KW 21-2014

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Mittwoch, 21. 5. 2014 · Nr. 21

Mein München: Unterrichtsausfall

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„‘Beschäftigt euch selbst’ ist nicht akzeptabel“ Michael Streit ist der Vorsitzende des Gemeinsamen Elternbeirates der Grund- und Mittelschulen in München. Er meint:

Inge Wiederhut, ehemalige Rektorin der Guardini-Hauptschule

Michael Streit, Vorsitzender Gemeinsamer Elternbeirat der Grundund Mitteschulen in der Landeshauptstadt München. Foto: pr

Foto: de

Unterrichtsausfall führt immer dazu, dass in irgendeiner Form die Qualität der Bildung der Schüler leidet. Denn der Lehrplan und somit das Bildungsziel kann nur eingehalten werden, wenn die dafür vorgesehenen Lehrkräfte auch anwesend sind. Jede ausgefallene Stunde bedeutet „nicht vermitteltes, erforderliches Wissen“. Unterrichtsstunden komplett ausfallen zu lassen darf nur die letzte Konsequenz sein. Nicht zuletzt wegen der Auswirkungen auf die Betreuung der Kinder am Nachmittag, sei es durch die Betreuungssysteme (Hort,

dabei“-Ersatz-Stunde ist nicht akzeptabel. Hier hängt jedoch vieles von der Motivation und dem Engagement der Lehrkraft ab. Unterrichtsausfall aber pauschal mit schlechten und unmotivierten Lehrkräften und schlechter Schule gleichzusetzen halte ich für ebenso falsch und unzulässig wie die „Wir Motivierte Lehrer machen eh schon alles“ oder „Anders geht es nicht“-MentaKurzfristige, einzelne Ausfälle lität. können zumindest im Grundund weitgehend im Mittelschulschulbereich in der Regel in- Fremde Tätigkeiten nerhalb der Schulfamilie kompensiert werden. Hier gilt es Längerfristige Ausfälle sollen ja aber dafür zu sorgen, dass es durch mobile Reserven aufgenicht zu einer Betreuung, son- fangen werden. Dass diese auch dern zu einem tatsächlichen nicht in unendlicher Menge und Unterricht kommt. Eine „Be- auf längere Zeit und kurzfristig schäftigt euch mal selbst“ – zur Verfügung stehen, versteht oder „Ich hab noch einen Film sich von selbst. Hier bedarf es

Mittagsbetreuung, etc.) oder Eltern, die dann frei nehmen oder andere Alternativen suchen müssen. Geschieht dies öfter, leidet darunter nicht nur die Bildung der Kinder, sondern auch das Berufs- und Familienleben der Eltern.

Obwohl schon einige Jahre im Ruhestand, mutet die Thematik für mich als ehemalige Rektorin der Guardini-Hauptschule wie eine Gebetsmühle an. Erinnern kann ich mich aber noch gut, dass schon damals auch bei einem vorhersehbaren Krankenhausaufenthalt einer Kollegin der 9. Klasse kein Ersatz gestellt wurde. Um der Klasse ihre Chancen bezüglich des Qualis zu erhalten, übernahm ich die Stunden – zusätzlich zur Unterrichtsverpflichtung von 18 Stunden und der gesamten Schulleitung. Wie ich sehe, hat sich trotz ständig angeblicher Verbesserungen bis heute nichts geändert – auf Kosten unserer kostbaren Kinder, die unsere Zukunft sind, und der Belastung von Lehrkräften!

„sonst fehlen am Ende des Schuljahres ganze Kapitel“. Denn den Stoff, der in Vertretungsstunden nicht durchgenommen, nicht abgefragt, nicht vertieft wird, müssen die Kinder trotz Unterrichtsausfall beherrschen. „Natürlich wird in Vertretungssituationen darauf geachtet, dass die zu haltende Unterrichtsstunde an dem anschließt, was der vertretene Lehrer vorher mit den Schülern besprochen hat. Dazu sprechen sich meine Kollegen stets sehr eng ab“, erklärt Florian Bär, der die Mittelschule Walliser Straße leitet.

Fußballspielen oder Filmegucken bedeuten sollen, braucht es Lehrer, die gut motiviert sind und erhebliche zusätzliche Belastungen wegstecken: Dass die Mittelschule an der Peslmüllerstraße Unterrichtsausfälle zufriedenstellend bewältigen kann, führt die stv. Schulleiterin Christiane KolbRadl u.a. „auf die Leistung freiwilliger Überstunden durch unsere Lehrerinnen und Lehrer“ zurück. „Viele Lehrkräfte sind bereit, über ihre dienstliche Verpflichtung hinaus kurz- und langfristig Mehrarbeit zu übernehmen, um drohenden Unterrichtsausfall zu vermeiden“, erklärt ähnlich Norbert Lottner, Lehrer leisten Rektor der Georg-Büchner-RealÜberstunden schule. „Schulleitungen und Lehrkräfte Doch wenn Vertretungsstunden versuchen täglich, den Untermehr als Hausaufgabenmachen, richtsausfall an den Grund- und

