. Ich spiele mit meiner Spielgefährtin Monika und einem etwas älteren Spielgefährten namens Karp (ich erinnere mich nicht mehr genau an den Namen, vermutlich ein Russe?) unter der Aufsicht von Frau und Herrn Pfitzner, die für uns Oma und Opa waren und die wir auch liebevoll so nannten. Um uns

1 1942 waren die Eltern der Erzählerin aus der Lemberger Gegend dem Arbeitsangebot von Sägewerk-Koeppe nach Neuwilmsdorf in die Grafschaft Glatz gefolgt. 116

sind Felder, Wiesen, Pferde, Kühe, Gänse, Hühner, Hündchen und Katzen und auch die erste Stoffpuppe. Hier erlebe ich den ersten Nikolaustag, das erste Weihnachtsfest, als alle Mitarbeiter von Koeppe zusammen Weihnachtslieder sangen.

Hier durchlebe ich, versteckt im Heu einer Scheune, den schrecklichen Widerhall des Bombardements (vermutlich von Breslau oder Neiße) und den Rückzug der sowjetischen Soldaten, die für mich Menschen anderer Hautfarbe mit komischen Augen waren. Sie treiben ganze Herden Vieh (Schafe, Kamele) vor sich her und ziehen mit verschiedenem Zeug beladene Wagen. Ich schaue durch das Fenster und rufe: „Mama, Mama, was ist das?“. Am nächsten Tag knieten die Soldaten am Weg zur Schule, neigten ihren Kopf und murmelten irgendetwas. Wir waren sehr erschrocken. All diese Menschen bewegten sich aus Altheide in Richtung Habelschwerdt/Bystrzyca Kłodzka.

Was nach dem Mai 1945 passierte, haben schon genau andere, heute ältere Zeitgenossen, beschrieben. 2016 verbrachte ich das letzte Mal Urlaub in Altheide Bad. Der Hof von Koeppe ist eine absolute Ruine, das demolierte Hauptgebäude und das einst so solide Tor stehen noch, im Sägewerk von Koeppe hat sich eine Firma niedergelassen, das Haus von Herrn Schramm steht noch, ist aber kein Gasthaus mehr. Hier fand die erste polnische Hochzeit statt. Meine Eltern erzählten, dass Henryk Kaźmierczak meine Cousine Katarzyna (Katharina) heiratete. Weil sie noch so jung waren, wollte sie der polnische Pfarrer nicht trauen, der deutsche Pfarrer hatte aber Mitleid mit ihnen und traute sie. Alle haben die Hochzeit vorbereitet, jeder hat gebracht, was er konnte. Die deutschen Frauen brachten meiner Cousine den Stoff für das Hochzeitskleid, das die Schneiderin namens Martha nähte, Schramm brachte Kartoffeln, ein anderer Sauerkraut, wieder ein anderer ein Ferkel. Alle haben sich gefreut und fröhlich in die Zukunft geschaut, keiner hat an Aussiedlung oder Plünderung gedacht.

Bis heute erinnere ich mich an die Namen2 der Bekannten meiner Eltern: Volkner, Winkler, Schwertner, Scholz, Bittner aus Falkenhain, Dunkel, Wagner, Wenzel, Franke, Adler, Geisler, Teichmann. Bei wem holten wir Milch, bei wem ein Stück Fleisch, bei wem ein Brot und bei wem Kaffee mit Zichorie? Wer hat mein erstes Kleid genäht und wer schenkte mir Schuhe?

Eines weiß ich noch ganz genau. Hedwig Grabmüller half meiner Mutter am 9. September 1945 bei der Entbindung meines Bruders, dessen Taufpate der Opa Pfitzner wurde. Als Taufgeschenk erhielt mein Bruder eine Porzellantasse mit Untertasse, die er noch heute aufbewahrt. Die Taufurkunde der katholischen Kirche Mariä Himmelfahrt in Altheide Bad für meinen Bruder ist noch

2 Die deutsche Schreibweise der Namen kann ein wenig abweichen, die Erzählerin kennt die Namen nur nach dem Gehör.

in deutscher Sprache ausgestellt.

