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Wenn wir Musik hören, schlagen unsere Herzen im Gleichklang
Diesen Sommer steht das Waldviertel im Zeichen der „Metamorphosen“. Zum 45. Geburtstag von Allegro Vivo hat Johannes Berauer ein Konzert für Streicher, Violine und Akkordeon geschrieben. An der Seite von Christian Bakanic spielt Vahid Khadem-Missagh den Solopart. Ein Gespräch von Miriam Damev mit dem künstlerischen Leiter und dem Komponisten.
Es ist ein sonniger Nachmittag in der Wiener Innenstadt. Vahid Khadem-Missagh erscheint mit Geigenkasten und Partitur zum Treffen im Café Imperial. Er kommt gerade von einer Probe im Musikverein. Wenige Minuten später trifft auch Johannes Berauer ein. Nach Christoph Ehrenfellner, Tristan Schulze, Roland Batik, Georg Breinschmid und Daniel Schnyder hat Khadem-Missagh dieses Mal den gebürtigen Welser beauftragt, ein neues Werk für das Festival zu schreiben. Entstanden ist „Change over time“ für Streichorchester, Violine und Akkordeon. „Der Titel symbolisiert die Entwicklung der Menschheit – und den Klimawandel“, sagt Berauer. „Die Umweltzerstörung geht in rasantem Tempo voran. Mit meiner Musik möchte ich diese Beschleunigung erfahrbar machen.“ Während die ersten beiden Sätze „Slow“ und „Fast“ etwa gleichlang sind, dauert der dritte Satz „Explosive“ nur eine Minute. „Man hört das Konzert im Schnelldurchlauf. Ganz am Schluss gibt es noch einen Wischer über die Tasten des Akkordeons.“ Bei Allegro Vivo wird das Stück drei Mal zu hören sein; zwei Mal in der prachtvollen Bibliothek von Stift Altenburg und einmal in der Herz-Jesu-Kirche in Gmünd. Dazu erklingt überschwängliche Hochromantik aus der Feder des 14-jährigen Felix Mendelssohn-Bartholdy und spätromantische Trauermusik von Richard Strauss.
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2023 steht Allegro Vivo im Zeichen der „Metamorphosen“. „Die Metamorphose ist das schönste Symbol der Verwandlung. Gleichzeitig steht es für den Wandel, den das Waldviertel durchlebt hat“, sagt Khadem-Missagh. „Ich bin mit Allegro Vivo aufgewachsen und habe erlebt, wie sich die Region in den vergangenen vier Jahrzehnten in eine lebendige Kulturlandschaft verwandelt hat.“ Dabei fing alles klein an: 1979 spielten unweit des Eisernen Vorhangs eine Handvoll Musiker drei Konzerte in Stift Altenburg und ein paar Studentenkonzerte auf Schloss Breiteneich. Eingeladen hatte sie Bijan Khadem-Missagh, Violinsolist, Dirigent, Gründer und spiritus rector von Allegro Vivo. Vor sechs Jahren übergab Khadem-Missagh die Leitung des Festivals an seinen Sohn Vahid. Der heute 46-Jährige war bei der ersten Ausgabe gerade einmal ein Jahr alt. Es gibt Bilder, die ihn als kleinen Buben auf der Wiese vor Schloss Breiteneich zeigen. Er steht im hohen Gras und spielt mit zwei Holzstöcken Geige. „Ohne Allegro Vivo wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin“, sagt er.
Verwandlungen prägen auch die Musikgeschichte: Benjamin Britten hat Metamorphosen komponiert ebenso wie Paul Hindemith oder George Crumb. Die wahrscheinlich berühmtesten schrieb Richard Strauss. Die „Metamorphosen für 23 Solostreicher“ widmete der 81jährige Komponist dem zerbombten München. „In Memoriam" notierte er auf der letzten Seite der Partitur unter der Kontrabass-Stimme im März 1945. „Musik, die von tiefer Trauer geprägt ist, letztlich aber auch Hoffnung ausdrückt“, so Khadem-Missagh.
