Schulkunst Edition Zeichnen 2015/16

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Tanz und Zeichnung – Polyphonie der ephemeren Spuren im Raum Ninel Çam

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Körperachsen

Zweite Aufgabe: Raumzeichnungen ›Raumzeichnungen‹ setze ich oft als Nachfolger der ersten Aufgabe ein. Nachdem diese den Druck des ›Tanzen-sollens‹ – ›Zeichnen-sollens‹ entschärft und im besten Fall aufgehoben hat, bitte ich die Tanzenden aufzustehen und in den Raum zu zeichnen. In die Leere. Sie sollen sich vorstellen, dass ihre Finger fähig sind, Spuren im Raum zu hinterlassen. Sie dürfen sich ihre Finger als unterschiedliche Zeichenwerkzeuge in unterschiedlichen Größen vorstellen. Sie können sie in unterschiedlichen Stärken und variierende Transparenz einsetzen, aber auch wieder radieren oder löschen. Sie können auch die Beschaffenheit ihrer Spuren selbst bestimmen. Die Lust an so einer Aktivität ist das Einzige, was da gefragt ist und auch das Ziel dieser Übung. Ohne dass sie darum gebeten worden sind, werden die Tänzer anfangen, sich im Raum zu bewegen. Beeinflusst von der Musik, die sie hören, werden sie sich mehr und mehr in das Tänzerische hinein bewegen. So sind es nicht mehr nur die Finger, die tanzen, wie bei der ersten Aufgabe, sondern der ganze Körper. Bei dieser Aufgabe agiert der Körper im Raum, und der Tanzende kann den Raum erleben. Auch wenn diese Aufgabe es nur den Fingern überlässt im Raum zu zeichnen, erfährt der ganze Körper, der den Fingern folgt, den Raum in seinen Qualitäten. Er wird gewissermaßen zum Tanzpartner und ist fähig mit dem Tanzenden in einer subtilen Art zu kommunizieren. Da man frei ist, seine Bilder in unterschiedlichster Größe, Tiefe

und Höhe zu erschaffen und auf den Rhythmus der Musikstücke zu reagieren, ist es auch bei dieser Aufgabe sinnvoll, diese Übung ein paar Mal zu wiederholen. Den Raum als Tanzpartner sich anzueignen und diese Beziehung forschend einzugehen braucht Selbstsicherheit. Das Positive daran ist, dass es den Tanzenden Selbstsicherheit verleiht, wenn dies mit Hilfe einer Aufgabe von selbst passiert. Dieses Gefühl von ›Selbstsicherheit‹ ist eine wichtige Voraussetzung für das Erreichen des sogenannten »Flow«.

Dritte Aufgabe: Polyphonie der ephemeren Spuren Bei dieser Aufgabe stelle man sich vor, dass man mit unterschiedlichen Körperteilen gleichzeitig Spuren im Raum zeichnen kann. Die Polyphonie der ephemeren Spuren im Raum ist angesagt. Bevor ich die Tänzer zur Umsetzung dieser Aufgabe einlade, spreche ich mit ihnen darüber, wie wir mit unserem Körper Punkte, Linien und Flächen in den Raum schreiben können und welche Körperteile für welche Elemente einsetzbar sind. Die Musikstücke, die je nachdem ob sie mit prägenden Rhythmen gestaltet oder eher sphärisch sind, unterschiedliche Gefühle ansprechen, sollte man bei jeder Wiederholung verändern, damit die Tänzer während sie sich im Raum bewegen und unsichtbare Spuren mit ihren Körpern hinterlassen, motiviert sind unterschiedliche Qualitäten zu erforschen.


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