Franz Hohler: ‹Mani Matter – Ein Porträtband›

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Mani Matter

Ein Porträtband von Franz Hohler

Franz Hohler Mani Matter – Ein Porträtband

Ein ManiFranzPorträtbandHohlerMatter

Der junge Freund

Krankheit, Sorgen, Neid und Zweifel und wir können lachen wie die Kinder.

Er ist schon mehr als fünf 36JahrzehnteJahrealt seit jenem Abend auf der Autobahn.

übergenausoüberDochbesprechenistGenuss.kannichMenschlichesmitihmredenFrauen,Sehnsucht

Ich habe einen jungen Freund mit dem ich gerne diskutiere nachts vor allem er ist gescheit und witzig fasst, was kompliziert ist rasch zusammen und entlarvt, was einfach ist alsDichterkompliziert.isterundmitihm Metaphern, Wortwahl, Versmass, Reime zu

Derwww.zytglogge.ch978-3-7296-5093-0ZytgloggeVerlagwird

Coverbild: Rodo Wyss, Archiv Zytglogge Verlag Lektorat: Angelia Schwaller Korrektorat: Jakob Covergestaltung/Layout/Satz:Salzmann

vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Druck: Finidr, Tschechische Republik ISBN:

Andreas Färber, mittelstadt 21 Bildaufbereitung: FdB – Für das Bild, Fred Braune Fotografien: Wenn nicht anders angegeben, im Eigentum von Joy Matter.

© 2022 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Alle Rechte (aktualisiertevorbehaltenNeuausgabe, erstmals erschienen 1977 Benziger Verlag)

Vorbemerkung 9 für mi sälber mir z erkläre 11 wo mir als bueben emal 21 är treit am tag e mappe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 är isch vom amt ufbotte gsy 39 frou u chind sy doch zwäg 47 mir hei e verein 53 dä, wo so liedli macht 65 är het uf sym chopf e chopf gha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 kunscht isch geng es risiko 91 s sy zwe fründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 s ghört dä und dise ja ou no derzue 117 und so blybt no sys lied 127 einisch am’ne morge oder am’ne namittag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Diskografie 159 Über den Autor 160

7 Inhalt

Vorbemerkung

Franz Hohler, Zürich, April 2022

Wenn wir sagen, jemand sei aus unserer Mitte geris sen worden, dann enthält der Ausdruck die Vorstel lung, dass wir um diesen Menschen herumgestanden sind, und das ist auch die Optik des vorliegenden Buches. Es ist kein Porträt aus einer einzigen Einstel lung heraus, sondern es ist unter Mithilfe verschiede ner Menschen entstanden, die sich aus ihrem Winkel und aus ihrer Distanz zu Mani Matter äussern. So sollte für die Lesenden mehr Spielraum bleiben, sich ihren eigenen Winkel und ihre eigene Distanz zu Mani Matter zu suchen. Das Buch ist 1977 zum ersten Mal erschienen und war dann lange Zeit vergriffen. 1992 und 2001 kamen überarbeitete Ausgaben davon heraus. Die vorliegende Auflage enthält nochmals einige Änderungen sowie die Ergänzung der Wirkungsgeschichte von Mani Matters Gesamtwerk. Eine «Biografie» ist es nicht geworden, eher ein Nachruf derjenigen, die ihn gekannt haben, an die immer grösser werdende Zahl von Menschen, die ihn nur noch durch seine Lieder kennen, welche ihn nun schon so lange über lebtImhaben.Übrigen ist das Ganze immer noch ein Versuch, die Nachricht vom 24. November 1972 zu glauben.

9

Mani als Sherlock Holmes

Matter: Ich glaube ja. Ich kann das schlecht vergleichen mit anderen Jugenden, da ich nur eine gehabt habe, aber ich glaube doch, dass man meine Jugend glücklich nennen könnte. Hohler: Was war dein Vater von Beruf?

Matter: Ich bin 1 Meter 78 gross, ungefähr 75 Kilo schwer, eher untersetzt, wahrscheinlich nicht dick, aber doch auch nicht so schlank, wie ich sein möchte, dunkle Haare, Schnurrbart, das ist wahrscheinlich das auffälligste Merkmal, und im Übrigen eher un auffällig. Hohler: Wie alt bist du? Matter: Da muss ich immer zuerst rechnen. 35 Jahre. Hohler: Hattest du eine glückliche Jugend?

Hohler: Hast du deine Grosseltern gekannt? Matter: Ja, alle bis auf meinen Grossvater mütter licherseits, der ist ziemlich lange vor meiner Geburt gestorben. Hohler: Kannst du noch etwas erzählen von deinen Grosseltern? Matter: Ja. Mein Grossvater war ein sehr energischer Mann. Er ist aus dem Aargau, wo wir heute noch heimatberechtigt sind, ausgewandert und hat die Fa milie nach Bern gebracht. Er war bei der Eisenbahn und hat dort eine ziemlich steile Karriere gemacht, er hat es bis zum Oberbetriebschef der Schweizerischen Bundesbahnen gebracht. Er war, wie man mir gesagt hat, sehr gefürchtet. Er hatte auch einen schwarzen Schnauz, allerdings einen Schnauz, der an den Enden gezwirbelt war, eine schwarze Bürstenfrisur und einen Knebelbart, wie man es damals noch trug, und man hat ihn unter den Eisenbahnern die schwarze Gefahr genannt, weil er immer sehr unvermutet aufgetreten ist. Er hielt immer darauf, dass wir an ständig gekämmt sein sollten, und ich erinnere mich noch, wie er jeweils zum Kamm griff und uns selbst die Haare kämmte, da lief einem immer das Blut im Fragen an Mani Matter, gestellt von Franz Hohler am 31. August 1971 in Bern. Hohler: Erste Frage, wie siehst du aus?

11 für mi sälber mir z erkläre

Matter: Meine früheste Kindheitserinnerung – das ist schwer zu sagen. Man reimt sich hinterher man ches zurecht, von dem man selbst nicht mehr genau weiss, ob es wirklich stimmt, aber ich glaube, meine früheste Kindheitserinnerung ist, wie ich im Garten meines Grossvaters in einem grossen Wäschezuber gebadet habe. Ich glaube, das ist das Früheste, woran ich mich erinnere.

