Young Struggle Magazine Nr.86 -Mai/Jun 2021

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POSTMODERNISMUS IM TREND Von Butler bis Adorno: Eine desorientierung der Arbeiter:innen-Klasse. Woher kommen postmoderne Ideologien und was sind ihre Merkmale?

AUFRUF ZUM ROTEN 1.MAI! Wir werden die Ungerechtigkeiten nicht länger hinnehmen! Der 1.Mai muss zu einem Audruck verbundener Kämpfe und vereinter Kräfte gegen die Herrschaft der Kapitalistenklasse werden!

GEZI DIARIES Mai, 2013, Istanbul. Das unterdrückte Volk holt zu einem Befreiungsschlag aus. ESP Mitglieder berichten von ihren Erfahrungen hinter den Barrikaden.


LIEBE LESER:INNEN, tuellen Pandemie befassen und die kämpferische Notwendigkeit eines 1. Mai 2021. Außerdem ist euch eventuell schon das überTrotz der aktuellen pande- arbeitete Design der Zeitmiebedingten Unregelmä- schrift ins Auge gefallen. ßigkeit sind wir stolz darauf die Presse nicht aufgeben 2021 ist ein Jahr in dem zu müssen und abgese- auch dem letzten Klar sein hen von der Print Ausgabe sollte, der Kapitalismus ist sogar unsere Arbeiten mit nicht in der Lage die Proselbstgedrehten Doku- bleme der Menschheit zu mentationen, einen Online bewältigen. Das revolutioBlog und Podcasts ausbau- näre Potenzial ist enorm. en konnten. Alles findet Unsere Aufgabe als Revoihr auf unserer Webseite lutionär:innen ist es dieses Young-Struggle.org und Potenzial zu entfachen und unsren Social Media Kanä- die Massen an der Hand zu len (Links auf der Rückseite nehmen. Wie Che Guevara sagte „Wissen macht uns der Zeitschrift). verantwortlich.“ in der HinIn der aktuellen Ausgabe sicht, dass es unsere Auffindet ihr Stimmen von Re- gabe ist ein revolutionäres volutionär:innen aus Istan- Bewusstsein bei unseren bul und den Philippinen, Mitmenschen zu schaffen. Artikel die sich mit der ak- Deshalb: Schreibt, lest, Die Young Struggle Redaktion freut sich euch diese neue Ausgabe präsentieren zu können.

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1 | Von der Redaktion


Seite 3:

Aufruf zum Roten 1.Mai

Seite 5:

Seite 11:

Corona und Schule SEITE 3

Seite 13:

Gezi Diaries: Berichte von ESPRevolutionär:innen

Seite 17:

Kein Ende der Pandemie: Patente schützen im Namen des Kapitalismus

SEITE 5

Seite 19:

Frauen und die Corona Pandemie

Seite 21:

Die Existenzielle Krise des Kapitalismus

Seite 23:

Kampf um den Danni

Seite 26: SEITE 11

SEITE 13

Rondenbarg Prozesse: Repression auf höchstem Niveau

Seite 27:

I N H A LT S V E R Z E I C H N I S

Von Adorno bis Butler: Postmodernismus im Trend

Die Debatte um „Self-Care“

Seite 32: SEITE 19

SEITE 27

Podcast-Empfehlungen

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„Der Kapitalismus neigt dazu, seine beiden Reichtumsquellen zu zerstören. Natur und Menschen.“ „Ein sozialen Systems, das seinen Wohlstand erhöht, ohne sein Elend zu verringern, muss zu tiefst verrotet sein.“ -Karl Marx

1 | Von der Redaktion 3 | ORGANIZE


Wir werden die Ungerechtigkeiten nicht länger hinnehmen!

AUFRUF ZUM ROTEN 1. MAI! Die Situation in Deutschland und auf der Welt spitzt sich immer weiter zu. Jede:r weiß, dass die Corona-Pandemie vieles verändert hat und viele Widersprüche besonders deutlich hervortreten. Die revolutionäre Linke hat es bisher verpasst eine passende Antwort auf die aktuellen Fragen zu finden. Man hat es verpasst, die Situation zu nutzen und die Legitimität des Staates zu untergraben. Anders als die faschistischen Kräfte hat man erst sehr spät auf die Politik und die Maßnahmen reagiert und es nicht geschafft eine Massenbewegung auf die Füße zu stellen. Das Resultat dessen sehen wir jeden Tag in den Nachrichten: Faschisten zu Tausenden auf den Straßen, Maßnahmen gegen die Arbeiter:innenklasse und für die Profite der Bonzen und eine Handlungsschwache Linke, die Petitionen startet und es kaum schafft sich auf den Straßen den Faschisten entgegen zu stellen. Dies muss sich ändern! Es gibt genug Ungerechtigkeiten, die bekämpft werden müssen und gegen die wir auf die Straßen gehen müssen. Arbeit, Schule, Uni, Femizide (Frauenmorde), Rassismus, die Corona-Pandemie, Umweltzerstörung, Geflüchtetensolidarität, Perspektivlosigkeit, Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung; es gibt mehr als genug, was die Massen beschäftigt. All diese Themen müssen zusammengebracht werden und vereint auf die Straßen getragen werden.

Zu der Geschichte des 1.Mai Der allererste 1. Mai war ein Tag im Jahr 1986, an dem in Chicago Tausende Arbeiter:innen gestreikt und gefordert haben, dass der 12-Stunden-Arbeitstag abgeschafft wird. Mehrere Tage lang gab es Aktionen, bis es zu einem Bombenanschlag kam und die Polizei mehrere Arbeiter:innen erschoss und Dutzende verletzte. 1890 erklärte die zweite Internationale den 1. Mai zum internationalen Kampftag der Arbeiter:innenklasse und seit dem ist er es auch geblieben.

Der 1. Mai war schon immer der bedeutendste Tag der Arbeiter:innenklasse und in diesen historischen Jahren ist es unsere Aufgabe ihm seine Bedeutung wieder zu geben und, mit aller Kraft und Energie, wieder zu einem Tag des Wiederstandes zu machen; zu einem Tag, an dem Tausende auf der Straße sind und zeigen, dass sie die Ungerechtigkeiten nicht länger hinnehmen! Kein anderer Tag ist von solch einer Wichtigkeit wie der 1.Mai und es liegt in unserer Verantwortung, diese Bedeutung hervorzuheben und ihn wieder zu einem Kampftag zu machen. Dabei können wir nicht auf die Gewerkschaften warten oder vertrauen, sondern müssen wir selber anfangen diesen Tag vorzubereiten und zu organisieren. Egal wie lange wir organisiert sind, wie viel wir von Marx oder Lenin gelesen haben, ob wir Schüler:innen, Azubis oder Arbeiter:innen sind. Ladet alle Freund:innen und Kolleg:innen ein, die ihr kennt! Diskutiert mit ihnen, organisiert sie, bietet ihnen an, dass auch sie aktiv werden und selber organisieren können! Seid die kraftvollsten, energischsten und entschlossensten Revolutionär:innen in eurer ganzen Stadt und steckt jeden mit eurer Energie und Willenskraft an. Lasst euch von Ivana, Baran, Hasan, Yasemin und allen anderen unsterblichen Genoss:innen inspirieren und tragt ihre Fahnen weiter!

Erst dann werden wir unserer Aufgabe gerecht und schaffen es unseren Kampf für Gerechtigkeit und Sozialismus auf neue Ebenen zu heben. Erst dann wird der 1. Mai wieder ein Kampftag sein. Erst dann werden die Bonzen in ihren Villen zittern und Angst haben vor der neuen Welt, die wir errichten werden!

Es lebe der 1.Mai! Es lebe der Sozialismus! Hoch die Internationale Solidarität!

YOUNG STRUGGLE Vorstand

ORGANIZE | 4


Es gibt heutzutage ein neues Erwachen linker Bewegungen in vielen Teilen der Welt. Von den #EndSARS Protesten in Nigeria über die internationale Black Lives Matter Bewegung, die die USA in Brand gesetzt hat, bis

gungen sehen wir starke postmoderne Einflüsse: zum Einen durch

drängen würden. Dabei bleibe kein Platz für Menschen, die nicht in Mann Frau einzuordnen sind. Viele migrantische linke Aktivist:innen haben eine lange Zeit in weiß geprägten linken Strukturen verbracht, in denen sie immer wied er mit Rassismus konfrontiert wurden und unterdrückt wurden; in denen sie, ihre Geschichten, ihre Identität immer wieder nicht verstanden oder sich nicht dafür interessiert wurde auch wenn die Menschen um sie herum sich als „Genoss:innen“, „ innen“ und „Antirassist:innen“ bezeichneten. Auch hier ist es ein sehr legitimes Bedürfnis, sich mit anderen Menschen, die ähnliche Diskriminierung

zum größten Streik der Menschheitsgeschichte in Indien: 2020 war ein Krisenjahr und es war ein Jahr der Kämpfe. Das Attentat von Hanau und der Mord an George Floyd haben auch bei uns in Deutschland zu einem Erstarken der antirassistischen Bewegung wie seit langem nicht mehr geführt. Genau so wächst auch die Bewegung von Frauen, trans und inter Menschen, angezogen durch die weltweiten Frauenaufstände, seit Jahren kontinuierlich an. Bei beiden Bewe-

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migrantische Identitätspolitik, zum anderen durch Queerfeminismus. Diese Ideologien, die beide auf dem Postmodernismus beruhen, geben den betroffenen Menschen Antworten auf Bedürfnisse, die vorher nicht gehört geschweige denn beantwortet wurden. Der Queerfeminismus entstand nicht zuletzt als Kritik, dass die Frauenbewegung viel zu fokussiert auf heterosexuelle, an zweiter Stelle auch lesbische Frauen sei und in der Homosexuellenbewegung schwule Männ er sich in den Vordergrund

erleben, zusammenzuschließen und es ist sehr verständlich, dass gesagt wird, Weißen könne nicht mehr vertraut werden und nicht mehr mit ihnen zusammengearbeitet werden. Während die eigene Identität in der Gesellschaft ständig geleugnet und herabgewürdigt wird, ist es sehr nachvollziehbar, diese in den Mittelpunkt des eigenen Kampfes zu stellen. Postmoderne Ideologien geben jedoch auf alle diese legitimen Bedürfnisse keine richtigen Antworten und zeigen auch keinen Weg zur Befreiung von rassistischer, pa-


triarchaler oder heteronormativer Unterdrückung. Ganz im Gegenteil stabilisieren sie Kapitalismus und Patriar chat, mit ihnen auch Imperialismus und Heteronormativität. Aber fangen wir von vorne an.

Die imperialistische Globalisierung Die 90er Jahre, die Zeit, in der postmoderne Ideologien erst wirklich an Stärke gewonnen haben, waren nicht einfach nur die Zei t des Zusammenbruchs des Ostblocks und des Endes des Kalten Krieges. Dieser Sieg brachte dem Kapitalismus die Möglichkeit,

noch einmal einen Sprung zu machen und sich entscheidend weiter zu entwickeln. Die Formen der Ausbeutung haben sich sehr verändert seit Marx, Engels und auch Lenin ihre Analysen gemacht haben. Wegen eben jener Veränderungen sprechen die Postmodernist:innen und „Postmarxist:innen“ davon, dass der Marxismus überholt wäre und die Ideologie einer vergangenen Zeit. Die Industrie wurde in unterdrückte Länder ausgelagert und in den imperialistischen Ländern trat mit Informationstechnologie und Digitalisierung in erster Linie der Dienstleistungssektor in den Vordergrund. Die Produktions-

prozesse wurden globalisiert, eine Jeans wandert durch 10 Lä nder, bis sie gekauft wird, und damit wird die Entfremdung der Arbeiter:innen von dem Produkt ihrer Arbeit auf die Spitze getrieben; die Arbeiter:innenklasse wird zersplittert. Das Kapital wird in den spekulativen Bereich verlagert, Raubindustrie nimmt zu und die Mittelschicht in den imperialistischen Ländern kann vorübergehend davon profitieren und sich denken, am Märchen vom allgemeinen Wohlstand im Kapitalismus wäre doch was dran. Entgegengesetzt zur Fragmentierung, Zersplitterung der Arbeiter:innenklasse schreitet die Monopolisierung des Kapitals voran. Wie gerade eben schon angesprochen, wird

Staatseigentum privatisiert. Die Monopolisierung von heute konzentriert sich auf Konzerne, die wirklich eine größere Finanzkraft erreicht haben als Staaten. Die souveränen Rechte, die sich die Menschen in den Neokolonien in ihren Aufständen und Revolutionen gegen den Kolonialismus erkämpft haben, wurden ihnen kaum wirklich gegeben und schon wieder entrissen, um sie auf internationale Finanzinstitu te und imperialistische Staaten zu übertragen.

also der Vereinigung, des Kapitals auf der anderen Seite. Diese beiden Entwicklungen stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Der Postmodernismus fördert diese Fragmentierung und Desorganisation der Arbeiter:innenklasse ideologisch und arbeitet damit vollkommen im Interesse der herrschenden Klasse. Es wird das Ende der Arbeiter:innenklasse, das Ende der Ideologien und der Sieg der liberalen Demokratie über den Kommunismus propagiert. Daraus soll eine Gesellschaft ohne Widerspruch und Richtung geboren sein.

