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Gehört die Grafschaft Glatz niemandem? (Henryk Grzybowski

Henryk Grzybowski (Ziemia Kłodzka) Aus dem Polnischen übersetzt von Susanne Wycisk-Müller, Ehniweg 31A, 70439 Stuttgart

Auf der Berlinale im Februar 2017 erhielt der Film Pokot von Agnieszka Holland nach dem Buch von Olga Tokarczuk Prowadź swój pług przez kości umarłych (dt. Titel Der Gesang der Fledermäuse, wörtliche Übersetzung: Führe deinen Pflug über die Knochen der Toten) den Silbernen Bären. Der Film, gedreht in der Grafschaft Glatz, wurde enthusiastisch vom Filmfestival aufgenommen und wird bestimmt das Interesse der Einwohner wecken. Bis zum Schluss war nicht bekannt, ob der Film im Glatzer Cinema 3D ausgestrahlt wird, obwohl es nach dem Projekt in Nowa Ruda/Neurode und Bystrzyca Kłodzka/Habelschwerdt (allein auf Einladung für die Statisten und Mitarbeiter bei der Filmproduktion) so viele Interessenten gab, dass mehrere Vorstellungen erforderlich gewesen wären.

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Mich beunruhigte etwas anderes. Nicht einmal die Tatsache, dass der jagdbegeisterte und für kontroverse Gesetze berühmte Minister Szyszko eine Jagd auf den Silbernen Bären ankündigte. Mir standen die Haare zu Berge, als ich las, was laut Medien die Autorinnen des Films auf der Pressekonferenz in Berlin sagten. Ich las nämlich Folgendes: „Die Grafschaft Glatz wurde vom Rest Polens nicht angenommen. Das ist so etwas wie ein Niemandsland“ – sagen Holland und Tokarczuk. Agnieszka Holland erzählte heute in Berlin, dass einige Regionen nach 1945 in Polen „nicht angekommen sind“. „In der Tat hat Polen solche Eliten“9, kommentierte der Publizist Eryk Mistewicz die Aussagen von Holland. Die dritte Teilung Polens. Michał Karnowski: Polen „war ein Fehler für Schlesien“, und die westlichen Gebiete „sind nicht angekommen“ – das ist die Botschaft der Eliten der III. Polnischen Republik. Bereiten sie irgendeine Teilung vor? – Nun, das ist einfach empörend. Niemandsland? Grenzland? Nichts dergleichen! Es sei denn landschaftlich gesehen... Fake? Gut, dass noch niemand die Wahrheit entdeckt hat: Der russische (und der polnische) Name Olga kommt vom altskandinavischen Namen Helga10 (das ist Tatsache).

Ich habe die Quelle ausfindig gemacht. Olga Tokarczuk hat gesagt: „Dieser kleine, etwas vergessene Ausläufer an der südlichen Grenze Polens, der uns irgendwie daran erinnert, dass wir mitten in Europa sind. Diese Region wurde erst nach Jalta polnisch. Zuvor war die Region böhmisch, danach preußisch.

8 Henryk Grzybowski, Wszyscy mieszkańcy to jedna rodzina, in Monatschrift „Ziemia

Kłodzka - Grafschaft Glatz“, Nr. 270–272, Jan.-März 2017, S. 44-45. Red. 9 Laut Autor des Beitrages will der Journalist damit sagen, dass es in Polen wirklich eine soziale Schicht gibt, die sich heimtückisch, bösartig, töricht verhält. Red. 10 Das ist ironisch gemeint. Die Journalisten der rechtskonservativen Medien sind negativ zu Olga Tokarczuk eingestellt. Wenn sie wüssten, dass der Name Olga von Helga abstammt, würden sie ihr deutsche Herkunft vorhalten. Red.

Für mich ist das eine wichtige Metapher für Europa, insbesondere Mitteleuropa“.

Damit bin ich einverstanden. Deshalb sollten wir das Erbe dieser drei Kulturen schätzen und achten, das Spuren kultureller und materieller Art in unserer Heimatregion hinterlassen hat. Holland: „Ein bisschen ist es ein Niemandsland – Tiere haben auch keine Heimat. Nicht zufällig fühlen sich hier Leute wie Duszejko oder Dyzio11 wohl. Sie müssen nicht begründen, dass sie das Recht haben hier zu leben“.

Widerspruch. Das ist kein Niemandsland, kein vergessener Ausläufer – wenn auch Provinz. Wahr ist, dass in vielen Bergdörfern Häuser verschwanden. Entvölkerte und verlassene Ortschaften wie Wolmsdorf (Rogóżka), Rothflössel (Czerwony Strumień), Friedrichsgrund (Piaskowice) sowie Bergsiedlungen sind keine Ausnahme. Sie wurden verlassen, weil die Bauern aus den polnischen Ostgebieten begriffen, dass es zu mühsam ist, die kleinen Bergfelder zu bestellen. Ihre Vorgänger, die Not litten, ganze Generationen haben sich bei der Bestellung abgeplagt und behalfen sich zum Überleben über die Jahrhunderte gelernten handwerklichen Fertigkeiten wie Glasarbeiten und Glasmalerei, die sich gut im Ausland verkaufen ließen. Es gibt viele verwüstete Gutshäuser und Schlösser. Das zeugt nur davon, dass die Gesellschaftsordnung des sozialistischen Realismus, in der alles „Eigentum“ der Arbeiter der Städte und Dörfer war, ohne privates Kapital angesichts der für den Erhalt von Schlössern erforderlichen Investitionen wie die Faust aufs Auge passte. Dazu kam ihre Missachtung als deutsche Hinterlassenschaft, aber auch „ihre“ Geschichte. Erst seit kurzem kristallisiert sich das Bewusstsein heraus, dass es wertvolle Relikte der lokalen Geschichte sind, und manchmal sogar der europäischen Geschichte.

Diese Dinge in Deutschland zu sagen, bedarf jedoch Besonnenheit. Ich kann verstehen, dass das Vorstellungsvermögen bei Künstlern anders funktioniert als bei durchschnittlichen Zeitgenossen. Sie empfinden die Leere und Entvölkerung stärker. Olga Tokarczuk schrieb auch über die namenlose Landschaft, über das Verdrängen aus dem Gedächtnis oder eher das Verschwinden in der Vergangenheit, denn im polnischen Gedächtnis gab es diese nicht, die vielen Namen, die die ehemaligen Einwohner vor dem Krieg benutzten. Und mir, mir ist nach der ersten Reaktion der Empörung klar geworden, dass die rechtskonservativen Medien aus politischer Abneigung dem Film und den Autorinnen etwas Böses nachsagen wollten. „Kunst soll unsere Grenzen erweitern und provozieren“, hat Olga Tokarczuk ebenfalls in Berlin gesagt. Das war bestimmt eine ungewollte Provokation.

11 Duszejko, Dyzio sind Personennamen aus dem Buch Führe deinen Pflug über die Knochen der Toten von Olga Tokarczuk. Janina Duszejko, eine emeritierte Ingenieurin, baute Brücken in Tunesien, kaufte ein Haus und unterrichtet Englisch. Sie ist gegen das Töten von Tieren durch Jagd. Auf der Grundlage dieses Buches schrieb Agnieszka Holland das Drehbuch zu dem Film Pokot, für den sie den Alfred-Bauer-Preis auf der Berlinale 2017 erhielt. Red.

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