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Altheider Impressionen (Roswitha Schieb
Als Ergebnis der Verwaltungsreform im Jahre 1973 wurde unser MikroStaat leider dem Gebiet von Polanica einverleibt und die Erinnerung an ihn begann zu verblasen, wobei seine Spuren einzig und allein nur in Dokumenten und in unseren Erinnerungen geblieben sind.
Foto: Kapelle des hl. Antonius mit dem historischen Opferstock, Kościuszki-Str. im J. 1963)
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Altheider Impressionen
Roswitha Schieb
Der Beitrag ist mit Genehmigung der Verfasserin entnommen dem Buch: Roswitha Schieb/Reise nach Schlesien und Galizien – Eine Archäologie des Geflühls - Neuauflage erschienen 2014 im Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn, Görlitz
Am frühen Osterabend hatten wir Angst, Betrunkene könnten in unser Auto laufen. Um Fußgänger und Radfahrer machten wir große Bögen. Die Dämmerung glitt langsam heran. Linkerhand begann uns in der Ferne das blaue, hintereinandergestaffelte Bergpanorama des Sudetengebirges zu begleiten, einige Stunden lang, denn wir fuhren nach Westen. Die Bergkette riss nicht ab. Sie wirkte mild und weit. Hohes Gesenke, las ich auf der Karte, und DeutschRasselwitz, lachte ich auf, als wir durch Racławice Śląskie kamen. Das Altvatergebirge lag blauschimmernd in der Feme der Tschechischen Republik, und in Ziegenhals kamen wir so nahe an die Berge heran, an den Zuckmantel, an die Bischofskoppe, dass wir anhalten mussten. Ziegenhals war ein kleiner Luftkurort und noch winterlich im Abendlicht. Auf dem Rynek freuten wir uns über eine bronzene Ziegenbüste, wo doch der neue Ortsname Glucholazy mit Ziegenhälsen nichts mehr zu tun hatte, und eine kalte Bergluft wehte uns entgegen, während es für jungen Mädchen, die zwischen kahlen Bäumen und unbepflanzten Blumenschalen standen, längst Mai war, klang ihr Gelächter in die weiche Dämmerung hinein. Ja, rief ich aufgeregt, als wir wieder einen Blick auf die Karte geworfen hatten, jetzt weiß ich, wo wir uns ein Nachtquartier suchen werden, diese kleinen Bäder sind schön, und Bad Altheide klingt vielversprechend, Polanica Zdrój heißt es heute, und wenn wir uns beeilen, sind wir dort, bevor die Nacht hereinbricht. Die Straße wurde immer schöner. Ein riesiger
Stausee lag zwischen Ottmachau und Patschkau, und die Berge zur Linken schimmerten vorne schwarzblau und ganz hinten am Horizont taubenblau und dazwischen so rätselhaft blau wie die Farbe der Augen neugeborener Kälber. Die Straße wand sich durchs Reichensteiner Gebirge, Richtung Kłodzko lasen wir auf den Schildern, und Glatz auf der Karte, Glatzer Neiße fiel mir ein und Glatzer Kessel, und ich assoziierte damit eine besonders grausame Schlacht im Zweiten Weltkrieg, ähnlich derjenigen von Stalingrad, doch als wir aus dem Gebirge kamen und Glatz unten in einem weiten Tal liegen sahen, von allen Seiten her eingefasst von Gebirgszügen, dem Heuscheuergebirge und dem Habelschwerdter Gebirge, begann ich zu überlegen, ob der Glatzer Kessel eine Schlacht bezeichnete oder nicht eher die geographische Lage oder beides, während hellgrauer Dunst die Stadt einhüllte und die herabgesunkene rote Sonnenscheibe auflöste, so dass die Nacht schnell hereinbrach und wir die Stadt nicht sehen konnten, so sehr, wir uns auch bemühten.