Matter: Mein Vater war dasselbe wie ich, er war Rechtsanwalt, hatte ein eigenes Büro, hier in Bern übrigens; ich bin eigentlich kaum aus Bern heraus gekommen, ich habe hier die Schulen besucht, habe hier die Universität besucht, kein einziges Auslands semester, das macht sich sonst immer gut, der einzige Auslandsaufenthalt von einiger Dauer war ein Jahr in England, sonst bin ich immer in Bern gewesen. Hohler: Was ist deine früheste Kindheitserinnerung?

meine Mutter war auch Holländerin, hat allerdings hier in Bern gelebt, und die Grossmutter hat immer sehr auf Haltung gegeben, sie hat noch bis ins hohe Alter mit steifem Kreuz am Tisch gesessen und ihre Haltung eigentlich nie verloren. Heute noch lebt sie allein in einer Dreizimmerwohnung, obschon sie 95 ist. Sie kocht noch für sich selber und schaut noch für sich selber, das ist wahrscheinlich doch noch be merkenswert.

Hohler: Dein Grossvater wollte doch dieses umsteige lose Bahnsystem einführen?

Jedenfalls war mein Grossvater die markanteste Figur von meinen Grosseltern. Die Pensionierung konnte er etwas hinausschieben, weil das zur Zeit des Krieges war, als er hätte pensioniert werden sollen. Dann ist er in der Kriegswirtschaft noch geblie ben, aber schliesslich, nach dem Ende des Krieges, wurde er doch pensioniert, und er war ein solcher Tatmensch, so energiegeladen, dass er das kaum verwinden konnte, nicht mehr an die Arbeit zu gehen. Schon in seiner Jugend soll es von ihm geheissen ha ben, als er einen Welschlandaufenthalt machte, da habe es im Zeugnis geheissen, «sollte sich mehr Ruhe gönnen». (lacht) Das ist etwas, was man von mir ganz sicher nie gesagt hat, und das hat mir immer mäch tig imponiert. Das habe ich immer als Zeichen des Zerfalls einer Familie angesehen, dass mein Grossvater noch so energisch war, mein Vater immer noch sehr aktiv, und ich bin doch eigentlich nicht mehr so schrecklich aktiv.

rektionsgebäude,

Ja, noch zu meinem Grossvater, ich pflege manchmal auf der Bühne meine verschiedenen Eisenbahn lieder damit zu begründen, dass mein Grossvater bei der Eisenbahn war. Aber was ich eigentlich noch sa gen wollte, als er pensioniert war, da hat er mit sich nichts Rechtes mehr anzufangen gewusst und hat immer grosse Spaziergänge gemacht, ist immer sehr schnell gegangen, und wir, die Enkel, mussten dann manchmal mit, und das war für uns immer sehr, sehr unangenehm, wenn wir dort mitmussten, weil man ihm fast nicht folgen konnte, und die einzigen Licht blicke waren, dass man jeweils einkehrte und Käse und Brot und Süssmost bekam. Ja, das ist ungefähr, was ich von meinem Grossvater sagen kann.

12 Haarboden zusammen. Dort, wo er sein Büro gehabt hat, über dem Bahnhof im grossen SBB-Generaldi das nannte man damals das Matter horn, wegen meinem Grossvater, und vor allem weil es dann noch zwei andere Hörner gab, die Grimmialp, das war dort, wo der alte Robert Grimm, der BLSDirektor, seinen Sitz hatte, und das dritte war, glaube ich, das Wetterhorn, von Bundesrat Wetter her.

Mani mit seinem Grossvater Erwin Matter

Meine Grossmutter, also die Grossmutter väter licherseits, war eine sehr liebe, eigentlich stille Frau. Die Grossmutter mütterlicherseits war Holländerin,

Matter: Ah ja, das war ein sehr menschenfreundlicher Zug von ihm. (lacht) Er hat daran geglaubt, dass man in Genf in die Eisenbahn sollte einsteigen können und dann, ohne umzusteigen, nach Hutt wil oder an irgendeinen anderen kleinen Flecken fahren, und das wollte er so bewerkstelligen, dass er an jedem Bahnhof wieder Züge anhängte und Züge abhängte und die Züge immer anders zusammen setzte. Das hat sich dann eigentlich überholt. Heute

Hohler: Warst du ein guter Schüler?

13 Mani als Bueb sind die Städteschnellzüge gekommen, die mit die ser Konzeption radikal gebrochen haben, aber rein als Modell, als Vorstellung war mir das immer sehr sympathisch, diese umsteigelosen Züge. Er hat übrigens, ich bin zwar nicht ganz sicher, ob das stimmt, aber ich glaube, er hat sich auch für die Einführung der Kelle statt der Pfeife eingesetzt. Früher hat man ja immer gepfiffen auf den Bahnhöfen, und mein Grossvater soll sich sehr geärgert haben, wenn die Bahnbeamten an ihren Pfiffen noch lange Schleifen anhängten. Streng nach Eisenbahndisziplin sollte es einen Pfiff, zwei Pfiffe, drei Pfiffe, und zwar kurze Pfiffe geben, aber die Eisenbahner haben dann im mer, ich erinnere mich daran noch gut, den letzten Pfiff ausgedehnt, und man konnte auch die Tonhöhe etwas verändern an diesen Eisenbahnerpfeifen, und das gab so diese typischen Pfiffe, die ich noch sehr gut im Ohr habe, (pfeift einen) etwa so.

Hohler: Was hast du studiert?

Matter: Jaaa, in der Primarschule war ich ein glänzen der Schüler. Dann, später, rutschte ich immer mehr ab in der Rangordnung der Klasse. Wahrscheinlich war es vor allem auf meine Faulheit zurückzuführen, dass ich meine glänzenden Anfangserfolge eigentlich nie mehr wiederholt habe.

