TREND - Magazin für Soziale Marktwirtschaft - Ausgaben 3/4 2020

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42. JAHRGANG Ausgaben 3/4 2020

Bürokratieabbau:

Wachstum zum Nulltarif TOP-INTERVIEWS

Friedrich Merz Kadri Simson Prof. Dr. Lars Feld ENERGIE & KLIMA

Auf Innovation und Markt setzen DIGITALISIERUNG

Deutschlands Sicherheit im Cyber-Zeitalter


für unsere gesundheit HAT PHYSIOTHERAPEUT JAN HELFENDE HÄNDE. Wir sagen Danke.

Gemeinsam machen wir das deutsche Gesundheitssystem jeden Tag zu einem der besten der Welt. Mehr unter pkv.de/jan


Foto: Nell Killius

EDITORIAL

Astrid Hamker Präsidentin des Wirtschaftsrates der CDU e.V.

I

n schönen Sommermonaten hatten wir das Gefühl, die Corona-B­ e­ drohung vernachlässigen zu können. Leider hat die Sorglosigkeit zur Unvorsichtigkeit – ja Verantwortungslosigkeit Weniger geführt. Infektionen auf Familienfesten und Partys weisen zudem auf Nachlässigkeit bei der Regelkontrolle hin. Auch in der Wirtschaft wurden vereinzelt Fehler begangen. Ich betone ausdrücklich, dass ich bis heute alle Entscheidungen der Bundesregierung und sogar strenger agierender Ministerpräsidenten aus dem Frühjahr respektiere – ging es uns allen doch um den Schutz möglichst vieler Menschen und die Eindämmung dieser Pandemie. In ­

Titelbild: AdobeStock©Osterland

„Wir brauchen wettbewerbsfähige Rahmen­bedingungen und nachhaltige Zukunfts­investitionen in Deutschland und Europa.“ ­amilien, die ihre Großeltern besuF chen wollen, und in Betrieben, die unser Land finanziell tragen, treffen tiefgreifende Einschnitte jedoch nicht mehr auf die gleiche Geduld der Unwissenden wie im Frühjahr. So können mich Maßnahmen wie innerdeutsche Beherbergungverbote – ­übrigens ohne bekannte Nachweise von I­n­ fektionen in regelkonformen Hotels – nicht recht überzeugen. Unser reiches Land in Europa hat die Corona-Krise bisher besser bewältigen können als andere Staaten. Wie bei Corona selbst, waren diejenigen, die vorher schon krank waren, in der Krise viel stärker betroffen. Deshalb gibt es für mich keinen Grund, nicht so schnell wie möglich zu unserem Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft und soliden Staatsfinanzen zurückzukehren. Krisenintervention

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darf nicht zur Dauermedikation ­werden! Die Corona-Krise darf nicht von denjenigen instrumentalisiert werden, die Staatseingriffe und Schuldenvermehrung auf ihrer Agenda ­haben. Wir dürfen es nicht zulassen, dass auf Kosten unserer Kinder und Enkel Milliarden ausgegeben werden, die ihnen trotz der Geldvermehrung durch Notenbanken weltweit später einmal in Rechnung gestellt werden, wenn heutige Politikergenerationen längst nicht mehr regieren. Der Staat ist nicht Mitspieler sondern Schiedsrichter. Er ist auch nicht Versicherer aller Lebensrisiken. Deshalb gilt es zu den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft schnellstmöglich zurück­ zukehren! Ich bin zuversichtlich, dass wir diese Krise meistern werden: unsere mittelständischen Familienunternehmen sind krisenresilient, wir haben innovative, starke Schlüsselbranchen und Potenziale in unserem Bildungs- und Ausbildungssystem, die wir nutzen müssen. Wir brauchen in Deutschland und Europa wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen und nachhaltige Zukunftsinvestitionen, nicht zuletzt ­ einen digitalen Schub. Letzteren hat uns diese Krise verliehen, weil wir unser Veranstaltungsprogramm umgestellt haben. Ich freue mich auf viele von Ihnen als Teilnehmer un­ seres virtuellen Wirtschaftstages 2020 am 16. November. In diesen Zeiten wünsche ich Ihnen, Ihren Familien und Ihren ­ Mitarbeitern ganz besonders gute ­ ­Gesundheit!

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INHALT

8, 28, 39 TOP-INTERVIEWS TREND sprach mit Friedrich Merz über den Zustand des Wirtschaftsstandortes Deutschland, teuren Strom und ehrgeizige Klimaziele. Der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen Prof. Dr. Lars Feld gab TREND seine Einschätzung zur Corona-­ Krise, was sie für die deutsche EU-­ Ratspräsidentschaft bedeutet, den EU-­Wiederaufbaufonds und mögliche Folgen des Brexits. EU-Energiekommissarin Kadri Simson stand Rede und ­Antwort zum „Green Deal“ und wie dieser einhergehen soll mit einem Wirtschaftsaufschwung in Europa.