In unserem Hotelzimmer in Bad Altheide standen zwei Sprudelfläschchen für uns bereit. Auf dem Etikett sahen wir den Säulenvorbau einer Kurhalle und eine Fontäne davor, natürlich, hier gab es Mineralquellen, die verschwenderisch aus dem Boden sprudelten und sicherlich in der Wandelhalle in Becken plätscherten, lass uns in den Ort gehen, drängte ich, doch als wir auf die Straße traten, war die Luft so schlecht dass sie uns den Atem nahm. Es war kalt, und die Leute heizten mit Steinkohle. Es roch nicht im Entferntesten so, wie es in einem Kurort zu riechen hatte, stellte ich fast belustigt fest, und im Dunkeln fanden wir den Weg zum Kurpark nicht. Der Ort war wie ausgestorben, nur einige Betrunkene wankten lautlos über die kleinen Brücken eines Gebirgsbaches, dessen Rauschen alle anderen Geräusche übertönte, einige alte Häuser waren mit Brettern vernagelt und warteten auf Käufer, unser Hotel war fast leer, und unter dem vollmondgelben Schein einer Kirchturmuhr wanderten wir lange durch die leeren Straßen.
Bad Altheide, freute sich mein Vater im Sommer, als wir am hellen Abend auf derselben Straße fuhren wie zu Ostern und die grünen Kronen der Bäume uns den Blick auf die Berge ein wenig versperrten, dort hatte mein Onkel ein Haus, einen gediegenen Pensionärsruhesitz in einem Badeort, das höchste aller Ziele der Bequemlichkeit und des Renommees damals, und nach dem Abitur durfte ich ihn einmal als Feriengast besuchen. Wie harmlos das klang, dachte ich, dabei war das im Frühsommer 1939, Österreich und das Sudetenland bereits von Nazi-Deutschland einverleibt, die Tschechische Republik aufgelöst und der Überfall auf Polen nicht mehr fern.
In Bad Altheide sahen wir in der Dämmerung sehr viele Leute spazieren und das schöne Hotel mit den Sprudelfläschchen war voll. Der Portier verwies uns mit zweifelnd erhobenen Augenbrauen an ein anderes Großhotel, das mit seiner expressiven Sprungschanzenarchitektur einen ganzen Hügel beherrschte. Zwei deutsche Reisebusse parkten davor, und auch hier waren alle Zimmer
belegt. Da siehst du mal, wandte ich mich meinem Vater zu, wie das ist mit deiner Taugenichts-Romantik, wenn abends in der Fremde nichts und niemand auf einen wartet und wir nicht mal ein Bett bekommen, der ganze Ort ist überfüllt, hieß es eben an der Rezeption, es ist dunkel und was machen wir jetzt, da schrien meine Eltern gleichzeitig „Herrmann", kletterten so schnell wie möglich aus dem Auto heraus und gingen strahlend auf ihren Freund zu, der inmitten Rentnergruppe stand und ihnen erstaunt entgegenlächelte. Aus dem Auto hörte ich ihn in fließendem Polnisch mit einem Taxifahrer verhandeln. In wenigen Minuten hatte er ein Zimmer für uns ausfindig gemacht. Ich fahre mit dem Taxifahrer voraus, und ihr folgt uns, die Zimmer sind wohl nichts Besonderes, aber besser als nichts. Auf kleinen und gewundenen Straßen fuhren wir einen Hügel hinan, und schon wurden wir von Hunden umbellt und von einer Frau hastig in ihren Keller geführt, wo sie uns verschämt die beiden Gästezimmer zeigte. Als wir wenig später in einem überfüllten Lokal beim Bier saßen, löste uns Herrmann das Rätsel seiner unerwarteten Polnischkenntnisse. Er stammte aus Niederschlesien aus der Glatzer Gegend, und war erst 1959 in den Westen gekommen. Ja, erzählte er ruhig und ohne Ressentiments, Vater war Bergbauingenieur, solche Spezialisten, auch Ärzte, konnten die Polen nach 1945 gut gebrauchen, und diese wurden gezwungen, in ihrer Heimat zu bleiben, es war verboten, sich den Vertriebenentrecks anzuschließen Richtung Westen, aber die Polen wollten diese Deutschen, die kein polnisch sprachen, nicht polonisieren, diese Leute waren es offensichtlich nicht wert, Polen zu werden, sie bekamen keinen polnischen Pass, nur einen