Die Realität ist jedoch, dass die Widersprüche in der Gesellschaft sich Tag um Tag verschärfen, dass die „Ideologielosigkeit“ von der sie sprechen, die Herrschaft der bürgerlichen Ideologie ist und dass die Gesellschaft sich sehr wohl in eine Richtung entwickelt: immer tiefer in die Krise, oder auch in den Sozialismus oder in die Barbarei

Die Zersplitterung der Arbeiter:innenklasse ist verbunden mit der ständig zunehmenden Integration,

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Postmoderne Probleme Mit der stärkeren Verbreitung von postmodernen Ideologien innerhalb der linken Bewegung in Deutschland, aber allgemein auch in den meisten westlichen Ländern, sind bestimmte Probleme in der Praxis immer wieder aufgekommen.

1. Betroffenheit Das erste Problem kommt mit dem Thema „Betroffenheit“ auf. Betroffenheitspolitik ist eine logische Folge der subjektivistischen Ideologie der Postmodernist:innen, die sich nicht nach objektiven Bedingungen, sondern nach subjektiven (persönlichen) Gefühlen von Menschen ausrichtet. Menschen, die nicht betroffen sind von einer Diskriminierung, sei es Rassismus, Sexismus oder etwas anderes, sollen zu diesen schweigen. Auf der anderen Seite können aber auch die Aussagen von betroffenen Menschen oft kaum noch kritisiert werden, besonders von nicht betroffenen Menschen. Es ist ein wichtiger Schritt zu sagen, dass wir Menschen, die aus rassistischen oder sexistischen Gründen immer wieder am Sprechen gehindert werden, dazu ermutigen. Genauso ist es auch richtig, dass wir sie gerade ermutigen wollen, zu der Unterdrückung, die sie selbst erleben, zu sprechen. Es ist viel wertvoller, wenn eine Schwarze Person sich bei einer Demo auf eine Bühne stellt und den Rassismus anklagt und sagt, dass er bei der Wurzel, dem Imperialismus, gepackt und revolutionär bekämpft werden muss, als wenn ein weißer Professor das sagt. Weil diese Person eine Mauer durchbricht, um überhaupt auf die Bühne zu kommen und weil ihre Organisierung eine direkte Organisierung gegen die eigene Unterdrückung bedeutet.

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Wenn diese Person aber davon spricht, dass wir den Rassismus abschaffen können, indem wir ganz viele Kamela Harris‘e (Schwarze Vizepräsidentin der USA) in die Parlamente der Welt setzen, dann ist das für die sozialistische und antirassistische Revolution um einiges weniger wertvoll als ein weißer Professor, der Menschen gegen Imperialismus organisiert. Weil eine Person einer privilegierten Gruppe angehört bedeutet das nicht, dass sie objektive Tatsachen nicht verstehen kann. Genauso wenig muss eine Person aus einer unterdrückten Gruppe diese Tatsachen verstehen. So wie Marx als Kind von Kapitalisten trotzdem die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution erkennen konnte, konnte er durch seine Analyse des Kapitalismus und des Kolonialismus auch viele wertvolle Erkenntnisse für den Kampf gegen den Rassismus liefern. Wenn wir diese nicht nutzen, weil er weiß ist, ist das unsere eigene Dummheit.

2. Schicksalsglaube Postmoderne Ideolog:innen betrachten nicht die Ursprünge von Unterdrückung, sondern bloß den Jetzt-Zustand. Wir können die Menschen in der heutigen Gesellschaft in Betroffene und Nicht-Betroffene von verschiedenen Unterdrückungsformen einteilen. Aber wenn wir die Ursprünge der Unterdrückung, zum Beispiel die Entwicklung des Rassismus zur Legitimierung der kolonialen Ausbeutung, betrachten, dann können wir auch sehen, wie wir diese Unterdrückung abschaffen können. Und wenn wir sie abschaffen können, indem wir die Verhältnisse verändern, dann verstehen wir einen entscheidenden marxistischen Grundsatz: die verändernde Kraft des Menschen. Nichts ist in Stein gemeißelt, jedes System kann umgeworfen werden, wenn wir darum kämpfen. Der Postmodernismus hingegen verfällt in eine Art Schicksalsglauben:

wer nicht betroffen ist, kann nicht verstehen. Das System ist so, und anstatt ihm die Grundlage zu entreißen, können wir nur Leute dazu auffordern, ihre Privilegien zu checken, um das Leben ein bisschen angenehmer zu machen, weil ein paar mehr Leute ein bisschen etwas reflektiert haben.

3. Repräsentation Wir sprachen gerade eben von der Forderung „Kamela Harris für alle und überall“. Das klingt ein bisschen lächerlich, aber die Forderung nach mehr Repräsentation rassistisch/ sexistisch unterdrückter Menschen in den bürgerlichen Institutionen kommt auf‘s selbe hinaus. Sie ist eines der Beispiele reformistischer Forderungen, die heutzutage oft laut werden: „mehr Diversität“, „mehr Repräsentation“ und dann schaffen wir schon alles. Entscheidend im Kapitalismus ist aber nicht, welche Hautfarbe oder welches Geschlecht die Person im Weißen Haus hat. Entscheidend ist, dass die Macht in diesem System immer noch bei denen liegt, die die Mittel haben, sich durchzusetzen: Kapital. Und dieses erwirtschaften sie weiter auf den Rücken der Arbeiter:innen und Unterdrückten. Einzelne Frauen, einzelne Schwarze Menschen, usw. können vielleicht in die Chefetagen reinkommen, aber Barack Obama und Angela Merkel haben gezeigt, dass sie deshalb keine Politik für die Unterdrückten machen werden. Sie gehen nicht in die Parlamente und „repräsentieren“ dort ihre unterdrückte Identität; sie kommen in diese Positionen, weil sie ihre unterdrückten Identitäten verleugnen für ihr Klasseninteresse.

4. Wutpolitik? Im Gegenteil zum Marxismus, der immer versucht, die objektive Wahrheit und allgemeine Gesetze zu erkennen, beruht der Postmodernismus auf Subjektivität; eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen einzelner


Menschen. Da Postmodernist:innen subjektive Wahrnehmungen in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen, stehen sie der marxistischen Suche nach allgemeinen Gesetzen, nach Gemeinsamkeiten, feindlich gegenüber. Es wird immer das subjektive Empfinden betont und subjektive Gefühle können nicht so einfach verallgemeinert werden, das ist klar. Aber was wollen wir verändern: die Umstände, die uns wütend machen? Oder die Wut? Wenn wir die Gefühle, die doch Antwort sind auf die Umstände, unter denen wir leben, zur Grundlage unserer Politik machen, dann packen wir das Problem nicht bei der Wurzel, sondern bei den Blättern. Dann sind wir nicht radikal, sondern werden uns am Ende zwischen Reformen und ständigem Streit um tone policing, um Gefühle und Interpretationen verlieren. Wenn unsere Politik daraus besteht, zu sagen, dass unsere Wut berechtigt ist und wir sie rauslassen können; wohin führt uns das? Wir gehen raus, lassen unsere Wut raus, haben kein konkretes Ziel, das wir angreifen, und gehen wieder nach hause. Diese Politik zerstört nicht das System, das uns unterdrückt – sie erhält es. Es geht keiner Marxistin darum, den Wert der Gefühle irgendeines unterdrückten Menschen abzusprechen. Ganz im Gegenteil: wir wollen die Wut aller Unterdrückten vereint gegen die Kapitalisten, Imperialisten, Sexisten richten, die mit ihren täglichen Schlägen unsere Wut auslösen. Wir wollen die Wut auf ihre objektive Grundlage stellen und ihr damit die Schlagkraft, die Berechtigung und das Ziel geben, das sie verdient.

5. Bedürfnisse und Gefühle Das Thema „Gefühle“ ist auch an einer weiteren Stelle in dieser Diskussion sehr wichtig. Es wird momentan sehr viel über Bedürfnisse diskutiert. Kollektive Bedürfnisse nach Selbstorganisierung in Räumen frei von z.B. Rassismus auf der einen Seite, individuelle Bedürfnisse nach Ruhe, Sicherheit oder auch danach, Wut rauszulassen auf der anderen Seite. Der politische Hintergrund dieser Bedürfnisse wird immer öfter aufgezeigt, z.B. nach Ruhe in einem Alltag, der einen die gan-

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ze Zeit auseinandernimmt oder nach Rückzug wegen psychischer Krankheiten, die wir in diesem System bekommen haben. Es ist ein sehr guter Schritt, dass Menschen sich trauen, zuzugeben, dass sie nicht der perfekte Leistungsroboter dieses Systems sind oder dass die Hintergründe ihrer Probleme nicht einfach nur „privat“, sondern sehr politisch sind. Es ist nicht nur gut, es ist wirklich revolutionär, das anzuerkennen, offen auszusprechen und anzuklagen. Die Frage ist jedoch, was für Schlüsse wir daraus ziehen: sind politische Organisationen nur dazu da, uns Raum für unsere Bedürfnisse zu geben? Letztlich behaupten wir von uns, Revolutionär:innen zu sein, die den Kapitalismus – das am weitesten entwickelte Unterdrückungssystem in der Geschichte der Menschheit, mit Herrschern, die jede Foltermethode und bis zu Atomwaffen an der Hand haben, um unsere Widerstände niederzuschlagen – durch eine Revolution beenden und an seiner Stelle eine sozialistische

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Gesellschaft frei von Ausbeutung aufbauen wollen. Revolution bedeutet Krieg. Dieser Kampf gegen die Unterdrückung wird immer schmerzhaft sein und niemals Rücksicht auf unsere Bedürfnisse nehmen. Revolutionäre Organisierung ist eine Entscheidung; mit all den Schönheiten und Freiheiten des revolutionären Lebens und mit all den Schmerzen. Genauso ist es eine Entscheidung für das Kollektiv und für das uneingeschränkte Vertrauen und die Hingabe für unsere Genoss:innen. Wir stellen dem individualistischen „Rette dich selbst, sonst macht es niemand“ des Kapitalismus Kollektivität, Organisierung, Verantwortungsbewusstsein und das gegenseitige Einstehen füreinander entgegen. Das bedeutet aber auch, an manchen Stellen die eigenen Grenzen zu überwinden, damit die Genoss:innen auf eine:n zählen können.

