Jahrzehntelang haben Geolog:innen und andere Wissenschaftler:innen den Untergrund durchbohrt und durchleuchtet, im Felslabor experimentiert und geforscht. Heute sagt die Nagra: Wir haben den besten Standort gefunden. Wir haben ein gutes Gestein und ein robustes Konzept. Sprich: Wir können ein sicheres Tiefenlager für den Schweizer Atommüll bauen – wenn die Schweiz denn will. Diese Forschungsresultate sind in das Rahmenbewilligungsgesuch eingeflossen, das die Nagra im November 2024 bei den Bundesbehörden eingereicht hat.
Doch: Was braucht es zusätzlich zu den technischen und wissenschaftlichen Fakten? Welche Visionen, Ängste und Hoffnungen verbindet die Schweizer Bevölkerung mit dem Jahrhundertprojekt Tiefenlager? Diese Fragen hat der Moderator Hannes Hug ganz unterschiedlichen Personen gestellt; von der ehemaligen Bundesrätin Doris Leuthard über die Umweltethikerin Anna Deplazes bis zum Autoren Thomas Meyer; von der Zukunftsforscherin Jeannie Schneider über den Filmemacher Edgar Hagen bis zum Müllhistoriker Roman Köster. Die verschriftlichten Auszüge aus diesen zehn Podcasts haben wir mit Dutzenden von Stimmen aus der Bevölkerung ergänzt, die in den letzten Monaten über unsere SocialMediaKanäle eingegangen sind. Die Voten sind divers. So divers wie unser Land – und manche sehen das Projekt Tiefenlager und die Nagra nicht nur positiv.
Die offenen Fragen und Kritikpunkte gilt es in den nächsten Jahren auszudiskutieren. Denn es ist nicht die Nagra, die entscheidet, ob in Nördlich Lägern ein Tiefenlager gebaut wird – es ist der Bundesrat, das Parlament, und falls das Referendum ergriffen wird, das Schweizer Stimmvolk.
Das vorliegende Magazin soll ein Vorgeschmack auf diese Diskussion sein und fungiert als eine Art Addendum zum eigentlichen Rahmenbewilligungsgesuch. Wir nennen es auch «das Rahmenbedingungspapier». Die vollständigen Gespräche können Sie auf jahrhundertmagazin.swiss oder bei Ihrem Lieblingspodcastanbieter anhören.
Patrick Studer, Leiter Kommunikation Nagra
«Wir Geologen rechnen in Millionen Jahren»
Matthias Braun
«Wir vertrauen der Technologie stärker als der Kultur»
Jeannie Schneider
«Dass man Benny Brennstab blöd findet, kann ich nachvollziehen»
Thomas Meyer
«Es sollte nach etwas Kultisch-Religiösem aussehen»
Andrea Schaer
«Wir versuchen sicherzustellen, dass es eine Zukunft gibt»
Dominic Roser
Stimmen aus der Bevölkerung
«Es ist wichtig, dass man mit den Menschen spricht»
Doris Leuthard
«Ob wir dem Atommüll gewachsen sind, ist schwierig zu sagen»
Roman Köster
«Ethik sollte handfest sein»
Anna Deplazes Zemp
«Ich sehe das Ganze eher als Experiment»
Edgar Hagen
«Die Frage der Sicherheit birgt Potenzial für Kontroversen»
Rony Emmenegger
Matthias Braun «Wir Geologen rechnen in Millionen Jahren»
Eigentlich sei das, was die Nagra mache, ScienceFiction, sagt deren CEO Matthias Braun. Allerdings Science-Fiction, die auf harten Fakten beruht – und auf Schwarmintelligenz.
Hannes Hug: Matthias Braun, Sie sind mit einem Projekt beauftragt, das einen unglaublich langen Atem braucht. Es dauert Jahrzehnte, bis so ein Tiefenlager existiert – und dann existiert es für eine Ewigkeit. Was reizt Sie daran?
Matthias Braun: Das ist eine wahnsinnig tolle Herausforderung. Es ist ja eigentlich unvorstellbar, dass irgendetwas, was der Mensch erschafft, über eine Million Jahre Bestand haben kann. Das ist 200 Mal länger, als die Pyramiden schon stehen!
War Ihnen bewusst, was da auf Sie zukommt? Was ich zu Anfang unterschätzt habe und was ich mittlerweile extrem schätze, ist die Breite dieser Aufgabe. Sie geht von der Klärung von juristischen Fragen, von Gesetzestexten bis zur Mikrobiologie, sie geht über jede Teildisziplin der Geologie bis in den Tunnelbau hinein. Es gibt Aspekte im politischen Leben, es gibt Aspekte in der Finanzierung. Eine wahnsinnig weit gefasste Aufgabe, die man mit relativ wenigen Leuten lösen muss; wir sind gut 100 extrem spezialisierte Menschen, die zusammenarbeiten, die etwas Integriertes generieren müssen. Ich glaube, am Schluss kommen gute Ideen durch Schwarmintelligenz.
Als CEO dieser Schwarmintelligenz – was machen Sie den lieben langen Tag?
Ich glaube, ich bin der Leim, der das Ganze zusammenhält. Ich habe eine privilegierte Position, die es mir erlaubt, gewisse Muster zu erkennen und einen kleinen Stoss zu geben, damit es an einem bestimmten Punkt weitergeht.
Das grosse Thema für viele Menschen ist natürlich die Sicherheit des Tiefenlagers. Wie gehen Sie damit um?
Die Fakten sind das eine, dieser Aspekt ist eigentlich relativ einfach. Es gibt Untersuchungen, da geht es um Zahlen und die sagen: So und so ist
das. Wir haben den sichersten Standort gefunden. Das hält mich nachts nicht wach. Man muss das aber irgendwie zusammenbringen mit einer Gefühlslage in der Bevölkerung, mit einer Prägung, mit Angst vor gewissen Dingen, mit einem gewissen Unwohlsein, und hier wird es interessant: Wie können wir die technische, wissenschaftliche Faktenlage mit einer gewissen Demut nicht nur kommunizieren, sondern den Menschen auch dabei helfen, sie zu verarbeiten und einzuordnen? Das ist die grosse Herausforderung für uns.
Was hält Sie denn nachts wach? Andere Aspekte der Sicherheit. Die Betriebssicherheit etwa, während des Baus, mit Verkehr, mit Abläufen beim Bau oder auch dann im Lager. Solche Dinge beruhen nicht einfach auf Wissenschaft, sondern auf dem Verhalten der Menschen, auf Regeln. Das führt eigentlich wieder zurück zur Frage, warum wir überhaupt ein Tiefenlager bauen: Weil wir viel besser voraussagen können, was die Geologie in einer Million Jahre macht, als was wir als Menschen in zwanzig Jahren machen.
Ist das Tiefenlager eigentlich einfach das Beste, was man heute tun kann im Hinblick auf die nähere und fernere Zukunft? Man hat sich ja eine ganze Menge Alternativen angeschaut. Es gibt einen breiten, internationalen wissenschaftlichen Konsens: Tiefenlagerung in einer geologisch stabilen Schicht ist zumindest im Moment alternativlos.
Dieses Endlager wird es wahrscheinlich noch geben, wenn es die Schweiz als Land, so wie wir sie heute kennen, nicht mehr gibt. Was denken Sie, wie sieht es hier in ein paar tausend Jahren aus?
Ich kann darüber spekulieren, wie es in ein paar Millionen Jahren aussieht. Wir Geologen rechnen in Millionen. In ein paar tausend Jahren wird es wahrscheinlich nicht so wahnsinnig anders aussehen als heute, was die Landschaft betrifft. Wir können ruhig annehmen, dass der Rhein noch am gleichen Ort durchfliesst, dass die Alpen noch am gleichen Ort stehen und auch den Jura wird es noch geben. Weiter in der Zukunft tut sich dann aber einiges, wir sind etwa wissenschaftlich sicher, dass es weitere Eiszeiten geben wird, dann wird die Schweiz unter dem Eisschild verschwinden. Dann kann es durchaus auch sein, dass Flüsse ihren Lauf ändern. Ein ganz verrücktes Szenario, aber auch das hat es in der Vergangenheit schon gegeben, ist, dass das Mittelmeer austrocknet. Dann entsteht bei Marseille ein tausend Meter hoher Wasserfall, und dies wiederum führt zu Rückwärtserosion. Das heisst, die Rhone könnte sich wieder verbreitern; vielleicht fliesst das Wasser dann plötzlich wieder ins Mittelmeer. Solche Dinge sind alle denkbar in der ferneren Zukunft. Das klingt wie Science-Fiction, aber es ist eben genau unser Job, solche Szenarien durchzuspielen, damit wir sagen können: Jawohl, dieses Tiefenlager ist dann immer noch sicher.
Wir führen das Gespräch mitten in Stadel, dort also, wo das Tiefenlager gebaut werden wird. Wie schaffen Sie es, alle Leute ins Boot zu holen?
Ich glaube vor allem durch viel Dialog. Und am Schluss, natürlich, müssen wir auch einfach realistisch sein: Man kann nicht immer alle mit ins Boot holen. Ich habe aber das Gefühl, die Voraussetzungen hier sind sehr gut. Weil man miteinander redet. Und weil man sich auch kennt. Und solange es so weitergeht, dass man miteinander redet und sich eben auch noch besser kennenlernt, dann sind wir auf einem guten Weg.
Ich habe mitbekommen, dass bei Informationsveranstaltungen oft relativ wenige Menschen auftauchen. Ist das etwas, was Sie ein bisschen frustriert?
Ich glaube, man muss auch realistisch bleiben. Das Tiefenlager ist erstens noch weit weg und zweitens ist es nicht das grösste Problem der Menschheit. Ausserdem ändert sich die Aufmerksamkeit für das Projekt auch von Phase zu Phase. Ich glaube, man sollte mit denen reden, die gerade Interesse haben, die in dieser Phase interessiert sind. Vielleicht sind das in der nächsten Phase andere. Als Geologe lernt man vor allem, dass die Welt dynamisch ist. Dinge wachsen, Dinge fallen zusammen, irgendwann bildeten sich die Alpen, und irgendwann wird es keine Alpen mehr geben. Und ich glaube, diese Dynamik, diese Beweglichkeit, das ist auch ein Zeichen des Fortschritts.
Vor Ihnen liegt eine Schuhschachtel. Ich möchte Sie bitten, einen Zettel herauszufischen. Darauf steht eine Frage.
Ich habe «Erledigt sich alles von selbst?» gezogen. (lacht) Es gibt ja die berühmte Management-Regel: Nichts machen, ist das Beste. Die meisten Probleme erledigen sich eben von selbst. Und als Geologe hat man das Gefühl, es erledigt sich alles von selbst, man muss nur lang genug warten. (lacht) Ich glaube, die grösste Kunst ist es, zu wissen, wann man etwas tun muss und wann eben nicht.
Zum Schluss möchte ich Ihnen, wie allen Interviewpartner:innen, folgende Frage stellen: Wenn Sie im Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, eine Anregung, ein Leitspruch, egal was: Was würde auf diesem Zettel stehen?
Ich glaube, es würde eine Frage draufstehen. Vielleicht: «Wenn ihr das findet, wie sieht es aus?» Wir überlegen uns jetzt alle diese Szenarien, wir sichern uns gegen alle diese Möglichkeiten ab, aber wie ist es dann wirklich? Die Auflösung des Rätsels sozusagen. Mich nimmt es wunder, wie die ganze Geschichte dann wirklich ausgeht.
Matthias Braun ist 1968 geboren, aufgewachsen in Basel und hat physikalische Chemie und Mineralogie studiert. Er war lange für Erdölunternehmen in Italien, Grossbritannien, den Niederlanden und im Nahen Osten tätig und ist seit bald vier Jahren CEO der Nagra.
WAS LÖST ES IN IHNEN AUS, WENN SIE DEN AUSDRUCK «TIEFENLAGER FÜR RADIOAKTIVE ABFÄLLE» LESEN ODER HÖREN? WAS DENKEN SIE DARÜBER UND WELCHE GEFÜHLE LÖST ES IN IHNEN AUS?
«Wer A sagt, muss auch B sagen: An den Gedanken des Tiefenlagers als langfristige Lösung müssen wir uns gewöhnen.» Isabel Christen
«Die sichere Energieversorgung kann nur mit der Kernkraft erreicht werden. Deshalb sollte das geplante Tiefenlager für radioaktive Abfälle errichtet werden.» Eva Pauli
«Angst. Unwohl. Möchte nicht, dass es da liegt, obwohl ich nicht mal weiss, wo. Nur weit, weit weg, bitte.» Renato Stillhart
«Die Kernenergie ist als Spaltung oder Fusion die Zukunft. Ihr Herangehen an die Lagerung der Abfälle ist sachlich, kompetent und transparent. So werden auch unsere Enkel einen sicheren Umgang mit dieser Energie haben und so den wachsenden Energiebedarf decken.» Michael Viehweg
«Ich habe ein schlechtes Gewissen gegenüber unseren Nachkommen, dass wir noch keine andere Lösung gefunden haben, als unseren Müll zu vergraben. Wir unterscheiden uns nicht von frühen Siedlungen oder dem Mittelalter, ausser dass unser Müll gefährlich ist und wir ihn tiefer vergraben.»
Felix Spitznagel
«Das ist heutzutage sicher die beste Lösung für die Zukunft.» Hermann Meier
«Es klingt nach der vernünftigsten Option, um mit einem gefährlichen Problem umzugehen. Ein Tiefenlager bietet die Chance, den Atommüll sicher zu isolieren und die Risiken zu minimieren, anstatt ihn einfach oberirdisch zu belassen.» Fabio Moser
«Gute Frage, brauche noch mehr Infos dazu.
Grundsätzlich eine gewisse Sicherheit.» Sascha Müller
«I ask myself why we cannot re-use this energy source instead of essentially throwing it away.»
Joseph
A. Gomes
Jeannie Schneider «Wir vertrauen der Technologie stärker als der Kultur»
Für Jeannie Schneider gibt es nicht die Zukunft – sondern Zukünfte. Und diese sind kein linearer Prozess, sondern ein Möglichkeitsraum, den wir in einem Zusammenspiel von Technologie, Politik und Gesellschaft aktiv gestalten können.
Hannes Hug: Jeannie Schneider, Sie beschäftigen sich beim Think & Do Tank Dezentrum mit der Zukunft. Wie stellten Sie sich als Kind Ihre eigene vor?
Jeannie Schneider: Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in Hawaii. Wir hatten Kühe, Chamäleons und Meerschweinchen im Garten. Mir war darum klar: Wenn ich gross bin, werde ich Bäuerin.
Stattdessen sind Sie heute Partnerin beim Dezentrum. Wie kam’s?
Ich wurde früh politisiert und bin mit 14 in die Juso eingetreten. Dort wurde mir klar, wie wichtig gesellschaftliche Probleme sind. Gleichzeitig bemerkte ich, dass technologische Entwicklung nicht als politisches Thema wahrgenommen wird, sondern als etwas Naturgegebenes. Die Schnittstelle von Politik und Technologie wird meiner Meinung nach zu wenig erforscht, obwohl technologische Entwicklung heute einer der grössten Treiber für Veränderung ist.
Kann man die gewünschte Zukunft manifestieren?
Auf individueller Ebene kann das funktionieren, auf struktureller Ebene erfolgt die Auseinandersetzung mit der Zukunft eher emanzipatorisch. Viele haben das Gefühl, dass sie über uns hereinbricht, dass wir wenig Handlungsspielraum haben. Wenn man sich vor Augen hält, dass es
«Wir müssen uns überlegen, wie wir etwas haben wollen – und nicht, wie es sein wird.»
nicht die Zukunft gibt, sondern die Zukünfte, wird der Handlungsspielraum wieder grösser. Gleichzeitig sorgt diese Idee für eine Dringlichkeit, um sein Verhalten in der Gegenwart zu ändern und einen Schritt in die eine oder andere Zukunft zu machen.
Das Tiefenlager soll eine Million Jahre halten. Was bedeutet dieser unfassbar lange Zeitraum für Sie als Forscherin?
Das ist für die Zukunftsforschung eine grundsätzliche Knacknuss. Forschung will Wissen schaffen, das validiert werden kann, sei es mit einem Experiment oder einer Umfrage. Doch Zukunft ist inhärent eine Blackbox. Diese Spannung hat zur Folge, dass Zukunftsforschung nicht nur beschreibend ist, sondern immer auch wertebasiert. Wir müssen uns überlegen, wie wir etwas haben wollen – und nicht, wie es sein wird. Etwas zu erforschen, das es noch nicht gibt, multipliziert sich bei einem Projekt mit einer derart grossen Zeitdauer ins Extreme.
Mit welchen Methoden gehen Sie beim Dezentrum an solche Fragen heran?
Wir arbeiten vor allem mit Szenariotechnik und spekulativem Design. Bei der Szenariotechnik wird Zukunft nicht als linearer Prozess gedacht, sondern als Möglichkeitsraum. In einem ersten Schritt beschreiben wir den Status quo und die Umstände, die ihn beeinflussen. Im zweiten Teil wird es spekulativ: Wir machen einen Sprung in die Zukunft und entwerfen mögliche Szenarien. Ein gutes Szenario ist nicht eines, das möglichst wahrscheinlich ist, sondern eines, das stimmig ist. So versuchen wir, den Möglichkeitshorizont aufzubrechen. Beim spekulativen Design wiederum stellt man sich vor, wie ein Tool oder Instrument der Zukunft aussehen könnte.