Die Tochter von Frau Grabmüller, die alle Uschi nannten, hat auf meinen Bruder aufgepasst und meiner Mutter geholfen. Sie war für mich wie ein Familienmitglied, wie eine ältere Schwester (anbei Foto).

Bevor Edewald Koeppe 1946 Neuwilmsdorf verlassen musste, wollte er den Hof an Henryk Kaźmierczak übergeben, aber dieser war zu jung und zu unerfahren, so verzichtete er und wechselte zur Polizei nach Altheide Bad. Wir übersiedelten mit ihm nach Altheide und fanden Aufnahme bei der Familie Gertz (Schreibweise?) im Haus Rübezahl in der Falkenhainer Str. 5, nachdem ein russischer Offizier aus einer Wohnung ausgezogen war.

Auf dem Nachbargrundstück, einem Bauernhof, lebte die Familie Pabel, bei der auch die Familie Seidel in einem kleinen Nebenhaus wohnte und deren Sohn Günter3 mein Spielfreund wurde. Seine Mutter rief ihn immer „Herzchen“, er war meine Liebe aus der Kinderzeit. Wir waren die einzigen Kinder in der Straße. Die Aussiedlung der Seidels tat mir und meinen Eltern sehr leid. Ich verlor einen Freund zum Spielen auf den Wiesen, zum Pflücken von Blumen, die wir mit nach Hause brachten, und zum Herumtoben in der Scheune. Bis heute erinnern sich Bekannte in Altheide Bad, wie mich „Herzchen“ im kleinen Gartenwagen um den Bauernhof der Familie Pabel herum fuhr. Den Geschmack der Kürbissuppe und des Kürbiskuchens von Frau Seidel werde ich nie vergessen.

Am Haus in der Falkenhainer Str. 5 hatten wir auch einen Obst- und Gemüsegarten, der an den Garten des einstigen Kinobesitzers, Herrn Henryk Kollossa, grenzte. Ihm habe ich den Besuch des ersten Films in meinem Leben zu verdanken. Es war ein russisches Märchen – Konik Garbusek (dt. Buckliges Pferdchen). Er ließ mich ohne Eintrittskarte ins Kino hinein. Mein Vater spielte mit ihm Schach, beide führten lange Gespräche. Herr Kollossa hat sehr darunter gelitten, was mit seinem Eigentum geschah. Er war aus Masuren nach Altheide Bad gekommen, fühlte sich als Pole, arbeitete schwer und hat Grund und Boden verkauft, um sich für das Geld seinen Traum zu erfüllen, ein Kino zu errichten, während ihm die polnischen Behörden alles, aber auch alles wegnahmen.

Zurück zum Besitzer des Hauses Rübezahl, der sehr bald starb. Ich erinnere mich an seine Beerdigung: Ich ging mit meiner Mutter mit Blumen aus seinem Garten in der Hand. Meine Beine schmerzen, wir gehen im Trauerzug hinter dem Leichenwagen, der sehr groß war, schwarz, mit goldener Verzierung und sehr schön geschmückt, zwei große schwarze Pferde waren angespannt. Viele Jahre pflegte meine Mutter sein Grab, bis eines Tages die Gedenktafel verschwand

Foto von links: meine Mutter, Uschi Grabmüller mit meinem Bruder, mein Vater und ich, Cousin meines Vaters.

und eine Neubelegung erfolgte. Was ist mit dem Leichenwagen geschehen, wo ist er geblieben? Er war so einzigartig. Die Ehefrau von Herrn Goertz, eine alte Dame im Rollstuhl, wurde ausgesiedelt, trotz der Beteuerung meiner Mutter und von Herrn Henryk Kaźmierczak, dass sie ihre Betreuung bis ans Ende ihres Lebens gewährleisten werden.