Unsere Befreiung gibt es nicht alleine: Entweder zusammen oder keine! Wie schon zu Beginn gesagt, haben die Postmodernist:innen eine so hohe Beliebtheit erreicht, weil sie auf einige sehr legitime Bedürfnisse von Unterdrückten versuchen, Antworten zu geben. Leider sind diese Antworten nur auf den ersten Blick so schön wie sie klingen und eigentlich genau das Gegenteil von dem, was benötigt wird. Aber was ist denn unsere Alternative? Zum einen muss sicherlich innerhalb der linken und marxistischen Bewegung eine viel stärkere Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Unterdrückungen geführt werden. Wenn es ein Bedürfnis nach Selbstorganisierung von unterdrückten Gruppen gibt, dann sind wir Marxist:innen


die letzten, die sich dagegen stellen würden. Jede Organisierung, die Menschen eine Möglichkeit zum Kämpfen bietet, ist eine gute Sache. Aber es muss sich auch bei jeder Organisierung gefragt werden: was für einen Platz nimmt dieser Kampf auf dem Weg zur Revolution ein? Was ist das Ziel dieser Organisation? Der migrantische antifaschistische Kampf zum Beispiel wird dabei immer als Teil des antifaschistischen Kampfes und dieser wiederum als Teil des Klassenkampfes gesehen werden. Ist die Selbstorganisierung nun also ein Selbstzweck, um zum Beispiel Räume zum freien Austausch zu schaffen, oder ist sie ein Mittel im revolutionären Kampf? Wenn sie letzteres ist, dann muss sie immer in der Einheit mit allen anderen Fronten des Klassenkampfes in einer gemeinsamen Partei der Arbeiter:innenklasse geschehen, um erfolgreich zu sein. Dabei ist es wichtig, subjektive Perspektiven aller Genoss:innen vor Augen zu haben, aber wir können und müssen auch einen Anspruch auf Objektivität haben. Einen Anspruch darauf, dass wir gerade durch unsere gemeinsame Stärke in einer Organisation voneinander lernen und eine gemeinsame objektivere Sicht auf die Realität entwickeln können. Postmoderne Ideologien sind bürgerlich und reaktionär. Sie sind der ideologische Ausdruck des Interesses der Klasse der Kapitalisten, genauer der imperialistischen Monopolbourgeoisie, im Stadium der imperialistischen Globalisierung. Historisch leisteten die Postmodernisten die ideologische Vor (und Nach-)arbeit dazu, dass in den 90er Jahren mit dem Zerfall der Sowjetunion das „Ende der Geschichte“, der endgültige Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, das Ende der Klassen und das Ende der Ideologien erklärt wurde (und jeden Tag

immer noch wird). So sehr, wie die Postmodernisten jeden Tag erklären, es gäbe keine Klassenwidersprüche mehr, sondern nur noch „die Norm und die Anderen“, so sterben jeden Tag Menschen, weil sie bis auf die Knochen ausgebeutet wurden, so sehr wachsen die Klassenwidersprüche und die Krisen des Kapitalismus immer weiter an. So sehr, wie sie vom „Ende der Ideologien“ sprechen, sind sie selbst die Vertreter der herrschenden Ideologie und machen uns, die Marxist:innen, als ihr ideologisches, politisches, real kämpfendes Gegenstück notwendig. Und so sehr sie vom „Ende der Geschichte“ oder der, wie sie es sagen, „großen Erzählungen“ sprechen, so sehr schreiben die Kämpfe der Arbeiter:innen und Unterdrückten auf der Welt jeden Tag weiter Geschichte.

als jemals zuvor. Aber wir sehen: die Geschichte ist auf unserer Seite, der Kapitalismus schafft es nicht mehr, sich aus seinen Krisen zu retten und damit wird unser Lager der Ausgebeuteten, Abgehängten und Unterdrückten jeden Tag größer.

Wir haben nichts zu verlieren – wir können nur gewinnen! Sarah, Frankfurt

Wir stecken in einer weltweiten Krise und alle die Bewegungen von Chile bis nach Indien zeigen, dass die Wut da ist. Aber wohin wir auch schauen, an den meisten Orten fehlt die Kraft, die diese Wut der Arbeiter:innen und Unterdrückten in einer kommunistischen Partei organisieren würde. Eine Partei, die standhaft organisiert ist, die alle verschiedenen gesellschaftlichen Kämpfe in sich vereint und sie in eine revolutionäre Richtung leiten kann. Aufstände brechen aus und flauen wieder ab, aber während jeden Tag mehr Menschen dem Kapitalismus zum Opfer fallen, verlieren Linke sich in Diskussionen darüber, wer wann wie auf die Straße gehen darf. Wir alle werden vom selben kapitalistischen System unterdrückt. Es ist an der Zeit, die Vereinzelung aufzubrechen und uns gegen die Kapitalisten und Imperialisten vereint zu organisieren. Wir haben die Erfahrungen und das Wissen von hunderten Jahren Arbeiter:innenbewegung, antikolonialer Kämpfe und Frauenbewegung auf dem Rücken, wir müssen dieses Wissen nur nutzen. Unser Feind ist stärker organisiert und besser ausgerüstet

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Seit März gilt das Coronavirus offiziell als Pandemie, breitet sich also gleichzeitig und immer schneller in mehreren Ländern auf der ganzen Welt aus. Auch Deutschland hat seit dem ersten Fall im Januar immer mehr Infizierte. Während der ersten Monate wurde oft an die Zivilgesellschaft appelliert, es wurde zur Solidarität aufgefordert, es bildeten sich Nachbarschaftshilfen. Und besonders an eine Sache wurde immer wieder erinnert:

„Dieses Virus diskriminiert nicht, es betrifft uns alle gleich.“ Wenn wir jetzt, nach fast einem Jahr mit dieser Pandemie, darauf zurückschauen wird klar, dass das alles andere als wahr ist. Das Virus diskriminiert vielleicht nicht, aber die Gesellschaft schon, und zwar schon lange. Die Pandemie hat in allen möglichen Bereichen sichtbar gemacht, was lange unsichtbar gemacht wurde. Sie hat Ungerechtigkeiten und Missstände auf der ganzen Welt, und somit auch in Deutschland, aufgedeckt. Sie hat klargemacht, welche Prioritäten die Regierung und die Gesellschaft haben. Ganz deutlich wurde, dass die Menschen, ihr Leben und ihre Gesundheit auf jeden Fall an zweiter Stelle stehen. Denn die Wirtschaft geht vor. Das wichtigste für die Corona-Politik war nicht, wie es Leuten geht, wie geschützt bestimmte Gruppen sind oder wie man weitere Tode vermeiden kann - das wichtigste war, wann der „Normalzustand“’ zurückkommt, wann die Börse wieder läuft, wann die Arbeit wieder beginnt (auch wenn viele Menschen, die prekär oder illegal arbeiten, nie damit aufhören durften). Es ging darum alles so schnell wie möglich wieder so zu machen, wie vor der Pandemie, auch wenn diese noch lange nicht vorbei ist.

11 | SCHULE/ UNI

Hier kommt aber die Frage: WAR ES VOR DER PANDEMIE DENN ÜBERHAUPT SO GUT? UND WENN JA, FÜR WEN GILT DAS – UND FÜR WEN NICHT? Neben dem Pflege- und Gesundheitsbereich gibt es einen weiteren Bereich, für den diese Fragen extrem wichtig ist und der viel zu wenig angesprochen wird: Schule und Bildung. Bei fast jeder Entscheidung, die dieses Jahr in Bezug auf Schulen getroffen wurde, versuchten Journalist:innen, Wissenschaftler:innen, Eltern und Schüler:innen immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass soziale Ungerechtigkeiten dadurch verstärkt werden. Von der Schulschließung bis zu der Entscheidung die Abiturprüfungen trotzdem stattfinden zu lassen wurde deutlich, dass es zwischen den Vorstellungen derer, die Entscheidungen treffen, und den Realitäten von den Schüler:innen selbst, einen großen Unterschied gibt. Und dass auch hier nicht die betroffenen Kinder und Jugendlichen, sondern der Status quo und die Rückkehr zum „Normalzustand“ die Priorität ist. Die Frage, ob, wann und für wie lange man die Schulen schließen sollte, ist ein gutes Beispiel dafür. Es war klar, dass es wegen des Infektionsrisikos nicht möglich sein würde, die Schulen weiterhin aufzulassen. Aber in der Art, wie diese Entscheidung umgesetzt wurde ist deutlich zu erkennen, an wen gedacht wurde, und an wen nicht. Es wurde davon ausgegangen, dass Schüler:innen zuhause genauso weiterlernen können wie in der Schule.


Wenn man Homeschooling macht und einen eigenen Laptop, gutes WLAN, einen ruhigen Ort zum Lernen und vielleicht sogar noch Eltern hat, die selbst Abitur gemacht oder studiert haben, dann stimmt das vielleicht. Aber für viele ist das nicht die Realität - besonders nicht während Corona. Auch die Frage, wie verschieden wir als Schüler:innen von Lockdown, Kontaktbeschränkungen, Corona-Alltag und Co. betroffen sind, wurde fast nie gestellt. Die Tatsache, dass die psychologische und emotionale Belastung durch diese Pandemie eben auch uns betrifft, schien bei diesen Entscheidungen niemanden zu interessieren. Der Wert, den Schulen, Jugendclubs, Sportvereine und andere Treffpunkte als soziale Räume und als Schutzräume haben, wurde beispielsweise auch nicht berücksichtigt. Das alles hat auch damit zu tun, dass wir bei keiner Entscheidung Mitspracherecht bekommen haben. Dabei sind wir diejenigen, die letztendlich betroffen sind.

CORONA HAT UNGERECHTIGKEITEN AUCH IN DEN DINGEN DEUTLICH GEMACHT, ÜBER DIE EBEN NICHT GESPROCHEN WIRD. Denn während in den Medien irgendwann alle über Abitur und Universitätsbeginn diskutierten, wurde selten darüber geredet, wie es um Ausbildungsplätze

steht, oder was mit der Mittleren Reife und mit anderen Schulabschlüssen passiert. Die Hierarchie innerhalb des Bildungssystems wurde auch während dieser Pandemie wieder einmal verstärkt - auch durch die Entscheidung, was als diskussionswürdig gilt, und was nicht. Wir haben in den letzten Monaten mitgekriegt, wie wenig Macht wir im Kontext Schule haben. Der Zugang zu Lernmaterialien, -möglichkeiten und -technologie ist ungerecht und klassistisch. Auch unsere Sorgen und Interessen werden nicht ernstgenommen, wenn wir nicht genau so viel Leistung erbringen können wie in den Zeiten vor der Krise. Das heißt wenn wir also auf einmal nicht mehr als Teil eines Systems funktionieren, dass uns nicht als Menschen mit Wünschen und Visionen sieht, sondern als zukünftige (und gegenwärtige) Arbeitskräfte. Corona wird den Schulalltag auch in den nächsten Monaten und Jahren noch beeinflussen. Solange aber die Prioritäten derer, die Entscheidungen über Regelungen und Lockerungen treffen, weiterhin nur leistungsund profitorientiert sind, wird sich dieser Einfluss nicht zum Besseren wenden, und die strukturellen sozialen Ungleichheiten, die es auch schon lange vor der Pandemie gab, werden weiterhin verstärkt. Ariya, Mannheim

SCHULE/ UNI | 12


Mai, 2013, Istanbul. Das unterdrückte Volk holt zu einem Befreiungsschlag aus. Es handelt sich beim Gezi-Park um eine der letzten verbliebenen Grünflächen mit Bäumen in der Innenstadt der türkischen Metropole, welche für ein neues nationalistisches Bauwerk Platz machen sollten. Die gentrifizierung als Symbolbild für das Wirtschaften im Sinne der Reichen zog 100.000e Menschen auf die Straße um den Gezi-Park zu verteidigen. Die anschließende willkürliche

13 | AUS DER GESCHICHTE

Polizeigewalt löste als Reaktion eine einzigartike militante Massenbewegung mit kollektiven Charakter aus. Hinter den Barrikaden teilte man sich die Milch, um sich das Tränengas aus den Augen zu spülen, mit Kommunist:innen, Anarchist:innen, Schuhputzer:innen, Zeitungsjungen Etc. Essensrationen wurden mit LGBTQI Menschen, Demokrat:innen, einfachen Zivilist:innen und Straßenhunden geteilt. Im Widerstand gegen die Diktatur erlebten die Menschen kol-

lektives miteinander. Die Repression der militarisierten Polizei und faschistischen paramilitärs wie den Grauen Wölfen war stark, umso stärker war der vereinte Widerstand des untersrückten Volkes. Eine Führende Rolle nahm die sozialistische Partei ESP ein, welche sich stets an allen Fronten beteiligte. Generation Gezi lebt, wir fragten ehemalige ESP Revolutionär:innen was ihnen in den Kopf kommt, wenn sie zurück an die Gezi Proteste denken.


Hüseyin: Die Gezi Park Proteste sind nicht nur eine Aktion gegen das Fällen von 3 bis 5 Bäumen, sondern der Name der Revolte gegen die derzeitige Regierung und das System. Wir alle hatten uns den Aufstand angeschlossen und waren in den Taksim Gezi Park gekommen: Arbeiter:innen, Student:innen, Frauen, Jugendliche, Revolutionär:innen, fortschrittliche und sozialistische Organisationen. Ja, alle waren da, ich war auch da, und nahm mit der Uniform der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP), bei dem ich Mitglied war, an der Taksim-Solidarität teil. Die Auflehnung aller wurde zu einer gemeinsamen Faust und Barrikade und plötzlich verwandelte sich der Gezi Park zu einem revolutionäres Gebiet. Ungefähr zwei Wochen lang verdrängten wir den Staat und es gab ein völliges kommunales Leben. Ärzte behandelten Verletzte Personen kostenlos, während Stände öffnten, wo Essen und Trinken kostenlos verteilt wurden. Die Massen, die auf der einen Seite gegen die Polizei kämpfte, tanzte auf der anderen Seite zur Musik. Wie kollektiv die Essensverteiler mit denen, die Steine für die Barrikaden trugen arbeiteten werde ich nicht vergessen. Sozialist:innen, Revolutionäre, Student:innen, Jugendliche, Frauen. Sie alle leisteten tagelang an den Barrikaden Widerstand gegen die Polizei. Menschen, die nie zuvor auf Aktionen und Demonstrationen waren, waren an der vordersten Front mit Steinem in der Hand. Weil alle erkannt haben, dass der Widerstand befreit. Es wurden jeden Tag neue Widerstandsformen entwickelt. Sogar die Polizei blieb manchmal ratlos. Gesundheitsversorgungszelte, Spei-

se- und Getränkezelte, Theaterstücke, Bücherstände, jedermanns Bedarf wurde gedeckt. Das Glück des Teilens und der Solidarität konnten wir aus den Gesichtern der Menschen lesen. Nicht nur in Istanbul, in 81 weiteren Städten der Türkei waren die Menschen auf den Straßen und die Parole war die Selbe: „Überall ist Taksim, überall ist der Widerstand“.