Matter: Jurisprudenz, wie mein Vater. Eigentlich mehr nach der Eliminationsmethode, wie übrigens sehr viele Juristen. Naturwissenschaft kam nicht in Frage, zum Architekten war ich zu unbegabt, zum Ingenieur interessierte mich die Mathematik zu we nig und die Physik, obschon ich in diesen Fächern eigentlich immer ziemlich gut war. Dann blieb noch Phil. I und Jurisprudenz. Phil. I habe ich versucht, aber ich habe mich von Vorlesungen über Goethe et was abschrecken lassen, und so bin ich bei der Jurisprudenz geblieben.

Hohler: Was wolltest du früher werden?

Matter: Einmal wollte ich Clown werden, daran er innere ich mich noch gut, und dann auch Koch und Architekt, Ingenieur. Unsere Putzfrau, die wir zu Hause hatten, hat immer geglaubt, ich würde einmal ein Ingenieur, weil sie fand, ich sei so ein begabter Bastler. Das stimmt aber nicht, ich habe nur sehr viele Bastelbücher gelesen, aber immer, wenn ich et was ausführen sollte, ging es schief, weil ich manuell ziemlich unbegabt bin und auch immer zu ungedul dig war, um zu warten, bis der Leim trocken war oder was immer. Ja, eigentlich hab ich sehr viel werden wollen, nur nie das, was ich geworden bin.

Hohler: Was arbeitest du jetzt?

Hohler: Gefällt dir diese Arbeit?

Matter: Jetzt bin ich Rechtskonsulent der Stadt Bern, so eine Art Einmannjustizabteilung der Stadt.

für mi sälber mir z’erkläre bin i mal mym stammboum na ha vo undre zweige här e chly die nuss probiert z’verstah wär da alles mir verwandt isch han i gluegt, us quelle gschöpft numen eine wo bekannt isch worde git’s: dä hei si gchöpft s isch dr gouner bärnhard matter us em aargou win ig o wen o nid my

dasswinüsemdäurgrossungglenurgrossvatterallwägschohetdavorhundertJahregschlächtewägbestimmtijitzerschhaerfahreeimnütmehwundernimmt

Hohler: Warum? Kannst du das noch etwas begründen?

Matter: Die radikale Einfachheit der Mittel und, wie soll ich sagen, das Allegorische. Ich weiss nicht, ob das unmittelbar einleuchtend ist, ich glaube, dass man einen Clown kaum je als das versteht, was er eigentlich macht, sondern man stellt sich darunter irgendwelche anderen Situationen vor, die eigentlich analog sind, obschon sie sich vielleicht auf ganz an derem Gebiet abspielen. Nicht wahr, die Tücke des Objekts gibt es auf allen möglichen Wissensgebieten, und der Clown ist im Grunde genommen ein ganz ins Einfache oder Banale stilisierender Allegoriker. Die Kunst eines Clowns ist für mich eine der elemen tarsten, die es gibt. Jedes Kind kann einen Clown ver stehen, und doch ist eine gute Clownnummer voller Bezugspunkte zu allen möglichen anderen Lebens bereichen. Es sind nicht alle Clowns gleich, aber ich habe einen gewissen Idealtypus von Clown, der – ich könnte nicht einmal sagen, wer ihn am reinsten ver körpert, aber für mich muss eben ein Clown ganz banal, ganz einfältig sein, so dass das Einfältige sich fast ins Mystische überschlägt, und die Erkenntnis, dass es so einfach ist, ist vielleicht etwas, was einen

Hohler: Gefällt dir deine Rolle als Familienvater oder kannst du dir dich auch als Junggeselle vorstellen?

Hohler: Was gefällt dir an einem Clown?

Matter: Ja, es ist nicht so leicht zu sagen. Einmal hat diese Stelle viele der Konfliktstellen nicht, die andere juristische Berufe haben. Der Beruf des Staatsanwal tes würde mich laufend in Interessenkonflikte brin gen, der Beruf des Richters wahrscheinlich auch. Als Anwalt hätte ich das Gefühl, ich müsste manchmal etwas zu einseitig die Interessen der Parteien vertre ten, als Verwaltungsjurist ist man sehr oft nur auf einem sehr engen Gebiet tätig, man hat es nur mit Luftrecht oder nur mit Landwirtschaftsrecht oder Fischereirecht zu tun. Der Beruf, den ich habe, ist sehr vielseitig. Man kann sich eine gewisse Objektivi tät leisten, weil die Stadt schliesslich in ihrem juristischen Gehaben gewisse Ansprüche an sich stellen darf. Und so, alles in allem, halte ich das doch für eine sehr gute Stelle.

Matter: Ich fühle mich eigentlich kaum je als Familienvater. (lacht) Ich finde mich immer mit einer gewissen Verwunderung als Familienvater. In vieles, was später plötzlich wichtig wird im Leben, rutscht man mehr hinein, als dass man es bewusst plant und sich von vornherein in dieser Rolle sieht – wie ja viel leicht überhaupt wenige Leute sich mit einer Rolle ganz identifizieren. Ich glaube, das gibt es fast nicht, dass einer von sich glaubt, er sei dies oder das, und seine Rolle ganz genau definieren kann.

Hohler: Was für Bücher liesest du? Matter: Ich lese sehr viele, verschiedenartige Bücher. Fangen wir einmal mit der Belletristik an, dort lese ich relativ selten Romane, oder wenn ich Romane lese, dann lese ich sie selten zu Ende, dagegen lese ich öfters Dramen und Gedichte und kürzere Sachen, wie ich auch selbst literarisch ein Kurzstreckenläufer bin. Dann lese ich ziemlich oft philosophische, sogar theologische Bücher, auch politische Sachen manch mal. Früher habe ich fast alles, auch an Sachbüchern, gelesen, was mir unter die Finger gekommen ist, und dann hat sich der Kreis doch langsam etwas einge schränkt, ich glaubte früher, ich interessierte mich auch noch für Logistik und für Sprachwissenschaft und für alles Mögliche. Ich stelle auch fest, dass ich sehr oft dieselben Bücher wieder lese, oder doch we nigstens dieselben Autoren, und es gibt so eine Art trichterförmige Bewegung in meiner Lektüre. Viel leicht werde ich eines Tages damit enden, dass ich nur noch ein Buch immer wieder lese.