behelfsmäßigen Ausweis, in dem unter Nationalität „deutsch" stand und unter Staatsangehörigkeit „nicht nachweisbar". Wer im Besitz dieses Ausweises war, hatte keine Rechte. Die Kinder durften nicht einmal die Schule besuchen, weder die staatliche polnische noch eine selbstorganisierte deutsche, sie sollten zu Analphabeten heranwachsen. Ein deutscher Arzt, der heimlich versucht hatte, deutsche Kinder zu unterrichten, wurde erschossen. Die Rache für die Untermenschenideologie der Nazis den Polen gegenüber, deren Hauptstadt sie geschleift hatten und die gleich nach dem Krieg auch aus den Trümmern schlesischer Städte wieder aufgebaut wurde. Das war die Rache für die Pläne der Nazis, den Slawen in den von Deutschen besetzten Gebieten eine Schulbildung von nur zwei Grundschuljahren zu gewähren, ein bisschen rechnen sollten sie können und ein bisschen lesen und ihre Namen schreiben, das war die Rache, die nun an Sechsjährigen geübt wurde, fünf Jahre lang, bis 1950 der polnische Bildungsminister diesem Zustand ein Ende bereitete. Und dann, sprach er freundlich weiter, wurden einige deutsche Schulen eingerichtet und ich bin gleich mit neunzehn Jahren Lehrer geworden, Polnisch hatte ich wie alle Deutschen ja mittlerweile gelernt, das mussten wir ja sprechen, ob wir wollten oder nicht, und wer es nicht wollte, dem konnte eine Niere zertrümmert werden, oder etwas anderes, auch wenn er erst zwölf Jahre alt war. Erst Ende der fünfziger Jahre durften die Deutschen nach Westen ausreisen, was ungefähr neunundneunzig Prozent taten, nur ganz
wenige sind geblieben. In Breslau gibt es ein paar, und ich fahre jedes Jahr mindestens einmal hierher mit Vertriebenengruppen, diesmal sind auch erstmalig Vertriebene aus den neuen Ländern dabei. Diese Fahrten klappen sehr gut, die Mitreisenden sind neugierig und aufgeschlossen, und ich erzähle ihnen Geschichten, die ich selbst erlebt habe oder die mir andere erzählt haben, Deutsche und Polen. Ein Pole erzählte mir neulich, dass er es als Junge mit ansehen musste, wie sein Vater 1939 von einem deutschen Soldaten erschossen wurde, da schwor er sich, alle Deutschen für immer zu hassen. Doch als er nach 1945 als Gefängniswärter im Glatzer Gefängnis arbeitete, wo viele Deutsche gefoltert und getötet wurden, und er einen zusammengeschlagenen jungen Deutschen in seinem eigenen Blut liegen sah, der ihm inständig zuflüsterte, er möge seinen Kopf aus der Lache drehen, sonst müsse er ersticken, da habe er nicht anders gekonnt, als diesen jungen Mann zu retten, obwohl er es nicht gewollt habe. Doch wider Willen hätten sie sich schließlich angenähert, und ihr Kontakt heute sei freundschaftlich. Die Schaumreste in den Biergläsern waren langsam getrocknet, und als wir uns schließlich erschöpft von all den Geschichten verabschiedeten, war ich erfüllt von der Vorstellung, dass sich die bundesrepublikanische Ausrichtung nach Westen mit solchen Geschichten, von denen es viel mehr gab, als man ahnte, ergänzen ließe um den Blick in Richtung Osten.
Von der Kellerzimmerdecke leuchtete eine Fünf-Watt-Lampe herab, aber wir fanden in einem ausrangierten Schrank eine Kerze und zündeten sie stattdessen an. Die Betten waren schmal, halb schräg und steinhart, die Nachtschränkchen hatten keine Auflage, so dass wir nichts daraufstellen konnten Bettdecken fühlten sich feucht an und lasteten schwer auf uns. Wir mussten lachen. Ich stand noch einmal auf, löschte die Kerze, öffnete das Kellerfenster und sah von unten ein fellweiches Rasenstück sich im Mondlicht sträuben, über das lautlos ein großer Hund lief. Dann war kein Bett mehr zu schmal und zu schräg, keine Bettdecke zu nass und zu schwer.
Am Ostermontagmorgen erwachten wir von der Sonne, die uns rasch aus unserem Zimmer ins Freie lockte.