Azad: Als kommunistische Jugendliche haben wir während des Gezi-Aufstands versucht, sowohl das Umweltbewusstsein als auch das Bewusstsein, dass ein anderes Leben außerhalb der AKP-Diktatur möglich ist, wenn wir es zusammen angehen, unter den Leuten zu verbreiten. Wir machten also Kundgebungen zum Gezi Park aus den Stadtteilen von Istanbul, in denen wir organisiert sind. Mit den Massen, die den Gezi Park erreichten, stieg auch unsere Aufregung, denn seit Jahren diskutierten wir über Massenbewegungen und zum ersten Mal standen wir Seite an Seite mit einer so großen Menschenmenge. Mit dieser Menge wurden Barrikaden errichtet, die Überwachungskameras des Staates zerschlagen und vor allem die Gezi Kommune aufgebaut. Die Gezi Kommune war vielleicht keine Kommune, wo wir autonom produziert haben, aber eine, wo Solidarität statt Kapital regierte. Es war ein Ort, an dem wir den Menschen und uns selbst zeigen konnten, in welcher Art von Welt wir leben wollten. In dieser Hinsicht beeindruckte mich bei meinen Gezi-Erfahrungen am meisten, dass Zehntausende Menschen tagelang solidarisch in dieser Kommune lebten. Ich glaube als kommunistische Jugend, können wir Menschen eher erreichen, in dem wir statt über solche Erfahrungen nur erzählen, diese kleinen kollektiven Gemeinschaften am

Leben erhalten und so kommunistische Gedanken verbreiten. Meine Freunde aus der Schule, die noch nie zuvor an einer Demonstration teilgenommen haben, nahmen Platz an den vordersten Fronten. Als ich Polizeigewalt ausgesetzt war, hörte ich, wie sie sagten: „Wenn es hier so abgeht, was machen sie wohl mit den Kurd:innen in Diyarbakir?“ Menschen aus dem medizinischen Bereich stellten ein spezielles Team für die Verletzten polizeilicher Angriffe zusammen und setzten Erste-Hilfe Maßnahmen um. Als wir den Gasbomben widerstanden, konnten wir ihrer Empfehlung nach mit Talkum letztendlich unsere Augen wieder öffnen. Mit Menschen, die wir nicht kannten, haben wir Dutzende Barrikaden aufgebaut. Dutzende von Menschen, die nicht auf den Barrikaden waren, waren solidarisch mit den Menschen auf den Straßen und ließen ihre Haustüren während der Polizeiangriffe für sie geöffnet um sich verstecken zu können. In Gezi haben wir gesehen, wie kreativ und stark die Massen sind, wenn sie sich vereinen. Vielleicht haben wir diesmal nicht die Erdogan-Diktatur gestürzt, aber dann beim nächsten Mal. Die ganze Welt hat den Aufstand der Jugend der Generation Gezi miterlebt, über welche auf der ganzen Welt gesprochen wurde. Wir, die als unpolitisch und asozial beschrieben wurden, haben den Gezi-Widerstand hervorgebracht. Jetzt wird über die nächste Generation so ziemlich dieselben Vorurteile verbreitet, aber neue Widerstände sind nahe.

Arda: Wenn wir versuchen, unseren Revolutionärsein bestmöglich umzusetzen gehen wir durch einige Prüfungen. Für alle revolutionären Bewegungen AUS DER GESCHICHTE | 14


in der Türkei fing eine Prüfungsphase ab dem 28. Mai 2013 an. Nicht nur die Bewegungen, sondern auch die Individuen gingen durch die Prüfung. Einige haben bestanden, andere nicht, aber wir werden nie den Einfluss und Erfahrung vergessen, die Gezi an uns hinterlassen hat ... 31. Mai 2013, Eskişehir ... Wir haben uns in Gedenken an Metin Lokumcu, der sein Leben aufgrund von dem Tränengas der Polizei sein Leben verlor hat, getroffen. Natürlich dauerte es nicht lang bis zum nächsten Polizeiangriff. Aber an diesem Tag gab es noch andere Aktivitäten. Wir haben gehört, dass einige Kemalisten und Umweltschützer:innen demonstrieren würden. Wir meinten, lasst uns hin und schauen. Es waren Hunderte Menschen in Adalar, wo der Porsuk Fluss durchfließt. An dem Tag war für uns die Aktion vorbei, jedoch hörten wir Parolen nachts durch die Straßen hallen.Wir wachten auf und warteten. Wir wussten nicht, wer sie waren, haben es aber vorgezogen lieber zu warten. Um am Nazim Hikmet Gedenk-Festival am 1. Juni teilzunehmen, haben wir uns vorher schon vorbereitet. Wir gingen mit den Genoss:innen zu einem entfernten Landkreis außerhalb der Stadt. Im Laufe des Tages kamen Telefonate. Die Stimmen aus Istanbul, haben sich zu tausendfach verbreitet und die Straßen von Eskisehir erobert. Wir haben hastig das Festivalgelände verlassen. Die Busse, in die wir stiegen, brachten uns an einem zentralen Ort und wir sind losgerannt. Ich war mitten in einer der belebtesten Massen, die ich je gesehen habe. Das war nicht nur meine größte Massendemonstratioen, sondern auch die von ganz Eskisehir. Es war nicht nur ein einfacher Protest. Vermummte Menschen schrieben mit Sprühdosen an die Wände und riefen Slogans. Wir liefen, während wir unsere Gesichter mit Tshirts und Tüchern bedeckten. Am Ende unserer Laufroute gab es Konfrontationen. Wir hielten

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nicht an und dachten nach, sondern fingen direkt an Barrikaden aufzubauen. Die Polizei nahm das AKP-Büro am Ende der Straße unter Schutz. Tausende von Menschen wollten dorthin. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine Pfeffergasbombe berührt (ich hab schmerzhaft gelernt, diese nicht mit bloßen Händen anzufassen). Zum ersten Mal war mein Körper einer Gasbombe ausgesetzt. Diese Bomben wurden nicht bloß geworfen um uns vertreiben, sondern waren gezielt auf uns gerichtet. An meine Fassungslosigkeit werde ich mich immer erinnern. Tausende Menschen ließen sich nicht zerstreuen. Wir fliehen vor dem Hochdruckwasser aus den Wasserwerfern in die Seitengassen. Dann kam ein lauter Ruf. Es wurde gesagt, dass in Seitenstraßen Fallen gelegt wurden, um die Demonstrant:innen zu verprügeln. Wir ignorierten die Warnung und liefen weiter. Viel später erfuhren wir, dass eine Person von der Polizei bei diesem Vorfall ins Koma geprügelt wurde: Ali Ismail Korkmaz. Er verlor nach diesem Angriff sein Leben. Als wir nach Hause gingen, starrten sich alle gegenseitig an. Was ist da abgegangen... Als der Morgen kam, gingen einige zur Arbeit und einige zu den anhaltenden Protesten. Am Feierabend versammelten sich wieder Zehntausende auf der Yunusemre-Straße, wo das AKP-Büro war. Ich habe mir die Leute um mich herum angeschaut. Jemand, den ich nicht kannte, gab mir eine Flasche in die Hand. Darin war eine Mischung drin, die in die Gesichter der Menschen gesprüht wird, die von den Chemikalien der Polizei erfasst waren. Ehrlich gesagt war es der vorurteilsloseste Ort, an dem es ich jemals war. Eine Umgebung, wo die Leute, die sich nie zuvor trafen, sich kannten. Eine riesige Barrikade wurde aufgebaut. Ein junger Typ müsste sich wohl wie auf der Titanic gesehen haben, während er schrie Frauen und Kinder

nach hinten gehen sollten. Die Reaktion von mir und der Freundin neben mir werden weder er noch wir vergessen. Später haben wir ein Handy gefunden. Um den Besitzer zu erreichen, haben wir uns die Nachrichten angeschaut. Da stand: „Was machst du da? Du bist kein Linker.“ Die unruhigen Proteste dauerten ein paar Tage an. Dann wurden Zelte vor dem bekannten Shoppingcenter in Baglar errichtet. Im Laufe der Stunden nahm die Zahl der Zelte zu und es entstand eine neue kleine Stadt mit ca. 300-400 Zelten. Wir begannen dort zu bleiben. Wir gingen von dort aus zur Arbeit und kehrten direkt von der Arbeit dorthin zurück. Es war eine Kommune mit einer Bibliothek, einem Gesundheitszentrum, einer Gemeinschaftsküche. Wir hatten nie Probleme mit dem Essen. Ständig kam Essen und wir teilten alles was wir bekamen gleichmäßig untereinander auf. Auf dem Redner:innenpult konnte alle erzählen, was sie wollten und wir konnten kulturelle Aktivitäten ausrichten. Jeder hat gelächelt. Vielleicht aus Freude, vielleicht aus Verwunderung, aber ganz sicher aus Liebe. Wir haben die Möglichkeit einer anderen Welt in Gezi gesehen und umgesetzt. Dies dauerte zwei Wochen an. Wie überall, wo kapitalistische und faschistische Herrschaft existiert, gingen auch bei den Gezi Protesten die guten Zeiten zu Ende, aber wir gaben nicht leichtfertig auf. Die Plätze, wo wir tagelang kämpften um zu gewinnen, verließen wir mit großem Widerstand. Wie an jedem anderen Ort auch, gab die Polizei folgende Ansagen: „Es gibt Terroristen unter euch, die weder unserer Nation noch unserer Fahne treu sind. Sie sind unser Problem, nicht ihr.“ Keiner ließ sich vertreiben... Weil wir wussten, dass jeder in ihren Augen Terrorist war, und alle hatten genug von dieser Gewaltherrschaft. Wir wollten Gerechtigkeit. Sie haben uns Ali Ismail Korkmaz genommen, an seiner Stelle könnte jeder von uns


gewesen sein. Wir klagten sehr darüber und damit wuchs unsere Wut. Unsere Zeltstadt wurde aufgelöst, unsere Bücher und Lebensmittel wurden mit Fußtritten „aufgeräumt“, aber es war noch nicht vorbei. Das wochenlange Parolenrufen auf den Straßen, das Demonstrieren und Zusammenkommen der ganzen Stadt wurde zur Routine und zu einer neuen Form des Widerstands. Mal marschierten wir vorwärts durch alles hindruch und mal blieben wir fest auf unserer Stelle als Blockadeaktion. Meine Stadt war nur eine Erscheinung von dem, was in der ganzen Türkei passierte. Wir bekamen Kraft aus Ankara, Istanbul, Izmir und aus anderen Städten, und sie auch von uns. Heute kennen wir die Bedingung, um weitermachen zu können: An Gezi erinnern und diesen Kampf immer lebendig halten. Im Namen von Ali Ismail Korkmaz werden wir niemals diejenigen, die wir in Gezi verloren, je vergessen.