Annemarie Mehlhorn (Mutter eines Mittelschülers) Mein Kind geht auf eine Mittelschule im Münchner Süden. Seit Januar war die Klassenlehrerin 18 Tage krank. Viele Stunden fallen ersatzlos aus, in den restlichen Stunden werden Filme angesehen, die Klasse wird auf andere Klassen aufgeteilt und die Kinder sollen ruhig malen oder die Klasse darf auf den Spielplatz. Diese Situation bestand auch in der angrenzenden Grundschule. Wir als Eltern setzen uns mittags hin und lernen den ausgefallenen Stoff und zahlen für die Nachhilfelehrer. Das kann und darf nicht sein, vor allem, da es viele gute Lehrer geben würde, die ihren Beruf noch als Berufung sehen und nicht nur als sichere Beamtenrente.

Mittelschulen in Bayern so gering wie möglich zu halten“, bestätigt Gerd Nitschke, Vizepräsident des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, „sie halten Vertretungsstunden und machen Mehrarbeit, die nicht vergütet und auch nicht ausgeglichen wird.“

An die Grenzen gekommen Die Wirklichkeit hält jedoch nicht überall, was die ministeriellen Statistik verspricht: An vielen Schulen kann Vertretung nicht mehr als „Betreuung und Beaufsichtigung“ sein, sagt Gerd Nitschke, „von einem regulären Unterricht oder gar von Förderung und Individualisierung brauchen wir hier nicht mehr zu sprechen.“ Der Grund: Die noch gesunden Lehrkräfte kommen mit den ständigen Vertretungen selbst an ihre gesundheitlichen Grenzen. Dabei ist Krankheit der Hauptgrund, warum Lehrer und damit Stunden entfallen. 59 % der Ausfallstunden gehen auf das Konto von Erkrankungen. „Mit der Zahl der Schuljahre des Gymnasiums hat das nichts zu tun“, weist Georg Eisenreich einen Zusammenhang mit G 8 oder G 9 zurück. Stattdessen fallen Projekte und Exkursionen zumindest an Gymnasien ins Gewicht: „An Schulen, die in diesen Bereichen besonders aktiv sind, kann es zu mehr Unterrichtsausfall kommen“, so Eisenreich.

Viele zusätzliche Verpflichtungen Das ist auch am Erasmus-Grasser-Gymnasium so. Schulleiter Stephan Zahlhaas zählt Schüleraustausch, Landheim, Skilager, Berlinfahrt, Prüfungsformate, Teamsitzungen, Lehrerausbildung usw. zu den vielfältigen Aufgaben, die Lehrkräfte am Gymnasium neben und über ihre Unterrichtsverpflichtung hinaus übernehmen. Mit Lehrer- bzw. Stundentausch, Einsatz der integrierten Lehrerreserve, Vertre-

tungen durch Präsenzlehrkräfte usw. versucht das Gymnasium, seine rund 2.000 Wochenstunden Unterricht so zu organisieren, dass möglichst wenig entfällt. Die Georg-Büchner-Realschule zieht auch die ursprünglich für Wahlunterricht, Differenzierten Sportunterricht, Ergänzungsunterricht etc. verplanten Lehrerwochenstunden heran, um Ausfälle abzufangen.

Mobile Reserven für die Lücken Das Bildungsministerium stellt zudem 2.180 Lehrer als „mobile Reserven“ vor allem für Grundund Mittelschulen bereit, um längerfristige Lücken zu schließen (im laufenden Schuljahr gibt’s mit 110 Lehrern diese Reserve erstmals auch für Gymnasien z.B. als Ersatz für Lehrer in Elternzeit). Daneben hat das Ministerium für Realschulen, Gymnasien und berufliche Schulen 2012 zusätzlich

6.100 Schulen In allen 6.100 bayerischen Schulen (darunter 3.346 Grund- und Mittelschulen, 368 Realschulen und 418 Gymnasien) werden 1,72 Millionen Schüler von 115.581 Lehrkräften unterrichtet. Jede Woche werden 2,53 Millionen Unterrichtsstunden gehalten. Diese Zahlen gelten für das Schuljahr 2012/13 (die Zahlen für das laufende Schuljahr liegen laut Kultusministerium noch nicht vollständig statistisch geprüft vor). Bayerisches Bildungsministerium

4,5 Millionen Euro bereitgestellt, um Vertretungslehrkräfte einzustellen. „Wir haben zur Vermeidung von Unterrichtsausfall zusätzliche Ressourcen in erheblichem Umfang bereitgestellt“, betont Georg Eisenreich. Die Mobile Reserve reicht aber nicht aus. „Der eigentliche Bedarf wird durch sie nur

