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Als die Gletscher noch wuchsen
from Bergauf #2.2022
Dass die Gletscher einmal eine Bedrohung für die Bergbewohner darstellten, ist heute kaum vorstellbar. Autor Franz Jäger beschreibt in „Gletscher und Glaube“ solche Katastrophen und wie diese bewältigt wurden.
von Franz Jäger
Während der Kleinen Eiszeit zwischen 1550 und 1850 nahmen die Gletscher aufgrund einer Abkühlung des Klimas allgemein an Masse zu und stießen in die Lebensräume der in den Bergen lebenden Menschen vor. Diese bislang unbekannten Phänomene versetzten die Bergbewohner in Angst und Schrecken.
Während dieser „Gletscherhochstandsphase“ verursachten in den Ötztaler Alpen der Gurgler- und vor allem der Vernagtferner regelrecht Verwüstungen durch das gesamte Ötztal. Der Vernagtferner, bis heute einer der größten Gletscher Österreichs, drängte nach unten und verriegelte mit seinen Eismassen das Rofental im Hinterland von Vent. Dieser Eiswall staute Bäche und Schmelzwasser aus anderen Gletscherbereichen zu einem gewaltigen Eissee.
Diese Wassermassen sprengten mehrmals den nicht gefestigten Eisdamm und zerstörten talauswärts ganze Ortschaften und Fluren. Dieses bislang unbekannte Szenario wiederholte sich mehrmals, weshalb sich sowohl Wissenschaft als auch staatliche Verwaltung dafür interessierten und ihre Erkenntnisse niederschrieben. Für den Vernagtferner sind vier Vorstoßphasen mit nachfolgenden Seeausbrüchen dokumentiert: 1599 bis 1601, 1676 bis 1683, 1771 bis 1780, 1845 bis 1850. Der See erreichte meist eine Länge von bis zu 1.500 m, eine Breite von 350 m und eine Tiefe von 120 m. Die Dammhöhe wurde mit 150 m und der Inhalt des Sees mit 10 bis 25 Millionen Kubikmeter bemessen. Ein Ausbruch des Sees führte sogar noch in Innsbruck zu einem Anstieg des Innpegels. (1)
In einem Bericht an die Regierung verglich Eduard Richter, Geograf, Historiker, Gletscherforscher und Alpinist, die Eisbarriere mit einem „tham, oder perg, geformiert wie ain große runde paßtey, ungefährlich dem perg Ysel zue Wilthan gleich“ – Damm oder Berg, geformt wie ein großes, rundes Bollwerk, ähnlich dem Berg Isel in Wilten (Stadtteil von Innsbruck). Das tägliche Anwachsen des Sees entsprach „eines manns hoch“. Die Eisstücke des Gletschers erschienen als „so gross als das höchste hauss zue Ynsprugg“, im See seien Eisschollen geschwommen, das „sey ainer statt gross wol zu vergleichen“. (2)
Der Dämon des Ötztals
Wie erlebten die Menschen die Seeausbrüche, wie konnten sie dort überleben? Über die Katastrophe 1847 berichtet zum Beispiel die Chronik von Huben:
Um diese „Todesängste“ auszuhalten, mussten Bewältigungsstrategien entwickelt werden. Der Glaube und die Mensch-Natur-Beziehung der damaligen Zeit bildeten hierfür die Grundlage: Die Natur sah man von guten und bösen Dämonen durchdrungen. Letztere brachten Katastrophen: Nicht umsonst nannte man den Vernagtferner den „Dämon des Ötztals“. (4) In gleicher Weise galten derartige Ereignisse als Strafen Gottes für sündhaftes Verhalten der Menschen.