IREM: Ich wachte auf und nahm mein Handy zur Hand. Meistens tue ich das. In einem der Videos der Nachrichten gab es eines, welches zeigte, wie die Polizei die Zelte abbaute und die Leute herumtrat. Es war ein sehr entnervendes Video. Normalerweise hatte ich an dem Tag andere Pläne. Ich glaube, es war ein Airline-Streik, ich kann mich nicht erinnern. Jedenfalls, ich musste woanders hingehen. Ich rief sie an und sagte, dass ich nicht kommen werde und stattdessen nach Taksim gehen werde. Als ich die Fähre nahm Ich

merkte ich, dass ich nicht allein war. Die Menschen um mich herum redeten über die Videos, die ich an dem Morgen auch gesehen habe. Von meinem Haus nach Taksim dauert es mindestens 2,5 Stunden, man kennt ja den Istanbuler Stau. Zwischen meiner Abreise und meiner Ankunft geschah so viel, das ich nicht mitbekommen hatte. Selbst einige Abgeordnete besetzten die Baumaschinen, Konflikte brachen aus. Als würde der Weg länger werden wie ein Gummi, wenn ich mich beeile anzukommen. Es ist unmöglich, die wachsende Zahl der Menschen nicht zu bemerken, wenn man zum Taksim-Platz geht. Geräusche von Parolen, ein starkes Brummen, Geruch von Pfeffergas, Lieder und Halay-Tänze vermischen sich miteinander. Es wird dunkel, aber eigentlich wird es immer mehr aufgehellt, je dunkler es wird. Und das Beste ist, die Menschenmenge zu spüren, die die gleichen Gefühle und Gedanken mit dir teilt. Es war ein erfüllendes Gefühl, das Gefühl der Verbundenheit zu den anderen Menschen. Dies ist der Komfort und das Vertrauen zu wissen, dass du nicht allein bist. Leute, die man nicht kennt, schenken einem dieses Gefühl, das immer stärker wird, wenn es sich ausbreitet und das sich unaufhaltsam erweitert. Seit den Tagen vermisse ich es jedes Mal, wenn ich mich daran erinnere. Und jedes Mal, wenn ich es vermisse, werde ich immer müder, es mehr zu vermissen. Keanu, Hamburg

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Kein Ende der Pandemie:

Patente schützen im Namen des Kapitalismus In den kapitalistischen Zentren des globalen Nordens herrscht seit Anfang des Jahres Aufbruchstimmung. Bereits ein Jahr nach Beginn der Pandemie sprechen Politiker:innen und Medien vom Licht am Ende des Tunnels, vom Ende der Pandemie. Zu verdanken haben sollen wir das dem Erfindergeist und der Forschung von Unternehmen, die nun endlich in der Lage seien, den lang erwarteten Impfstoff für uns herstellen zu können. Das oft genannte Ende der Pandemie ist in den meisten Teilen der Welt jedoch noch in weiter Ferne. Auch das haben wir denselben Unternehmen zu verdanken. Sie verhindern durch die Patentierung ihrer Impfstoffe eine gerechte, globale Verteilung und somit ein schnelleres Ende der Pandemie.

Staatliche Entwicklung, private Profite Schon seit den 90er-Jahren werden Grundlagen der Impfstofftechnologie, wie sie heute im Kampf gegen Corona eingesetzt werden, intensiv erforscht. Diese Forschung fand dabei vor allem an Universitäten statt und wurde durch staatliche Gelder finanziert. Die jeweiligen Ergebnisse wurden veröffentlicht und waren für alle Wissenschaftler:innen öffentlich zugänglich. Da sich diese Erkenntnisse lange Zeit nicht für profitable Geschäfts-

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modelle verwerten ließen, blieben sie lange unbeachtet; bis sich mit Beginn der Coronapandemie vieles änderte. Mit der Aussicht auf die großen Geldtöpfe, welche die Entwicklung eines Impfstoffes mit sich bringt, machten sich weltweit Unternehmen auf den Weg die Ersten zu sein, die einen Impfstoff gegen das Coronavirus entwickeln. Dabei griffen sie auch immer wieder auf die Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre zurück. Viele Unternehmen erhielten zudem massive Staatshilfen für die Entwicklung der Impfstoffe. Die Unternehmen Biontech und Pfizer erhielten so im letzten Jahr etwa 1,9 Millionen Dollar staatliche Subventionen. Das US-amerikanische Unternehmen Moderna wurde vom Gesundheitsdepartment der USA sogar mit drei Milliarden Dollar finanziert. Die Finanzierung der Impfstoffe wurde also zu einem großen Teil von staatlicher Seite übernommen. Moderna zum Beispiel hat für die Entwicklung keinen einzigen Cent in die Hand genommen. Bei der Frage, wo die mit dem Impfstoff verdienten Gewinne landen, sind sich die verschiedenen Unternehmen einig: Nicht etwa die Staaten, welche die Entwicklung wesentlich finanziert haben, sollen beteiligt werden. Die Gewinne sollen einzig und allein den Unternehmen zugutekommen. Bei den Profiten handelt es sich nicht bloß um ein paar Tausend oder ein paar Millionen Dollar. Biontech/Pfizer werden durch die Impfstoffproduktion allein dieses Jahr etwa 15 Milliarden Dollar einnehmen, der Umsatz von Moderna liegt bei 13,2 Milliarden Dollar und auch der AstraZeneca Impfstoff, der derzeit noch ohne Gewinne verkauft wird, soll ab dem Sommer teurer werden. Die verschiedenen Staaten, in denen die Unternehmen ansässig sind, zeigen außerdem keine Initiative etwas an dieser ungerechten Verteilung, bei der Viele die Gewinne Einzelner finanzieren, zu ändern. Im Gegenteil: Die imperialistischen Staaten stellen sich schützend vor ihre


Kapitalist:innen und tragen damit dazu bei, dass weltweit Menschen sterben müssen, um private Profite zu sichern.

Patente töten weltweit Die Unternehmen haben sich die Herstellung ihrer jeweiligen Impfstoffe patentieren lassen, das heißt, dass niemand anderes außer das Unternehmen selbst das patentierte Produkt herstellen darf. Die Konzerne sichern sich durch diese Regelung eine Monopolstellung auf einem Markt, der gefragter nicht sein könnte. Die Coronapandemie ist in allen Winkeln dieser Erde angekommen und überall wird Impfstoff zum Schutz von Gesundheit und Leben benötigt. Die Stellung auf dem Weltmarkt und die derzeitige Krisensituation ermöglichen diesen vier bis fünf Unternehmen die Preise und die Bedingungen, unter welchen sie ihre Impfstoffe verkaufen, selbst festzulegen. Und so überrascht es nicht, dass die Preise für die Impfdosen so hoch sind, dass sie derzeit nur für die reichsten Länder der Erde finanzierbar sind. Weniger finanzstarke Staaten gehen bei der Verteilung der Impfstoffe leer aus oder müssen sich in neue Abhängigkeiten begeben. So forderten Biontech und Pfizer beispielsweise für den Verkauf ihres Impfstoffs an Brasilien und Argentinien, dass die Regierungen Staatsvermögen als Sicherheit gegen eventuell eintreffende Gerichtsentscheide bereithalten und, dass die Unternehmen nicht für Schadensersatz im Falle von eigenem Fehlver

halten oder Betrug aufkommen müssen. Gebrochen werden könnte diese Monopolstellung nur durch eine Freigabe der Patente. Diese Freigabe würde es anderen Impfstoffherstellern ermöglichen identische Impfstoffe zu produzieren. Weltweit würde deutlich mehr und deutlich günstigerer Impfstoff hergestellt werden können und einzelne Staaten wären nicht mehr in dem bisherigen Maße gezwungen sich abhängig von den großen Pharmakonzernen zu machen. Besonders die Regierungen Indiens und Südafrikas zeigen zusammen mit über 100 weiteren Ländern in der Welthandelsorganisation, in der das Patentrecht für Medizin global geregelt wird, immer wieder Initiative eben diese Regelungen abzuschaffen und eine Freigabe der Impfstoffpatente zu erwirken. Dabei scheitern sie immer wieder an den imperialistischen Staaten des globalen Nordens, die mit ihrem Abstimmungsverhalten die Profite ihrer Pharmakonzerne absichern. Bereits acht Mal wurde ein Antrag der Länder des globalen Südens auf die Freigabe von Patenten durch das Veto der reichen Länder in Europa und Nordamerika abgelehnt. Sie handeln damit ganz im Sinne des von Lenin beschriebenen Staatsmonopolkapitalismus, bei dem die Monopolstellungen einzelner Konzerne durch die Staaten geschützt und abgesichert werden. Die Konzerne schaffen im Zusammenspiel mit dem Staat sowohl national als auch international immer neue Abhängigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse. Ändert sich an diesem System nichts, müssen die ärmsten Länder dieser Welt noch bis zum Jahr 2023 auf Impfstoffe für ihre Bevölkerung warten. Für die Profite der Pharmakonzerne und für ein schnelleres Ankurbeln der Wirtschaft im eigenen Land müssen weltweit Menschen sterben oder schwere gesundheitliche Folgen tragen. Nico, Frankfurt

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Seit über einem Jahr befinden wir uns nun in der Coronapandemie. Im Verlauf der Pandemie hieß es immer wieder wir sitzen alle im selben Boot und sind vor dem Virus gleich. Deshalb heißt es wir sollen alle solidarisch mit unseren Mitmenschen sein und wenn wir alle schön mithelfen, besiegen wir das Virus schon. Ein Jahr später haben uns diese leeren Phrasen von oben wenig geholfen. Die Lage der Pandemie verschlimmert sich weiter und es gibt wenig Aussicht auf Besserung.

dass die Coronakrise die Frauen stärker betrifft. Auf der gesamten Welt sind etwa 70% der Beschäftigten in sozialen und Pflege Berufen Frauen. In Deutschland sind sogar 80% der Krankenpfleger:in-

Nein, wir sitzen nicht im selben Boot! Obwohl es uns immer wieder klar gemacht werden soll, wissen wir schon lange, dass Corona uns nicht alle gleich betrifft. Die Coronakrise ist nicht nur eine gesundheitliche, sondern vor allem auch eine wirtschaftliche. Während sich irgendwelche Parlamentsabgeordnete die Taschen durch Maskendeals vollmachen oder Jeff Bezos und andere CEOs von der Krise profitieren und immer reicher werden, steht der Großteil der Menschen vor einer existenziellen Krise. Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit oder eben Gesundheitsgefährdung am Arbeitsplatz. Denn trotz steigenden Inzidenzzahlen und gefährlicheren Virusmutationen, gilt der Lockdown nach wie vor nur für die Freizeit. Die Wirtschaft soll möglichst normal weiterlaufen, schließlich muss das Kapital weiterwachsen. Was ist mit den Menschenleben, die damit aufs Spielgesetzt werden? Die sind im Kapitalismus zweitrangig. Abends sollen wir uns zu Hause einsperren, während die Bahnen auf dem Weg zur Arbeit, die Fabriken oder die Großraumbüros völlig überfüllt sind.

nen weiblich. Trotz des erhöhten Infektionsrisikos, der enormen körperlichen und mentalen Belastung gibt es statt fairer Löhne und staatlicher Unterstützung höchstens Applaus. Außerdem kommt für viele Frauen noch die ohnehin unbezahlte Sorgearbeit in der Familie dazu. Kindererziehung, -betreuung und Pflege von anderen Verwandten scheint „Frauensache“ zu bleiben. Selbst wenn beide Eltern im Doch vor allem betroffen ist in dieser Krise der GeHome-Office scheint es für viele Männer selbstversundheits- und Pflegebereich. Die ohnehin schon ständlich zu sein, dass sich die Frauen um die Kinkaputt gesparte und privatisierte Branche steht seit der und den Haushalt kümmern. Da die Schulen Monaten vor unlösbaren Aufgaben. Die schlimme und Kitas in den letzten Monaten immer wieder geSituation in der Pflege ist ein Aspekt, der dafür sorgt,

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schlossen waren, müssen Familien eine alternative Betreuungsmöglichkeit finden. Für viele Frauen bedeutet das, dass sie dafür verantwortlich sind. Die Folge ist, dass 20% der Frauen in Deutschland ihre Arbeitszeit reduzieren müssen, um die unbezahlte Sorgearbeit leisten zu können. Diese Doppelbelastung der Frau innerhalb des Kapitalismus wird durch Corona weiterhin verstärkt. Die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen wächst weiter und viele Frauen werden wieder verstärkt finanziell abhängig von

Doch selbst wenn Frauen sich jetzt entscheiden diesen schwierigen Schritt zu gehen, ist es für sie noch schwieriger Hilfe zu finden. Die wenigen Frauenhäuser sind hoffnungslos überlastet. Es gibt allgemein zu wenig Plätze für hilfsbedürftige Frauen und die finanziellen Kapazitäten der Frauenhäuser reichen vorne und hinten nicht. Noch härter haben es hierbei Migrant:innen, die viel häufiger von häuslicher betroffen sind und Schutzräume benötigen. Auch hier werden bereits vorhandene Probleme durch die Corona-Pandemie verstärkt. Mehr Beachtung kriegen sie allerdings nicht.