Soweit nur irgendwie möglich, werden alle planbaren zusätzlichen Aufgaben, Sitzungen, Tätigkeiten ausnahmslos in der unterrichtsfreien Zeit vorgesehen. Dass dies aber zu Lasten der Unterrichtsvor- und nachbereitung für die Lehrkräfte geht, was sich dann wiederum auf den Unterricht auswirkt, versteht sich auch von selbst. Dass Unterrichtsausfall im Focus der Eltern ist, zeigen die (Ausnahme-?) Fälle, in denen die einfachste aller Möglichkeiten gewählt wurde, nämlich die Kinder nach Hause zu schicken! Wie werden diese Fälle zukünftig gelöst, wenn München nach Wie wird es gelöst? dem politischen Willen nahezu komplett den Ganztag für alle Letztlich möchte ich aus mei- Grund- und Mittelschulen einnen Erfahrungen feststellen: geführt hat?

anderer oder zusätzlicher Überlegungen. Vor allem wenn es „wieder einmal“ die gleiche Klasse trifft. Hier kommt selten die gleiche mobile Lehrkraft wie beim letzten Mal. Doch liegt die Ursache hier nicht vielmehr darin begründet, dass z.B. die „Personalbemessung“ an den Schulen de facto dadurch reduziert wird, dass die Übertragung von unterrichtsfremden Tätigkeiten auf die Lehrkräfte (und Schulleitung) immer mehr ausgebaut wird? Wieso muss z.B. die Schulleitung sich um den Bauunterhalt an der Schule kümmern?

G. Gruber (Mutter eines Siebtklasskinds am Gymnasium) Ausgefallene Unterrichtszeiten waren bei uns betreute Stunden in der Mensa: Das heißt, ein Lehrer war zur Aufsicht von mehreren Klassen zuständig. Die Schüler sollten Hausaufgaben oder Arbeitsaufträge erledigen. Auch hin und wieder „nichts tun oder spielen“. Einige Lehrer sind dann wenigstens mit den Kindern ins Freie gegangen, es wurde sich bewegt! Unterricht fand aber nicht statt. Falls ein Lehrer zum Seminar oder zur Betreuung von Klassenfahrten, Schüleraustausch-Betreuung war, hatten die Schüler Arbeitsaufträge. Nichts gegen die Aktionen – sie sind enorm wichtig! Doch hier ist planbar, dass mehr Personal gebraucht wird. Es ist bestimmt nachvollziehbar, dass ein Vertretungslehrer über ein bis zwei Wochen keinen Fach-Unterricht ersetzen kann. Der Stoff wird mit Druck nachgeholt, oder wie auch bei uns geschehen fehlen am Ende des Jahres ganze Kapitel. Bleiben die Lücken bis zum Schulabschluss? Falls die Stunden des Lehrerausfalls am Anfang oder Ende eines Schultages liegen, kann es gut sein, dass die Kinder frei haben, also die Stunden ausfallen. Die Kinder merken auch schon, so toll ist das auch nicht! Der Stoff muss ja trotzdem gelernt sein und sitzen! Vollkommen schwierig ist zu verstehen, dass komplette Unterrichtswochen von Referendaren übernommen werden. Hier werden mit „Auszubildenden“ komplette Lehrerstellen besetzt! Die Statistik führt einen Unterricht, jedoch nicht mit Lehrern. Natürlich sind nicht alle Stunden schlecht, aber die Statistik ist verfälscht und die Politik spart enorm, auch an der Zukunft und der Qualität der Bildung unserer Kinder.

kaschiert“, kritisiert Gerd Nitschke. Immer wieder gibt es Zeiten, in denen keine Mobile Reserven zur Verfügung stehen, bestätigt Andrea Konetschny, Schulleiterin der Grundschule an der Südlichen Auffahrtsallee: „Dann ist es in der Regel so, dass Kolleginnen der Schule durch kräftezehrende Überstunden zusätzlich Unterricht in den betroffenen Klassen halten.“

Ziel noch nicht erreicht Ihre Kollegin Karin Ackermann, die die Grundschule Herterichstraße leitet, hat bis April 2014 mehrfach Mobile Reserven bei Lehrererkrankungen in Anspruch genommen. „Es gibt Zeiten, in denen es ‘brennt’“, fasst sie zusammen, „und viele, viele Wochen, in denen alles ganz normal läuft.“ Für Georg Eisenreich bleibt die

Unterrichtsversorgung auch angesichts steigender Schülerzahlen in München eine zentrale Aufgabe. „Wir werden in jedem Fall alle Maßnahmen konsequent fortführen, um Unterrichtsausfall zu vermeiden“, verspricht er. „ Ziel bleibt für mich eine verlässliche Schule“, sagt auch Bildungsminister Ludwig Spaenle. Erreicht ist es noch nicht.

Johannes Beetz

Alle Statements von Lehrern, Eltern, Verbänden finden Sie vollständig im Internet unter www.mehr-wissen-id.de mit der Nummer 64889.


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