15 Matter: Ja, es ist eine sehr vielseitige Arbeit. Ich glaube nicht, dass man als Jurist je von seinem Beruf ganz ausgefüllt sein kann, wie andere Berufe einen ausfüllen. Ich würde das sogar für schädlich, auch für die Jurisprudenz, halten, wenn man nur Jurist wäre. Aber die Stelle, die ich jetzt habe, ist eine der – ich könnte mir kaum eine bessere vorstellen auf diesem Gebiet.

Hohler: Kannst du dir vorstellen, dass du in Zürich aufgewachsen wärst und Zürichdeutsch sprechen würdest?

Matter: Vielleicht zuerst der Unterschied zwischen Berndeutsch und Baseldeutsch. Berndeutsch ist eine breitere, bäurischere, lakonischere Sprache, während dem Baseldeutsch eine gebildetere, eine Städterspra che ist, auch etwas spitzer, etwas wortreicher und schneller. Beide, das Berndeutsche und das Baseldeutsche, sind Endpunkte in der Entwicklung des Alemannischen, man kann von Zürich her verschie dene Übergänge über Olten, Biel oder Burgdorf bis zum Berndeutschen finden, aber dann hört’s irgend wie auf. Darum ist das Berndeutsche relativ geschlossen. Dasselbe gilt auch für das Baseldeutsche. Es gibt Anklänge zum Baseldeutschen hin, aber es gibt ir gendwie nichts darüber hinaus, und das ist vielleicht auch der Grund, weshalb das Berndeutsche und das Baseldeutsche, die in sich ziemlich geschlossene Spra chen sind, literarisch am produktivsten waren. Das Zürichdeutsche ist für mich eine eher verwaschene Sprache, mehr ein Übergang. Es hat einmal ein bös artiger Berner gesagt, der Zürcher sei der Übergang zwischen dem Menschen und dem Ostschweizer. Das auf die Sprache bezogen, stimmt vielleicht zum Teil. Das Zürichdeutsche ist irgendwie viel unschärfer, es gibt verschiedene Arten von Zürichdeutsch, es ist in sich nicht geschlossen, und man kann über Zürich hinausgehen, dann findet man gewisse Eigenheiten noch verstärkt in dieser oder jener Hinsicht. Es hat auch etwas unschöne Laute in sich, ich selbst habe keine besondere Affinität zum Zürichdeutschen, ob schon ich einzelne Leute kenne, die auch für mich ein schönes Zürichdeutsch sprechen.

Matter: Vielleicht ist es so, dass der Berner von allen Schweizern am meisten Mühe hat, von seinem Dia lekt wegzukommen. Es ist mir schon verschiedent lich aufgefallen, dass viele hochdeutsche Wörter in anderen Dialekten in die Mundart eingeflossen sind, die bei uns eigentlich immer noch in der verbern deutschten Version gebraucht werden, das Berndeut sche hat ein ziemlich starkes Assimilationsvermögen. Frag mich jetzt nur nicht nach einem Beispiel, aber es scheint mir, dass wir auch stärker in der Mund art denken, als man das anderswo tut, und dass man auch, wenn man hochdeutsch spricht, immer noch mit dem Berndeutschen zu kämpfen hat.

Hohler: Wie würdest du einem Deutschen den Unterschied zwischen Berndeutsch, Baseldeutsch und Zürichdeutsch erklären?

16 dann lachen macht. Ich weiss nicht, ob das eine aus reichende Erklärung ist, ich kann es wahrscheinlich gar nicht sagen, was mir an einem Clown gefällt.

Ich beschäftige mich ungern mit der Frage, wo muss ich jetzt hingehen, um mir Papier zu kaufen oder um mir eine Wurst zu kaufen, wie muss ich einen Fahrschein lösen, um mit der Strassenbahn fahren zu kön nen, wo durch muss ich fahren, um zum Bahnhof zu kommen? Es ist auch eine Art Faulheit, dass ich gern dort bin, wo ich die Verhältnisse kenne. Aber heute habe ich eigentlich das Gefühl, ich brauche nicht in Bern zu leben. Ich könnte ebensogut in einer anderen Schweizer Stadt leben, ich könnte auch im Ausland leben, es wäre am Anfang vielleicht etwas mühsam und anstrengend, aber ich würde es wahrscheinlich doch auch fertigkriegen.

Matter: Ja, warum nicht? Ich habe keine idealisierte Vorstellung vom Berndeutschen oder von dem, was das Berndeutsche aus einem macht oder was Bern aus einem macht. Das ist alles Gewohnheit, man hat sich eben so gewöhnt; man hätte andere Einflüsse gehabt, wäre anders geworden, vielleicht schon, aber ich bin nicht Lokalpatriot, gar nicht.

Hohler: Lebst du gern in Bern?

Matter: Früher stellte ich mir vor, ich könnte nur in Bern leben, weil mir an anderen Orten das Organisatorische im Alltag immer überaus mühsam vorkam.

Hohler: Eine Frage, die zum Teil schon beantwortet ist, aber vielleicht weisst du noch etwas dazu: Ist es Zufall, dass gerade das Berndeutsche bei der Regenerierung der Mundartbewegung eine führende Rolle gespielt hat?

Mundartdichter

Hohler: Machst du Volkslieder?