Strauss‘ ergreifendes Alterswerk inspirierte auch Johannes Berauer. Wie Strauss, teilt er das Orchester in exakt 23 Einzelstimmen und formt daraus dichte Farben, Klänge und Texturen. „Im Orchester ist jede Stimme einzeln besetzt. Man muss sich den Klang wie Wellen vorstellen, die auf- und abtauchen. Dazwischen gibt es Passagen, die traditionell fünfstimmig komponiert sind“, erklärt der Komponist.
Immer wieder bezieht Berauer die beiden Solisten in den Entstehungsprozess mit ein, zeigt ihnen Skizzen und lässt sie Passagen aus der Partitur ausprobieren. „Jeder
Musiker hat eine individuelle, sehr persönliche Klangsprache. Für mich sind Klänge wie Farben. Bei der Geigenstimme habe ich mich von Vahids warmem, lyrischem Ton inspirieren lassen.“
Für Khadem-Missagh ist es ohnehin ein großes Glück, den Komponisten in greifbarer Nähe zu haben. „Brahms hätte ohne den Geiger Joseph Joachim, der nicht nur Freund, sondern auch Berater war, vieles nicht schreiben können. Als Interpret kann ich ein Stück ganz anders spielen, wenn ich mit dem Komponisten im Austausch bin. Zudem passt Johannes‘ Musik perfekt zum Thema ‚Metamorphosen‘, weil sie zwischen den Genres wandelt und das Publikum unmittelbar berührt.“
Für den Welser Komponisten, der mit Musik von Frédéric Chopin und Keith Jarrett aufgewachsen ist und sein Handwerk u. a. bei Grenzgänger Christoph Cech in Linz und bei Jazzlegende Bob Brookmeyer in Boston gelernt hat, sind die Übergänge in der Musik ohnehin fließend. Mit Kategorien wie E oder U kann er nur wenig anfangen: „Ich bin eigentlich immer schon zweigleisig gefahren. Als Kind habe ich am Klavier ständig improvisiert, weil mir das Üben zu langweilig war.“ Im Gymnasium traf Berauer auf den Cellisten Florian Eggner, der zu seinem SparringPartner wurde und mit dem er zusammen in einem Jazztrio spielte. Als Berauer später Florian Eggner zusammen mit Georg und Christoph Eggner spielen hörte, war er von der Virtuosität der drei Brüder fasziniert. „Wenn ich heute

Kammermusik schreibe, habe ich immer noch diesen Sound im Kopf.“ Wie es klingt, wenn Berauer das Grenzland zwischen Klassik und Jazz auslotet, lässt sich auf dem zuletzt erschienenen Album der „Vienna Chamber Diaries“ nachhören. Intime Kammermusik trifft dort auf treibende Grooves, Klezmer auf Jazz, Komposition auf Improvisation.
„Für mich bist du der lebende Beweis, dass klassische Musik auch ohne Korsett funktioniert“, lacht Vahid Khadem-Missagh. „Wir klassisch ausgebildeten Musiker sollten öfter über den Tellerrand schauen und lernen, Musik auch als Improvisation wahrzunehmen. Wenn ich eine Solosonate von Bach als auskomponierte Improvisation lese, kann mich viel freier durch Harmonien und Rhythmen bewegen.“ Über Johannes Berauers „Change over time“ hält sich der Solist bedeckt, schließlich wolle er vorab nicht zu viel verraten. „Johannes behandelt die

Streicher auf sehr unkonventionelle Weise. Es gibt Passagen, die ich so noch nie gespielt habe. Technisch ist es auf jeden Fall eine Herausforderung. Mich fasziniert auch die ungewöhnliche Besetzung für Violine und Akkordeon. Im Zusammenspiel klingen die beiden Instrumente ungemein sinnlich.“
Eine geglückte Metamorphose vom unbeschriebenen Blatt zur fertigen Partitur, vom Minifestival mit ein paar befreundeten Musikern zum internationalen Kammermusikfestival, bei dem sich Künstler aus der ganzen Welt treffen, um gemeinsam zu musizieren. Metamorphosen finden aber auch im übertragenen Sinne statt, sagt Vahid Khadem-Missagh. „Studien belegen, dass sich der Herzschlag des Publikums proportional zur gespielten Musik verändert. Wenn wir ins Konzert gehen, schlagen unsere Herzen im Gleichklang.“