In den Statistiken zur geschlechtsspezifischen Gewalt oder zum Anteil in Pflegeberufen werden nur binäre Geschlechter berücksichtigt und deshalb nur von Frauen gesprochen. In der Realität sind es allerdings nicht nur Frauen, die von diesen Problemen betroffen sind. Trans*, nicht-binäre oder intergeschlechtliche Personen sind ebenfalls betroffen und auch ihre alltägliche Diskriminierung wird verstärkt. Ein weiteres Problem, welches sehr viel trans* Personen trifft, ist das Verbot von Sexarbeit während des Lockdowns. Vor allem migrantische trans* Personen sind auf Sexarbeit angewiesen und stehen jetzt ohne Hilfe da. Sexarbeiter*innen mit Wohnsitz in Deutschland können Corona-Hilfen beantragen, doch ohne gültige Meldeadresse in Deutschland fällt diese Möglichkeit weg. Weiterhin steigen viele auf online Sexarbeit um, aber ohne die finanziellen Mittel oder technischen Kenntnisse ist das auch für viele kein Option. Sexarbeiter*innen werden immer weiter kriminalisiert. Und ohne Aussicht auf finanzielle Hilfen, sind vieihrem Partner. Aber das sind noch lange nicht die le gezwungen Angebote anzunehmen, die sie vor einzigen Gründe, die die Coronapandemie zu einer zwei Jahren noch eindeutig abgelehnt hätten. Krise der Frauen machen. In Zeiten des Lockdowns steigt die geschlechtsspezifische Gewalt, die Frauen Wir sehen die Coronakrise betrifft vor allem die, die häufig durch ihr engstes Umfeld erfahren. Erfahren wenig haben und schon immer mit Diskriminierung Frauen häusliche Gewalt, haben sie nun noch we- konfrontiert sind. Es ist klar, dass vor allem die Arniger Möglichkeiten dieser Situation zu entfliehen. beiter*innenklasse leidet, während die Bonzen ihSie können ihre Wohnung selten verlassen und sind ren Profit aus der Krise schlagen. Doch vor allem besomit ihrem gegebenenfalls gewalttätigen Partner troffen sind hier auch Migrant:innen, Frauen, trans*, hilflos ausgeliefert. Der Schritt einen gewalttätigen nicht-binäre und intergeschlechtliche Personen. Partner zu verlassen war schon vor der Pandemie Eben die, die 365 Tage im Jahr unter dem Kapitalissehr schwierig. mus und Patriarchat leiden. Pia, Hamburg FLINT | 20


DIE EXISTENZIELLE KRISE DES KAPITALISMUS Auf der Welt kam es in den letzten Jahren zu immer mehr Aufständen und Protesten, die sich gegen die bestehende, bürgerliche Ordnung richten und sie angreifen. Die Gelbwestenproteste und die Proteste zu den neuen Arbeitsgesetzen in Frankreich, in Indien streikten Arbeiter:innen und Bäuer:innen gegen die neoliberalen Reformen, der Generalstreik war der größte in der Geschichte der Menschheit. In den USA erhoben sich, nach dem Mord an George Floyd durch einen weißen Polizisten, Millionen gegen Rassismus. Weltweit erhoben sich Frauen gegen das Patriarchat, sei es in Mexiko, Argentinien oder Polen. In Chile stürzten die Massen die bestehende neoliberale Verfassung und brachten die Entwicklung einer neuen auf den Weg. Überall auf der Welt kämpfen also die Massen gegen Unterdrückung und für eine befreite Welt. Gleichzeitig jedoch werden auch die reaktionären Kräfte stärker. Sei es das Erstarken von faschistischen und rechts-konservativen Regierungen in den USA, Brasilien und Polen. Oder sei es in der Türkei, wo die Repression gegen die kurdische und sozialistische Bewegung immer stärker wird, während der türkische Staat gleichzeitig Krieg gegen Rojava führt. Die faschistische Bewegung wird weltweit immer stärker und militanter und hat in den vergangenen Jahren mehrere terroristische Angriffe verübt. Das sind die Zeichen, dafür, dass die alte Ordnung am Sterben ist und auf seine reaktionärsten Kräfte zurückgreift. Diese Entwicklung sind die Anzeichen das die kapitalistische Gesellschaft in der Krise ist. Der Kapitalismus hat seine historische Existenzgrundlage verloren. Der Kapitalismus befindet sich also in einer existenziellen Krise. Am Horizont zeigt sich jedoch gleichzeitig der Beginn einer neuen Ordnung. Die derzeitige Krise ist keine Krise innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, sondern eine Krise des kapitalistischen Systems. Im Kapitalismus entstehen Krisen in einem zyklischen Rhythmus von ungefähr 10 Jahren. Diese Krisen finden innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft statt. Sie sind eine Folge der kapitalistischen Produktion.

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Durch den Zwang immer weitere Profite zu erwirtschaften, immer weiter zu wachsen, schaffen es manche Unternehmen nicht ihr eingesetztes Kapital zu reproduzieren. Dadurch kommt es zu einer Entwertung des Kapitals und es geht eine Reihe von Unternehmen pleite, wodurch es zu Lohnkürzungen und Entlassungen kommt. Die kapitalistische Gesellschaft hat es bisher jedoch immer geschafft sich neu zu reproduzieren. Zuerst geschah dies durch die Entstehung des Imperialismus und die Unterwerfung der gesamten Welt unter den kapitalistischen Markt. In der Krise der 1920er wurde der Staat als Kapitalist eingeführt. In der Krise der 1970er begann die imperialistische Globalisierung und ein großer Teil der staatlichen Betriebe wurde privatisiert. Doch sowohl in der Weltwirtschaftskrise 2008 als auch in der aktuellen Coronakrise schafft das Kapital es nicht mehr sich zu reproduzieren. Es können keine neuen Märkte erschlossen werden, um weiter neues Kapital zu schaffen. Dadurch treten die Widersprüche des Kapitalismus immer deutlicher auf und zeigen den Weg, entweder den Weg zur Barbarei oder der Weg hin zur Revolutionierung der Produktionsverhältnisse, hin zum Sozialismus. In jeder Gesellschaftsform kam es zu dem Punkt, an dem die jeweils aktuellen Produktionsverhältnisse zu einem Hindernis für fortgeschrittene Produktivkräfte wurden. Die jeweilige Gesellschaftsform verliert ihre historische Existenzgrundlage und es kommt zu einer revolutionären Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung. Durch Krisen und Klassenkämpfe wird eine alte Gesellschaftsordnung durch eine neue ersetzt. Die Urgesellschaft verlor ihre Existenzgrundlage dadurch, dass mehr produziert wurde, als zum Überleben benötigt wurde. Es entstand Mehrarbeit, welche aber in der Urgesellschaft nicht verwertet werden konnte. In der Folge entstand ein Kampf darum, wer sich die Mehrarbeit aneignen kann und es bildete sich das Verhältnis zwischen den Unterdrückern, welche sich die Mehrarbeit aneigneten und den Unterdrückten, welche zu einer Produktivkraft wurden, heraus. Zuerst geschah das durch die Versklavung des Menschen als Produktivkraft. Die Sklavenhaltergesellschaft war entstanden. Eine Minderheit von Sklavenhaltern häufte den Reichtum an, den die Mehrheit als Sklav:innen schuf. Bauern und Bäuerinnen, welche das Sklavendasein ablehnten, suchten bei Großgrundbesitzern Schutz und wurden so zu Halb-Sklaven, bzw. Leibeigenen, welche produktiver als reine Sklaven waren. Die großen Imperi-


en, welche auf Sklaverei beruhten, schafften es nicht, mit dieser Veränderung der Produktivkräfte mit zu gehen und stürzten schließlich durch inneren und äußeren Druck in sich zusammen, wodurch sich die Feudalgesellschaft entwickeln konnte. Die Feudalgesellschaft schuf neue Formen der Ausbeutung. Leibeigene erhielten Schutz und Land von Großgrundbesitzern, im Gegenzug mussten Leibeigene das Land bewirtschaften und Abgaben zahlen. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse geriet auch diese Gesellschaftsordnung in die Krise. Das Streben der Feudalherren nach der Kontrolle um Handelswege, was zu der Zentralisierung der Herrschaft führte, schuf die Krise selbst. Nun war nicht mehr das Grundeigentum Grundlage des Reichtums, sondern Geld, welches durch Handel gewonnen wurde. Die Produkte für den Handel wurden in Fabriken durch die, zu großen Teilen vom Land verdrängten Bauern produziert. So entstand die Klasse des Proletariats. Die Klasse der Bourgeoisie bilden diejenigen, die die Produktionsmittel, also die Fabriken, Maschinen und Werkzeuge besitzen. Der Zusammenbruch der feudalen Gesellschaft geschah entweder auf revolutionäre Weise, wie in Frankreich, oder durch die Verbürgerlichung der Feudalherren, wie in England. Die kapitalistische Gesellschaftsform war entstanden. Die existenziellen Krisen der verschiedenen Gesellschaftsformen waren immer gekennzeichnet durch Aufstände. Die kapitalistische Gesellschaft hat nun ihre historische Existenzgrundlage, die Weiterentwicklung der Produktionsverhältnisse, verloren, auch sie befindet sich in einer existenziellen Krise. Das geschah durch die Entstehung des doppelt freien Arbeiters. Diese Entwicklung war nötig, damit der Waren- und Geldverkehr Kapitalakkumulation schafft, was nur geschehen kann, wenn sich der Kapitalist die Mehrarbeit aneignet.

Die kapitalistische Gesellschaft befindet sich in einer existenziellen Krise, da nun auch sie, durch ihre Produktionsweise, die Weiterentwicklung der Produktivkräfte hemmt. So ist das Produktionsverhältnis ein gesellschaftliches Verhältnis, die Produktionsmittel befinden sich jedoch in privater, in der Hand der Kapitalisten. Damit weiterhin Kapitalakkumulation stattfinden kann müssen die Arbeiter:innen die Produkte, die produziert werden konsumieren. Das kann jedoch nur geschehen, wenn die Waren weniger kosten als der Lohn, der ausgezahlt wird. Dadurch sind die Kapitalisten dazu getrieben, immer billigere Möglichkeiten zu suchen, um zu produzieren. Dies geschah erst durch die Auslagerung der Produktion in andere Länder, durch die Senkung von Löhnen, durch die

Schaffung von billigen Arbeitskräften und durch Automatisierung. Diese Entwicklung führt jedoch immer weiter dazu, dass immer weniger Arbeiter:innen von ihrer Arbeit leben können und ausreichend konsumieren können, um die Kapitalakkumulation weiter voranzutreiben. Im Kapitalismus könnte zum Beispiel keine vollständige Automatisierung der Produktion stattfinden, da dann immer weniger Arbeiter:innen arbeiten müssten und von ihrem Lohn die produzierten Waren konsumieren könnten. Die Kapitalakkumulation würde immer weniger werden. Die kapitalistische Gesellschaft hat deshalb ihre historische Existenzgrundlage verloren. Durch die Mobilisierung der reaktionärsten Kräfte der kapitalistischen Gesellschaft versucht die Bourgeoisie die existenzielle Krise aufzuhalten, bzw. hinauszuzögern. Dadurch erstarkt überall in der Welt der Faschismus, um die revolutionäre Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft, die Auflösung der existenziellen Krise zu verhindern. Doch die Antwort auf die existenzielle Krise ist nicht das Festhalten an dem Alten und Morschen, dass seine Existenzgrundlage verloren hat. Die Antwort ist das Neue, was aus der revolutionären Umwälzung entsteht: die sozialistische Gesellschaft. Die historische Aufgabe des Proletariats, als unterdrückte Klasse und Produkt der kapitalistischen Gesellschaft, ist es das Ende dieser Gesellschaftsordnung herbeizuführen, um eine neue Gesellschaft zu errichten. Die Kapitalisten werden sich verzweifelt an ihre Macht klammern und alle ihre reaktionären Kräfte mobilisieren, um die kapitalistische Gesellschaft aufrecht zu halten. Deshalb ist es notwendig, dass der revolutionäre Sturm gegen den Kapitalismus von dem organisierten und den fortschrittlichsten Teilen des Proletariats angeführt wird, um den Kapitalismus ein für alle Mal zu bezwingen und den Sozialismus aufzubauen und die Unterdrückten der gesamten Welt zu befreien. Die Antwort auf diese Krise ist die revolutionäre Organisierung und die kompromisslose Führung des Kampfes gegen den Kapitalismus. Diese Antwort ist notwendig, damit nicht immer mehr Arbeiter:innen nicht mehr von ihrer Arbeit leben können, damit das Patriarchat, Rassismus, Faschismus, Antisemitismus, Imperialismus und Kolonialismus der Geschichte angehören, damit alle Völker der Welt frei und selbstbestimmt leben können und, damit wir uns nicht vor der Zerstörung der Erde, unserer Lebensgrundlage, fürchten müssen. Die Frage lautet deshalb Sozialismus oder Barbarei.