Können Sie dazu ein Beispiel machen?
Die Macher von Star Trek haben sich gefragt, wie die Kommunikation der Zukunft aussehen könnte. Jemand kam auf die Idee des Kommunikators, der mobil ist und jederzeitigen Kontakt ermöglicht – ein Handy also. Und tatsächlich: Ein Motorola-Designer meinte später, er wurde vom Kommunikator beeinflusst. Spekulative Objekte können helfen, etwas zu versinnbildlichen und damit erfahrbar zu machen.
Das Smartphone ist eine disruptive Erfindung, von der wir immer noch nicht genau wissen, wie sie uns beeinflusst. Wie fliessen solche Aspekte in Ihre Forschung ein?
Die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft ist unser Kernthema. Beim Smartphone wissen wir tatsächlich nicht, welche Einflüsse es hat – gerade auf Kinder, die vom ersten Moment ihres Lebens an damit konfrontiert sind. Bei sozialen Medien wiederum müssen wir uns bewusst sein, dass wir das Produkt sind. All diese Plattformen sind darauf ausgerichtet, die Verweildauer zu maximieren, was gemäss Studien verheerende Folgen auf die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat. Wir müssen digitale Technologien vermehrt als Politikum verstehen und uns stärker mit der Nutzung und ihren Folgen befassen.
Beim Dezentrum spielt Partizipation eine wichtige Rolle. Wie könnte ein partizipativer Prozess im Fall des Tiefenlagers aussehen? Richtige Partizipation heisst für mich Mitbestimmung. Bei unseren Prozessen besteht die Idee von Partizipation in der Gleichsetzung verschiedener Perspektiven: Laien haben gleich viel zu melden wie Expert:innen aus Politik oder Digitalisierung. Bei den Endlagerungsprojekten sehen wir das Gegenteil, einen technokratischen Top-Down-Ansatz. Es gibt einen bestimmten Ort, der sich aufgrund der Gesteinslage am besten
eignet. Wir sprechen von einem partizipativen Prozess, gleichzeitig gibt es ein Expertenwissen, das die Entscheidung bestimmt – dies führt zu Spannungen.
Das Tiefenlager ist ein unglaublich grosses und komplexes Projekt. Können wir so etwas?
Wir müssen es können. Was ich spannend finde: Das Endlager soll eine Million Jahre halten, aber der Entscheidungsprozess läuft erst seit ungefähr dreissig Jahren. Ins Verhältnis gesetzt, ist das sehr kurz. Wir denken oft, dass es schnell gehen und effizient sein muss, damit etwas gut ist. Doch in einer Demokratie sind Schnelligkeit und Effizienz nicht immer der beste Weg. Gerade wenn man sich nicht nur von Expert:innen-Entscheidungen abhängig machen will, sollte der Prozess eventuell länger gedacht werden. Ob es weitere fünf oder zehn Jahre länger dauert, spielt angesichts des langen Wirkungszeitraums keine Rolle.
Wie sehen Sie die Thematik der atomaren Abfälle persönlich?
Für mich stehen sie sinnbildlich für die Art, wie wir über Technologien denken: Atomkraft und die Lagerung der Abfälle werden als zwei verschiedene Themen betrachtet. Dasselbe Verhalten sehen wir auch bei vielen anderen Themen wie Öl oder Lithium. Die wahren, langfristigen Kosten einer Technologie werden ausgespart.
Ich bin 56 Jahre alt, die Atomdebatte hat mich fast mein ganzes Leben begleitet. Sie sind 27 Jahre alt, wie haben Sie die Entwicklung wahrgenommen?
Atomkraft war mein Leben lang ein Auslaufmodell, eine Technologie, von der wir uns Schritt für Schritt verabschieden. Mit der Klimakrise kam Atomkraft plötzlich wieder auf die politische Agenda, obwohl die Risiken immer noch bestehen. Für mich steht das sinnbildlich für die Art, wie wir mit Problemen umgehen – auch mit der Klimakrise. Statt unsere Gesellschaft so zu transformieren, dass wir weniger Energie benötigen, greifen wir auf die Kernenergie zurück. Die Gefahren und Abfälle werden in den Hintergrund gerückt, nur damit wir unseren Lebensstandard halten können. Bei der Endlagerung stehen wir vor demselben Problem. Wir fragen uns, wie wir die Endlagerung gestalten, damit sie sicher ist. Dabei vertrauen wir der Technologie – in diesem Fall CastorBehältern – viel stärker als einer Kultur, die für die langfristige Sicherheit der Abfälle sorgen könnte.
Wie könnte man dafür sorgen, dass sich Menschen mehr für das Tiefenlager interessieren?
Ich verstehe, dass dieses Thema keine Säle füllt. Auch, weil der Zeithorizont so erdrückend lang ist. Zudem leben wir in einer Zeit, in denen Menschen ihre Heizkosten nicht bezahlen können. Politisches Engagement hängt aber immer auch von persönlichen Ressourcen ab. Wer im Alltag kämpfen muss, hat keine Zeit für politisches Engagement – schon gar nicht für ein abstraktes Thema wie das Tiefenlager.
Wie weit in die Zukunft denken Sie?
Persönlich ist mein Zeithorizont eher kurz, bei Dezentrum betrachten wir oft nur eine Generation. Das liegt daran, dass wir kleine Einheiten, die Firma oder Angestellten, betrachten. Wir starten bald ein Projekt zur Frage, ob verkürzte Arbeitszeiten wirtschaftliche, persönliche, aber auch ökonomische Vorteile bringen. Der Zeithorizont bei diesem Projekt ist 2040, da viele der heute Betroffenen dann immer noch am Arbeiten sein werden.
Sie haben unter anderem Geschichte studiert. Inwiefern taugt Geschichte, um die Zukunft zu antizipieren?
Geschichte ist die einzige Möglichkeit, um Informationen zu gewinnen. Mit diesen Informationen können wir zwar nicht die Zukunft antizipieren, aber wir können lernen. Zum Beispiel von früheren Zukunftsszenarien, wie sie an der Landesausstellung Anfang des 20. Jahrhunderts gezeigt wurden. Dort gab es Postkarten, die das Leben im 21. Jahrhundert zeigten. Man sieht ein Schulzimmer mit Kindern mit einem Sieb auf dem Kopf, durch das Wissen von einer Maschine eingeflösst wird. In diesem Schulzimmer sitzen nur Jungen, auch der Lehrer ist ein Mann. In einer Küche sieht man einen Besen, der automatisch wischt – und daneben steht eine Frau mit Schürze. Man hat also den technologischen Wandel antizipiert – aber nicht den gesellschaftlichen Wandel. Die Vorstellung der Zukunft sagt viel über die Gegenwart aus.
Zukunft wurde lange als verheissungsvoll dargestellt, heute eher dystopisch. Wann hat sich das gedreht?
Die Frage, ob es ihre Kinder dereinst besser haben werden, wurde während Generationen mit Ja beantwortet. Um 2010 herum hat sich das geändert. Auch jetzt merkt man, dass die Zukunft, zumindest gefühlt, enger wird. Das erstaunt mich nicht, weil wir seit circa vierzig Jahren in einem Mindset leben, das keine Alternativen zulässt. Es gibt ein Wirtschaftssystem und eine Art zu leben, die für Wachstum sorgt – und Wachstum bedeutet Wohlstand. Gleichzeitig erleben wir derzeit das Scheitern dieser Prämisse. Wir erkennen, dass endloses Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen nicht möglich ist. Dies führt zu einer Verengung der Idee von Zukunft und damit zu Spannungen.
Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie im geplanten Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, was stünde auf Ihrem Zettel? Niemand hat gesagt, dass es einfach sein wird.
Jeannie Schneider hat Politikwissenschaft, Recht, Philosophie und Globalgeschichte studiert. Als Partnerin des Think & Do Tanks Dezentrum forscht sie an partizipativem Wandel und der Schnittstelle von Technologie, Politik und Gesellschaft.
WAS LÖST ES IN IHNEN AUS, WENN SIE DEN AUSDRUCK «TIEFENLAGER FÜR RADIOAKTIVE ABFÄLLE» LESEN ODER HÖREN?
WAS DENKEN SIE DARÜBER UND WELCHE GEFÜHLE LÖST ES IN IHNEN AUS?
«Grundlage unseres Wohlstands im Land ist u. a. eine sichere Energieversorgung. Dazu gehören unumstritten die noch verbliebenen drei Kernkraftwerke: Leibstadt, Gösgen und Beznau. Um unseren Wohlstand auch in Zukunft zu wahren, nehme ich die damit verbundenen negativen Konsequenzen wie radioaktiver Abfall in Kauf. Dies, weil ich davon überzeugt bin, dass das Tiefenlager die dafür vorgesehenen Anforderungen an eine sichere Lagerung vollständig erfüllt. Kernenergie ist CO2-neutral und liefert einen wichtigen Beitrag dazu, dass die Schweiz ihre Klimaziele bis 2030 erreichen kann.»
Pierre Lehnhardt
«Es kann doch niemand sagen, dass ein Endlager in der Mitte des Gotthardmassivs, wenn auch für tausende von Jahren, ein Problem darstellen kann. Der Tunnel zum Abtransport ist schon vorhanden. Wenn in der Mitte dieses Eisenbahntunnels ein Querstollen gebohrt würde, um den Atommüll darin in einem Betonbunker zu entsorgen, evtl. in Wasserbecken, ist das Problem weitgehend gelöst.» Andreas Riedmann
«Es weckt Skepsis, ob eine solche Lösung wirklich sicher ist. Die Vorstellung, dass wir radioaktiven Abfall auf unbestimmte Zeit tief in der Erde lagern, erscheint mir problematisch, da wir keine langfristige Garantie für die Sicherheit und Stabilität solcher Lagerstätten haben können.» Pia Zentel
«Stellt euch vor: Wochenende in der idyllischen Schweizer Landschaft, ein bisschen wandern, und dann – zack! – eine Tour durch das neueste Tiefenlager für radioaktive Abfälle. Spass für die ganze Familie! Vielleicht sollten wir das Ganze mit Humor sehen. Wer weiss, vielleicht wird das Tiefenlager zur nächsten Touristenattraktion: ‘Besuchen Sie das Tiefenlager – inklusive Geigerzähler-Souvenir!’» Martin Graf
«Zusammen mit unzähligen weiteren Generationen von Menschen und deren Umwelt die Konsequenzen nicht zu Ende gedachter Technologien tragen zu müssen, ist echt bedrückend.» Bryden Rey
Thomas Meyer «Dass man Benny Brennstab blöd findet, kann ich nachvollziehen»
Seit Mai ist Thomas Meyer regelmässig in Stadel, um das Projekt Tiefenlager als Kulturgast zu begleiten. Der Schriftsteller ist entschiedener Atomkraftgegner und gleichzeitig fasziniert vom Projekt Endlager und findet: Diese Widersprüche muss man aushalten können.
Hannes Hug: Thomas Meyer, auf dem Auto, in dem Sie vorgefahren sind, steht «Amt für Ironie». Was wollen Sie damit sagen?
Thomas Meyer: Es zeigt primär, dass man diverse meiner Aktionen nicht zu ernst nehmen sollte. Aber mit dem Tiefenlager hat diese Aufschrift nichts zu tun.
Ist sie eher eine Begleiterscheinung Ihres Lebens?
Ich denke, sie ist die Ausdrucksform meines Naturells. Aber es ist lustig, wie die Menschen auf diese Aufschrift reagieren. Viele fragen mich, ob es dieses Amt tatsächlich gibt. Ich antworte mit: Nein, aber es sollte existieren. Dann könnte man Leuten Bussen geben für schlechte Witze.
Wer würde das einfordern, Sie?
Ja, und zwar mit Blaulicht!
Seit Mai begleiten Sie das Projekt Tiefenlager als Kulturgast der Regionalkonferenz. Wie kam es dazu?
Ich kenne Christopher Müller, den Co-Präsidenten der Regionalkonferenz, schon seit 15 Jahren und durfte früher regelmässig für seine Firma arbeiten. Er meinte, es wäre cool, das Projekt Tiefenlager auch künstlerisch zu begleiten. Ich war begeistert, weil es sehr viel hergibt – nicht zuletzt wegen der grossen Widersprüche.
«Ich weiss, wie der Mensch politisch funktioniert: Er arbeitet mit Gefühlen, nicht primär mit Fakten.
Das sieht man bei jeder Abstimmung.»
Sie haben mal geschrieben: «Ich bin ein Tschernobyl-Kind, das hat extrem viel mit mir gemacht.» Wie bringt man das zusammen mit Ihrem Engagement in Stadel?
Da haben wir bereits den ersten Widerspruch. Was mich an diesem Projekt gereizt hat, ist Kreativität und Freude. Die empfinde ich auch mit dieser Prägung durch Tschernobyl. Ich war damals zwölf Jahre alt und erinnere mich, dass tagelang nicht klar war, was das Unglück nun genau bedeutet. Müssen wir nun in den Untergrund? Klar war nur, dass es eine sehr grosse, sehr problematische Sache war.
Eine diffuse Bedrohung. Diffus waren die genauen Auswirkungen, aber die Bedrohung war sehr konkret. Das hat mich kritisch werden lassen und ich kam zum Schluss, Atomkraft sei gefährlich. Später habe ich gelernt, dass Tschernobyl mehr oder weniger mutwillig herbeigeführt wurde und die Konstruktion der russischen Reaktoren sehr günstig war; es gab nicht mal ein Containment. Das Kernkraftwerk Beznau ist zwar ebenfalls uralt, wurde aber immer wieder modernisiert. Aber es bleibt dabei: Der Betrieb eines KKW hat immer ein Restrisiko. Und es bleibt Müll, der extrem lange aktiv und gefährlich ist. Wenn man einen Container öffnen würde, hätte man ein halbes Tschernobyl generiert. Atomare Abfälle sind, Stand heute, ein riesiges Problem. Trotzdem, oder gerade darum, finde ich es hochinteressant, das Projekt Tiefenlager zu begleiten.
Können Sie das genauer erklären?
Atomkraft ist ein Irrweg, die militärische Nutzung erst recht. Die Atommächte haben ihren Finger ständig auf dem roten Knopf, das geringste Missverständnis könnte zur Katastrophe führen. Ich finde, dass es die Kernspaltung nie hätte geben sollen. Gleichzeitig war ich in einem Kernkraftwerk und tief beeindruckt von diesem Wunderwerk der Technik. Bei mir kann das parallel bestehen – und ich glaube, bei vielen anderen ist das auch der Fall.
Sie haben das KKW in Beznau und das Zwischenlager in Würenlingen besucht. Was haben Sie gelernt?
Unter anderem, dass ein KKW primär ein riesengrosser Tauchsieder mit einer Dampfmaschine ist. Ich war fast etwas enttäuscht, weil ich eine komplexere Funktionsweise erwartet hätte, eher wie ein Raumschiff. Aber es ist faszinierend. Da steht man in dieser riesigen Halle, die Tür geht auf, und draussen stehen Isolatoren, von denen eine Stromleitung wegführt. Hier fängt also der Strom an. Dann geht er ins Unterwerk und später auf Hochspannungsmasten, die man in der Ferne sieht.
Ihre Aufgabe besteht darin, dass Projekt Tiefenlager künstlerisch zu begleiten. Gab es genaue Vorgaben? Es gab überhaupt keine Vorgaben – über dieses Vertrauen habe ich mich sehr gefreut. Ich habe mich für einen Blog entschieden, den ich mit echten und KI-generierten Fotos bebildere. Für mich ist es die beste und einfachste Art, immer wieder Inhalte zu liefern. Ich habe einen Gedanken, schreibe ihn auf und erstelle ein Bild dazu. Dann geht der Post online und ist allen zugänglich.
Sie haben mithilfe von KI-Figuren wie Benny Brennstab erschaffen, die sehr comic-haft aussehen … … ich habe bei der Generierung stets den Prompt «cute comic character» benutzt.
Das könnte man als verharmlosend und infantilisierend bezeichnen. Diese Vorwürfe sind gekommen. Ich begegne ihnen mit dem Argument, dass die Thematik auch für Kinder zugänglich sein soll. Ich wollte eine Frequenz treffen, die auch Kinder erreicht, da das Thema auch sie und deren Kinder betrifft. Die zweite Absicht bestand darin, eine Diskussion herbeizuführen. Mir war klar, dass Vorwürfe kommen werden. Aber ich wollte auch, dass sie kommen.
Wer hat sie kritisiert?
Vor allem Menschen, die vom Tiefenlager in seiner aktuellen Konzeption nicht überzeugt sind. Zudem misstrauen sie der Nagra, die ihre Meinung in den letzten Jahrzehnten mehrfach geändert hat. Ein anderes Argument ist: Warum muss es genau jetzt in den Boden? Warum warten wir nicht, bis wir eine überzeugendere Lösung finden? Dass man den herzigen Benny Brennstab aus dieser Perspektive blöd findet, kann ich nachvollziehen.
Sind Sie auf die Kritik eingegangen?