Die Zeit rannte, aber die Glashütte arbeitete noch mit deutschen Fachkräften, die in der Falkenhainer Str. 7 wohnten. Ich erinnere mich an einen Zygfryd (dt. wohl Siegfried) und seine Schwestern. Zygfryd war älter als wir, er passte auf uns auf. Zygfryds Mutter rief immer in ihrem Dialekt, was in meinen Ohren klang, wie „Zygfryd asa frasa“, was aber „Zygfryd zum Mittagessen“ bedeutete. Die Sprache klang sehr melodisch. Nach ihrer Aussiedlung blieb ich wieder allein, wir verabschiedeten uns sehr herzlich. 1949 wurde ich in die Grundschule in Altheide Bad eingeschult. Wir waren nicht viele Kinder in der Klasse. Trotzdem die Schüler aus verschiedenen Regionen kamen, bildeten wir eine geschlossene Gruppe. Die damals geschlossenen Freundschaften halten bis heute. Nach vielen Jahren fand ich Erika MoroszanKünig und Relinda Rüttimann-Aniołowska, die in Wallisfurth/Wolany wohnte.

Nach dem Unterricht kam Relinda immer in die Molkerei nach Altheide und besuchte mich. Ich besuchte sie auch mehrmals. Bei ihren Eltern saß ich das erste Mal auf dem Pferd, lernte den Geschmack des Kaffees mit Sahne kennen.

Mit Relinda und Erika betrachteten wir das Foto von der 1. Kommunion. Wir überlegten, was aus Klaus Nentwig geworden ist? Nach dem Unterricht ging ich immer mit ihm nach Hause, er wohnte etwas weiter als ich, beim Büttner-Sägewerk. Und wo ist jetzt Roswita Teisen (dt. vermutlich Roswitha Theisen), deren Mutter eine Wäscherei und eine Mangel in AltheideBad hatte.

Ich frage mich, was mit Frau Dreifir (Name laut polnischer Aussprache) aus Falkenhain geschah, bei der ich Klavierunterricht nahm. Blumen holten wir in der Gärtnerei Makrohs. Als Kinder waren mein Bruder und ich sehr oft krank. Die Ratschläge von Dr. Frank halfen immer, die Wärme seiner Hände während der Untersuchung fühle ich noch heute.

Mein Bruder war als Kind immer von Feuerwehrautos begeistert und bis heute erinnert er sich an einen großen schwarzen Mercedes und seinen Chauffeur, Herrn Zylla. Leute erzählten, dass der Wagen Eigentum eines Gestapomannes aus Glatz gewesen sei.

Ich komme aus der Grafschaft Glatz, mich zieht es nach Hause, obwohl mein Zuhause dort nicht mehr ist. „Die Zeit heilt alle Wunden“, sagt ein altes Sprichwort, aber die Erinnerung hat ihre Rechte und hinterlässt eine Spur nicht nur in unserem Leben, sondern auch in dem unserer Nachkommen. Mittlerweile interessiert sich in meiner Familie die dritte Generation für die Geschichte der Grafschaft Glatz. Ich werde oft nach vielen Dingen gefragt: So fragen die Neffen und Nichten, wo das Haus der Großeltern ist, wo ihr Vater geboren wurde. Sie mahnen mich, alles niederzuschreiben und eine Familienchronik zu erstellen. Vielleicht gelingt es mir, in diesem Jahr 2017 ein Familientreffen zu organisieren. Leider werde ich die Glatzer Rose nicht mehr finden können. Diese gelbe Pracht ist längst von den Wiesen um Altheide Bad verschwunden, auch die leuchtende Glühwürmchen an lauwarmen Abenden.

Aus dem Polnischen übersetzt von Susanna Wycisk-Müller, Ehniweg 31A, 70439 Stuttgart, Tel. 0711-8063399 (Mit der Übersetzerin meines Beitrags bin ich seit Beginn des Studiums befreundet.)

Der Altheider Kurpark im Winter. Bild mit Charlottensprudel aus einem Kurprospekt von 1939

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