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Leonhard Lutzke aus Grunwald, verliebt in Altheide (Henryk Grzybowski
Deutsche Einwohner des Glatzer Landes Henryk Grzybowski
Die ehemaligen Einwohner des Glatzer Landes haben unterschiedliche Einstellungen zum Besuch in der alten Heimat. Es gibt unter ihnen solche, die so sehr die Konfrontation der aus der Jugendzeit im Gedächtnis behaltenen Bilder mit der Wirklichkeit und Gegenwart befürchteten, dass sie nie ankamen. Sie wollten die Erinnerungen aus dem Herrgottswinkel – dem verlorenen Paradies nicht zerstören. Und man sollte dafür Verständnis haben. Andere dagegen wollten möglichst schnell ihren Heimatort, ihr Haus besuchen, um die Eindrücke aufzufrischen. Der absolute Rekordhalter ist hier Helmut Goebel aus Münster, der seinen ehemaligen Wohnort Niederschwedeldorf über 120 Mal besuchte. Doch der Einwohner von Halle in Sachsen-Anhalt, Leonhard Lutzke (Jahrgang 1928), kam hier 58 Mal, im Winter und Sommer, an und verbrachte so innerhalb von ein paar Dutzend Jahren jeden Urlaub. Laut seinen eigenen Berechnungen hielt er sich hier insgesamt ungefähr 2,5 Jahre auf.
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Er kommt aus Grunwald, wo sein Vater Gemeindevorsteher war und samt seinen Brüdern am Bau der dortigen Kirche arbeitete. Deshalb fand Lutzkes erster Besuch in Polen im Jahr 1968, als die in der DDR wohnenden Deutschen schon in unser Land kommen durften, in diesem am höchsten in Schlesien gelegenen Ort statt. Er lernte viele Polen kennen, mit vielen befreundete er sich. So war es mit der Familie Mostowy aus Walditz, deren Oberhaupt ein Steiger aus dem Bergwerk in Neurode war. In dieser Familie fühlte sich Leonhard wie ein König. Als die Frau des Steigers starb und fünf Kinder als Waisen zurückließ, half Leonhard mit seiner Familie, das Haus zu renovieren. Er erinnert sich auch daran, dass er 1981, als in Polen die Inflation tobte, 11 Millionen Zloty für den Urlaub zahlte. Er vergaß auch die in den Läden fehlenden Zitronen nicht.
Nach Jahren wählte er Altheide zu seinem Zufluchtsort im Glatzer Land und 30 Jahre lang besuchte er die Familie Paterak. Die Seniorin der Familie, Halina Paterak, hieß vor 1945 Hilde Kastner und war eine der Deutschen aus Altheide, die polnische Männer hatten und in der Heimat blieben. Sie wohnte am Ende der Dębowa-Straße (Eichendorff-Str.), hoch über dem Wiesenthal. Auf der anderen Seite des Bachs stand unten einmal ihr Familienhaus. Bolesław Jaśkiewicz
schrieb einmal darüber in der Halbmonatsschrift „Gazeta Gmin” („Gemeindezeitung“) Red.. In der Familie Paterak fand Leonhard, der sich mit Hilde und ihrer Freundin Erna Biegus (geborene Tschöke, sie heiratete einen polnischen Arzt) unterhalten konnte, nicht nur den Zufluchtsort, sondern auch das Paradies. Hier konnte er Keyboard spielen, Gedichte und Epigramme schreiben, die er später in Büchern, Kalendern und Zeitschriften veröffentlichte. Er erlebte das Heranwachsen von Hildas Enkelinnen. Nach Hildas Tod war er zu Gast bei ihren Töchtern, Barbara Kuchta und Lidia Janiszewska. Auf sein Bitten hin grillte man oft und lud Bekannte ein. Ich selbst befand mich mehrmals in diesem Kreis, denn Leonhard schätzte sehr die Gespräche über Geschichte und ich konnte mich von der Eindeutigkeit seiner Ansichten zu diesem Thema überzeugen. Er betonte immer die Verantwortung von Hitler und den Nazis für die Auslösung des Krieges und schließlich für die Niederlage und den Verlust des deutschen Ostens. Er erzählte auch von schwierigen Anfängen in Halle, dem Mangel an Nahrungsmitteln und Lebensmittelmarken.
