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Das eigene Tempo finden

Das eigene Tempo finden – unterwegs am Camino Francés

Von Saint-Jean-Pied-de-Port über Burgos und León bis nach Santiago de Compostela: 790 km! Was hat mich bloß dazu bewogen, den Jakobsweg zu gehen?

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Text und Fotos: Gertraud Soellinger

Genau dies war auch das Thema eines Fragebogens beim Einchecken in die erste Pilgerherberge in Roncesvalles: „Gehen Sie aus sportlicher, spiritueller, kultureller, landschaftlicher, … Motivation?“ Ich hatte zu dem Zeitpunkt gerade erst die Pyrenäen überquert und war damit von Frankreich nach Spanien gelangt. Müde und erschöpft kreuzte ich nach acht Uhr abends fast alles an, was auf der langen Liste stand.

Geboren in Oberösterreich, aufgewachsen auf einem Bauernhof, Internat in Wels, Studium in Wien, Job in der IT-Firma einer Bank. Soweit klingt ja alles wunderbar … oder doch nicht? Mit vierzig begann die Gesundheit „verrückt zu spielen“. Was tun? Schmerztabletten schlucken bis ans Ende meiner Tage? Nein, das kann’s nicht sein! Ein innerliches Hadern mit Gott und der Welt begann. Ich hatte auf mein „stilles Gemaule“ zwar keine direkte Antwort bekommen – und doch hatte sich in meinem Kopf immer mehr und intensiver der Wunsch festgesetzt, den Jakobsweg zu gehen. Warum kann ich nicht wirklich erklären, ich betrachte es im Nachhinein als eine Art Einladung. Eine Einladung, mal wieder einen Schritt zurückzutreten, etwas Tempo rauszunehmen, mein Leben zu reflektieren, zu mir selbst zurückzufinden.

Der Wunsch war schließlich so stark, dass ich mich – aller Ängstlichkeit und allen Sicherheitsbedenken zum Trotz – zum ersten Mal in meinem Leben ganz allein auf den Weg machte, um … ja, um was eigentlich zu tun? Im Mittelalter gab es folgenden Spruch: „Den Weg nach Jerusalem geht man, um Jesus zu finden, den Weg nach Rom geht man, um den Papst zu sehen, den Weg nach Santiago de Compostela aber geht man, um sich selbst zu begegnen.“ So bewusst war mir das zu dem Zeitpunkt noch nicht – und doch lief es genau darauf hinaus.

Im Mai 2012 machte ich mich auf den Weg, ein Monat Auszeit zuzüglich einer Woche Urlaub, das sollte reichen, um quer durch ganz Nordspanien zu wandern – den Camino Francés zu gehen. Die Kamera musste natürlich dabei sein (= 1,40 kg Extra-Gepäck), klare Sache!

Und dann begann ein spannendes Abenteuer – durch etliche spanische Provinzen, über mehrere Gebirgszüge, durch weite Ebenen, vorbei an verlassenen Dörfern und durch historische Altstädte. Manchmal bei schweißtreibender Hitze, dann wieder mit Jacke und Stirnband durch die windige Hochebene Meseta. Während ich zu Beginn eher vereinzelt, aber doch immer wieder dieselben Menschen traf, langsam besser kennenlernte und auch Freundschaften schloss, wurden es im Verlauf des Weges immer mehr – irgendwann waren es so viele,

Soellinger Gertraud: „… geh.langsam …“, Eigenverlag, ISBN: 978-3-200-08058-4, 408 Seiten, Preis: EUR 32,00, foto-soellinger.jimdosite.com dass ich „die Neuen“ gar nicht mehr wirklich beachtete. Es gingen – mit ganz wenigen Ausnahmen – ja alle in dieselbe Richtung.

Und doch erlebte jede*r den Weg auf persönliche Weise, ganz unterschiedlich. Der sportliche Student plagte sich mit seinem verletzten Knöchel ab, der slowenische Veterinär hatte jede Menge tierische Begegnungen – von ausgebüxten Bienen bis zu freilaufenden Hunden, die auf seine Jause schielten. Der fröhliche Portugiese versammelte tagtäglich eine Traube Leute um sich – zum gemeinsamen Wandern, Schwimmen, Abendessen. Die Frau aus München hatte permanent und immer wieder viel „Pech“ … Und ich? Ja, auch ich wurde mit meinen eigenen Themen konfrontiert – in kleinen Portionen serviert, nie zu viel auf einmal, sodass es gut verträglich blieb. Aber doch geschehen Dinge und Begegnungen, mit denen man nicht gerechnet hat. Ich denke, Kerkeling war es, der in seinem Buch erwähnte, dass man jeden Menschen so oft trifft, bis etwas Bestimmtes gesagt oder getan worden ist.

„In Santiago begegnest du dann allen wieder“, meinte eine Frau unterwegs – und so schien es auch wirklich zu sein. Die meisten blieben noch ein, zwei oder drei Tage, um die Reise langsam ausklingen zu lassen, holten sich ihre Pilgerurkunde, kauften Souvenirs, besuchten die Pilgermesse – nicht zuletzt auch, um den berühmten, großen Weihrauchkessel schwingen zu sehen. Und dann hieß es wieder Abschied nehmen von meiner Auszeit, zurückzukehren in den Alltag … und doch, ein Stück dieser Langsamkeit nahm ich mit nach Hause, ich hatte gelernt, mein eigenes Tempo zu finden – wurde es steiler, ging ich automatisch langsamer, wurde es flacher, ging ich automatisch schneller, ohne darüber viel nachzudenken. Diese Leichtigkeit wünschte ich mir, auch in den Alltag hinüberretten zu können, wenn ich mich meinem Hamsterrad wieder stellen und tapfer weiterlaufen würde.

Für mich war es eine unglaublich bereichernde Erfahrung, diesen Weg zu gehen – und ich rate unbedingt, ihn allein zu beginnen. Zurück kam ich mit ca. 5.000 Fotos, einem Tagebuch voller kurzer Anekdoten und um etwa fünf Kilo Körpergewicht erleichtert. Und ich fühlte eine innere Ruhe, die ich so schon lange nicht mehr gekannt hatte.

Im Zuge der Lockdowns wurde nun das zweite persönliche Abenteuer daraus – ein Bildband im Eigenverlag, der inzwischen im Onlinehandel bei Morawa, Tyrolia und Facultas erhältlich ist.

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