Die laht er stah, dä Löli . Kindervers von Mani

Hohler; Was sagst du dazu, dass du so viele Nachfolger gefunden hast? Matter: Das ist eigentlich erfreulich. Ich habe mir früher einmal vorgestellt, das wäre doch schön, wenn ich nur gerade anfangen könnte, ein paar Lieder zu machen, und dann würden andere weiterfahren, und ich könnte mich dann wieder ins Publikum setzen und den anderen zuhören. Das hat mir immer als Vorstellung sehr gut gefallen. Ich glaube, es ist auch anregend. Ich bin überzeugt, dass ich sehr vieles nicht gemacht hätte, dass ich vielleicht schon aufgehört hätte, solche Lieder zu schreiben, wenn es nicht andere gegeben hätte, die mich angeregt haben, selber auch wieder neue Sachen zu machen. Warum gerade alle, die solche Lieder machen, Berner sind, das kann ich mir eigentlich nicht recht erklären. Ich höre oft den Satz: So etwas ist natürlich nur auf Berndeutsch möglich. Das hört man oft, wenn man nicht in Bern ist. Ich glaube das eigentlich gar nicht. Ich glaube, wenn einer kommt und es tut, ist es in jedem Dialekt möglich. Hohler: Gefallen deine Lieder deinen Kindern? Matter: Manche gefallen ihnen, andere nicht. Früher war es so, dass meine Kinder eigentlich nie meine Lieder am liebsten hatten, sondern diejenigen von Fritz Widmer, eines anderen Liedermachers. Was meine Kinder eigentlich mehr beschäftigt als die Lie der selbst, ist, dass die andern Kinder sie auch ken nen und dass sie, wie soll ich sagen, einen berühmten Vater ist zu viel gesagt, aber dass das für die andern Kinder, mit denen sie zusammenkommen, etwas be deutet, das beschäftigt sie ziemlich stark. Sie fragen zum Beispiel: «Kann denn der keine Lieder machen?» und «Warum macht denn der keine Lieder?» Das ist für sie irgendwie die Norm, das sollte doch ein Vater tun können. Ich habe auch schon versucht, Lieder speziell für meine Kinder zu machen, das ist aber nie besonders gut herausgekommen. Ich glaube, es ist nicht vorhersehbar, woran sie Freude haben und wo ran nicht, und wenn sie es nicht verstehen, so heisst es noch gar nicht, dass es ihnen nicht gefällt.

Panierte Fisch mit Chöhli . U d’Greeme, wo s zum Dessert git?

17 Aber das mit der Regenerierung der Mundart: Wir haben natürlich auch eine ziemlich starke berndeut sche Tradition, gegen die sich vom Berndeutschen her aufzulehnen relativ reizvoll ist. Bei uns hat der im Sinne des Veilchen- und Blüm chen- und Landwirtschaftsdichters schon immer einen guten Nährboden gefunden, und wenn man nun versucht, etwas Neues zu machen mit denselben Mitteln – das mag vielleicht ein zusätzlicher Reiz ge wesen sein.

Matter: Jooh, sicher in einem gewissen Sinn. Es kommt drauf an, was man unter Volksliedern ver steht. Ich knüpfe nicht an die Tradition der schwei zerischen Volkslieder an. Ich war kürzlich in einem deutschen Seminar, wo sie meine Lieder behandelt haben, und da hat der Professor darauf hingewiesen, dass ich eigentlich die Sprache ganz anders brauche, als sie in den herkömmlichen Volksliedern gebraucht werde, dass ich die Art der Verbindung zwischen Text und Melodie eigentlich von den Franzosen über nommen hätte. Gut also, in dem Sinn mache ich keine Volkslieder, aber wenn Volkslieder Lieder sind, die einem relativ breiten Publikum gefallen oder die von einem relativ breiten Publikum verstanden wer den, dann, glaube ich, wäre es nur von einer elitären Haltung aus abzulehnen, dass das auch Volkslieder sind. Ich bilde mir weder etwas darauf ein, dass ich Volkslieder mache, noch möchte ich mich dagegen verwahren, dass ich Volkslieder mache.

Hohler: Warum machst du keine hochdeutschen Lieder? Was isst dr Elefant z’Mittag?

Hohler: Hat das auch inhaltliche Konsequenzen? Matter: Ja, es hat inhaltliche Konsequenzen. Es gibt viele Dinge, die man auf Berndeutsch nicht sagen kann. Man kann zum Beispiel keine grossen Worte machen, man kann nicht viel abstrakte Begriffe verwenden. Es gibt gewisse Lebensbereiche, die von vornherein ausgeschlossen sind. Man könnte bei spielsweise auf Berndeutsch kein Matrosenlied ma chen. Man ist von vornherein auf den Lebensbereich, den man mit dem Berndeutschen bewältigt, be schränkt. Das ist einerseits eine Gefahr, andererseits ist es auch, wie jede Beschränkung, ein Vorzug. Dann hätte man Mühe, zum Beispiel politische Schlagwörter auf Berndeutsch zu verwenden, das würde irgendwie falsch tönen, weil man sich eben nicht so ausdrückt auf Mundart. Martin Walser hat einmal einen schönen Aufsatz über das geschrieben und hat gesagt, er habe sich früher oft damit ver gnügt, irgendwelche Wahlparolen oder Schlagwörter von Politikern auf Mundart zu übersetzen, und habe dann gefunden, dass sich bei dieser Übersetzungsarbeit die Sätze entlarvten, denn sobald man sie kon kretisieren muss – man muss ja immer konkretisie ren in der Mundart –, verlieren sie ihren Gehalt, sie zerflattern einem unter den Fingern. Man darf sich natürlich auch nicht zu viel darauf einbilden, denn die Leute, die Mundart sprechen, sind ja deswegen keine besseren Menschen.

Hohler: Kannst du ein Beispiel sagen für ein solches Lied?

18 Matter: Die Frage hat sich eigentlich gar nie praktisch gestellt. Es war von Anfang an so, dass ich nicht damit rechnen konnte, dass irgend jemand anderer meine Lieder singen könnte, sondern es ergab sich, dass ich sie selber singen sollte, und da ich nicht Hochdeutsch kann, musste ich sie wohl oder übel auf Berndeutsch schreiben. Dazu kommt noch, dass das Berndeutsche natürlich gewisse Vorteile hat gegenüber dem Hochdeutschen: Es ist literarisch viel weniger abgenutzt, man kann neue Reime erfinden, man kann neue Wortspiele erfinden, die in einer literarisch schon viel verwendeten Sprache viel seltener wären. Aber der Hauptgrund ist der, dass meine gesprochene Sprache Berndeutsch ist, und wenn es sich darum handelt, dass ich selbst etwas sagen oder sprechen soll – ich spreche eigentlich mehr als ich singe –, dann liegt es mir am nächsten, berndeutsch zu sprechen.

Matter: Ich muss leider gleich gestehen, dass ich die Lieder, die ich dann so mache, sehr selten singe, zum Beispiel der «Noah» war so ein Lied, von dem ich überzeugt war, dass es keinem Menschen irgendwas sagen werde.