Für die Bekämpfung des Dämons organisierten die Bergler Segnungen und Messfeiern am Gletscher und „Kreuzgänge“ dorthin. Der strafende Gott sollte mit Hilfe heiliger Fürsprecher durch Bußhandlungen besänftigt werden, die in schriftlichen oder mündlichen Gelöbnissen für alle Zeiten versprochen wurden. Die Dorfgemeinschaften bekannten sich kollektiv für schuldig, durch eigenes Verhalten den Zorn Gottes herausgefordert zu haben. Diese volksfrommen Rituale gaben den Menschen Halt und Hoffnung. Bemerkenswert ist, dass sie nicht von Obrigkeiten verordnet, sondern von den Dorfgemeinschaften selbst in Kraft gesetzt wurden.

Bittgang zum Mittelbergferner. Aquarell, 1900. 27×33 cm
© Hans Beat Wieland, Alpenverein-Museum OeAV Kunst 2655
Beten für den Erhalt der Gletscher
Diese Rituale wie Bittgänge oder die Befolgung von einst abgelegten Voten werden auch in der Gegenwart von den Dorfgemeinschaften noch immer befolgt. Schließlich sind die Bergler heute mit ähnlichen Risiken für ihren Lebensraum konfrontiert: von Gletscherseen, Muren, Lawinen, Felsbrüchen, Lösung des Permafrosts usw. Hier bietet sich ein Vergleich zum Wallis an – mit dem Ergebnis, dass auch dort die Bevölkerung gleichen Gefahren ausgesetzt war und bis in die Gegenwart ähnliche kulturelle Wege gegangen ist. In Fiesch sollte etwa eine 1678 gelobte jährliche Prozession das Anwachsen des Aletschgletschers verhindern, weil auch von ihm Bedrohungen der Talorte ausgingen. Im Jahre 2012 wurde die Gelöbnisprozession erstmals mit geänderter Intention durchgeführt: Mit päpstlicher Genehmiung wurde das alte Gelöbnis der Zeit angepasst – hinkünftig soll Gottes Hilfe dafür erfleht werden, dass der Aletschgletscher sich nicht weiter zurückzieht. Er ist der Wasserspeicher des Fieschertals.
Menschliches Verhalten wiederholt sich also in Krisenzeiten: Es braucht Erklärungen für das „Warum und Wieso“, die Suche nach Sündenböcken setzt ein. Mentale Bewältigungsformen verhindern ein „Nichtstun“ (in Anbetracht der Krisen kann man nicht nichts tun). Die gegenwärtige Situation der Pandemie lässt ähnliche Schwerpunkte erkennen. Sogar die straftheologische Deutung ist abgewandelt existent: In der Gegenwart straft nicht Gott, die Natur straft das ökologische Fehlverhalten der Menschen.
Literaturtipp

Gletscher und Glaube. Katastrophenbewältigung in den Ötztaler Alpen einst und heute. Franz Jäger
Franz Jäger, 292 Seiten, kartoniert. Studienverlag 2019
(1) Jäger, Georg: „Schwarzer Himmel – kalte Erde – Weißer Tod. Wanderheuschrecken, Hagelschläge, Kältewellen und Lawinenkatastrophen im Land im Gebirge. Eine kleine Agrar- und Klimageschichte von Tirol“, Innsbruck, 2010, S. 225 f.
(2) Richter, Eduard: Urkunden über die Ausbrüche des Vernagt- und Gurgler Gletschers im 17. und 18. Jahrhundert. In: „Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde“, 6. Band. Stuttgart 1892, S. 345–440, hier S. 361.
(3) Getreue Abschrift von Pater Ignaz Regensburger (Pfarrer 1843–49). In: „Pfarrchronik des Pfarrarchivs Huben (1600–1885)“, TLA, MF 2003/5.
(4) Srbik, Robert von: Die Gletscher des Venter Tales. In: Deutscher Alpenverein, Zweig Mark Brandenburg (Hg.): „Das Venter Tal“, München 1939, S. 37–55.
Dr. Franz Jäger arbeitete als Angestellter der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol. Nach seiner Pensionierung nahm der Jurist das Studium der Europäischen Ethnologie auf, in dem er 2016 promovierte.