Jemand meinte, auch die Gefahr müsse thematisiert werden, zum Beispiel mit Susi Strahlung. Ich gab der Person recht und habe mich nochmals an den KI-Bildgenerator gesetzt. Auch der Verein «Nördlich Lägern ohne Tiefenlager» (LoTi) hat mich zum Gespräch eingeladen. Sie kamen mit der Idee von Lotti Lotterfass, die ihren Grundzweifel am Konzept ausdrücken soll. Dasselbe tut Reto Restrisiko. Sie gingen also sammeln, könnte man sagen. Mir war wichtig, überall zu sammeln. In den Werken, im Zwischenlager, bei Befürwortern und Gegnern.
Haben Sie deren Sorgen und Ängste berührt oder waren Sie streng wissenschaftlich unterwegs?
Ich war letztlich als Privatperson unterwegs – und gewisse Argumente haben mich überzeugt, andere nicht. Die hohen Sicherheitsstandards zum Beispiel finde ich überzeugend. Und die Frage, ob man warten sollte, bis man mehr weiss, finde ich berechtigt. Wobei die Nagra ja betont, dass das Tiefenlager erst in hundert Jahren definitiv geschlossen wird. Zudem wird so gebaut, dass die Container wieder hervorgeholt werden können. Anfangs etwas einfacher, später wird es aufwendiger.
Wurden Sie überrascht bei diesen Begegnungen?
Nicht unbedingt. Ich weiss, wie der Mensch politisch funktioniert: Er arbeitet mit Gefühlen, nicht primär mit Fakten. Das sieht man bei jeder Abstimmung. Viele haben keine Ahnung, worum es geht – ich oft auch nicht. Viele befassen sich gar nicht mit der Thematik. Sie finden es super, dass der Müll vergraben wird, Hauptsache nicht bei ihnen.
Wäre es Ihnen lieber, die Menschen würden ihre Widersprüche transparent machen?
Ueli Maurer meinte mal, dass er von gewissen Vorlagen nur zu sechzig Prozent überzeugt gewesen sei. Dennoch habe er so tun müssen, als stehe er hundert Prozent dahinter. Eine sehr ehrliche Aussage, wie ich finde. Viele Menschen haben grosse Probleme, Widersprüche auszuhalten. Es ist anstrengend, weil es einen zwingt, sich zu informieren.
Ein Tiefenlager in Stadel, diesem pittoresken, in eine schöne Landschaft eingebetteten Dorf – ist das nicht auch ein Widerspruch? Wenn es nicht hierhin passt, dann passt es nirgendwo hin. Natürlich ist es ein Kontrast, aber diese Kontraste findet man überall.
Als Kolumnist haben Sie sich früher als «Federhure» bezeichnet. Wofür würden Sie sich, auch gegen Bezahlung, nicht engagieren lassen?
Da fallen mir schon Dinge ein, aber wenn ich länger darüber nachdenke, beginnen auch sie mich zu faszinieren. Ich gehe gerne dorthin, wo es unangenehm ist, dann wird es interessant. Aber wenn jetzt die SVP käme und Texte für eine ökologiekritische Kampagne bräuchte, würde ich ablehnen.
Die Verfilmung Ihres Buchs war die erste Schweizer Netflix-Produktion. Wie gross ist das Netflix-Potenzial des Tiefenlagers in Stadel? Es ist immer eine Frage der Herangehensweise; meiner Meinung nach gibt es keine langweiligen Themen. Es gibt einen langweiligen Umgang mit Themen, aber die Themen sind alle gleich interessant. Man kann überall etwas ergründen und forschen.
Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie im geplanten Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, was stünde auf Ihrem Zettel? Ich hoffe, dass niemand jemals hinuntersteigen und den Zettel lesen wird. Falls doch, wäre eine Entschuldigung angebracht.
Thomas Meyer ist Kolumnist und Autor. Schweizweit bekannt wurde er mit dem 2018 verfilmten Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse». Als Kulturgast der Regionalkonferenz – einer rund 120-köpfigen Projektgruppe, die sich beim Bau des Tiefenlagers für die Interessen der Region einsetzt – begleitete er das Vorhaben rund um die Verwahrung des Schweizer Atommülls in der Region Nördlich Lägern zwischen Mai und Oktober 2024 mit unregelmässigen Blogbeiträgen.
WAS LÖST ES IN IHNEN AUS, WENN SIE DEN AUSDRUCK «TIEFENLAGER FÜR RADIOAKTIVE ABFÄLLE» LESEN ODER HÖREN? WAS DENKEN SIE DARÜBER UND WELCHE GEFÜHLE LÖST ES IN IHNEN AUS?
«Es löst wirklich keine guten Gefühle aus. Atommüll einfach vergraben. Das kann doch nicht die Lösung sein? Was, wenn es mal ein Erdbeben gibt, wie sicher ist das? Was tun wir damit den künftigen Generationen an?» Ana Knezevic
«Es ruft Gedanken an Sicherheit, Verantwortung und die Langzeitfolgen der nuklearen Abfallentsorgung hervor. Die Emotionen reichen von Sorge bis zu einem Gefühl der Dringlichkeit.»
Julia Moll
«Es löst ein mulmiges Gefühl aus und gehört zu den Themen, mit denen man sich nicht gerne beschäftigt, aber dennoch sollte. Ich kenne mich leider zu wenig mit dem Thema aus, was die Unsicherheit weiter verstärkt.» Tanja Meier
«Ich bin zuversichtlich und traue dem Projekt der Nagra-Fachleute. Nach den Erfahrungen in der Regionalkonferenz Nördlich Lägern zweifle ich nicht an der Sicherheit des Tiefenlagers und bin bezüglich Sicherheit für die Urenkel zuversichtlich.» Bruno Wermelinger
«Wut und Angst darüber, dass nachfolgende Generationen die fatalen Entscheidungen früherer Generationen ausbaden müssen. Gleichzeitig eine gewisse Zuversicht, dass dafür die bestmöglichen Lösungen gesucht werden.» Frederik H. Mikelsen
«Tiefenlager tönt unheimlich und mysteriös und irgendwie fühle ich mich auch ein wenig unsicher, wenn ich daran denke, was da in der Tiefe schlummert.» Samuel Stutz
«Der Ausdruck ‘Tiefenlager für radioaktive Abfälle’ weckt in mir eine Mischung aus Respekt und Sorge. Respekt, weil es eine enorme technische und wissenschaftliche Herausforderung darstellt, die Sicherheit zukünftiger Generationen über extrem lange Zeiträume zu gewährleisten. Sorge, weil es eine Erinnerung an die Verantwortung ist, die wir tragen, wenn wir mit so gefährlichen Materialien umgehen. Es zeigt auch die Dringlichkeit, nach nachhaltigen Lösungen zu suchen, die die Risiken für die Umwelt und die Menschen minimieren.» Strahinja Nikolic
Andrea Schaer «Es sollte nach etwas KultischReligiösem aussehen»
Wie kann sichergestellt werden, dass das Tiefenlager auch in Tausenden von Jahren nicht angerührt wird? Archäologin Andrea Schaer plädiert dafür, eine monumentale Stätte zu schaffen. So, wie es die Menschen aller Epochen immer wieder getan haben.
Hannes Hug: Andrea Schaer, Sie sind Kulturerbemanagerin. Was muss ich mir darunter vorstellen?
Andrea Schaer: Das tönt grossartig, nicht wahr? Das Kulturerbe – archäologische Funde, historische Bauten, aber auch immaterielles Kulturerbe wie Traditionen und Überlieferungen – wird heute anders als noch vor ein paar Jahrzehnten betrachtet. Früher hat man das Kulturerbe als etwas gesehen, das der Vergangenheit angehört, heute hat man einen gegenwarts- und zukunftsbezogenen Blick auf die Zeugnisse der Vergangenheit. Wir sehen sie als Ressource, die qualitätssteigernd ist für unser heutiges Leben.
Inwiefern steigert das Kulturerbe unsere Lebensqualität?
Wir gehen gerne in Städte mit historischen Bauten, die uns das Gefühl geben, dass da mehr dahintersteckt als die letzten zwanzig, dreissig Jahre. Landschaften, die geprägt sind von Burgruinen und historischen Wegen und Brücken, sind Heimat, hier spüren wir unsere Wurzeln. Das Kulturerbe ist aber auch Teil einer Landschaft, in der geplant und gebaut wird. Es ist Teil von Städten, in denen gelebt wird. Es genügt daher nicht, wenn man einfach nur forscht. Wir müssen diese Ressource in aktuelle Diskussionen und Planungsverfahren einbringen, damit sie nicht unter die Räder kommt, weil alle anderen Interessen zu überwiegen scheinen. Das, was Kantonsarchäologinnen und Denkmalpfleger tun, ist Kulturerbemanagement.
Der grosse Unterschied ist, dass wir heute viel mehr Spuren hinterlassen als vor 4000 Jahren: Wolkenkratzer, Friedhöfe, Tiefenlager. Würden Sie sich wünschen, in 4000 Jahren als Archäologin wiedergeboren zu werden? Es wäre sicher spannend, wobei ich mich wohl nerven würde über all die Red-Bull-Dosen und Cola-Flaschen, die weltweit gleich aussehen.
Kolleg:innen aus England haben kürzlich in einem Bericht darüber geschrieben, wie sie bei archäologischen Ausgrabungen einer Römerstätte auf Mikroplastik gestossen sind, der seit den 1980er-Jahren in die antiken Schichten eingesickert ist.
Wie macht man sich ein Bild von einem Gegenstand, wenn man keine Überlieferung dazu hat? Es ist doch immer eine Annahme oder eine Mutmassung.
Zum einen gibt es die Beobachtung, dass sich Material übereinander ablagert, das Älteste ist zuunterst. Früher hat man Gebäude nicht wie heute vollständig abgebrochen, die Ruinen der römischen Villa befanden sich unter der mittelalterlichen Siedlung. Alles rückzubauen wäre ein unnötiger Aufwand gewesen, man hat einfach ausplaniert und gebaut. Wenn man dann beispielsweise noch eine Münze findet, etwa von Kaiser Tiberius, dann erhält man einen absoluten Anhaltspunkt, da die Münze nicht vor der Regierungszeit des besagten Kaisers verloren werden konnte. Zudem gibt es naturwissenschaftliche Methoden wie die C14-Methode, mit der man das Alter von organischem Material bestimmen kann. Bei Holz kann man anhand der Jahresringe sogar die Jahreszeit bestimmen, in der die Bäume gefällt wurden. Auf diese Weise erhält man ein Chronologiegerüst. Da die Kulturentwicklung in gewissen Regionen sehr ähnlich war, kann man Vergleiche anstellen.
Welche Rückschlüsse können von der Vergangenheit auf die Zukunft gezogen werden?
Archäologie befasst sich mit den menschlichen Hinterlassenschaften. Wir versuchen nachzuzeichnen, wie Menschen reagiert haben, auch bei Veränderungen der Umwelt, etwa des Klimas. Man geht heute davon aus, dass das Römische Reich nicht, wie oft kolportiert, wegen der Dekadenz der Gesellschaft untergegangen ist. Es begann schon ein Jahrhundert vorher, als das Klima kälter wurde und es zu mehr Niederschlag kam, wodurch sich die wirtschaftlichen Bedingungen änderten. Die Menschen haben andere Siedlungsplätze aufgesucht, andere Produkte hergestellt, neue Materialien genutzt. So erhalten wir ein Bild, wie der Mensch auf Veränderungen in seinem Umfeld reagiert. Diese Perspektive können wir auch in die aktuelle Diskussion einbringen.
Was kann die Archäologie beitragen, wenn es um ein Tiefenlager geht?
Ein Tiefenlager ist nochmals ein paar Schuhnummern grösser. Hier geht es darum, dass wir heute etwas planen, von dem wir wissen, dass es zum Wohle der Menschen für einen unglaublich langen Zeitraum in Ruhe gelassen werden sollte. Wir konstruieren ein Monument, das in die Zukunft wirkt – in einer Dimension, in der man das bewusst noch nie getan hat. Selbst in einer Million Jahren sollte noch verstanden werden, dass man dieses komische Ding da tief unten in der Erde in Ruhe lassen soll. Die Archäologie kann dazu einen Beitrag leisten, weil wir uns mit Stätten befassen, die bis heute Bestand haben und nachwirken. Sie lösen bei uns einen gewissen Respekt aus, auch wenn wir oft nicht wissen, was einst die Absicht hinter dem Bau dieser Stätten war und was die Menschen damals in ihrer Nähe empfanden. Ich denke an die Pyramiden oder Stonehenge, die Steinkreise, die es weltweit gibt. Es sind Orte, die uns bis heute Respekt einflössen, die man in Ruhe lässt und nicht einfach demontiert, weil sie etwas besonders ausstrahlen. Selbst die Römer, die teils sehr rücksichtslos waren, wenn es um die Beschaffung von Baumaterialien ging, haben sich nicht an diesen Stätten bedient. Die Archäologie kann mit ihrem Wissen zu menschlichen Verhaltensweisen in der Vergangenheit dazu beitragen, die «besonderen Stätten» der Zukunft zu kennzeichnen und zu vermitteln.
Die zeitliche Komponente haben Sie bereits erwähnt. Ein anderer Aspekt ist die Frage, wie man kommuniziert, dass hier etwas Gefährliches vergraben ist. Wie würden Sie das tun?
Es gibt verschiedene Strategien. Kolleginnen und Kollegen aus Skandinavien und den USA, wo solche Lager schon existieren oder in Planung sind, haben sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Ein Vorschlag ist, die Tiefenlager wie kultisch-religiöse Stätten zu gestalten. Es soll ein Ort entstehen, der wie von höheren Kräften geschaffen und ausgewählt scheint und eine spezielle Kraft in sich trägt, die derart respekteinflössend ist, dass die Menschen diesen besonderen Ort seiner Besonderheit wegen unangetastet belassen. Stark religiös und emotional aufgeladene Orte wurden durch die Menschheitsgeschichte oft über Generationen und Jahrhunderten überliefert. Es gibt diverse Beispiele von prähistorischen Kultstätten, die später auch für die Römer heilig waren, wo 500 Jahre später eine Kapelle gebaut wurde und heute noch eine Kirche steht. Solche Orte haben Bestand. Die eingangs erwähnten Kolleg:innen aus Schweden oder den USA empfehlen daher, so langlebige Installationen wie ein Tiefenlager als Kultorte erscheinen zu lassen.
Gibt es konkrete Beispiele, wie man das angeht?
Eine Idee ist es, den Standort eines Tiefenlagers mit nicht vergänglichen Landmarkern zu markieren. Dies in einer Form, die Menschen einerseits animiert, die besondere Markierung zu unterhalten, damit sie über Jahrtausende weiterbesteht. Geeignet wären wohl eher Steine, vielleicht eine Anlage ähnlich Stonehenge. Beton ist für so langfristige angelegte Bauten nicht geeignet: heutiger Beton hat eine zu begrenzte Lebensdauer. Neben der Markierung müsste auch eine mit dem Ort verbundene Tradition oder Überlieferung geschaffen und verankert werden, die suggeriert, dass man von diesem Ort die Finger lassen sollte.
Inwiefern ist ein Tiefenlager auch ein Kulturerbe? Kulturerbe ist etwas, das immer nur retrospektiv definiert wird. Was wir heute schaffen, wird erst in Zukunft Kulturerbe sein – oder als solches wahrgenommen. Also auch das Tiefenlager, wobei wir auch nicht wissen, ob künftige Generationen und Zivilisationen noch das Konzept von Kulturerbe kennen werden und diesem Respekt entgegenbringen. Wir müssen irgendwie erreichen – oder provozieren –, dass künftige Menschen mit dem Standort des Tiefenlagers etwas verbinden, das sie zu einem bewussten, respektvollen Umgang mit dieser Stätte animiert.
Es muss konkret und verständlich sein, sollte aber auch eine bestimmte Warnung enthalten und gleichzeitig kein Rätsel sein. Ist diese Mehrschichtigkeit nicht fast eine Quadratur des Kreises? Die ist es, da der Faktor Mensch berücksichtigt werden muss. Menschen sind neugierig und oft erstaunlich lernresistent. Zudem ist ein Menschenleben kurz im Vergleich zur «Lebensdauer» des Tiefenlagers. Schon bald lebt also niemand mehr, der den Bau des Lagers und dessen Betriebszeit selbst erlebt hat. Irgendwann können unsere digitalen Dateien nicht mehr gelesen werden und der letzte handgezeichnete Plan ist auch schon längst nicht mehr lesbar. So verschwindet Wissen. Unsere Grossmütter kannten jedes Kraut im Wald, wir heute sind uns vielleicht nicht einmal mehr sicher, ob das nun Holunder ist, der da blüht. Mit diesem Wissensverlust müssen wir rechnen, insbesondere wenn wir von einer Perspektive von Jahrhunderttausenden ausgehen müssen. Darum müssen wir ein Narrativ schaffen, das – auch wenn das Wissen zum faktischen Hintergrund verloren ist – Bestand hat. Wir wissen nicht, wie in 10’000 Jahren auf die Vergangenheit geschaut wird.
«Ein Menschenleben ist kurz im Vergleich zur ‹Lebensdauer› des Tiefenlagers. Schon bald lebt also niemand mehr, der den Bau
des
Lagers und dessen Betriebszeit selbst erlebt hat.»
Was hat Sie persönlich unter Tag geführt, warum haben Sie begonnen zu graben?