Im hellen Licht fanden wir den Kurpark sofort. Viele Leute, die gestern Abend in ihren Sanatorien gesessen hatten, sonnten sich jetzt auf den Parkbänken. Der Kohlengeruch war verschwunden, und in der Frühlingswärme liefen wir wie selbstverständlich auf die Trinkhalle mit dem gerundeten Säulenvorbau zu, Pijalnia, die auf den Etiketten der Sprudelfläschchen abgebildet gewesen war. Wir traten in den gläsernen, lichtdurchfluteten Raum ein, in dem tatsächlich vier Mineralquellen in steinerne Becken plätscherten. Lauter kleine Jungen standen da und ließen das Wasser in große Plastikflaschen laufen. Sobald die Flaschen voll waren, rannten sie mit lautem Gebrüll nach draußen und verspritzten das Wasser untereinander oder rannten hinter Mädchen her, die davonstoben und noch lauter kreischten.
Halb durchnässt und wie im Fieber stürzten sie immer wieder in die Halle,
um ihre Flaschen aufzufüllen, wie albern und frech sie sind, dachte ich, doch als auch noch ein weiterer Trupp Jungen riesige Wasserpistolen an den Mineralquellen lud und draußen gezielt alle Mädchen nassspritzte, die nichts anderes zu erwarten schienen und routiniert davonjagten, dämmerte es mir langsam und verschwommen, dass dies ein Ostermontagsbrauch sein könnte, natürlich, das Bespritzen mit Osterwasser, davon hatte auch mein Vater erzählt. Als Junge hatte er sogar einen kleinen Spezialsprühflakon besessen, fiel mir plötzlich ein, das nur einmal im Jahr, zu Ostermontag, benutzt werden durfte. Da waren die polnischen Sitten jetzt rauer, sogar aus Eimern wurde das Wasser auf die Mädchen geschüttet, doch der Sinn war derselbe, verschwenderische heidnische Fruchtbarkeit überall. Wir probierten das Wasser. Es hatte einen Hauch von Kohlensäure und schmeckte sehr angenehm. Wir füllten uns eine Flasche ab und kauften einen Fünf-Liter-Kanister für zu Hause. Wir mussten heute zurück und hätten heulen können. Als wir durch den Kurpark schlenderten, in dem die Knospen lautlos platzten und nur die Stiefmütterchen uns zornig anstarrten, wehten erste zaghafte grüne Schleier durch den Park, und unsere dunklen Jacken zogen die Sonnenwärme an, so dass der rauschende Gebirgsbach schon wie eine Abkühlung klang, während die großen alten Kurortkästen mit ihren labyrinthischen Zimmerwindungen und Etagenverschachtelungen bis hin zum spitzen Giebelstübchen unbehelligt vor sich hin träumten und auf ihre Saison warteten, Wir versuchten uns mit Urlaubsplänen zu trösten, Bad Altheide im Winter, stellten wir uns vor, wenn kaum jemand hier ist, schöne Schneespaziergänge am Tag und Romane am Abend im warmen Bett mit zarten Schnitzeln im Magen und Biergeschmack auf der Zunge. Viele stille Tage malten wir uns aus und hatten den Kohlengeruch längst vergessen, während wir mit dem Auto schon um die Ecke bogen.
In unseren Kellerzimmern gab es am nächsten Morgen kein Frühstück, daher hatte der Freund meiner Eltern uns im Sprungschanzengroßhotel Frühstück bestellt. Er war schon aufgebrochen mit seinem Bus Richtung Westen. Wir saßen im hohen schrägen Speiseraum auf Holzstühlen im schweren altpolnischen Stil und sahen das Sommermorgenlicht durch die Scheiben fluten, nur leicht gefiltert durch den Plastikgardinenschleier, diese sozialistischen Großhotels sind herrlich, dachte ich kauend, verlässliche Erholungsmaschinerien, die jetzt auch dem Individualismus gute Dienste leisten, und steckte mir ein paar Brötchen für unterwegs in die Tasche und ein paar Käseecken, die sowieso niemand vermissen würde, weil es von allem in unerschöpflicher Fülle gab. Im Kurpark sprangen die großen Wasserfontänen auf und ab, und ihre davonwehenden Schleier schillerten in der Sonne. Hier war wirklich Mitteleuropa, dachte ich, als ich die Uhr an der ovalen Säulenvorhalle, entdeckte, eine Uhr mit verchromtem Rand und vergilbtem Zifferblatt, wie sie im Dreieck Lemberg-Triest -Altheide in vielen alten Hotels, Kureinrichtungen, Cafés und Bahnhofsrestaurants noch zu finden sein mussten. Uhren, deren Zeit längst abgelaufen war und die trotzdem noch richtig gingen, wie ich voller Erstaunen feststellte.