Letztes Jahr kündigte Leonhard seinen Abschied an. Im Alter von 88 Jahren beschloss er, sich von Altheide und dem Glatzer Land, von Freunden und Bekannten zu verabschieden. Früher nahm er Abschied von der polnischen Familie aus Walditz und Grunwald. Der Abend am 8. Juli 2016 verging also beim Grillen (man genoss die von Lidia vorbereiteten Leckereien) und bei Gesprächen über spannende Details aus der Geschichte der Region.
Diesmal kam nämlich mit Leonhard Wolfgang Drexler, ein mit der Familie Kastner verwandter Sohn des Zimmermanns aus Glatz, der das Wiesenthal aus den Kinderausflügen zu den Großeltern in Altheide kennt. Nach dem Krieg war er Lehrer, Schuldirektor, also ein Kenner der Geschichte des Glatzer Landes. 1981 kam er hier mit einem Motorrad an. Auf alten Fotos erkannten wir u. a. Georg Jaschke, den Verwandten der Familien Drexler und Paterak, nach dem Krieg den Dirigenten des Grafschafter Chors in Münster, der für die Ausführung von Reimanns Christkindelmesse in der Münsterschen Überwasserkirche (oder auch Liebfrauenkirche) bekannt war. Als Wolfgang hörte, dass ich mich für die Geschichte interessiere, trug er ständig neue Themen zu der Diskussion bei. Er erzählte vom Lieblingsschmuckstein Friedrichs II., dem Chryzopras, der grünen Varietät des Chalcedons. In ganz Preußen war er nur in Gläsendorf in der Nähe von Frankenstein zu finden. Dies war aber vermutlich nicht entscheidend, warum der preußische König den Habsburgern Schlesien und die Grafschaft Glatz wegnahm. Wolfgang fragte auch, ob ich schon einmal vom
1 Die Mädchen gehörten dagegen zur weiblichen Sektion der Hitlerjugend – Jungmädelbund (10 bis 13 Jahre), später zum Bund Deutscher Mädel.
Pimpfenkrieg hörte. Weil ich keine Ahnung davon hatte, erzählte er von einem Ereignis aus dem Jahr 1938. Pimpfe1 – Jungen zwischen 10 und 14 Jahren, die obligatorisch in Deutsches Jungvolk vereinigt waren, einer Organisation der Hitlerjugend, hielten sich im Sommer in Lagern in Altheide in dem von Nazis übernommenen Gebäude des Sanatoriums von Dr. Gerhard Frieslich2 über dem Wiesenthal und auch in Glatz. Einmal beschlossen die Jungen aus Altheide, den Breslauern im Lager in Glatz eine Lehre zu erteilen. Sie gingen also in einer Nacht zu Fuß3 dorthin und verdroschen sie. Ein sich auf die Jugendthematik spezialisierter Schriftsteller schrieb darüber ein Buch4. Nach Drexler spiegelte sich dieses Motiv im Buch Im gleichen Schritt und Tritt5 wieder.
Über dem Wiesenthal dämmerte es, der Waldsaum wurde immer dunkler, im Westen ging schon die Sonne unter. In der Stille ertönte der Sopran von Sylwia Grzybowska, die, von der Stimmung ergriffen, unerwartet zuerst Chopins Lieder aus der polnischen romantischen Dichtung speziell für Gäste aus Deutschland, dann Operettenarien des Ungarn Lehar und schließlich die schwierige Arie der Königin der Nacht aus der Mozarts Zauberflöte sing. Ihr Gesang erklang weit durch das Tal und bezauberte Gäste klatschten stürmisch Beifall.