Ich habe zu Hause einen Zettel mit einem Gedicht, das mir ein ehemaliger Nachbar zu meinem vierten Geburtstag geschrieben hat. Es heisst «Warum» und geht darum, dass die Kleine (ich) immer am Gartenzaun steht und bei allem wissen will, warum es so ist. Ich will wissen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Irgendwo musste ich mit der Suche beginnen. Anfangs waren es Scherben von Blumentöpfen, die ich im Garten entdeckt habe. Ich will die Welt, in der ich lebe, und was ich um mich herum sehe, in einen grösseren Kontext setzen. Was mir gefällt, sind die Geschichten im Verborgenen.
Was war Ihr schönster Fund bisher?
Die Bronzehand von Prêles, die 2017 gefunden wurde. Die Hand wurde zwar nicht von mir selbst entdeckt. Ich durfte mich aber während meiner Tätigkeit beim Archäologischen Dienst Bern mit ihr beschäftigen und die ersten Forschungen leiten. Die Bronzehand ist der verrückteste und rätselhafteste Fund, mit dem ich mich je befasst habe. Mir war die Hand dabei aber immer etwas ungeheuer.
Wie alt ist diese Bronzehand? 3500 Jahre.
Weiss man heute, was es mit dieser Hand auf sich hat?
Sie befand sich im Grab eines Mannes, der eine sehr bedeutende Person gewesen sein muss, um sich eine Extravaganz wie diese Hand leisten zu können. Es gibt verschiedene Hypothesen, welche Funktion die Hand gehabt haben könnte. War sie eine Prothese, ein Machtsymbol oder hatte sie eine rituelle Funktion – oder gar alles in einem? Wir wissen es nicht und werden es vermutlich nie wissen – nach «nur» 3500 Jahren.
Wir befinden uns im Anthropozän, die Zeit, die primär vom Menschen geprägt wird. Was macht das mit uns, auch im Hinblick auf die Zukunft?
Wann das anthropozäne Zeitalter begann, ist in der Wissenschaft umstritten. Geolog:innen lassen das Anthropozän mit den Atombombenversuchen in den 1950er-Jahren beginnen. Kulturhistoriker:innen sehen den Beginn mit der Industrialisierung und der Massenproduktion und damit auch mit dem Beginn des massiven CO2-Ausstosses. Aus Perspektive der Archäologie kann auch die Entstehung der Landwirtschaft als erster Eingriff des Menschen in seine natürliche Umwelt gesehen werden. Heute sehen wir, in welchen Dimensionen menschliches Handeln der Vergangenheit das Leben auf der Erde und auch natürliche Prozesse und das Klima beeinflusst.
Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie im geplanten Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, was stünde auf Ihrem Zettel? In ein paar Jahrtausenden kann man die Botschaft nicht mehr lesen … Es müsste also etwas Bildliches sein, das klarmacht, wer hinter dieser sonderbaren Einrichtung steckt und was die Motivation zum Bau der Anlage war. Das würde ich hinterlassen – oder vielleicht doch das Gedicht meines ehemaligen Nachbarn.
Die Archäologin und Kulturwissenschaftlerin Andrea Schaer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Nationalen Informationsstelle zum Kulturerbe NIKE und assoziierte Forscherin und Dozentin am Institut für Archäologische Wissenschaften der Universität Bern. 2015 gründete sie die die Firma Archaeokontor und bietet Dienstleistungen im Bereich Archäologie, Kulturgeschichte und Kulturvermittlung an.
WAS LÖST ES IN IHNEN AUS, WENN SIE DEN AUSDRUCK «TIEFENLAGER FÜR RADIOAKTIVE ABFÄLLE» LESEN ODER HÖREN? WAS DENKEN SIE DARÜBER UND WELCHE GEFÜHLE LÖST ES IN IHNEN AUS?
«Wir entsorgen für unsere Väter und unsere Kinder werden unseren Müll entsorgen. In Zukunft sollte jede Generation ihren eigenen Müll entsorgen.» Marc Stirn
«Das klingt nach einer guten Sache, welche die Klimaneutralität fördert.» Celina Harisberger «Hoffnung, dass endlich etwas passiert und Ärger, dass es so lange dauert, einen Platz zu finden. Ich bin 57 und gefühlt mein ganzes Leben ist die Suche ein Thema.» Ingo Senk
«Kurzsichtig und unsinnig sind die Worte, die ich spontan assoziiere. Die Rückstände der AKW von gestern gilt es in den AKW von heute / morgen in Strom zu verwandeln.» David Steiner
«Sehr grosses Unbehagen. Ein Endlager in einer dicht besiedelten Agglomeration, direkt in einer Anflugschneise, nahe eines wichtigen Fliessgewässers, unter nur 100 m Opalinustonschicht zu bauen, kann kein Vertrauen erwecken. Der bestehende Abfall muss irgendwo gelagert werden, aber nur unter der Bedingung, dass es eine Abkehr von der Atomenergie gibt. Ein Endlager ist sonst eine Einladung zum Weitermachen.» Michael Thommen «Grüne Energiequelle. Problematische Entsorgung.» Hans Huber
Dominic Roser «Wir versuchen sicherzustellen, dass es eine Zukunft gibt»
Dominic Roser forscht zu Longtermism: Wie sieht die ferne Zukunft aus – und wie soll sie aussehen? Das Projekt Tiefenlager sei einer der ersten praktischen Anwendungsfälle, die uns mit den Ideen dieses jungen Forschungsgebiets vertraut mache, sagt er.
Hannes Hug: Dominic Roser, Sie sind Philosoph, Ethiker und Ökonom, Ihr Spezialgebiet ist «Longtermism». Ein schönes Wort, aber was bedeutet es?
Dominic Roser: Longtermism ist einerseits eine philosophische Idee, andererseits eine soziale Bewegung. Sie besagt, dass die ferne Zukunft die zentrale moralische Priorität unserer Zeit ist. Sowohl bei politischen als auch bei privaten Entscheiden.
Was ist die ferne Zukunft?
Beim Klimawandel bezieht man sich oft auf das Jahr 2100. Das ist der Fixpunkt, an dem sich die Wissenschaft orientiert. Longtermism geht davon aus, dass die Welt im Jahr 2100 hoffentlich nicht aufhört und es auch danach noch Menschen geben wird. Longtermism fragt: Was geschieht im Jahr 3000, 30’000 oder 300’000’000?
An welchen Fragen forschen Sie konkret?
Für den Longtermism ist die wichtigste Frage: Wie können wir die Auslöschung der Menschheit verhindern? Das ist die offensichtlichste Art, wie wir die ferne Zukunft beeinflussen können. Es ist aber nicht die Einzige. Wenn man die Vergangenheit betrachtet, gibt es bestimmte Ereignisse der Menschheitsgeschichte, in denen einzelne Entscheidungen oder Strömungen sehr langfristige Auswirkungen hatten. Die Abschaffung der Sklaverei zum Beispiel war nicht offensichtlich, es hätte auch anders kommen können. Auch der Konfuzianismus in China oder der Vegetarismus in Indien hatten über Jahrtausende fundamentale Auswirkungen. Longtermism fragt sich in einem ersten Schritt, wie es zu
diesen Entscheidungen gekommen ist. Aber die Forschung zu Longtermism steckt noch in den Kinderschuhen. Das gilt erst recht für die Frage, wie man die ferne Zukunft positiv beeinflussen kann.
Ist Longtermism nicht eine weitere Ausrede, damit wir im Jetzt nicht handeln müssen?
Longtermism wurde von Philosophen entwickelt, die sich auf die Bekämpfung der extremen Armut in anderen Ländern fokussiert haben. Vor allem die beiden Leitfiguren der Bewegung, Will MacAskill und Toby Ord, sind sehr glaubwürdig. Als sie merkten, dass globale Armut bereits von vielen anderen behandelt wird, haben sie ein «anderes Land» entdeckt: die ferne Zukunft, um die sich fast niemand kümmert. Aber Longtermisten wissen sehr wohl, dass die Zukunft nur sehr bedingt beeinflusst werden kann. Wir versuchen hauptsächlich sicherzustellen, dass es eine Zukunft gibt.
Den Glauben daran haben viele Menschen angesichts der grossen Probleme etwas verloren.
Ein solcher Pessimismus ist meines Erachtens nicht evidenzbasiert. Wie man die Zukunft einschätzt, hängt stark von der Persönlichkeit ab. Nüchtern gesehen geht es seit einigen Jahrzehnten stark aufwärts mit der Menschheit. Gleichzeitig steigen die Extremrisiken für die Zukunft an. Aber auch die Longtermisten sind nicht nur nüchterne Menschen. Zum Beispiel scheint mir, dass sie eine lebendige Vorstellungskraft haben und stark von der Vision einer unglaublich fantastischen Zukunft angezogen sind – und genau deshalb auch so um die Risiken besorgt sind.
Kommen wir zum Tiefenlager. Was halten Sie grundsätzlich von der Idee, die atomaren Abfälle in einem solchen zu deponieren?
Für mich als Ethiker ist es schwierig, die Risiken abzuschätzen. Was ich sagen kann: Wir neigen dazu, Risiken nicht immer fair zu beurteilen. Risiken, die wir anderen aktiv auferlegen, gewichten wir stärker als bestehende Risiken, die wir passiv weiterbestehen lassen. Wenn ich eine Getränkedose auf dem Boden finde und sie nicht entsorge, finde ich das weniger schlimm, als wenn ich selbst eine Dose auf den Boden werfe.
Was hat das mit dem Endlager zu tun?
Wir hinterlassen den kommenden Generationen aktiv die atomaren Abfälle, das fühlt sich gewichtig an. Andere Risiken, die wir nicht aktiv schaffen, aber ebenso ernst sind, gewichten wir schwächer. Nehmen wir das Beispiel Armut, das weltweit Hunderte Millionen Menschen bedroht. Was ist einer der wichtigsten Faktoren, um der Armut zu entfliehen? Energie. Ohne Energie kann Armut nicht bekämpft werden –gleichzeitig beinhaltet jede Energieform ihre Risiken. Bei der Atomkraft sind die Endlager eines der Risiken, aber wir müssen sie im Gesamtkontext sehen. Wir müssen in Vergleichen zwischen Risiken denken, nicht auf die Grösse einzelner Risiken fokussieren.
Wäre das Problem gar nicht erst entstanden, wenn frühere Generationen longtermistisch gedacht hätten?
Das glaube ich nicht. Sogar für uns ist es schwierig, Tausende oder Hunderttausende von Jahren in die Zukunft zu denken. Für frühere Generationen war diese Herausforderung noch grösser. Hätten Sie zumindest ein bisschen mehr an die Zukunft denken können? Ja, vermutlich schon. Aber so weit in die Zukunft zu denken, ist ein Lernprozess. Der Klimawandel hat diesen Lernprozess deutlich angestossen. Nun müssen wir aber den nächsten Schritt machen und nicht wie beim Klimawandel nur ein Jahrhundert in die Zukunft denken, sondern tausend oder gar eine Million Jahre. Von daher mache ich den vergangenen Generationen kei-
nen Vorwurf, zumal es damals auch andere Risiken gab. Etwa die Energiearmut und fehlendes Wachstum.
Ist der Prozess, mit dem der Standort des Tiefenlagers bestimmt wird, fair?
Wir neigen manchmal dazu, nur die Verteilungsgerechtigkeit zu betrachten: sind Vor- und Nachteile gerecht verteilt? Es stellt sich aber auch die Frage der prozeduralen Gerechtigkeit. Sind die Entscheidungsprozesse zur Standortbestimmung für das Tiefenlager fair? Werden die Menschen in Stadel, und auch die aus dem Rest der Schweiz, genügend einbezogen?
Aber Verteilungsgerechtigkeit zählt schon auch – oder ist das eine einfache Frage?
Die Verteilungsgerechtigkeitsfrage wäre tatsächlich dann nicht so schwierig, wenn man alle Nachteile für die Menschen in Stadel einfach ausgleichen könnte. Bei gewissen Aspekten funktioniert das. Die gesunkenen Immobilienpreise und viele andere Nachteile kann man tatsächlich mit Geld kompensieren, aber eben nicht alle. Es gibt in Stadel tief verwurzelte Menschen, für die es nicht akzeptabel ist, neben einem Endlager zu leben. Manche würden sagen, dass man den Verlust der Heimat nicht mit Geld wettmachen kann.
Gewisse Stimmen behaupten, dass wir das Problem mit dem Tiefenlager gelöst haben und so weitermachen können wie bisher. Sehen Sie das auch so?
Es gibt noch zu viele offene Fragen. Können wir das Risiko verringern –und ist das Vorgehen risikoärmer als alle Alternativen? Ist ein Tiefenlager so risikoarm, dass es das Risikoprofil der Kernkraft ausreichend senkt? Und so weiter. Von einer «Lösung des Problems» kann man angesichts der offenen Fragen nicht sprechen.
Braucht die Menschheit einen radikalen Wandel, um diese Probleme wirklich lösen zu können?
Wir müssen auf jeden Fall unser Verhalten ändern. Aber ich bin skeptisch, ob wir uns als Menschheit radikal ändern können. Natürlich hat die Menschheit in gewissen Bereichen fundamentale Verhaltensänderungen geschafft – die Abschaffung der Sklaverei, der Umgang mit Tieren oder die Einstellung zu Homosexualität sind Bereiche, wo scheinbare Konstanten auf den Kopf gestellt wurden. Aber im Allgemeinen scheint es mir vielversprechender, wie wir aus der menschlichen Natur mit klugen Rahmenbedingungen das meiste herausholen können, statt auf eine radikale Änderung unseres Wesens zu hoffen.
Sie haben vorhin gesagt, dass gewisse Risiken nicht erkannt werden. Welche?
Zum Beispiel künstliche Pandemien. Es könnte bald sehr einfach sein, als kleine Gruppe von Menschen ein Virus herzustellen, das die Menschheit komplett auslöscht. Ein anderes unterschätztes Risiko ist Künstliche Intelligenz. Wenn wir die Kontrolle über sie verlieren, kann auch sie für die Auslöschung der Menschheit sorgen. Das wird oft als Science-Fiction abgetan, aber nicht nur die grossen KI-Firmen, sondern auch prominente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ohne finanzielle Interessen nehmen dieses Risiko sehr ernst.
Ist KI aus longtermistischer Sicht nicht auch interessant?
KI könnte eine der wenigen Anwendungen sein, mit der wir die ferne Zukunft auf vorhersagbare Art prägen können. Man muss der KI ja immer ein Ziel vorgeben, und diese Ziele werden jetzt gesetzt. Es ist daher nicht abwegig, dass unsere Generation via KI Jahrhunderte prägen wird.
«Die grossen Abwesenden in dieser Debatte sind die künftigen Generationen.»
Der Historiker Roman Köster (Seite 51) führte den Begriff «technologischer Lösungsoptimismus» ins Feld. Kann man ihn auch in Bezug auf KI anwenden?
Ich finde die Kategorien Optimismus und Pessimismus schwierig. Es ist trivial, dass Technologie viel Gutes und viel Schlechtes gebracht hat. Man wird schnell in die Schublade des Technologieoptimisten gesteckt, wenn man erwähnt, was die Technologie an Gutem gebracht hat. Und umgekehrt! Aber es ist schon so, dass im Longtermism grundsätzlich eine Wertschätzung für das enorme Potenzial des technologischen Fortschritts besteht. Da der Longtermism den Fokus auf existenzielle Risiken legt, hat die Bewegung aber auch eine äusserst technologiekritische Seite. Die grossen existenziellen Risiken kamen ja schliesslich erst mit dem technologischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte.
In Stadel findet ein demokratischer Prozess statt, bei dem alle angehört werden. Ist das wirklich das beste Vorgehen, um etwas zu bestimmen, das derart weit in die Zukunft wirkt?
Es ist gut möglich, dass es der am wenigsten schlechte Weg ist. Was sind schon die Alternativen? Die Frage ist, welches Gewicht die Menschen in Stadel haben sollen im Vergleich zur restlichen Schweiz. Die grossen Abwesenden in dieser Debatte sind die künftigen Generationen. Gemäss einer philosophischen Perspektive sollen alle, die von Gesetzen betroffen sind, auch mitbestimmen dürfen. Aber der Grossteil der Menschen, die von diesen Entscheiden betroffen sind, darf nicht mitreden. Nebst Kindern und Tieren sind es vor allem die künftigen Generationen, die von diesen Gesetzen viel stärker betroffen sind als wir. Das Endlager zeigt exemplarisch, dass Demokratie nicht alle Probleme lösen kann.
Wie wird diese Herausforderung andernorts gelöst?
In Ungarn gibt es einen Ombudsmann für künftige Generationen, in Finnland eine Kommission im Parlament. Andere plädieren für drei Kammern im Parlament: Nationalrat, Ständerat und eine Zukunftskammer, die künftige Generationen vertritt. Aber das sind letztlich alles Scheinlösungen, weil sie der Zukunft keine echte Stimme geben können. Wichtig ist, dass wir nicht einzig gemäss unseren eigenen Interessen abstimmen, sondern uns über die Interessen derer Gedanken machen, die nicht abstimmen können.
Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie im geplanten Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, was stünde auf Ihrem Zettel?