Matter: Nein. Ich möchte nicht gern das Gefühl ha ben, ich müsste mich morgens um acht Uhr oder auch um neun Uhr oder wann immer in mein Stu dierzimmer begeben, um meine Familie zu ernähren und zu diesem Zweck wieder Lieder zu schreiben. Ich bilde mir ein, dass die Lieder, die ich schreibe und die zu schreiben ich mir die Zeit irgendwie nehmen muss, dass das dann wirklich nur die sind, die, von mir aus gesehen, einem Bedürfnis entsprechen. Ich

Hohler: Hast du nicht Lust, das hauptberuflich zu ma chen?

Matter: Ja. Es wird mir etwas unheimlich, wenn das Theater drei Wochen zum Voraus ausverkauft ist. Es ist ein gewisser Heroismus, wenn man sich vor einem halbleeren Saal behaupten muss. Und auch das Ge fühl, das die Leute haben, dass sie etwas entdeckt hät ten, wenn sie zu einem ins Theater kommen, das war früher für mich ziemlich viel wert. Heute habe ich die ses Gefühl gar nicht mehr, heute klatschen sie, bevor ich das Maul auftue, und das habe ich nicht gern. Ich hätte manchmal Lust, mich irgendwie zu verkleiden oder unter einem anderen Namen neu zu beginnen, nur um das wieder zu haben. Ich versuche dann auch, Lieder zu machen, die doch gar nicht mehr ankom men können, um mir zu bestätigen, dass ich dem Pu blikum nicht nach dem Maul singe. Ich glaube, dass das wirklich eine Gefahr ist, der man leicht erliegt.

Hohler: Machst du dir Gedanken über dein Publikum?

19 bin vielleicht noch von Schopenhauer beeinflusst, der gesagt hat, es könne nur besser werden mit der Schriftstellerei, wenn man einmal mit den Büchern kein Geld mehr verdienen könne. Das wäre mir ein ungutes Gefühl, wenn ich mein Geld mit der Singe rei verdienen müsste. Vielleicht auch, weil das eine Rolle ist, mit der ich mich nicht gern identifiziere, und wenn ich zwei Rollen habe, dann neutralisieren sie einander gegenseitig. Hohler: Guet.

Matter: (lacht) Gopfridschtutz, du machsch’s eim nid liecht. Dr Noah lang ischs här da het mal einen öppis afa boue öppis win e grosse chaschte d’lüt wos sy cho gschoue hei ne gfragt: was söll das gäh? es schiff, het dise gseit aber s’ isch keis meer gsy und kei see dert wyt und breit und me begryfft dass d’lüt hei gseit: däm ma däm spinnts und si hei d’chöpf ersch rächt gschüttlet wo das schiff du speter het e lengi übercho gha vo drühundert meter füfzig meter breiti dryssig höchi und du no sytlech i dr wand e grossi türe dry isch cho und me begryfft dass d’lüt hei gseit: däm ma däm spinnts und si hei ne gseh i ds schiff näh löien und nachtigallegiraffezebra elefante söi und affe schlange chüe rhinozeros gazälle känguruhdromedarundkolibri –vo allem geng es paar und me begryfft dass d’lüt hei gseit: däm ma däm spinnts und wo d’tier sy drinn gsy isch är sälber du mit syne sühn und syre frou und syne schwigertöchter yne d’lüt hei sech versammlet und gholeiet ussedra won er hinder sich die grossi türe zue het ta und me begryfft dass d’lüt hei gseit: däm ma däm spinnts aber druf hets afa rägne wi no nie uf ärde langsam het me d’fluet gseh stygen und geng höcher wärde einisch het dr ma no ghöre brüele: löht üs dry! aber gly druf isch zäntume totestilli gsy

Hohler: Dasch scho alls, jo. Matter: Guet. Hohler: Oder hesch no Antworte?

Matter: Isch das alls?

Mani im Wäschezuber

Der Vater war Fürsprecher, also Rechtsanwalt in Bern und hatte sich spezialisiert auf gewerblichen Rechtsschutz, Marken- und Patentrecht. Auf diesem Gebiet musste man sich nicht primär mit menschli chen Schattenseiten auseinandersetzen wie bei Schei dungen, Erbstreitigkeiten oder Straftaten, sondern konnte sich dem intellektuellen und formalen Spiel widmen, um das es bei den markenrechtlichen Ange legenheiten oftmals ging. Erwin Matters Kommentar zum Markenrecht, den er 1939 herausgab, galt lange als anerkanntes Fachbuch.

21 wo mir als bueben emal angeschrieben. Davor tummeln sich fröhliche Men schen im Wasser, und darüber steht als Widmung «pourVielleichttoua». ist diese sprachliche Situation mit ein Grund dafür, dass Mani später mit der berndeutschen Mundart auf eine so freie, fast respektlose Art umge hen konnte. Sie war für ihn nicht mit den Emotionen der Kindheit angereichert, sondern sie war, wie dies auch Kurt Marti betont hat, «umgangsschprach».

Er war auch der Geschichtenerzähler in der Fa milie. Am Sonntagmorgen improvisierte er jeweils mit kleinen Papierfiguren für seine Kinder Kasperligeschichten, auf Französisch. Während der Schulzeit von Helen und Mani begann sich das Sprachdiktat langsam zu lockern, und im Hause wurde vermehrt berndeutsch gesprochen. Der Vater war ein begeisAIs Sohn von Wilhelmine und Erwin Matter-de Haan wird Mani Matter am 4. August 1936 in Bern geboren. Er ist das zweite Kind und wird auf den Namen Hans-Peter getauft. Seine Schwester ist zwei Jahre älter und heisst Helen. Seine Mutter, die aus Holland stammte, hatte in der Schweiz eine Handelsschule besucht und war bis zu ihrer Heirat als Sekretärin tätig gewesen. Sie sagte zu ihrem kleinen Sohn zunächst Jan; seine Schwes ter, die noch nicht richtig sprechen konnte, machte daraus Nan, dann Nani, später, bei den Pfadfindern, wurde er Mani genannt, und dieser Name blieb ihm. Manis Mutter sprach flämisch. Da sie in Ant werpen eine französische Schule besucht hatte und ebenso gut französisch wie deutsch sprach, entschlossen sich die Eltern, mit ihren Kindern französisch zu sprechen; sie hofften, dass es für die beiden ein Vorteil sei, zweisprachig aufzuwachsen, und bezogen auch die jeweiligen Grosseltern in diese Sprachstrategie mit ein. Das heisst, dass Mani Matter, der Bern deutschdichter, Französisch als Muttersprache hatte, ein Französisch zudem, das sowohl für seinen Vater als auch für seine Mutter eine Fremdsprache war.