Und unsere Antwort ist die revolutionäre Organisierung und der Kampf für den Sozialismus. Nico, Frankfurt

THEORIE | 22


Machte man noch vor einigen Monaten einen Spaziergang durch den Dannenröder Wald, einen etwa 100 Hektar großen Wald mitten in Hessen, so dachte man sich wahrscheinlich man habe es mit einem Wald wie jedem anderen zutun. Ein Laubwald wie es ihn in Mitteleuropa zu Hunderten gibt, mal hört man einen Vogel, mal sieht man einen Waldbewohner über die Wege huschen, um den Wald herum nichts als ein paar kleine Dörfer und Felder, alles soweit nichts besonderes. Doch wer damals an bestimmten Stellen im Wald den Blick Richtung Himmel richtete erkannte: Hier ist nicht alles so wie in jedem anderen Wald. In den Gipfeln der Bäume wurden seit 2019 Baumhäuser gebaut, im

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vergangenen Jahr wurden es im- Folgen der zerstörerischen Klimapolitik in den kapitalistischen mer mehr. Zentren Europas, Asiens und Die Baumhäuser wurden gebaut Nordamerikas bekommen Arbeivon Klimaaktivist:innen, die mit terinnen und Arbeiter im globader Besetzung des Waldes den len Süden als erstes zu spüren. geplanten Bau der Autobahn A49 verhindern wollten. Unter dem Wald befinden sich riesige Grundwasservorkommen die das Umland mit Trinkwasser versorgen, im Wald selbst gibt es viele erhaltenswerte Bäume und seltene Tiere. Die Rettung des Waldes war ein Ziel der Besetzenden, doch der Protest richtete sich Geht man heute durch den Wald auch ganz deutlich gegen die ak- fällt nicht mehr nur aufmerksatuelle Verkehrs- und Klimapolitik men Beobachter:innen auf, dass der Bundesregierung und stellte in diesem Wald nicht alles normal diese auch immer wieder in den ist. Von den Baumhäusern die bis globalen Zusammenhang: Die vor einigen Monaten zu sehen

Grüner Opportunisus, Widerstand & Polizeigewalt


Von den Bäumen die hier einst standen ist nicht viel mehr als einige Überreste zu sehen. Doch was ist passiert?

senden Jugendlichen und jungen Erwachsenen die seit Jahren für Klimagerechtigkeit auf die Straßen, in die Wälder und in die Gruben gehen zu verdanken hat, Bereits in den 70er Jahren began- positioniert sich im Streit um den nen die Planungen für den Aus- Dannenröder Forst gegen eben bau der A49, schon damals be- diese Bewegung. gann sich Widerstand, damals vor allem in Form kleinerer Initiati- Konfrontiert mit den Vorwürfen, ven, zu formieren. Das Projekt des eine Rodung nicht verhindern Autobahnausbaus befand sich zu wollen, folgen immer gleiche schon lange in der Planung, ab Antworten. Mit Verweisen auf Oktober des letzten Jahres soll- das Bundesverkehrsministerium, ten die Pläne dann in die Reali- die Zuständigkeiten bei der Autät umgesetzt werden. Doch was tobahnplanung, den Druck des die Politik zu diesem Zeitpunkt Koalitionspartners und sonstige vorfand war nicht mehr nur der Sachzwänge versuchen sich die Widerstand einiger Initiativen, Spitzenpolitiker:innen der Partei im Danni versammelten sich Kli- vor ihren Kritiker:innen zu rechtmaaktivist:innen aus allen Ecken fertigen. Was dabei meist außen Deutschlands und aus verschie- vor gelassen wird ist, dass die denen Ländern Europas und der Grünen als Regierungspartei in Welt. Sie alle kamen, um die für Hessen, die unter anderem den den Baubeginn nötigen Rodun- für die Planung der Autobahn zugen durch verschiedenste Blocka- ständigen Verkehrsminister stelden und Besetzungen zu verhin- len, durchaus Möglichkeiten gedern. Und so kam es, wie es schon habt hätten sich politisch anders so oft kam wenn Menschen sich zu positionieren. gegen die Pläne der Mächtigen organisieren und Widerstand leis- Doch sie taten es nicht, nicht mal ten: Die Polizei rückte an um den zu symbolischen SolidaritätsakWeg für Rodungsmaschinen und tionen waren Grünen-Politiker:inKettensägen “freizuräumen”. nen bereit. Sachzwänge waren wohl auch hier für das Verwerfen Eine besonders unrühmliche Rol- der “Ideale” der Partei verantwortle nahmen dabei die Grünen an. lich. So standen und stehen hinIm Auftrag des Bundesverkehrs- ter dem Projekt von Beginn an ministeriums plante und setzte vor allem finanzielle Interessen, die schwarz-grüne Landesregie- genutzt werden soll die neue rung die Räumung des Waldes Autobahn so vor allem um die und die anschließenden Rodun- Fahrtzeiten von LKWs zu verkürgen um. Die Erwartungen an die zen, um so Unternehmen in der CDU was eine Verhinderung der Umgebung besser an das AutoRodungen anging liefen gegen bahnnetz anzubinden. Das ProNull, zumindest Teile der Klima- jekt schwarz-grün in Hessen zeigt bewegung setzten ihre Hoff- zudem, was uns bald auf Bundesnung in die Grünen, doch diese ebene drohen könnte. Hoffnungen wurden gnadenlos enttäuscht. Die Partei, die den Die Entwicklung der Partei BündHöhenflug der letzten Jahre zu ei- nis 90/Die Grünen nach rechts nem großen Teil den hunderttau- hat ihren Anfang bereits in den

90er Jahren, erreichte ihren Höhepunkt mit der Verabschiedung vom menschenverachtenden Hartz-IV System und der Unterstützung von Kriegen im Kosovo und in Afghanistan Mitte der 2000er. Nach einer langen Zeit in der Opposition wollen die Grünen, so es ihre Ergebnisse zu lassen, in einer schwarz-grüne Koalition zurück in die Regierung. Mit einer etwas grün gewaschenen, jedoch weiterhin liberalen Wirtschaftspolitik und einem Programm das auch sonst eher konservativ als fortschrittlich ist steht einem Bündnis mit der CDU nicht mehr viel im Weg. Wie Politik in einem solchen Bündnis aussieht kann man in Hessen derzeit anschaulich sehen.

Polizeigewalt gegen Umweltschützer unter grüner Aufsicht Um Kapitalinteressen durchzusetzen wurde so ein riesiges Polizeiaufgebot samt Wasserwerfern, Räumpanzern und Helikoptern aufgefahren. Mit ihrer Hilfe sollten zuerst Besetzer:innen und deren Unterstützer:innen und anschließend die Bäume aus dem Wald entfernt werden. Besonders gegen die Gegner:innen des Autobahnausbaus gingen die Cops aus Hessen, die in der Vergangenheit vor allem für ihre rassistischen Ausfälle bekannt sind, zusammen mit ihren unterstützenden Kolleg:innen aus den anderen Bundesländern zum Teil brutal vor. In den Wochen der Räumung ließ die Polizei keine Gelegenheit aus Demonstrieren-

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de zu schikanieren und in Lebensgefahr zu bringen. So wurden tragende Seile, die beschriftet waren, durchgeschnitten, mehrmals fielen Menschen durch den Einsatz metertief und verletzen sich schwer. Eine Aktivistin brach sich bei einem Fall vier Wirbel und hat bis heute Probleme alleine zu laufen. Einer Sanitäterin wurde während ihrer Arbeit von der Polizei der Arm gebrochen, an anderer Stelle wurden in einer Höhe von über 15 Metern Taser eingesetzt um Leute die sich an Bäumen festhalten unter Gefährdung ihres Lebens bewegungsunfähig zu machen. Dazu kamen die bereits gewohnten Behinderungen der Anreise, unnötiger Einsatz von Pfefferspray aus nächster Nähe, wild auf Demonstrierende einprügelnde Cops. Besonders an den Tagen an denen wenige Pressevertreter:innen und Beobachter:innen vor Ort waren, nutze die Polizei die Abgeschiedenheit des Waldes um besonders hart vorzugehen. Zum Abschluss der Räumung kam es zum Wasserwerfereinsatz bei Schnee und Minusgraden. Die Polizei, die sich Meter für Meter durch den Wald schlug wurde gefolgt von Kettensägen und schwerem Gerät die den Wald in eine Mondlandschaft verwandelten. Am 8. Dezember wurde die Rodung dann beendet.

zwar gefallen, trotzdem liegt noch kein Asphalt und die Aktivist:innen setzen sich dafür ein das dies auch weiter so bleibt. Bis heute sitzen außerdem zwei Gefangene in Untersuchungshaft, viele weitere werden in den kommenden Wochen und Monaten vor die Gerichte gestellt und angeklagt. Immer wieder müssen Menschen die sich legitimerweise für das Klima einsetzen Repression fürchten, die Solidarität gilt daher den Angeklagten und Gefangenen.

Die Ereignisse im Danni sollten zudem nicht nur uns, sondern auch denjenigen, die bisher den Versprechungen der bürgerlichen Parteien Glauben schenkten, aufDen Aktivist:innen ist es zwar gezeigt haben, dass auf sie kein nicht gelungen den Wald zu ver- Verlass ist. Wenn selbst die Partei, teidigen, trotzdem haben uns die deren inhaltliches Profil sich naTage der Besetzung und der Räu- hezu ausschließlich auf die “Rettung des Klimas” fokussiert ihre mung einiges gezeigt. Ziele bei der erstbesten Gelegenheit verwirft sollte uns eines klar sein:

Das Umweltbewusstsein der Massen braucht einen revolutionären Charakter

Die Räumungen haben gezeigt, dass die Klimagerechtigkeitsbewegung weiterhin viele Menschen mobilisieren kann. Über den ganzen Zeitraum der Räumung sind täglich hunderte Menschen in den Wald gekommen um sich schützend zwischen Besetzung und den Wald auf der einen und Polizei und RodungsBereits wenige Tage nach dem maschinen auf der anderen SeiEnde der Rodungen, haben sich te zu stellen. Zum Ende der Räuneue “Barrios”, also Baumhaus- mung, als auch Ende Gelände in dörfer, gebildet. Die Bäume sind den Danni mobilisiert hat, sind

Wie geht es weiter?

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innerhalb kurzer Zeit tausende Menschen bei Minusgraden und Schnee in den Wald geströmt. Und auch in der breiteren medialen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit wird immer mehr über die Proteste berichtet und der Anteil der Menschen, die sich mit der Besetzung solidarisieren wächst weiter an.

Wollen wir, dass die Menschen nicht nur hier sondern auf der ganzen Welt in der Zukunft noch ein lebenswertes Leben führen, dürfen wir diesen Kampf nicht den bürgerlichen Parteien überlassen. Sprengen wir die Ketten dieses Systems, indem wir uns selbst organisieren und die Kämpfe in die eigenen Hände nehmen. Nico, Frankfurt


RONDENBARGPROZESSE: Repression auf höchstem Niveau.

Während linke Aktivist:innen in Hamburg gegen den G20-Gipfel demonstrierten und dafür kriminalisiert, verhaftet und verurteilt werden, sind die wahren Verbrecher diejenigen die Schuld am Krieg sind und nicht diejenigen, die sich dagegen wehren. Während die G20 Staaten „diplomatisch“ absprechen wie sie ihre Interessen aufeinander abstimmen können, um weitere Kriege zu führen, Waffen in die ganze Welt zu exportieren, Rohstoffe und Absatzmärkte zu erschließen, sind es die linken Aktivist:innen die gegen den greifbarsten Ausdruck des Kapitalismus demonstrieren und dafür Repressionen und Polizeigewalt erfahren. Am Tag des G20-Gipfels gab es rund um und in Hamburg viel Protest, bzw. Demonstrationen, Straßenblockaden und weitere Aktionen um klarzustellen, dass der G20-Gipfel nicht legitimiert werden und auch nicht stattfinden darf. Dass die Polizei gegen solche Bewegungen und Aktionen vorgeht, ist kein Geheimnis und auch keine Seltenheit. Mit körperlichen Übergriffen und rechtliche Konsequenzen ist in den meisten Fällen zu rechnen. Diese Repressionen erstrecken sich auch über die Aktivist:innen im Rondenbarg Prozess. Am Tag des G20-Gipfels wurde ein Demonstrationszug auf dem Weg in die Innenstadt in der Straße Rondenbarg von hinten mit einer Hundertschaft an Polizist:innen und zwei Wasserwerfern eingekesselt und angegriffen. Das Ergebnis: 70 Festnahmen und 14 Aktivist*innen lagen teilweise mit offenen Brüchen, angeknacksten Halswirbeln und Stauchungen im Krankenhaus.