Eine Entschuldigung, dass wir unsere Psychologie nicht früher übertölpeln konnten, um uns mehr Gedanken über die ferne Zukunft zu machen. Und ein hoffnungsvoller Gruss, dass es gut herausgekommen ist.
Der Ökonom und Philosoph Dominic Roser ist Lehr- und Forschungsrat am Interdisziplinären Institut für Ethik und Menschenrechte an der Universität Freiburg. Einer seiner Schwerpunkte liegt auf Themen, die die ferne Zukunft betreffen.
IM GENERELLEN, OHNE BEZUG AUF EINE LÖSUNG FÜR DIE LAGERUNG VON RADIOAKTIVEN ABFÄLLEN: WIE STELLEN SIE SICH EINE LEBENSWERTE ZUKUNFT FÜR KÜNFTIGE GENERATIONEN VOR?
«Eine gesunde Welt im Einklang mit der Natur.»
Josef Rauchenstein
«Genug von allem für alle, sodass die Menschheit sich der Wissenschaft und Forschung zuwenden kann.» Bastian Jahnke
«Es braucht einen laufenden Dialog mit der Bevölkerung, regelmässige öffentliche Veranstaltungen und verständlich aufgebaute Bildungsprogramme für alle Generationen. Die Mitwirkung der Bevölkerung ist wichtig. All das schafft Vertrauen und Akzeptanz.» Vera Stiffler
«Eine Zukunft in Freiheit und wenn möglich in Frieden. Es braucht eine energiesichere Zukunft, möglichst unabhängig und selbstbestimmt, jeweils mit der neuesten Technologie.» Michael Kindt
«Vor allem wünsche ich mir für meine Kinder eine sichere Zukunft, gerade in der heutigen Zeit ist es so wichtig, dass sie sich auch was die Lagerung radioaktiver Abfälle betrifft, vor nichts fürchten müssen. Zudem steht die Gesundheit an erster Stelle.»
David Halter
«Wir müssen die Allgemeinheit dazu bringen, offen und faktenbasiert die Herausforderungen unserer Zeit lösungsorientiert anzugehen. Dies ist nur möglich, wenn wir alle Meinungsbildner (die politischen Parteien und deren Führung) mit Wissen über alle verschiedenen Lösungsmöglichkeiten informieren und intensiv einbeziehen, diese mit allgemein verständlichen Fakten zu vertreten. Wir müssen alles daransetzen, dass wir nur mit Fakten und nicht mit Glauben argumentieren, nur so können wir glaubhaft sein und gegen Ideologien, Irrglauben und Fakes Fortschritte erzielen. Die komplizierten aber wichtigen Zusammenhänge der Lösungen müssen möglichst einfach verständlich dargelegt werden können, so dass diese auch so weitergegeben werden.» Martin Strahm
Doris Leuthard «Es ist wichtig, dass man mit den Menschen spricht»
Als Bundesrätin hat Doris Leuthard Mut und Weitsicht bewiesen. Diese Eigenschaften braucht es nun auch, um das Projekt Tiefenlager erfolgreich zu gestalten – Leuthard hat dafür sogar einen Elevator Pitch.
Hannes Hug: Doris Leuthard, Sie sind ehemalige Bundesrätin –was ist eigentlich Ihre offizielle Anrede, wenn Sie in der Öffentlichkeit auftreten?
Doris Leuthard: Viele sagen Altbundesrätin, aber das finde ich komisch. Ich bin einfach Doris Leuthard. Ich lege keinen Wert auf Titel, auch wenn dieser zu meiner Vergangenheit gehört.
Wir sind hier in Stadel, wo das grösste Loch der Schweiz entstehen soll. Apropos Loch: Sind Sie nach Ihren zwölf Jahren als Bundesrätin in ein solches gefallen?
Es war schon eine grosse Veränderung. Man arbeitet bis zum letzten Tag und räumt dann das Büro. Das Einzige, was man behalten darf, ist das Handy. Dann muss man sich wieder selbst organisieren und sich neue Aufgaben suchen. Es ist eine Zeit, in der man sich überlegt, was man mit dem Rest seines Lebens anfangen will. Wo setze ich meine Fähigkeiten und Erfahrungen ein, was mache ich sicher nicht mehr?
Bundesrätin ist ein Posten mit viel Verantwortung, aber auch vielen Gestaltungsmöglichkeiten. Fehlt Ihnen das Gestalten, das für die ganze Gesellschaft Relevanz hat?
Gestalten ist etwas Schönes. Mittlerweile bin ich in der Privatwirtschaft, in Verwaltungs- und Stiftungsräten. Dort ist man weniger operativ tätig, dafür strategisch und beratend. Es ist eine andere Funktion, aber nach so vielen Jahren operativer Tätigkeit tut es gut, mit seiner Erfahrung für andere hilfreich zu sein. Aber das Gestalten hat mir schon sehr gefallen. Es dauert in der Politik zwar lange, bis die Prozesse ins Rollen kommen.
Aber als Bundesrätin kann man prägen und einen bestimmten Weg der Zukunft aufzeigen.
Wie kompensieren Sie das, was Ihnen von der Politik fehlt? Ich koche nun wieder mehr, was ja auch sehr operativ ist. Man muss Hobbys und Tätigkeiten finden, die einem Spass machen. Aber ich bin nun 61 Jahre alt und will gar nicht mehr so viel arbeiten, ich will anderes tun. Familie, Freunde, Hobbys, Privatleben, all das wird wichtiger.
Schauen wir zurück. Eines Ihrer grossen Themen beim UVEK war der Atomausstieg und die Entsorgungspolitik. Wo und wie soll man den Abfall entsorgen?
Als ich das UVEK von Moritz Leuenberger übernommen habe, war der Sachplan bereits beschlossen. Ich habe die Diskussion im Bundesrat schon vorher mitbekommen, es war damals bereits klar, dass wir ein Gestein suchen müssen, das hält. Wir waren überzeugt, dass ein Tiefenlager der richtige Weg ist. Anschliessend muss man offen sein und es der Wissenschaft überlassen, herauszufinden, wo dieses Gestein ist. Es gab bereits damals Stimmen, die forderten, das Endlager nahe den Kernkraftwerkstandorten zu bauen. Das wäre komplett falsch gewesen, da es ein politischer und kein wissenschaftlicher Entscheid gewesen wäre. Ich glaube, wir haben es nicht so schlecht gemacht. Wir haben damals den Weg der Wissenschaftlichkeit und der Sicherheit beschritten.
Wie muss man sich als Laie diesen Prozess vorstellen? Zuständig ist das Bundesamt für Energie, das grundsätzlich vorausdenken und Vorschläge machen muss. Zudem schauen sie in anderen Ländern, welche Möglichkeiten es gibt. Ich selbst war in Finnland, um mir selbst einen Eindruck zu verschaffen. Es ist wichtig, dass man mit den Menschen spricht, dass man mit eigenen Augen sieht, was es bedeutet. Das ist eine Vorbereitungszeit, die man sich nehmen muss. Dann gibt es auch viele Entscheide mit Kantonen und Betreibern. Es gibt viele Vorgespräche, bis man in eine Phase kommt, in der man im Bundesrat einen Auftrag abholt.
Gab es auch Momente des Zweifels? Entscheidend waren für mich die ersten Konferenzen, an denen man die Öffentlichkeit informiert hat, was die verschiedenen Etappen genau bedeuten. Wo man aber auch erfährt, was die Menschen denken, was ihnen Angst macht und welche Fragen sie haben. Dort merkt man schnell, ob der eingeschlagene Weg zur Sackgasse wird. Aber die Menschen verstehen, dass wir eine Verantwortung tragen und diese Abfälle nicht einfach ins Ausland verschiffen können. Sie verstehen auch, dass es gefährlich ist – aber weniger gefährlich als ein bestehendes Atomkraftwerk. Zudem haben wir mit dem Zwilag in Würenlingen eine Zwischenlösung, sind also nicht unter absolutem Zeitdruck.
«Wir
haben im Bundesrat auch in Sachen Tiefenlager den Weg der Wissenschaftlichkeit und der Sicherheit beschritten»
«Die Welt verändert sich, wir haben viele Gesetze, die nach Jahren wieder angeschaut und angepasst werden.»
Vor etwa zwei Jahren haben Sie gesagt, dass wir noch keine Lösung für ein Tiefenlager haben. Ist Stadel diese Lösung?
Die Untersuchungen der letzten Standorte haben ergeben, dass der Opalinuston ein sicheres Gestein ist. Auch die Abklärungen zu den Oberflächenanlagen sind so weit getroffen, dass man sagen kann: Wir haben einen Standort, der gegenüber den anderen sicherer ist. Von daher denke ich, dass sich die vielen Untersuchungen gelohnt haben. Und jetzt kommt der politische Prozess.
2011 geschah das Unglück von Fukushima. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Ich hatte an diesem Abend einen Auftritt in Luzern, als der Anruf kam. Dann ging es zurück nach Bern zur Lageanalyse. Man wusste noch nicht, wie schlimm es ist. Aber vom Unglück in Tschernobyl wussten wir, dass Europa relativ schnell betroffen sein wird. Wir nahmen Kontakt mit dem ENSI auf und bestimmten das weitere Vorgehen, gerade bezüglich Kommunikation. Man vergisst immer wieder, dass wir damals drei hängige Gesuche hatten. In dieser Situation haben wir uns intensiv mit der Frage befasst, ob wir ein oder zwei neue Kernkraftwerke wollen – oder gar keines. Es heisst immer, dass wir emotional reagiert haben, dabei waren wir sehr technisch unterwegs.
Hat das Unglück den Prozess beschleunigt oder verändert?
Mein Eindruck war, dass wir ohne das Unglück ein neues Kernkraftwerk gebaut hätten. Wir wussten, dass Mühleberg bezüglich Alter und Sicherheit ein Auslaufmodell war. Wir wussten, wir benötigen mehr Strom, die Klimadiskussionen standen damals ja erst am Anfang. Wir hatten auch nicht das Bevölkerungswachstum von heute. Aber es gab andere Faktoren, etwa die Mobilität, die klar machten, dass wir mehr Strom benötigen. Darum dachten wir, dass ein Kernkraftwerk, etwa in der Grösse von Leibstadt, realistisch ist. Doch dann hat sich Vieles verändert.
War Ihnen gleich klar, dass man jetzt handeln muss?
Zuerst haben wir die Gesuche sistiert, weil wir Zeit benötigten. Als wir dann die Resultate und Berechnungen des Bundesamts für Energie und der ETH erhalten haben, sahen wir, dass es technisch machbar ist, die bestehenden Kernkraftwerke so lange wie möglich laufen zu lassen. So sichern wir unsere Grundversorgung, aber wir werden kein neues KKW bauen, das wurde mir relativ schnell klar. Dass die Klimapolitik viel wichtiger wurde, hat ebenfalls mit reingespielt.
Aktuell gibt es die Diskussion, ob neue Atomkraftwerke gesetzlich zugelassen werden sollen. Was geht Ihnen da durch den Kopf? Grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass man in einer Demokratie alle Entscheide immer wieder hinterfragen darf. Die Welt verändert sich, wir haben viele Gesetze, die nach Jahren wieder angeschaut und angepasst werden. In diesem Fall fehlen mir die Fakten. Wenn man so etwas neu aufgleisen würde, interessiert mich schon, was der Preis für ein neues Kernkraftwerk ist. Zudem haben die Betreiber relativ klar gesagt, dass sie keine neuen Kernkraftwerke finanzieren, weil es nicht profitabel ist. Wenn die Wirtschaft sagt, dass es nicht profitabel ist, muss sich die Politik gut überlegen, ob sie eine Energiepolitik machen will, die staatliche Gelder benötigt. Hier sind noch viele Fragen offen. Unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit verstehe ich, dass Unternehmen und Haus-
halte eine Strommangellage fürchten. Aber es gibt ja noch Speichertechnologien, die am Entstehen sind. Das kann in den nächsten paar Jahren realisiert werden – viel schneller als nur schon ein Baugesuch für ein neues Kernkraftwerk. Dann wäre das Winterproblem zu einem grossen Teil gelöst. Dazu kommt das Stromabkommen mit der EU, das sehr komplementär ist. Im Sommer nehmen sie uns Strom ab, im Winter sind sie froh, wenn sie uns beliefern können. Das ist, bei einer Markt- und Preisbetrachtung, etwas Sinnvolles.
Schauen wir in die Zukunft: Was wäre für Sie eine wünschenswerte Energiepolitik?
Wenn man Klimapolitik ernst nehmen will, führt kein Weg an den erneuerbaren Energien vorbei. Die Schweiz hatte einen hervorragenden Start in dieses Zeitalter. Unsere Energie ist zwar immer noch sehr fossil, gerade in der Mobilität und der Industrie. Aber es gibt viele technologische Möglichkeiten, wir sind ein Land der Innovation. Ohne Vernetzung geht es nicht, niemand ist autark. Bei jeder Energiequelle muss man Kooperationen und Partnerschaften eingehen. Die Bevölkerung wiederum muss akzeptieren, dass man nicht den Fünfer und das Weggli haben kann. Man kann nicht KKWs, Gas und fossile Treibstoffe ablehnen, dann bleiben nicht mehr viele Quellen. Auch jene, die sich gegen jedes Windrad wehren – am Schluss geht es nicht auf. Ohne vernünftige Eingriffe in die Natur wird es nicht gehen.
Wie nehmen Sie diese Diskussion wahr? Gehört das einfach dazu? Zu einem gewissen Grad gehört das zur Politik, wird aber schon sehr schnell ideologisch. Wir waren damals stärker faktenbasiert und weniger polarisierend. Es ist aber auch komplex: Viele reden von Energie, meinen aber Strom. Gerne vergessen wird auch die grosse Rolle des Stromnetzes, zudem ist der Strompreis nicht immer ein Marktpreis. Es ist ein komplexes Thema, darum braucht es Experten, die sich einbringen. Sonst kommt es zu Bauchentscheiden, die nicht faktenbasiert sind.
Sie gelten als «Gotte der Energiewende». Sind Sie zufrieden mit deren Entwicklung oder sollte es schneller gehen?
Es dauert schon recht lange. Auch die Photovoltaik hat lange gebraucht, bis sie einen grossen Schritt machen konnte. Wir wollten damals auch nicht zu stark subventionieren. Zudem war der Strom bisher auch immer sehr günstig, sodass Haushalte keinen Sparanreiz hatten. Wir hätten damals gern das holländische Modell eingeführt, bei dem der Stromzähler rückwärtsläuft, wenn man Strom spart oder reduziert. Eine simple Massnahme, die wenig Administration benötigt und einen guten Sparanreiz liefert. Doch dazu hätten wir mit allen Energiewerken der Schweiz einig werden und in den föderalistischen Aufbau eingreifen müssen. Wir haben schnell gemerkt, dass das nicht möglich ist. Aber ich halte es heute noch für das beste Modell, weil jeder die Stromkosten durch sein eigenes Verhalten beeinflussen kann.
Der Politologe Michael Hermann sagt, Sie waren bekannt für mutige Entscheidungen. Auch bei Atomenergie und Entsorgung, die eine grosse Tragweite haben. Was hat Sie dazu gebracht, solche Entscheidungen zu fällen?
Wenn man als Regierung nur verwaltet und alles herausschiebt, macht man seinen Job nicht richtig. Dann greifen Parlament und Lobbyisten umso stärker in die Gesetzgebung ein, geben mit Vorstössen eine Richtung vor. Natürlich muss man mit dem Parlament in eine Debatte treten, aber die Orientierung muss von der Regierung kommen. Das wird auch von der Bevölkerung erwartet, ob es nun um Energie, AHV, Steuern oder das Gesundheitswesen geht.
Dass Sie Entscheidungen schnell getroffen haben, kann für die Bevölkerung auch überfordernd sein. Können Sie das verstehen? Ich habe mir immer Mühe gegeben, so zu sprechen, dass ich verstanden werde. Möglichst wenige Abkürzungen und Fremdwörter, Komplexität herunterbrechen und verständlich kommunizieren. Dazu gehört auch, dass man häufig auftritt und Fragen beantwortet. Darum ist die Phase der Vernehmlassungen und Abstimmungskämpfe so wichtig: Man muss Farbe bekennen und verständlich erklären – eine Vorlage sollte man innert dreissig Sekunden verständlich rüberbringen. Ich habe mich bemüht, aber es ist mir sicher nicht immer gelungen. Aber wenn man sich über Jahre mit einem Thema befasst, weiss man schon relativ viel, wenn es zur Abstimmung kommt.
Die dreissig Sekunden erinnern mich an einen Elevator Pitch. Wie lautet Ihr Elevator Pitch für das Tiefenlager in Stadel? Nuklearer Abfall ist gefährlich. Nicht ein Jahr, sondern Hunderte von Jahren. Aus diesem Grund hat man lange geforscht, was das beste Gestein ist für den Standort. Man hat ihn gefunden in Stadel. Ein sicherer Standort für alle.
Was war die letzte mutige Entscheidung, die Sie getroffen haben? Oder die nächste mutige Entscheidung, die Sie treffen werden? Im Vergleich zu früher sind alles nur kleine Entscheidungen. Momentan überlege ich mir oft, wie ich in zehn Jahren leben werde. Mache ich nochmals eine WG und verlasse meine Komfortzone? Zurück zu einem bescheideneren und gemeinsamen Leben? Zuletzt sind Menschen und Freundschaften das Wichtigste.
Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie im geplanten Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, was stünde auf Ihrem Zettel? Ich hoffe, das ist das erste und letzte Tiefenlager, das wir bauen mussten.
Die Juristin Doris Leuthard wurde 1999 in den Nationalrat gewählt, zwischen 2006 und 2018 war sie Mitglied des Bundesrats, der 2011 den Atomausstieg beschlossen hat. Sie übernahm dabei als Leiterin des Departements für Umwelt (UVEK), Verkehr, Energie und Kommunikation eine führende Rolle. Seit ihrem Rücktritt ist Leuthard als Stiftungs- und Verwaltungsrätin tätig.
IM GENERELLEN, OHNE BEZUG AUF EINE LÖSUNG FÜR DIE LAGERUNG VON RADIOAKTIVEN ABFÄLLEN: WIE STELLEN SIE SICH EINE LEBENSWERTE ZUKUNFT FÜR KÜNFTIGE GENERATIONEN VOR?
«Derzeit übernutzen wir unsere Erde immer rasanter und wollen uns nicht einschränken. Auch in der Schweiz wird der Boden und das Grundwasser immer noch sukzessive mit neuen Chemikalien, Nanopartikeln und sonstigen Rückständen verschmutzt und die Verbauung der Oberfläche verlangsamt sich nicht wirklich. Wenn wir uns nicht besinnen, muss man sich schon fragen, ob wir in ferner Zukunft auf einem Planeten leben werden, der, wie in manch Science-Fiction-Filmen dargestellt, einer vergifteten Wüste mit ein paar grünen Inseln gleichsieht. Noch haben wir aber Zeit und man sieht ja auch Bemühungen. Z.B. haben wir es geschafft, das Ozon-Loch mit drastischen und zügigen Massnahmen weltweit wieder einzudämmen. Es muss aber halt immer erst wirklich dringlich sein und der Schaden grösser als der Nutzen. Ich wünsche meinen Urururenkeln, dass wir rasch und zielstrebig etwas unternehmen und uns besinnen, dass wir nicht nur an uns und unseren Komfort denken, sondern auch an die zukünftigen Generationen, damit diese auch noch bedenkenlos Wasser aus einer Quelle trinken können, in heilen und vielfältigen Wäldern mit Tieren und Blumen spazieren
gehen können, im Sommer in den Flüssen bedenkenlos baden und abkühlen können oder sich noch an einem Gletscher in der Schweiz erfreuen können. Für den Erhalt unserer Natur und das Wohlergehen unserer Nachkömmlinge sollten wir uns einschränken, nicht immer noch mehr wollen und noch grösser denken.» Andreas Ebert
«Eine lebenswerte Zukunft erfordert nicht nur technische Lösungen wie Tiefenlager, sondern ein grundlegendes Umdenken in Bezug auf unseren Umgang mit Ressourcen und Energie. Wir müssen proaktiv alternative, nachhaltige Wege finden und die Ursachen von Umweltproblemen angehen, statt sie nur zu verwalten.» Angela Menyhart
«Eine lebenswerte Zukunft für kommende Generationen stelle ich mir als eine Welt vor, die auf Nachhaltigkeit, Gleichheit und Respekt für Mensch und Natur basiert.» Larissa Pfister
Roman Köster «Ob wir dem Atommüll gewachsen sind, ist schwierig zu sagen»
Wo Menschen, da Müll – aber nie zuvor war er derart langlebig und gefährlich. Doch der Historiker und Buchautor Roman Köster ist überzeugt, dass ein Blick in die Geschichte uns hilft, einen besseren Umgang mit atomaren Abfällen zu entwickeln.
Hannes Hug: Roman Köster, Sie sind Historiker und haben über die Müllwirtschaft im Nachkriegsdeutschland habilitiert. Wie kamen Sie auf das Thema?
Roman Köster: Wie es so oft im Leben ist: Man sucht nicht die Themen, sondern die Themen suchen einen. Ich hatte eine Doktorarbeit geschrieben über die Geschichte des ökonomischen Denkens in den 1920er-Jahren. Als ich einen Job gesucht habe, bin ich in einem Projekt zur britisch-deutschen Müllgeschichte an der Universität Glasgow gelandet. Die Begeisterung hat sich anfangs in Grenzen gehalten.
Sie waren nicht gleich Feuer und Flamme für das Thema?
Ich dachte nicht: Roman, das ist der Lottogewinn deines Lebens. Aber dann fängt man an, sich mit dem Thema zu beschäftigen und lernt nach und nach, wie interessant es eigentlich ist. Es sagt viel über Gesellschaften aus, was sie als unwert, schmutzig oder gefährlich definieren. Seitdem beschäftigt mich das Thema.
Wir sind in Stadel, wo dereinst ein Tiefenlager entstehen soll, in dem der langlebigste Müll überhaupt eingeschlossen wird. Sind wir dem gewachsen?
Die Langlebigkeit ist gerade für die Müllgeschichte ein wichtiges Thema. Im 19. Jahrhundert wurde praktisch jeder Müll, abgesehen von Metall und Keramik, zu Kompost. Nach dem Zweiten Weltkrieg stiegen
die Müllmengen stark an, der Müll wurde komplexer und langlebiger. Plastik beispielsweise braucht im Meer 100 bis 1000 Jahre, bis er sich zersetzt. Das ist für unsere Lebensspanne eigentlich schon viel zu lange. Beim Atommüll multipliziert sich das nochmals um viele Male. Ob wir dem gewachsen sind, ist schwierig zu beantworten.
Welche Erkenntnisse aus der Müll-Mensch-Geschichte können dienlich sein, um dem Thema Atommüll zu begegnen?
Dass man Lernprozesse einbezieht – vieles von dem, was man früher gemacht hat, macht man heute anders. Aber wenn wir das wirklich konsequent tun würden, dürften wir gar keine Entscheidungen mehr treffen. Dann müssten wir noch mindestens 100, 1000 oder 100’000 Jahre warten, bevor wir mit dem Atommüll gut umgehen können, aber das geht natürlich nicht. Man muss also ehrlich kommunizieren, dass die bisherigen Lösungen irgendwann nicht mehr State of the Art sind. Es ist daher sinnvoll, Lösungen zu finden, die adaptierbar und anpassbar sind. Das ist bei einem Tiefenlager, wo der Müll sehr tief unter die Erde kommt, vergleichsweise schwierig.
In Ihrem Buch erwähnen Sie in einem anderen Zusammenhang den Begriff «technologischer Lösungsoptimismus». Wie ist er zu verstehen?
Technologischer Lösungsoptimismus kann verschiedene Dinge bedeuten. Zum Beispiel die Einstellung der Abfallpraktiker in den 1960er-Jahren: Wenn wir eine gute Deponie oder Verbrennungsanlage bauen, lösen wir das Problem. Die waren in der glücklichen Lage, durchregieren zu können, die Bürger hatten nicht mitzureden. In den 1970er-Jahren wurden sie gezwungen, mit ihnen zu diskutieren, weil sie Bürgerinitiativen gründeten und gegen neue Verbrennungsanlagen protestierten. Auf diese Art eigneten sie sich mit der Zeit eine beachtenswerte Expertise an, dennoch bezogen sie sich stark auf den Punkt des Nichtwissens. Die technologischen Lösungsoptimisten in den Stadtreinigungsämtern und den Innenministerien sagten: Wir machen diese Anlage und die ist nicht gefährlich.
Im Sinne von: Was wollt Ihr noch mehr?
Genau. Diese Bürgerinitiativen sagten nicht, diese Anlagen sind gefährlich. Sie sagten: Wir wissen nicht, wie gefährlich sie sind. Bei einer Müllverbrennungsanlage zum Beispiel kommen geschätzt 500’000 chemische Verbindungen aus dem Schornstein und 10’000 davon kennen wir – 490’000 Verbindungen sind unbekannt! Dieses Nichtwissensargument prägt diese Debatten sehr stark. Es bedeutet für die Obrigkeit, dass sie nicht mehr einfach so tun kann, als gäbe es die Bürger nicht. Sie muss sie einbeziehen und die Entscheidungsprozesse demokratisch gestalten, gerade weil keine endgültige Aussage über die Sicherheit getroffen werden kann.
Woher rührt eigentlich der Wunsch, dass der Müll ein für alle Mal weg ist? Sie sagen ja, er kommt immer wieder zurück. Ist das hier auch der Fall?
Dass der Müll zurückkommt, ist eine moderne Erfahrung. Der Müll im 19. Jahrhundert kam höchstens als Blumenerde zurück. Das ist das Neue bei dem sehr komplexen Müll, den wir seit dem Zweiten Weltkrieg haben. Er verschwindet nicht einfach, sondern findet vielfältige Wege, in unseren Alltag zurückzukommen. Wir können Plastikmüll nach Asien exportieren, dann landet er im Meer und plötzlich taucht er in unserer Nahrungskette als Mikroplastik wieder auf. Es ist gewissermassen eine freudianische Interpretation der Konsumgesellschaft: Man kann den Müll wegdrängen, aber wie das Unbewusste kommt er wieder zurück.
Das würde heissen, dass es früher einfacher und «besser» war. Etwa Holz, das man verbrannt oder auf einer Wiese zersetzt hat. Heute ist Holz mit Lack oder Ähnlichem behandelt. Holz ist mit Lack behandelt, aber nicht aus Jux und Tollerei, sondern weil es andere Funktionalitäten erfüllt. Unsere Gesellschaft ist in den letzten hundert Jahren materiell um ein Vielfaches komplexer geworden. Es werden immer mehr Elemente, die früher als Kuriositäten des Periodensystems galten, bei immer höheren Temperaturen in immer komplexeren Konstellationen verarbeitet. Eine Käseverpackung zum Beispiel ist nicht eine Plastikfolie, es sind fünf miteinander verschweisste Folien aus unterschiedlichem Plastik. Das macht es unglaublich schwer, Plastik in Produktlebenszyklen zurückzuführen. Der Müll wird dadurch viel langfristiger und immer unkontrollierbarer. Der Atommüll steigert das ins Extreme.
Was raten Sie uns, um Müll besser zu verstehen?
Zunächst sollte man sich klarmachen, dass Müll untrennbar zusammenhängt mit der Art, wie wir unseren Alltag gestalten. Massenproduktion ist überall auf Verpackungen angewiesen. Gleichzeitig wird viel zu viel produziert, damit die Supermärkte immer voll sind. Wollten wir das System ändern und weniger Müll produzieren, müssten wir – zumindest beim jetzigen Stand der Technik – auf diese Form der Massenproduktion verzichten.
Ich möchte etwas zurückgehen in der Geschichte des Mülls oder eben in der «schmutzigen Geschichte der Menschheit», wie Ihr Buch heisst. Sie sagen, Müll wurde erst mit der Sesshaftigkeit der Menschen zum Thema. Müll wurde schon immer produziert, bereits die Neandertaler haben ihre Höhlen vollgemüllt. Für mich beginnt die Müllgeschichte, als die Menschen ihre Hütten nicht mehr verlassen haben. Ab da mussten sie mit dem Müll umgehen. Auch bei Gesellschaften, die wenig Müll produzieren, wird es irgendwann zu viel. Er wird sichtbar, riechbar, spürbar. Der organische Abfall von früher, bei dem Fäkalien immer dazugehörten, hatte die unangenehme Eigenschaft, Ungeziefer und Ratten anzuziehen. Man kann bereits für Siedlungen 10’000 v. Chr. zeigen, dass sie den Abfall aus dem Haus gebracht und auf einen Haufen aufgeschichtet haben.
So wie ich Sie verstanden habe, herrschte damals die Meinung vor, dass uns Dämpfe und Gase krank machen. Was können Sie zur sogenannten Miasmentheorie sagen?
Die Miasmentheorie geht auf die griechische Medizin zurück und besagt, dass Krankheiten nicht zuletzt durch die Ausdünstungen des Bodens entstehen. Zum Beispiel Cholera, eine Krankheit, die sehr schnell und sehr hässlich tötet. Auch wenn die Miasmentheorie wissenschaftlich nicht korrekt ist, schaffte sie einen Diskurs, der viele Dinge verbessert hat. Strassen wurden gepflastert, Kanalisationen gebaut. Alles Infrastrukturen, die aufgrund einer falschen Theorie gebaut wurden, aber trotzdem dazu beitrugen, Cholera zu bekämpfen.
Wenn man Ihr Buch liest, kommt man zur Ansicht, dass wir Menschen eine komische Spezies sind, die alles kaputtmacht. Wie bleiben Sie dennoch gutgelaunt?
Ich bin eigentlich ein heiterer Mensch, aber man muss schon feststellen: Die Müllmengen steigen und die Prognosen sind nicht besonders euphorisierend. Die Weltbank schätzt, dass es 2050 nochmals 70 Prozent mehr als heute sein werden. Insofern kämpfen Optimismus und Pessimismus fortwährend miteinander.
«Es ist sinnvoll, Lösungen zu finden, die adaptierbar und anpassbar sind. Das ist bei einem Tiefenlager, wo der Müll sehr tief unter die Erde kommt, vergleichsweise schwierig.»
Dazu kommt, dass der anfallende Müll immer komplexer wird.
Allerdings gibt es mittlerweile ein riesiges Forschungsfeld, das sich damit beschäftigt, bessere Lösungen für Plastik zu finden. Und für viele Probleme gibt es ja tatsächlich technische Lösungen. Ich glaube aber nicht, dass die Technik allein uns aus der Misere helfen wird. Man kann nicht sagen: Wir müssen gar nichts tun, die Ingenieure werden uns schon retten.
Die Ingenieure werden sagen: Die Historiker werden uns bestimmt nicht retten.
Historiker retten sowieso niemanden. Wir können historische Problemlagen in einer bestimmten Dichte und Tiefendimension analysieren. Diese Tiefe der Analyse kann etwas zur Debatte beitragen – aber Lösungen möge man von uns bitte keine erwarten.
Letzte Frage: Wenn Sie im geplanten Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, was stünde auf Ihrem Zettel? Ich hoffe, es ist gut gegangen.
Roman Köster ist Privatdozent an der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Die Forschungsergebnisse seines Spezialgebiets hat der Historiker im Buch «Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit» (C. H. Beck, 2023) veröffentlicht.
IM GENERELLEN, OHNE BEZUG AUF EINE LÖSUNG FÜR DIE LAGERUNG VON RADIOAKTIVEN ABFÄLLEN: WIE STELLEN SIE SICH EINE LEBENSWERTE ZUKUNFT FÜR KÜNFTIGE GENERATIONEN VOR?
«Eine nachhaltige Energieversorgung unserer Gesellschaft und weltweit, welche den ständig wachsenden Bedarf decken kann. Sei es Kernspaltung, Kernfusion oder effiziente Wind-, Solar-, Wasserenergie: auch die Abfälle müssen langfristig sicher entsorgt werden.» Cynthia Stampfli
«Zufriedenheit und eine Schweiz, die auch in Zukunft ein sicherer und grundsatzdemokratischer Ort ist, auf den sich die Schweizer verlassen können.» René Leuenberger
«Eine lebenswerte Zukunft für künftige Generationen bedeutet, heute die Weichen für Nachhaltigkeit und sozialen Ausgleich zu stellen, damit kommende Generationen sicher und gesund leben können.»
Claudia Widmer
«Eine lebenswerte Zukunft basiert auf einem tiefen Verständnis der natürlichen Systeme und deren nachhaltiger Nutzung.» Silvia Karlen
«Es wäre wirklich lebenswert, wenn man sich nicht darum kümmern müsste, die Altlasten der vorigen Generationen zu beseitigen. Dies nicht nur in Bezug auf (Atom-)Müll. Auch Konflikte jeglicher Art werden einfach den Nachkommen überlassen. Es wäre schön, zu wissen, dass unsere Kinder sich nicht um unsere Probleme zu kümmern haben.» Fabrice Scherwey
«Ich wünsche mir eine lösungsorientierte Politik, welche auch die Forschung und das Betreiben von zukünftigen AKWs zulässt ��.» Hans Jörg Kunz
«Ein gut kontrolliertes System gibt mir die notwendige Sicherheit, um noch 2–3 neue moderne KKWs zu fordern, die in den nächsten 10 Jahren errichtet werden müssen, denn jedes Jahr, das wir zuwarten, verteuert die Kosten immens … wir benötigen diese 2–3 KKWs, um die erneuerbaren Wind- und Sonnensysteme zu ersetzen, wenn deren altersbedingter Rückbau ansteht … So wird für uns eine problemlose Stromversorgung gewährleistet, bis 2050 benötigen wir sehr viel mehr Strom …» Beat Esseiva
Anna Deplazes Zemp «Ethik sollte handfest sein»
Wie vertritt man die Interessen von Menschen, die in hundert oder tausend Jahren geboren werden? Das ist eine von zahlreichen Fragen, mit denen sich Ethikerin Anna Deplazes Zemp beschäftigt. Ein Gespräch über Verantwortung, Solidarität – und einen besseren Umgang mit der Natur.
Hannes Hug: Anna Deplazes Zemp, Sie haben Molekularbiologie studiert, in Biochemie promoviert und sind dann mit einem zweiten Studium in die Philosophie gewechselt, Schwerpunkt Ethik. Seit 2016 sind Sie Mitglied des Beirats Entsorgung, der das UVEK bei der Standortsuche berät. Was ist der Zusammenhang zwischen Ethik und einem Tiefenlager?