Der Zufall wollte es, dass Matters damals in einem Quartier wohnten, das vor allem von welschen Be amtenfamilien bewohnt war, so dass auch die Nach barkinder französisch sprachen. Zudem weigerte sich der kleine Mani so hartnäckig, den Kindergarten zu besuchen, dass er bis zum Schuleintritt bei der Mutter bleiben durfte. So lernte er Berndeutsch vor allem vom Dienstpersonal im Hause und später in der Schule. Aber mit seinen Eltern und mit seiner Schwester sprach er bis zur Schulzeit nur französisch. Auf einer Zeichnung, die er Helen als Achtjähriger schenkte, hat er ein Haus mit «Hotel Strandbad»

Manchmal brachte der Vater Muster von Entwick lungen oder Erfindungen nach Hause und besprach mit seinen Kindern, was zum Beispiel an der neuen Form einer Musikdose schützbar war oder welcher Teil der Käseverpackung einer bestimmten Firma unter den Markenschutz fiel. Bei der Lösung dieser eher skurrilen Denksportaufgaben fühlte er sich in seinem Element.

22 waltstätigkeit, zunächst als Angestellter, dann mit einer eigenen, gutgehenden Praxis. Wilhelmina Mat ter stand dem Haushalt vor, den sie mit Hilfe ver schiedener Bediensteter besorgte, die tage- oder halb tageweise für Hausarbeiten erschienen. Für die Kinder waren dies wichtige Personen, weil sie eine andere Sprache und eine andere Welt ins Haus brachten. Die Mutter selbst nähte mit Fantasie und Leidenschaft Kleider für sich und ihre Kinder. Dass Tochter und Sohn das Klavierspiel zu lernen hatten, war selbstver ständlich; dass es beide ungern, aber dennoch taten, ebenfalls.Jestärker die Welt ringsum aus den Fugen geriet, desto grösser war der Wunsch nach einer heilen Welt und ihren geordneten Formen. 1939 brachte der Vater beim Kriegsausbruch seine Familie nach Saanenmö ser, um sie vor einem deutschen Angriff fürs Erste Mani mit seiner Mutter WilhelminaMani mit seiner Schwester Helen terter Sprachspieler. Eine seiner Spezialitäten war das Verstecken von Ausdrücken in ganze Sätze, was etwa zur Fragestellung führte, wer einen Satz machen könne, in dem «Continental» vorkomme. Seine Ant wort: «Er konnt’ ihnen talabwärts entfliehen.» Auch Schüttelreime hatten es ihm angetan, einer, den Mani gern zitierte, beschäftigte sich mit der Ernährung der Kinder und lautet: Me git ne Milch u Heitibrei bis si die rächti Breiti hei .

Manis Freude an vertracktem Wortgebrauch, die spä ter in seinen Liedern zu spüren ist, hatte also in der Familie Tradition. Der Lebensstil im Hause Matter war bürgerlich. Erwin Matter ernährte die Familie mit seiner An

die Mutter in Manis 17. Lebensjahr an einem zu spät diagnostizierten Brustkrebs erkrankte, wurde dies vor den Kindern so lange wie möglich geheim gehalten. Mani selbst bezeichnete seine Jugendzeit als glücklich. Mit dem Tod der Mutter im Jahre 1953 war diese Zeit zu Ende.

23 zu schützen. Er war übrigens Mitglied der Offiziers gruppe um Hausammann und Oprecht, die für den Fall einer Schwäche des Bundesrates den nationalen Widerstand vorbereitete. Von allem, was die heile Welt gefährdete, ver suchten die Eltern die Familie zu verschonen. Als in Bern über den Bahnhofplatz gingen, während von der Heiliggeistkirche die Glocken läuteten . Wir traten in den Laden ein und sahen uns die Flugzeuge an Sie kosteten acht Franken Wir wollten schon enttäuscht wieder umkehren, da sagte die Verkäuferin: ‹Ihr könnt sie für sechs Franken haben . Weil Frieden ist .› Daran merkte ich, dass das Ende des Krieges ein wichtiges Ereignis sein musste .»

Eine Kindheitserinnerung von Mani, mit der er einen Vortrag zum Thema «Die Schweiz seit 1945 aus der Sicht der jungen Generation» einleitete

Mani mit Flugzeug «Im Jahre 1945, an dem Tag, als bei uns in Bern (und wahrscheinlich in der ganzen Schweiz) die Glocken läuteten, um das Ende des Krieges zu verkünden, da mals war ich noch nicht ganz neun Jahre alt Ich er innere mich an jenen Tag Einer meiner Schulfreunde und ich, wir hatten damals, ich weiss nicht mehr ge nau warum, aber sicher im Zusammenhang mit die sem freudigen Ereignis, die Summe von sechs Franken erhalten, und wir waren in die Stadt gefahren, um je dem von uns damit ein kleines Flugzeug zu kaufen, eines von denen, die man mit einer Gummischleuder in die Luft schiessen kann Ich erinnere mich, wie wir

Postkarte an Erika Stauffer-Demisch © Erika Stauffer-Demisch Mani Matter (zweiter v.l.) an einem Unterhaltungsabend der Pfadi

Während Jahren konnte man ferner im «Hallo», dem Mitteilungsblatt der Pfadfinderabteilung Patria, kleine Gedichte von Mani lesen. Nebenstehend und auf der nächsten Seite zwei Beispiele.

