XAVER 10 | 18

Page 12

12

Literatur

BUCHTIPP (Zeit-)Reise ins Erwachsenwerden

Wolf Haas beamt sich in die 70er-Jahre und lässt einen Teenager sprechen

Natürlich kann Wolf Haas auch anders. Das hat er – in schönem Wechsel mit neuen Folgen seiner berüchtigten „Brenner“-Krimikunstwerke – mit der Romanform spielend in „Das Wetter vor 15 Jahren“ und dann 2012 mit „Verteidigung der Missionarsstellung“ bewiesen. Jetzt schlägt er erneut einen Haken: Mit einem recht geradlinigen Coming-ofAge-Roman aus der Sicht eines 13-jährigen, der sich während der Sommerferien von strammen 93 Kilogramm auf 78 runterhungert. Da kann seine Mutter noch so lange rufen: „Du bist nicht dick. Du bist höchstens ein bisschen fester.“ Der Anlass für diesen Entschluss: Elsa. Das Problem an der Sache: Tscho, ihr Mann – und der beträchtliche Altersunterschied von zehn Jahren zum Objekt seiner Liebe. Die Ausgangslage ist also nicht einfach. Das ernsthafte Bemühen des Gerade-malTeenagers, der an einer Tankstelle in den österreichischen Bergen Anfang der 70er-Jahre seinen Ferienjob mit der immer gleichen Litanei „Öl, Wasser, Luft in Ordnung? Batterie okay?“ runterreißt, dafür umso mehr. Im neuen Haas-Roman ist nicht die verzwickte Konstruktion der Star, sondern der feine Umgang mit der Sprache und der Weise, wie sie sich den Figu-

ren im Buch in ihrem Sinn enthüllt. Mit Missverständnissen, Verhörern und semantischen Unfällen wird wie eh und je mit großer Komik gespielt. Nur in dieser Zärtlichkeit hat man das noch nicht gelesen. Und so wie der Icherzähler im ganz langsam an Geschwindigkeit und Gewicht gewinnenden Roman auf einer ereignisreichen Lasterfahrt nach Griechenland an einem überholenden Lkw erst „Port“, dann „Sport“ und schließlich das ganze „Transport“ zu lesen bekommt, entfaltet sich Haas’ bis dato unversponnenstes Buch zu einer anrührenden Liebesgeschichte. Im Vertrauen auf die Sprachkunst des Autors braucht es da gar keine großen erzählerischen Volten.

Junger Mann Wolf Haas 240 Seiten Hoffmann & Campe 22,-- € / E-Book 16,99 €

1 x BUMCaH nn“

„Junger Haas von Wolf

Bücher Ungeheueres

Wie ich fälschte, log und Gutes tat Thomas Klupp 256 Seiten, Berlin Verlag 20,-- € / E-Book 17,99 €

Angst und bange könnte es einem werden, wenn man darüber nachdenkt, dass es 15-jährige wie diesen Benedikt Jäger tatsächlich geben könnte. Oder gar, dass die 15-jährigen alle so drauf sein könnten! Denn der schnodderige Icherzähler in Thomas Klupps Hochstapler-Sause hat in seinem zarten Alter schon veritables Krull-Format: Im oberpfälzischen Provinzstädtchen Weiden laviert er sich durch sein privilegiertes Leben als Mitglied von Top-Tennis-Nachwuchsspielern; als Sohn eines Chefarztes und einer lokalen High-Society-Mutter mogelt er sich mit Drogen und gezinkten Zeugnissen als vermeintlicher Saubermann durch sein Leben. Viel ist Episode in Klupps Nachfolger zu „Paradiso“. Gäbe es einen literarischen Anspieltipp: Das Auswärtsspiel in Grafenwöhr, das als kreischkomische Sport-Variante von „From Dusk Till Dawn“ gelten kann, ist wirklich ganz großes Tennis!

Unveröffentlichtes

Stimmen

Wolfgang Herrndorf 192 Seiten, Rowohlt Berlin 18,-- € / E-Book 14,99 €

Gut fünf Jahre ist es her, dass sich der damals schwer krebskranke „Tschick“-Autor Wolfgang Herrndorf das Leben genommen hat. Im Angesicht des Todes war er in seinen letzten Lebensjahren so produktiv wie nie. Für seine Verehrer war das aber wohl nicht genug, sodass jetzt im wirklich letzten Band mit Unveröffentlichtem kurze Texte erscheinen, die Herrndorf teils unter dem Pseudonym „Stimmen“ in einem Internetforum befreundeter Autoren veröffentlicht und teils auf seinem Rechner abgelegt hat. Für den Leser dieser kurzen, meist autobiografischen Skizzen, Episoden und Gedichte Überlegungen ist das ein Glück, denn hier ist wieder dieser lebenswilde, kategorische, kluge aber immer feine Ton, der ihn so beliebt gemacht hat.

Ungesagtes

Mein Vater, die Dinge und der Tod Rainer Moritz 200 Seiten, Kunstmann 20,-- € / E-Book 15,99 €

„Die Wohnung und ihre Dinge sprechen zu mir von meinem Vater“, schreibt der in Heilbronn geborene Rainer Moritz in seinem Erinnerungsbuch über seinen 2015 verstorbenen Vater. Gegenstände also als Geschichtenerzähler und Bewahrer von dem, was war – oder auch als Tunnel in die Vergangenheit: Der Zugang, den der Leiter des Hamburger Literaturhauses zu dieser Rückschau wählt, ist ungewöhnlich. Der Sessel, der Fernseher, ein Bild, eine Armbanduhr und vieles mehr werden in diesem feinfühlig erzählten Buch zu beredten Zeitzeugen einer Vater-SohnBeziehung und malen gleichzeitig ein lebendiges Zeitgemälde der 60er-Jahre. Was bleibt von einem Leben? Rainer Moritz gibt hier ganz persönliche Antworten, die aber auf jeden Leser übertragbar sind.


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.