Anna Deplazes Zemp: Ein Tiefenlager ist ein Projekt im Kontext von Technik – und Technik hat immer mit Ethik zu tun. Das Tiefenlager ist aus ethischer Perspektive besonders spannend, weil es im Gegensatz zu vielen anderen technischen Projekten nicht nur um Nutzenmaximierung geht. Wir wollen nicht möglichst viel herausholen, sondern den Schaden minimieren. Diesen Abfall gibt es, jetzt muss er irgendwo hin. Das andere ist die zeitliche Dimension. Es ist ein Projekt, das nicht nur uns, sondern auch zukünftige Generationen betrifft. Darum reicht es nicht, dass man alle fragt, ob sie einverstanden sind. Man muss so vorgehen, dass auch künftige Generationen dieses Projekt nachvollziehen können.
Wie definiert man die ethischen Richtlinien? Man könnte auch sagen, es ist ungerecht, wenn ein Ort alles übernehmen muss – und alle anderen nichts.
Dass jeder bei sich im Keller eine Konservendose mit radioaktivem Abfall lagert, würde niemand befürworten. Man muss Wege finden, das Ungleiche gerecht zu gestalten. Ein mögliches Vorgehen ist die prozedurale Gerechtigkeit, bei der man sich darauf einigt, wie man die Entscheidung trifft – bevor man weiss, wie die Entscheidung aussieht. In diesem Fall wird die ganze Schweiz einbezogen und man einigt sich, wie wir den Ort des Tiefenlagers bestimmen. Wenn alle dieses Prozedere grundsätzlich unterstützen, ist die Entscheidung gerecht.
Wie könnte man die Menschen in Stadel dafür abgelten? Sicher ist, dass die Region für die Aufgabe, die sie übernimmt, Anerkennung erhalten muss, und zwar auf unterschiedliche Arten. Ich finde, der Rest der Schweiz müsste mehr über dieses Projekt wissen. Man ist sich vielerorts nicht bewusst, was die Region für uns alle übernimmt. Die Diskussion bezüglich Abgeltung besteht, aber man darf nicht vergessen, dass es nicht nur um die Bewohner von heute geht, sondern um viele künftige Generationen. Das kann man nicht allein über Geld für die heutige Generation lösen. Gemäss Umfragen wird in der Region akzeptiert, dass sie die geeignetste Region ist. Es ist eine Solidarität, die man positiv anerkennen muss. Das ist mindestens so wichtig wie das Finanzielle. Aber auch finanzielle Abgeltungen müssen so eingesetzt werden, dass mehrere Generationen profitieren können.
1993 ergab eine Evaluation zu einem Standort in Wolfenschiessen, dass die Zustimmung bei über 50 Prozent liegt. Der Ökonom Bruno S. Frey fragte in einer späteren Untersuchung, wie es aussieht, wenn die Region finanziell abgegolten wird – die Zustimmung sank um die Hälfte. Das ist nun 30 Jahre her, sähe es heute ähnlich aus? Das würde ich erwarten, ja. Die Umfragen zeigen, dass ein Grossteil der Bevölkerung diese Aufgabe als eine grosse Verantwortung wahrnimmt, die jemand übernehmen muss, und die man bereit ist, zu übernehmen. Sobald eine Kompensation ins Spiel kommt, hat man das Gefühl, dass man es ablehnen kann. Es ist dann keine Frage der Verantwortung und der Solidarität. Abgeltungen sollen nicht eine Kompensation für eine Leistung sein, sondern eine Anerkennung.
Sie meinten vorhin, dass diese Anerkennung in der Schweiz noch nicht ausreichend besteht. Hat das Thema angesichts der anderen grossen Probleme an Brisanz verloren? Spielt auch der lange zeitliche Horizont eine Rolle?
Durchaus, es ist ja nicht etwas, das heute oder morgen geschieht. Vielleicht ist ein Grund auch, dass es so gut läuft. Es gibt wenige Konflikte und Kontroversen, also hat man es in der nicht direkt betroffenen Schweiz weniger auf dem Radar.
Sie sind aber kaum unglücklich, dass es so gut läuft.
Im Gegenteil. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie weit man Laien mit konkreten technischen Fragen in ein partizipatives Verfahren einbinden kann.
Je breiter etwas abgestützt ist, desto wertvoller ist es aus ethischer Sicht?
Auf jeden Fall, da sich die Legitimation erhöht. In akademisch-technischen Diskussionen hat man oft das Gefühl, viele Themen seien für Laien zu kompliziert. Ich bin sehr beeindruckt, auf welchem technischen Niveau an den Regionalkonferenzen diskutiert und argumentiert wird. So wird der Entscheidungsprozess für die Betroffenen nachvollziehbar und transparent. Hilfreich ist sicher auch, dass man sich viel Zeit nehmen kann, was bei Entscheidungen häufig nicht der Fall ist.
Ist es auch ein Beispiel für handfeste Ethik? Es geht nicht um abstrakte Fragen, sondern um etwas, das den Alltag der Menschen betrifft.
Ich finde, dass Ethik handfest sein sollte. Wir sollten uns mit Fragen und Entscheidungen beschäftigen, die den Alltag betreffen. Die Idee der prozeduralen Gerechtigkeit, dass man alle einbeziehen muss, gibt es schon lange. Das Tiefenlager ist ein schönes Beispiel, wie man theoretische Ideen in die Praxis umsetzen kann.
Können aus diesem Prozess Lehren gezogen werden, die auch in anderen Bereichen hilfreich sind?
Was man sicher lernen könnte: Bevor man Abfall produziert, sollte man wissen, wie man ihn entsorgt. Und dass jene, die den Abfall produzieren, die Verantwortung übernehmen müssen, und diese Aufgabe nicht an zukünftige Generationen weiterreichen mit der Begründung, dass die Technologie in fünfzig oder hundert Jahren noch besser sein wird. Jemand muss sich des Themas heute annehmen. Einerseits, weil wir den Abfall verursacht haben, und andererseits, weil wir nicht wissen, ob zukünftige Generationen noch in genügend Wohlstand leben, um sich ein langfristig sicheres Lager leisten zu können.
In Ihrem Forschungsprojekt «People’s Place in Nature» kommt zum Ausdruck, dass die Natur nicht einfach unsere Ressource ist. Wir sind Teil von ihr und formen sie. Wie sieht es aus im Kontext des Tiefenlagers?
Wenn die Natur nur als Ressource betrachtet wird, kommt es zu Problemen. Das haben wir mittlerweile in verschiedenen Kontexten gelernt, nicht zuletzt bei der Atomenergie. Besser ist es, den Menschen als Teil der Natur zu sehen und ihm eine Rolle zuzuteilen. Angesichts der wachsenden Weltbevölkerung ist diese eine grosse Herausforderung. Die Idee unseres Forschungsprojekts ist es, zum Vorausdenken zu animieren. Auch bei der Nutzung der Energie. Man findet zwar neue Quellen, aber vielleicht sollte man den Energiekonsum grundsätzlich hinterfragen, und Möglichkeiten finden, ihn zu reduzieren oder zumindest nicht konstant zu erhöhen.
Wie bringen Sie dies jemandem näher, der stark von der Natur entkoppelt lebt?
Hier besteht die Gefahr, dass es zu einer Romantisierung der Natur und damit zu Stadt-Land-Konflikten kommt. Leute aus Städten sehen schöne Bilder, erleben die Natur selbst aber nicht. Menschen sollten die Möglichkeit einer echten Naturbeziehung haben, wo Natur zwischendurch auch mal beisst und kratzt. Mal ist es kalt, mal nass, vielleicht sogar riskant. Die Natur respektieren heisst auch, ihre Gefahren zu akzeptieren.
Man muss also die Ambivalenz der Natur aushalten und sich als Teil der Natur begreifen.
Genau. Man muss aber auch akzeptieren, dass diese Beziehung nicht überall dieselbe ist. In gewissen Kontexten darf und muss der Mensch die Natur kontrollieren, aber nicht überall. In meinem Haus will ich keine Ameisenstrasse, darum bekämpfe ich sie. Aber im Garten kontrolliere ich weniger, dort lasse ich den Ameisenhaufen, selbst wenn er etwas stört. Im Wald habe ich sogar grosse Freude, wenn ich einen sehe. Das ist nicht widersprüchlich. Es sind verschiedene Stufen einer differenzierten Beziehung. Ich bin nicht überall der Chef in der Natur, aber an bestimmten Orten – etwa im Haus– ist es mir wichtig, dort bestimme ich. In meinem umweltethischen Ansatz darf das auch sein.
Das Gesetz schreibt die sogenannte Rückholbarkeit von radioaktivem Abfall vor. Es gibt eine Beobachtungsphase von fünfzig Jahren, bevor man das Tiefenlager wirklich schliesst. Fusst diese Vorgabe auf der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen? Es ist sicher vereinbar damit. Aber die Vorgabe könnte auch rein effizienzbasiert begründet sein, es ist ja möglich, dass man den Abfall in fünfzig Jahren mit einer Technologie weiterverwerten kann. Dann wäre die Rückholbarkeit auch aus einer reinen Nutzenüberlegung sinnvoll. Aus ethischer Perspektive ist die Idee der Rückholbarkeit aber auch wichtig,
«Wir übernehmen Verantwortung für die Jahre vor uns. Solidarität hat nicht nur eine geografische Dimension, sondern auch eine zeitliche.»
damit mehr Generationen mitentscheiden können, wie man mit dem Tiefenlager umgeht und die Entscheidung somit breiter legitimiert ist.
Sie müssen es vermutlich auch.
Ja, die Idee dieser Phase ist es ja auch, das Lager zu «beobachten» und zu überwachen. Auch diese Generation hat damit noch eine gewisse Verantwortung. Für noch spätere Generationen ist vor allem wichtig, dass sie genau wissen, wie und wo wir den Abfall gelagert haben. Falls in 500 Jahren beschlossen wird, den Abfall wieder hervorzuholen, muss man wissen, wo er sich befindet. Damit dieses Wissen bestehen bleibt, braucht es Transparenz und Kommunikation.
Für den Abfall sind nicht nur wir verantwortlich, er wird seit sechzig Jahren produziert. Wie gewichtet man die Verantwortung der verschiedenen Generationen?
Ja, unsere Generation muss zeitlich für unsere Vorgänger in gewisser Weise das tun, was Stadel geografisch für die Schweiz macht: Mehr auf sich nehmen, als man selbst verursacht hat. Wir übernehmen Verantwortung für die Jahre vor uns. Solidarität hat nicht nur eine geografische Dimension, sondern auch eine zeitliche.
Ganz ketzerisch: Haben wir überhaupt eine Verantwortung gegenüber künftigen Generationen?
Es gibt die Sichtweise, dass man keine Verantwortung gegenüber Menschen haben kann, die noch nicht existieren. Aber ich denke, dass wir sehr wohl eine Verantwortung haben – weil wir eine Wahl haben. Wir können wählen, ob dieser Abfall draussen herumsteht oder ob wir ihn in einem Tiefenlager sicher lagern. Wenn man eine Wahl hat, trägt man auch Verantwortung für die Entscheidung. Wer auch immer diese zukünftigen Generationen sein werden.
Was ist die Rolle der Ethik bei diesen Fragen?
Ihre Aufgabe ist es, andere Sichtweisen in die Diskussion einzubringen, auch kontroverse. Sie soll aufrütteln und Menschen anregen, selbst zu denken. Wir sollten uns grundsätzlich fragen: Was wollen wir eigentlich?
Es gibt beispielsweise fantastische biotechnologische Verfahren wie die Genschere Crispr, aber wozu wollen wir sie einsetzen? Sie hat riesiges Potenzial – aber kann auch missbraucht werden. Was man mit einer Technologie erreichen will und wozu man sie einsetzen will, sollte bereits während der Entwicklung kritisch reflektiert werden.
Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie im geplanten Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, was stünde auf Ihrem Zettel? Denkt an die Entsorgung des Abfalls, bevor ihr ihn produziert.
Die Molekularbiologin, Biochemikerin und Philosophin Anna Deplazes Zemp forscht und doziert zu Ethik und Philosophie der Biologie an der Universität Zürich. Seit 2016 ist sie Mitglied im Beirat Entsorgung, der das UVEK seit 2009 beim Auswahlverfahren der Standorte für geologische Tiefenlager berät.
IM GENERELLEN, OHNE BEZUG AUF EINE LÖSUNG FÜR DIE LAGERUNG VON RADIOAKTIVEN ABFÄLLEN: WIE STELLEN SIE SICH EINE LEBENSWERTE ZUKUNFT FÜR KÜNFTIGE GENERATIONEN VOR?
«Erscheint leider fast unmöglich; da lief während Jahrzehnten einfach (zu) viel schleichend falsch. Beispiel Kindererziehung.» Markus Bürkler
«Eine intakte Umwelt ist zentral für eine lebenswerte Zukunft. Ich stelle mir eine Welt vor, in der die Menschen im Einklang mit der Natur leben und sie schützen. Dazu gehört der Übergang zu erneuerbaren Energien, eine drastische Reduktion von Umweltverschmutzung und ein verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen. Naturräume sollten erhalten und respektiert werden, und der Klimawandel muss gestoppt werden, um zukünftige Generationen vor extremen Wetterereignissen und Ressourcenknappheit zu schützen.» Lukas Sommer
«Eine Zukunft, in der wir uns mutig den Herausforderungen stellen und Lösungen wie Tiefenlager schaffen, um die Umwelt zu schützen. Es geht darum, jetzt Verantwortung zu übernehmen, damit die nachfolgenden Generationen in Sicherheit und Frieden leben können.» Judith Morand
«Eine Zukunft, die auf Effizienz und Innovation setzt, dabei aber Umwelt und Ressourcen schont. Eine Welt, in der Technologie und Fortschritt helfen, Probleme zu lösen, und jeder Mensch faire Chancen hat, sich zu entfalten.» Alessandro Martellosio
«Bewusster Umgang mit den Ressourcen, weniger ist mehr, in einem besseren Einklang mit der Natur und den neuen Technologien, verschönerter und romantischer Bladerunner.» Michèle Fröhlich-Ziegler
Edgar Hagen «Ich sehe das Ganze eher als Experiment»
Für seinen Dokumentarfilm bereiste Edgar Hagen 2013 die ganze Welt, um eine sichere Lösung für atomare Abfälle zu finden – ohne Erfolg. Mittlerweile sei zwar das Problembewusstsein grösser, sagt er, doch ansonsten seien wir noch nicht viel näher am Ziel.
Hannes Hug: Edgar Hagen, mit Ihrem Film «Die Reise zum sichersten Ort der Erde» haben Sie sich der Entsorgung von Atommüll angenommen. Warum dieses Thema?
Edgar Hagen: Die Thematik wurde mir schrittweise bewusst. In den 1970er-Jahren gab es in der Schweiz eine grosse Diskussion über Atomkraft. Die einen wollten zehn Kernkraftwerke, andere schlossen sich der Anti-Atomkraft-Bewegung an. Aber die Entsorgung des hochradioaktiven Atommülls kam bei mir erst auf den Radar, als der spätere Produzent meines Films meinte, ich solle mich mit dem Thema befassen.
Was haben Sie herausgefunden?
Sehr viel. Mein Produzent wollte erst einen einfacheren Film machen, aber dann realisierte ich die globale, fast universelle Dimension des Themas. Mich hat schockiert, dass ich zuvor noch nie wirklich darüber nachgedacht hatte. Atomkraft sorgte anfangs für eine grosse Faszination, für eine Potenzierung der Möglichkeiten – doch die Folgen wurden komplett ausgeblendet. Für die Vorbereitungen des Films konnten wir mit Gregg Butler sprechen. Er war ehemaliger Direktor der Wiederaufarbeitung in Sellafield und nun Mitglied des Komitees, das sich in England um atomare Abfälle kümmerte. Er meinte sinngemäss: Wir haben die Abfälle in einen Bottich getan, eine Lösung finden wir später. Das ist eine realistische Beschreibung der Situation, die bis heute an vielen Orten weltweit anhält. Man sah Atomkraft als eine Art Perpetuum mobile, das für unendlich viel Strom sorgt. Dabei hat man ausgeblendet, woher das Uran kommt. Und auch, was mit diesem Müll geschehen soll. Das hat mich zunehmend fasziniert.
Sie haben auf der ganzen Welt gedreht und praktisch alle Protagonisten betonten, dass sie eine Lösung suchen für das Problem. Ja, irgendwann hat man gemerkt, dass man Atomenergie nicht weiter betreiben kann, wenn man keine Lösung für den Atommüll hat. In der
Schweiz wurde dies 1978 thematisiert, also hat man der Atomindustrie auferlegt, einen Entsorgungsnachweis zu erbringen. Der Nagra-Mitarbeiter Charles McCombie erhielt die Aufgabe, diesen Nachweis bis 1985 zu erbringen. Ansonsten hätten die Kernkraftwerke stillgelegt werden müssen.
Geschah dies aus freien Stücken?