Geschrieben von Nico, Hamburg

In den Rondenbarg Prozessen, die am 3.12.2020 begannen stehen 85 Angeklagte in 8 Gruppen vor Gericht, mit den Vorwürfen: schweren Landfriedensbruch, Angriff auf Vollstreckungsbeamte und die Bildung bewaffneter Gruppen. Das besondere in diesem Fall ist, dass keine konkreten Straftaten den Angeklagten zugeordnet werden, bzw. werden können. Die Teilnahme an diesen Protesten, bzw. der Demonstration reicht für die Staatsanwaltschaft schon für eine Verurteilung. Eine Verurteilung schränkt nicht nur das Versammlungsund Demonstrationsrecht ein, sondern gefährdet auch Arbeits-, Ausbildungs- und Studienplätze der Angeklagten und das nur, weil sie ihr Versammlungs-, bzw. Demonstrationsrecht genutzt haben. Eine Verurteilung legitimiert die Einschränkung des Versammlungsrechts. Eine Verurteilung schreckt vor einer zukünftigen Demonstrationsteilnahme ab. Eine Verurteilung steht für die Repression in diesem Land, für Aktivist:innen die sich gegen die kaptilastischen Strukturen des Landes wehren, indem sie ihr Versammlungs- und Demonstrationsrecht nutzen. Diese Prozesse und insbesondere eine Verurteilung, bedeutet nicht nur einen massiven Eingriff auf die Lebensführung der Angeklagten, sondern auch einen massiven Eingriff in unseren Widerstand. Deshalb ist es wichtig Solidarität zu zeigen. Briefe an die Gefangenen, Spenden an die Rote Hilfe, Soli-Aktionen wie Demonstrationen etc., eine Prozessbegleitung sind das mindeste. Denn wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen.

REPRESSION | 26


Im Bild: YPJ-Kämpferin genießt ihre Pause

Befreiung gibt es nicht alleine

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Entweder ZUSAMMEN oder KEINE!

Unsere Autorin befasst sich mit dem Phänomen Selfcare und kommt schnell zu der Frage: Individualismus mit neuen Namen oder eine revoltionäre Antwort auf unsere Individuellen Probleme? Zitat: „Der Kampf um Befreiung ist keine Wohlfühlaktion und sollte auch nicht danach bewertet werden wie „anstrengend“ es ist. Vor allem als Frauen würden wir unsere gleichgeschlechtlichen Genoss:innen somit im Stich lassen. Es ist kein wunderschönes Gefühl nach einem Femizid auf den Straßen zu sein und zu protestieren. Doch es kann anderen eine Anlaufstelle bieten und eine klare Antwort repräsentieren. Als Rosa Luxemburg sagte „Diejenigen, die sich nicht bewegen, werden ihre Fesseln nicht bemerken“

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In welch einer Zeit leben wir? Was werden die morgigen Geschichtsbücher über uns schreiben? Fragst du dich das auch? Ich jedenfalls stelle mir vor, wie zukünftige Generationen auf uns zurückblicken und froh sind nicht mehr im Kapitalismus zu leben. Wir sind die Zeit der Pandemie, die Zeit der Wirtschaftskrise, die Zeit der Kriege. Der so viel versprechende Kapitalismus machte uns krank und arm. Vermutlich sind die Tage in denen wir leben nicht gerade die besten, doch wie sagt man so schön, die dunkelste Zeit, ist die vor dem Morgengrauen. Doch bis dahin stellt sich die Frage, welche Rolle wir uns selbst geben. Denn die neue Welt wird nicht von selbst entstehen. Dieses System macht uns kaputt, ja! Und was möchten wir dagegen tun?

Debatte um „SelfCare“

sich zu sorgen „ein Akt politischer leckerem Essen. In diesen Momenten frage ich mich, welcher Luxus Kriegsführung“ ist. die Menschen dazu bringt, sich Die Ausgangslage dieser Annah- eine „Auszeit“ von allem zu nehme ist eine richtige, denn vor al- men. Lorde spricht bewusst dalem als Frauen, Arbeiter:innen von, dass dies kein Luxus ist. Veraber auch Migrant:innen wissen mutlich meinte sie auch nicht die wir, dass wir im Auge des Systems Bourgeoisie-Kinder aus den Spas, allein der Re- bzw. Produktion die- als sie von Kriegsführung sprach. nen sollen und schufften bis wir krank sind. Der Kapitalismus über- Doch frage ich mich ob Arbeilebt ja auch nur dadurch, dass er ter:innen die Realität besitzen, uns ausbeutet. Ein wichtiges Bei- sich dieser „Self-Care“ im Kapitaspiel hierfür sind vor allem Gastar- lismus überhaupt zu widmen. Ich beiter:innen, die nach vielen Tests stelle mir alleinerziehende migund Gutachten in ihren Herkunfts- rantische Arbeiter:innen vor, die ländern als die „gesündesten“ vermutlich lachen würden, wenn Menschen nach Deutschland ka- man ihnen vom Konzept erzählt. men und heute eine große Band- Denn diese Auszeit können sich breite an Krankheiten aufweisen. nun einmal nicht alle nehmen. In Auch in Krisenzeiten wie heute einer Gesellschaft, in welcher viele können wir sehen wie vor allem von uns psychische Erkrankungen Frauen die Last tragen, indem sie entwickeln, ist es wichtig diese in meist schlecht bezahlten Pfle- ernst zu nehmen. Doch der Grund gebereichen arbeiten und gleich- für unser krank sein sollte im Kern zeitig die Reproduktionsarbeit in- analysiert werden. Dieses System nerhalb der Familie übernehmen. verseucht uns uns scheitert an unWenn wir uns unserer Situation serem Selbsterhalt. Deshalb muss bewusst werden und politisch ak- unser Aktivismus sich auf die Zertiv werden, dann kommt der Akti- schlagung dessen richten, was uns vismus hinzu, welcher zusätzliche kaputt macht. psychische und physische Belastung bedeutet. In solchen Momenten ist es verständlicher denn je, dass wir uns fragen ob es uns noch gut geht und ob wir all das noch weiter aushalten können.

Seit kurzer Zeit höre ich immer wieder wie Menschen über das „Self-Care“ Konzept sprechen. Es wird diskutiert, wie wir es schaffen können eine sogenannte Selbstsorge zu organisieren, welcher unDoch die Frage die sich mir hier seren Selbsterhalt abzielt, da das stellt ist, worin wir das grundlegenSystem daran scheiterte. de Problem sehen, welches uns in diese Situation bringt und welche Bereits Foucault, ein französischer Schlüsse wir hieraus ziehen. Denn Vordenker der postmodernen linwenn ich heute „Self-Care“ google, ken Strömung schrieb darüber, dann erscheinen mir Tipps wie ich doch bekannt wurde es vor allem in stressigen Situationen mir ein durch die schwarze feministische Bad mit Duftkerzen machen soll Schriftstellerin Audre Lorde. Die und eine Auszeit aus dem „Interkrebskranke und mehrfach unternet“ nehme. Wenn ich den Hashdrückte Mutter schrieb darüber, tag #Selfcare bei Instagram suche, dass in einer Welt, in welcher man sehe ich lauter Bilder aus Spa‘s versucht uns loszuwerden, für und Bilder von Tees, Kerzen und

Kollektivitiät und Solidarität

Die Debatte um Selbstsorge wird auch auf den politischen Aktivismus bezogen geführt. Menschen sagen, sie bräuchten eine Auszeit, denn sonst werde es ihnen zu viel. Einige von uns kennen Ansagen wie „du machst dich doch so kaputt“ oder „denk doch mal an dich“. Wir können unsere Ziele

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natürlich nur erreichen, wenn wir ein langfristiges und geplantes Leben führen und unsere eigenen Grenzen klar kennen. Doch die Art des aktuellen politischen Aktivismus soll jede Unbequemheit und jedes Aufreißen von Grenzen umgehen. So werden wir keine grundlegenden Veränderungen schaffen und keine Fortschritte erzielen. Natürlich sollten wir unsere eigenen Kapazitäten richtig einschätzen und uns nicht ausbrennen. Doch Revolutionärsein bedeutet oftmals sich bewusst in gefährliche Situationen zu begeben oder auch manchmal die eigene Bequemlichkeit aufzubrechen. Denn wenn wir allein an unser eigenes Wohlempfinden denken und danach handeln, können wir einen Systemwechsel vergessen.

bemerken“

freiung der Menschheit führten dazu, dass sie eine glückliche Revolutionärin war, die auch in den sprach sie unter anderem von schwersten Situationen keinen dem was wir heute erleben. Die Schritt zurück machte. Fesseln zu bemerken und zu spüren wird nicht einfach sein, Lasst uns von den Frauen lernen, wir werden natürlich Schmerzen die trotz aller Schwierigkeiten empfinden, aber auch hier gilt es kämpften und ihre Hoffnung auf Teil eines Kollektivs zu werden, eine bessere Welt nicht verloren. in welcher wir nicht allein solche Situationen überwinden. Allen Nicht für ihr individuelles Wohlvoran ist es wichtig die Solidariempfinden, tät zwischen Unterdrückten zu sondern für die Befreiung einer organisieren. Wenn uns etwas zu ganzen Welt. viel wird und wir Unterstützung benötigen, dann ist es die Aufgabe des Kollektivs eine Lösung zu Berfin, Köln finden.

Die Solidarität, die wir auszuleben versuchen, sollte uns eim Wegweiser sein. Denn wenn wir eine Gesellschaft erträumen, in der wir ein anderes menschliches Miteinander schaffen, dann sollten wir auch heute unsere Selbstsorge Der Kampf um Befreiung ist keine durch Kollektivität und SolidariWohlfühlaktion und sollte auch tät statt individueller Entscheinicht danach bewertet werden dungen decken. Als Rosa in ihrem wie „anstrengend“ es ist. Vor alBrief an Sonia Liebknecht lem als Frauen würden wir unsere gleichgeschlechtlichen Ge- „So ist das Lenoss:innen somit im Stich lassen. Es ist kein wunderschönes Gefühl ben und so muß nach einem Femizid auf den Stra- man es nehßen zu sein und zu protestieren. Doch es kann anderen eine An- men, tapfer, laufstelle bieten und eine klare unverzagt und Antwort repräsentieren. Als Rosa lächelnd – Luxemburg sagte:

„Diejenigen, die sich nicht bewegen, werden ihre Fesseln nicht

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trotz alledem!“

schrieb, hatte sie keine Möglichkeit um über ihr eigenes Wohlempfinden nachzudenken, denn sie befand sich im Gefängnis und im ständigen Widerstand gegen den Faschismus. Doch ihre Überzeugung zur Revolution und Be-


PODCAST EMPFEHLUNG Rev Left Radio Selbstbeschreibung: Diskussion der politischen Philosophie, der aktuellen Ereignisse, des Aktivismus und des unvermeidlichen historischen Niedergangs des Kapitalismus aus einer revolutionären linken Perspektive.

Geleceğe Dönüş (türkisch) Selbstbeschreibung: Hat der Sozialismus aufgehört, eine Alternative zum Kapitalismus zu sein? Als Alıteri-Zeitung starten wir eine Podcast-Serie, in der wir uns aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem Thema Sozialismus befassen. Unsere Serie wird aus 30 Folgen bestehen, von denen jede versuchen wird, 45 Minuten nicht zu überschreiten. Wir werden mit Marxisten-Leninist:innen aus verschiedenen Traditionen sprechen.

Guerrilla History Selbstbeschreibung: Guerilla-Geschichte ist der Podcast, der als Aufklärungsbericht der globalen Geschichte für die Revolutionäre-Linke dient und darauf abzielt, die Lehren aus der Geschichte zur Analyse der Gegenwart zu nutzen.

Radical Reflections Selbstbeschreibung: Radical Reflections steht in entschlossener Solidarität mit der Arbeiterklasse aller Länder und zielt darauf ab, die Kampagne zum Aufbau eines starken Kollektivs politischer Aktivist:innen zu unterstützen, die in der Lage sind, die kapitalistische Produktionsweise zu stürzen und den Kommunismus national und international umzusetzen.



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