Leonhard Lutzke erreichte eine echte Meisterschaft in seinem Hobby – er macht Intarsien in Holz. Es ist eine schwierige Kunst, denn man muss sehr sorgfältig nach Farbtönen und Eigenschaften gewählte Holzarten der Bäume aus der ganzen Welt aussuchen. Leonhards Werke sind Wandpanoramen – Stadtlandschaften und Tiere. Er hatte auch einen Erfolg auf einer großen Kreisausstellung. Zu Hause kann man seine Arbeiten in Holzstübchen – ein Minimuseum seiner Werke – sehen: Intarsien mit verschiedenen Motiven, intarsierte Möbel, Eulen. Das Interesse an der Holzverarbeitung erbte er von seinem Vater und Großvater, die ein Sägewerk betrieben. Er hat aber auch musische und literarische Begabungen. Bis 1990 begleitete er den Chor seines Betriebes – VEB Waggonbau Ammendorf, Waggonfabrik in Halle-Ammendorf, spielte auf
2 Haus Hindenburg, nach dem Krieg bis zum Jahr 2000 war es Kardiologisches Kinderkurkrankenhaus von Zespół Uzdrowisk Kłodzkich (Glatzer Kurkomplex) „Leśny Ludek” an der Dębowa-Straße 14. 3 Es bedeutete 25–30 Kilometer hin und zurück zu Fuß. 4 Willi Dissmann, Der Pimpfenkrieg. Stuttgart: Loewe 1940. OCLC: 72496312. 5 Es gibt ein paar Publikationen mit diesem Titel. Wahrscheinlich handelt es sich hier um das Buch Im gleichen Schritt und Tritt. Dokumentation der 16. SS-Panzergrenadier -division "Reichsführer-SS". München: Schild-Verl., 1998. ISBN 978-3880141148. Sie bespricht die Geschichte der 16. Panzergrenadierdivision „Reichsführer SS”, was möglich ist, denn die SS-Formationen waren aus fanatischen Aktivisten der Hitlerjugend gebildet. 258
verschiedenen Festen und zum Tanz auf. Später trat er noch einem literarischen Zirkel6 bei, begann Gedichte, Epigramme und Erzählungen zu veröffentlichen7 ; viele von ihnen schrieb er in seinem Paradies an der Dębowa-Straße in Altheide. Eines der Epigramme, das auf Pauersch geschrieben, dank der Hilfe von Erna Biegus ins Deutsche und schließlich vom Autor dieses Biogramms ins Polnische übersetzt wurde, zitieren wir darunter. [Das Gedicht Mein Trost von 1993 wurde im „Altheider Weihnachtsbrief” 2016, S. 117 publiziert.]
Eine dieser Geschichten, die 2005 im Café „Wiedeńska”8 in der Nähe der Trinkhalle in Altheide Bad geschrieben wurde und sprachliche Missverständnisse veranschaulichte, erweckt Interesse bei den Lesern des „Ziemia Kłodzka – Glatzer Berglandes”. Leonhard Lutzke beschreibt hier ein Ereignis, das ihm im Glatzer Land im Mai 2005 passierte. Er saß damals mit seinem Freund im Café vor dem Eingang zum Rathaus, unweit des Springbrunnens mit dem Glatzer Löwen. Ein kleiner Junge ging an sie heran, um ihnen eine Zeitung zu verkaufen. Der Freund kaufte sie. Lutzke dachte, dass der Kleine, der sich doch im Pressemarkt auskennt, wissen sollte, wo man eine Zeitschrift – „Ziemia Kłodzka – Glatzer Bergland” kaufen kann. Der Junge bekam 10 Zloty für das Mitbringen der Zeitung. Sie waren wirklich sehr verwundert, als sie sahen, dass er nach einer Weile mit einer Tasche voll Erde aus einem Gartenladen zurückkam. Er verstand das einfach wortwörtlich. Die Herren brachen in Lachen aus. Die Erde wurde zurückgegeben und der Kleine bekam ein Geschenk, denn er erfüllte doch auf seine Art den Auftrag. Der Autor beendet die Erzählung mit der Erklärung der Mehrdeutigkeit des polnischen Wortes „ziemia”, das Land im geografischen Sinne oder Erde wortwörtlich bezeichnet. 2017 besuchte Leonhard zum ersten Mal das Glatzer Land nicht mehr. Wie man aus seinen Worten schließen kann – er sagte, dass er täglich am Morgen im Schwimmbecken seiner Tochter schwimme – ist er in guter Verfassung.
6 Die Traditionen der schreibenden Arbeiter in Halle gehen auf die Jahre 1959–1962 zurück, als Christa Wolf (1929–2011), die vielleicht hervorragendste Schriftstellerin der
DDR, eben in Waggonbau Ammendorf im Rahmen eines für diese Bildungs- und Propagandazeit typischen Projektes der sozialistischen Kulturpolitik den „Zirkel Schreibender
Arbeiter” unter dem Motto Greif zur Feder, Kumpel! gründete. Die Erlebnisse aus dieser
Zeit drückte sie in der Erzählung Der geteilte Himmel aus, anhand derer später ein Film und Theaterstück entstanden. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands traten ähnliche
Literaturkreise der westdeutschen Bewegung Werkkreis „Literatur der Arbeitswelt“ bei. 7 Wolfgang Kubicki, Aktiv in unserem Verein: Leonhard Lutzke, in: „vs-aktuell”, Monatsschrift der Volkssolidarität 1990 e. V., OCLC 649572039. Halle (Saale), 2016, Nr. 2, S. 5. 8 Zur Zeit Café „Bohema”.