Es war die Folge einer gesellschaftlichen Bewegung. Seither präsentiert man eine Lösung nach der anderen. Doch die Dreharbeiten in China, USA, Schweden und Grossbritannien machten klar, dass alle bisherigen Lösungen gescheitert sind. Kein einziges Projekt ist in Betrieb. Beispielhaft ist das Projekt Yucca Mountain in Nevada, wo der Atommüll von hundert Atomkraftwerken und des Atombombenbaus entsorgt werden sollte. Es wurde einfach behauptet, dass sich der Standort eigne – aber das war pure Propaganda. Verhindert wurde das Projekt schliesslich von Indigenen und Wissenschaftlern.
Was ist das Problem bei Yucca Mountain?
Wie fast überall ist es primär das Grundwasser. Auch wenn der Müll in Fässern verstaut wird, ist nicht klar, wie lang diese Schutz bieten. Diese Frage ist auch in Schweden, Finnland und der Schweiz nicht geklärt. Wie gross das Problem ist, zeigt sich auch in Fukushima, wo es durch den Tsunami zu einer Kernschmelze kam. Derzeit wird nun getestet, wie sich die radioaktiven Abfälle bergen lassen. Vorerst mit minimalsten Mengen im Gramm-Bereich – dennoch ist nicht klar, ob die Roboter diese Strahlung aushalten.
Ist die Politik der kleinen Schritte nicht besser, als nichts zu tun?
Natürlich muss man sich mit dem Problem beschäftigen. Im Film wollte ich vor allem die Dimensionen aufzeigen und ein ehrliches Bild der Ausgangslage präsentieren. Das ist nur der erste Schritt, sich mit dem Problem zu befassen. Doch in der Schweiz haben wir einen Energieminister, der neue Reaktoren propagiert. Damit hebelt er die Demokratie aus, die in einem Volksentscheid den Atomausstieg beschlossen hat –und strapaziert gleichzeitig die Gesellschaft.
Müssen wir zuerst das bestehende Problem lösen, bevor wir wieder neuen Müll verursachen?
Ja. Was die Nagra tut, ist durchaus redlich. Sie sucht eine mögliche Lösung, doch ich sehe das Ganze eher als Experiment. Lösungen sind nur möglich, wenn man Fehler mitbedenkt.
Wir sprechen in Stadel miteinander, wo das Endlager gebaut werden soll. Was kommt auf die Einwohner hier zu?
Die Menschen in Stadel werden in den nächsten Jahrzehnten in Ruhe hier leben können, aber die Langzeitfolgen sind unklar. Ich finde es gut, dass man sich mit der Thematik befasst, aber die Gefahr besteht darin, dass man es als die Lösung verkauft. So wie man auch in Finnland sagt, das Problem sei gelöst – obwohl es nicht stimmt. Der hochradioaktive Müll muss in Kupferkanister eingepackt werden, um das Grundwasser zu schützen. Niemand weiss, wie lange diese Kanister halten.
Man versucht, die Einflüsse auf die Natur bestmöglich zu antizipieren. Im Salzstock der Asse in Norddeutschland wurden ab 1967 Abfälle versenkt. Es hiess, alles sei sicher. Ein paar Jahrzehnte später mussten sie wieder ausgebuddelt werden, weil es eben doch nicht sicher war. Wir waren auch beim ersten Tiefenlager weltweit in New Mexico (USA), das von der Atomindustrie als Leuchtturmprojekt propagiert wurde. Rund um den Eingang des Endlagers für Abfälle aus militärischer atomarer
Nutzung stehen überall Ölpumpen herum. Dann wurde mir klar, dass der Standort nur gewählt wurde, weil dort eh schon nach Öl gebohrt wurde. 2014 wurde das Endlager für mehrere Jahre stillgelegt, weil Behälter 900 Meter unter dem Boden explodierten.
Wer ein Haus baut, soll die Toilette nicht vergessen, besagt ein chinesisches Sprichwort, das in Ihrem Film aufgegriffen wird. Das Haus haben wir schon lange, jetzt haben wir auf dem Papier ein Projekt und einen Ort, wo man die Toilette bauen könnte. Doch die Gesellschaft muss erst noch entscheiden, ob sie sie hier gebaut haben will. Gleichzeitig stinkt es im Haus schon gewaltig. Irgendwo muss das Geschäft verrichtet werden. Es ist eine schöne Beschreibung der Situation, über die man nachdenken sollte.
Sie haben auch viele Proteste begleitet. Wie haben sich diese in Ihren Augen entwickelt?
Durch den Entscheid zum Atomausstieg kam es zu einer Beruhigung. Dass nun der Ausstieg aus dem Ausstieg bekannt gegeben wurde, wird die Diskussion wieder aktivieren. Gleichzeitig wird seit ein paar Jahren versucht, Atomkraft als grüne Energie zu bezeichnen. Das scheint mir problematisch. Man muss auch berücksichtigen, wie Uran gewonnen wird und was in den Abbauländern geschieht. Es geht um Macht und Kapital. Mit Atomenergie kann man viel Geld verdienen. Entsprechend gibt es Gruppen, die lobbyieren. Hier geht es nicht um grün oder nicht, es geht um Geld. Das ist die gesellschaftliche Diskussion, die wir führen müssen.
Was würden Sie anders machen, wenn Sie den Film heute drehen würden?
Die Protagonisten wären andere, aber das Problem ist letztlich dasselbe geblieben. Dass die Abfallproblematik lösbar ist, ist immer noch eine Behauptung, die nicht bewiesen ist. Das wird auch in hundert Jahren so sein. Selbst wenn man die Abfälle dereinst unter der Erde lagert, ist der Beweis nicht erbracht. Aber zumindest gibt es mittlerweile Organisationen, die sich dieses Problems ernsthaft annehmen.
Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie eine Botschaft im Tiefenlager hinterlassen könnten, was stünde auf Ihrem Zettel? Das übersteigt mein Vorstellungsvermögen, ich weiss es nicht. Vielleicht: Ich bin ratlos.
Der Dokumentarfilmregisseur und Produzent Edgar Hagen studierte Philosophie und Germanistik. Für seinen Dokumentarfilm «Die Reise zum sichersten Ort der Erde» hat er das Problem der Endlagerung global beleuchtet.
IM GENERELLEN, OHNE BEZUG AUF EINE LÖSUNG FÜR DIE LAGERUNG VON RADIOAKTIVEN ABFÄLLEN: WIE STELLEN SIE SICH EINE LEBENSWERTE ZUKUNFT FÜR KÜNFTIGE GENERATIONEN VOR?
«Eine lebenswerte Zukunft für künftige Generationen bedeutet für mich ein Leben, in dem wir mehr miteinander als gegeneinander arbeiten. In einer Welt, die immer dichter besiedelt wird und in der die Ressourcen knapper werden, müssen wir bewusster leben. Es geht darum, den Fokus von den Interessen Einzelner auf das Gemeinwohl zu verschieben. Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung müssen im Mittelpunkt stehen, um sicherzustellen, dass die Erde auch für zukünftige Generationen ein lebenswertes Zuhause bleibt. Diese Vision erfordert von uns allen ein Umdenken – weg von egoistischen Handlungsweisen hin zu einem kollektiven Bewusstsein für die Bedeutung unserer Entscheidungen.» Tatiana Tokareva
«Lebenswert, in Frieden und mit Guidelines, welche uns einerseits schützen und trotzdem Individualität zulassen.» Matthias Naef
«Eine lebenswerte Zukunft für künftige Generationen stelle ich mir als eine Welt vor, die nachhaltig, gerecht und innovativ ist. Umweltbewusstsein steht im Mittelpunkt, mit erneuerbaren Energien, sauberer Luft und Wasser sowie einer intakten Natur.»
Mario Müller
«Ohne Altlasten.» Josef
Kuriger
Rony Emmenegger «Die Frage der Sicherheit birgt Potenzial für Kontroversen»
Die Gesellschaft und der Untergrund: Rony Emmenegger forscht darüber, wie diese komplexe Beziehung verhandelt wird – und wie die Schweiz zur Überzeugung gelangt, dass die geologischen Bedingungen des Tiefenlagers sicher sind.
Hannes Hug: Rony Emmenegger, Sie sind Politgeograph. Was tut ein Politgeograph?
Rony Emmenegger: Ein Politgeograph interessiert sich für das Zusammenspiel von Geografie und Politik, Gesellschaft und Raum, Mensch und Umwelt. Auch bei einem Tiefenlager geht es um die Mensch-Umwelt-Beziehung, beziehungsweise um die Beziehung der Gesellschaft an der Oberfläche und der Geologie im Untergrund.
Das hat wenig mit der Geografie zu tun, die man von der Schule kennt. Richtig! Es geht nicht um Landkarten, Grenzen und Berge, sondern um gesellschaftspolitische Prozesse in ihrem geografischen Kontext. Die Frage ist: Was sind die räumlichen Rahmenbedingungen und Konsequenzen dieser Prozesse?
Ich habe folgenden Satz von Ihnen gelesen: «Für mich bedeutet die Beschäftigung mit Geografie nicht nur, akademisches Wissen über die Gesellschaften und die Natur da draussen zu produzieren, sondern auch Momente, Räume und Visionen zu schaffen, um die Welt zu verändern.» Wie tun Sie das?
Anspruch meiner Forschung ist es, eine bestimmte Perspektive auf die Mensch-Umwelt-Beziehungen einzunehmen und damit eine Grundlage für eine gesellschaftliche Reflexion zu liefern. Im konkreten Fall, wie gesellschaftliche Prozesse mit geologischen Rahmenbedingungen zusammenhängen.
Sie leiten derzeit ein umfangreiches Nationalfondsprojekt, welches die Situation rund um das Tiefenlager erforscht. Mit welchen Fragen befassen Sie sich?
Das Projekt beleuchtet, wie der geologische Untergrund im Verlauf der heutigen Tiefenlagersuche einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, sichtbar und greifbar gemacht wird – und fragt nach den politischen Konsequenzen. In der Debatte wurde lange ignoriert, dass die Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle nicht nur ein komplexes geowissenschaftliches Problem ist, sondern auch ein gesellschaftliches.
Inwiefern?
Die zentrale Hypothese meines Projekts lautet, dass der Erfolg oder Misserfolg eines Tiefenlagerprojekts nicht nur davon abhängt, ob das richtige Gestein gefunden wird und ob dies durch einen fairen Prozess geschieht. Zentral ist ebenso, ob man der Gesellschaft glaubhaft machen kann, dass der geologische Untergrund stabil ist und die sichere Tiefenlagerung für eine Million Jahre gewährleisten kann. Die Frage nach der Langzeitstabilität der Geologie lässt sich nicht abschliessend beantworten und hat darum Potenzial für gesellschaftliche Kontroversen.
Machen Sie auf Basis Ihrer Untersuchungen auch Empfehlungen an die Politik?
Nein, ich sehe meinen politischen Beitrag nicht darin, Empfehlungen abzugeben. Meine Rolle als Sozialwissenschaftler ist vielmehr beschreibend. Ich versuche stets, die Aussensicht zu wahren. Dies ist im Rahmen meiner Forschung gerade deshalb wichtig, weil ich mit vielen verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichen politischen Hintergründen zu tun habe.
Wie kamen Sie auf die Idee, genau dieses Projekt einzureichen?
Ich habe nach Abschluss meiner Doktorarbeit begonnen, neue Themenfelder zu erschliessen – genau zu dem Zeitpunkt, als die Nagra mit den Tiefenbohrungen begann. Die Tiefbohrkampagne markierte einen Meilenstein in der Schweizer Endlagergeschichte. Mir wiederum wurde klar, dass beim Endlagerthema verschiedene meiner Interessen zusammenkommen. So begann ich, die Tiefenbohrungen intensiv zu verfolgen und zu analysieren.
Inwiefern waren die Bohrungen ein Meilenstein?
Mit den Bohrungen ab 2019 wurde der geologische Untergrund in der Nordschweiz an die Oberfläche geholt und in den Standortregionen das erste Mal tatsächlich sichtbar.
Wie haben Sie die Tiefenbohrungen in Stadel wahrgenommen?
Als die Entscheidung für Nördlich Lägern kommuniziert wurde, war Geologie das omnipräsente Thema: Die Nagra sagte, die Geologie habe gesprochen; an der Pressekonferenz in Bern wurde ein Bohrkern gezeigt; der Gemeindepräsident wiederum meinte, man habe einfach eine krasse Geologie. Ich spreche in diesem Zusammenhang gerne von der «Geologisierung der Debatte». In der Folge wurden dann aber vor allem oberflächliche Themen und insbesondere mögliche Abgeltungen diskutiert. Es zeigt sich eine klare Grenzziehung zwischen geologischen Fragen, welche die Sicherheitsexperten beurteilen, und oberflächlichen Fragen, mit denen sich die betroffene Region befasst. Oberflächlich ist hier nicht abwertend gemeint, sondern ganz konkret.
Können wir Menschen die Sicherheit bei dem derart komplexen Projekt wirklich einschätzen?
In seinem Buch über die Risikogesellschaft schreibt Ulrich Beck, dass die Produktion von Risiken Hand in Hand geht mit der Schaffung von Institutionen, die mit dem Risikomanagement beauftragt sind. Wir versuchen zu beherrschen, was wir generiert haben – bei der Atomenergie ist das der nukleare Abfall. Bei der Suche nach einem Endlager wurde zu Beginn grösstenteils mit Risikoanalysen gearbeitet. Erst später ging man dazu über, die Langzeitsicherheit zu betrachten und in den Vordergrund zu rücken.
Waren wir früher risikoaffiner? Oder einfach unwissender? Mir geht es nicht um die Beurteilung, wie ein Individuum Sicherheit wahrnimmt. Vielmehr schaue ich den gesamtgesellschaftlichen, historischen Kontext an. Spannend ist, dass der Fokus auf Risiken erst mit der Erfindung der Wahrscheinlichkeitsrechnung im 17. Jahrhundert möglich wurde. Das hatte einen grossen Einfluss auf die Art, wie das gesellschaftliche Leben organisiert wurde.
Je mehr die Gesellschaft über Risiken weiss, desto risikoaverser wird sie?
In unserem Fachbereich ist etwas anderes zentral: Dass wir immer mehr Risiken eingehen, um mit Risiken klarzukommen, die wir selbst geschaffen haben. Der Klimawandel ist ein gutes Beispiel. Um das eigentliche Problem zu beheben, zieht man in Betracht, mit Geo-Engineering neue Risiken einzugehen. Das ist nicht eins zu eins übertragbar auf die Endlagerthematik, aber auch hier schafft man eine neue Ausgangslage, die wiederum mit neuen Risiken verbunden ist. So muss die Gesellschaft immer wieder neu entscheiden, welches Risiko welchen Stellenwert hat.
Wie beurteilen Sie den Prozess der Endlagersuche in der Schweiz? Wie viele andere Länder haben wir eine lange Geschichte der gescheiterten Endlagersuche. Die Devise lautete lange: Entscheiden, Ankündigen, Verteidigen. Dann wurde klar, dass der Top-Down-Ansatz bei der Endlagersuche keine Zukunft hat, weil der lokale Widerstand grösstenteils dem fehlenden Einbezug von Betroffenen geschuldet war. Im Verlauf der 1990er-Jahre wurde international vermehrt auf partizipative und prozessorientierte Verfahren gesetzt. In diesem Kontext steht auch die Entstehung des Sachplanverfahrens in der Schweiz, das die lokalen Akteure im Rahmen der Regionalkonferenzen einbindet. Das Sachplanverfahren war nicht der einzige Aspekt, um Vertrauen zu gewinnen – aber ein sehr zentraler.
Wie genau kam es zum Sachplanverfahren?
Der Sachplan von 2008 entstand infolge der gescheiterten Projekte in den 1990er-Jahren. Mit dem Kernenergiegesetz wurde 2003 das lokale Vetorecht für betroffene Regionen aufgehoben und mit einem fakultativen Referendum ersetzt – einer Abstimmung also. Zugleich wurde lokale Partizipation im Rahmen des Sachplanverfahrens möglich. Diese Konstellation führt zu einer spannenden Frage: Was heisst Partizipation, wenn man mitreden, aber nicht mitbestimmen kann?
Wie lautet Ihre Antwort?
Durch das Sachplanverfahren ist Partizipation über weite Strecken gewährleistet. Bezüglich raumplanerischer Fragen oder der Platzierung der Oberflächenanlagen konnten Vorschläge intensiv diskutiert werden. Bei Sicherheitsfragen und der geologischen Beurteilung ist Partizipati-
on schwieriger umzusetzen. Sie wurde weitestgehend auf das Bereitstellen von Informationen reduziert – was wichtig ist, aber auch für Kritik gesorgt hat.
Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie im Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, welche wäre das?
Ich glaube, ich würde nichts schreiben. Ich würde versuchen, mit Materialien zu experimentieren und dann vielleicht einen Gegenstand einlagern, der sich später beim Berühren auflöst – um das Denken der Person herauszufordern, die ihn findet.
Dr. Rony Emmenegger ist Politgeograph und untersucht mit dem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekt «Politische Geologie der Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle», wie im Zuge der Suche nach einem entsprechenden Tiefenlager in der Schweiz die Beziehung zwischen der Gesellschaft und dem geologischen Untergrund verhandelt wird.
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Die Content-Plattform der Nagra, bestehend aus einer monothematischen Zeitschrift, Podcast, Dokuserie und informativer Webseite.
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