Von 1943 bis 1947 besuchte Mani die Primarschule Enge, von 1947 bis 1951 das Progymnasium am Wai senhausplatz, und von 1951 bis 1955 das Kirchenfeldgymnasium. Wenn man bei Mitschülerinnen, Mit schülern und Lehrern nachfragt, ob seine Selbstdar stellung als Schüler zutreffe (S. 14, «Wahrscheinlich war es vor allem auf meine Faulheit zurückzuführen, dass ich meine glänzenden Anfangserfolge eigentlich nie mehr wiederholt habe»), so erhält man als Antwort ziemlich übereinstimmend ein «Ja, aber …». «Natürlich war Mani faul; er hatte es nicht nötig, etwas zu tun, um ein guter Schüler zu sein (was er nicht wollte, aber einfach war)», schrieb sein Mathe-

25 Mani muss als Kind so etwas wie ein fröhlicher Grüb ler gewesen sein. Nachdenklich, ein Philosoph wohl schon damals, aber auch gesellig, beliebt bei seinen Kameraden. Mit acht Jahren ging er zu den «Wölfli», der Vorstufe der Pfadfinder, und seine damalige Wölfliführerin erinnert sich, dass er in drei Jahren keine einzige Samstagnachmittagsübung verpasste. Begeisterungsfähig sei er gewesen, von schnellem Auffassungsvermögen und «hundertprozentig zuver lässig». Auch von seiner Zivilcourage war sie damals beeindruckt. Normalerweise seien die Wölflifüh rerinnen von den Buben vergessen worden, sobald diese zu den Pfadfindern übergetreten seien. Mani habe sie aber jederzeit begrüsst, auch wenn die ande ren darüber gekichert und gewitzelt hätten. Mit grossem Eifer und ebenso grosser Treue war Mani nachher bei den Pfadfindern. Diese Art der Ge meinschaft bot ihm damals sehr viel, und er fühlte sich seinerseits herausgefordert, dieser Gemeinschaft etwas zu bieten. Sein erstes berndeutsches Chanson entstand für einen Pfadfinderabend, und auch spä ter, schon aus dem aktiven Pfadfinder-Alter heraus, schrieb er für die Unterhaltungsabende das Cabaret oder auch ganze Stücke, welche jeweils die eigentliche Attraktion dieser Anlässe darstellten. «Ds At tentat ufs Bundeshuus» hiess eines (hier taucht das Motiv seines Chansons «dynamit» auf), «Ds Stück vo de Zwärgli» ein anderes, «Jahrmarkt» ein weiteres, Stücke, in denen Mani sein clowneskes Formgefühl erprobte und mit Elementen spielte, die er später auch in seinen Chansons und den Theaterszenen des «Rumpelbuchs» benutzte.

Ds Lied vom Pfaderhuet, abgedruckt im Hallo, Oktober 1954 © Nachlass Mani Matter, Schweizer Literaturarchiv

26 matik- und Physiklehrer, und «II ne pouvait s’intéres ser qu’à l’essentiel» sein Französischlehrer. In der Be schreibung jedes Lehrers schimmert etwas durch von dem, was eine Mitschülerin meinte, die sagte, Mani sei für die Lehrer eine Bedrohung gewesen, und zwar gerade durch seinen Sinn für das Wesentliche, der eben an der Schule mit viel zu viel Unwesentlichem konfrontiert wurde. «Kritisch-abwartende Haltung eines jungen Menschen, der mit sich selber noch nicht im Reinen ist», nannte es sein Deutschlehrer, «ein finsterer Blick und ein heiteres Gemüt» sein Mathematiklehrer.DassManinicht sehr redselig gewesen war, wird von Kollegen und Lehrern bestätigt. Während von Mitschülern gesagt wurde, er habe mit einer kleinen,

bissigen Frage ganze Gedankengänge der Lehrer sa botiert, ein Vorgang, auf den man geradezu gewartet habe, meinte ein Lehrer: «Er war so sensibel, dass er sich durch irgendeine Äusserung seines Lehrers oder eines Mitschülers, mit der er nicht einverstanden war, persönlich verletzt fühlen konnte; seinen Wider spruch sah man alsdann in seinem missbilligenden, mitunter gequälten Gesichtsausdruck.» Keiner der noch erreichbaren Lehrer sagte, dass er in seinem Fach überragende Qualitäten gehabt habe, aber jeder billigte ihm eine grosse Leichtigkeit im Umgang mit dem Stoff zu: «Mani hätte geradeso gut Mathemati ker oder Physiker werden können, wenn man von der Begabung her urteilt», schrieb sein Mathematiklehrer, fuhr aber weiter: «Ich erwartete von seinen Interessen Brief aus dem Lager, abgedruckt im Hallo, Juli 1959 © Nachlass Mani Matter, Schweizer Literaturarchiv

Erwin Matter und Wilhelmina Matter-de Haan

Franz Hohler Geb. 1943 in Biel, lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler der Schweiz. Franz Hohlers Schaffen ist vielfältig: Es umfasst Kabarett- und Thea terstücke, Kinderbücher und -hörspiele, Romane, Gedichte und Kurzgeschichten, Filme und Fernsehproduktionen. Seine Werke wurden vielfach übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis (2013) und dem Johann-Peter-Hebel-Preis (2014). www.franzhohler.ch © Christian Altorfer

Fünfzig Jahre nach seinem tragischen Tod ist Mani Matters Popularität ungebrochen. Immer noch singen Schulkinder auswendig seine Lieder. Junge Musikerinnen und Musiker vertonen seine berndeutschen Texte. Seine Chansons, die er selber auf unverwechselbare und brillante Art vorzutragen wusste, gehören zur Volkspoesie. Mani Matter ist zur Legende geworden. Wer war er wirklich? Worauf beruht die Wirkung seiner Lieder? Welches ist seine literarische Bedeutung? Diesen Fragen ist Franz Hohler nachgegangen, der mit Mani Matter über Jahre hinweg befreundet war. Aus Tagebuchnotizen und Selbstdarstellungen Mani Matters, aus Äusserungen seiner Freunde, aus Fotografien und Dokumenten hat Hohler einen Porträtband zusammengestellt, der die menschliche und schöpferische Vielfalt Matters zeigt. Neben der Geschichte seiner Lieder kommen auch seine Tätigkeit als Jurist, seine Herkunft und sein politisches Engagement ausführlich zur Sprache. ISBN 978-3-7296-5093- 0 9 783729650930

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