START EDITORIAL 3  Astrid Hamker AUSSENANSICHT 6 Der Sozialismus lebt  Ralf Schuler

TITEL BÜROKRATIEABBAU: 12 Wachstum zum Nulltarif  Peter Hahne 24 Schnellere ­Planfeststellungsverfahren  Andreas Scheuer 26 Ein „Neustaat“ für Deutschland  Nadine Schön

AKTUELL INTERVIEW 8 „Wir spielen nicht mehr in der Champions-League“  Friedrich Merz

Deutscher Bundestag ©Thomas Trutschelphotothek.net

WIRTSCHAFTSPOLITIK 10 Der Weg aus der Krise kann zum Aufbruch werden  Volker Bouffier

12 TITEL Bürokratieabbau: Wachstum zum Nulltarif Die Konjunktur steckt noch in einem ­tiefen Tal. Forscher und Verbände warnen vor einer Insolvenzwelle, ganze Branchen stehen mit dem Rücken zur Wand. Für die Politik ist es höchste Zeit, mit weiteren wirtschaftspolitischen Mitteln gegenzusteuern. Viel zu wenig beachtet wurden bislang die wachstumsfördernden Wirkungen eines Bürokratieabbaus.

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INTERVIEW 28 „Die Höhe der Verschuldung ist das Neue“  Prof. Dr. Lars Feld START-UPS 30 Wie kommen Start-ups durch die Krise  Thomas Jarzombek

DIGITALISIERUNG 50 Deutschlands Sicherheit im Cyber-Zeitalter  Prof. Dr. Kurt J. Lauk 52 Industrie 4.0-Plattformen schaffen  Dr. Ulrich Störk 54 Digitalisierungsschub durch Corona  Prof. Dr. Christoph Straub 56 Keine teuren Bio-Produkte!  Karl Matthäus Schmidt

KLIMA & ENERGIE INTERVIEW 39 „ Es ist wirtschaftlich klug, in grüne Technologien zu investieren“  Kadri Simon INDUSTRIESTANDORT 42 Gemeinsam zur ­ Klimaneutralität 2050  Peter Altmaier INTERVIEW 44 „ Grüner Wasserstoff ist ein Schlüsselfaktor“  Stefan Kaufmann KLIMSCHUTZ 45 Ambitionierte Ziele auch politisch flankieren  Dr. Hubert Fink TREND-GRAFIK 46 Teurer Strom ROHSTOFFPOLITIK 48 Kritische Rohstoffe bevorraten 49 Die Stilllegung droht  Volker Backs

KLIMASCHUTZ 32 Banken tragen Verantwortung für eine nachhaltigere Zukunft  Dr. Joachim von Schorlemer EUROPA 34 BREXIT: Beide Seiten müssen sich bewegen  Prof. Dr. Gabriel Felbermayr IMMOBILIEN 36 Konzepte statt Regulierung  Michael Zahn 38 Mietrecht ist Bundesrecht  Dr. Jan-Marco Luczak

AdobeStock©James Thew

European Union, 2020 - Olga Makina

Sachverständigenrat

Jens Schicke

Inhalt

50 DIGITALISIERUNG Deutschlands Sicherheit im Cyber-Zeitalter Frankreich, Großbritannien und Deutschland müssen enger zusammenarbeiten und gemeinsam Strategien entwickeln, die mit der NATO kompatibel sind. Dazu gehört auch eine Cyber-Abwehr.


INHALT

WIRTSCHAFTSRAT INNENANSICHT 58 Neues aus den Kommissionen LAUSURTAGUNG K ENERGIE- UND UMWELTPOLITIK 60 Aufbruch zur integrierten Energiewende

EURO-Pod 62 Wirtschaftsrat zum Anhören JUNGER WIRTSCHAFTSRAT 63 Im Netz für die Demokratie streiten 64 ENGAGEMENT „Dekarbonisierung gelingt nur europäisch und mit Sozialer Marktwirtschaft“ Portrait Detlev Wösten

SCHLUSS AUS DEN LÄNDERN 66 Rückblick | Einblick | Ausblick 72 Impressum

Fotolia.com©halberg

STANDPUNKT STEIGER 57 Deutschland braucht einen ­neuen Generationenvertrag

FORUM 73 Im Spiegel der Presse 74 Zahlen des Quartals 74 Spindoktor

39 K LIMA & ENERGIE Auf Innovationen und Markt setzen Die Corona-Pandemie darf keinen neuen ­ Antagonismus zwischen Wirtschaft und Klimaschutz aufkommen lassen. Die Krise ­ sollte vielmehr helfen, Innovationen und damit Klimaschutz voranzutreiben. Der Schlüssel liegt in der Förderung und Entwicklung von effizienten Technologien. Bereits heute können Unternehmen Klimaschutz und Wirtschaftswachstum verbinden. Was fehlt, ­ ist ein ordnungspolitisch klarer und langfristig belastbarer Marktrahmen.

Warum uns digitale Ethik wichtig ist. Die Digitalisierung macht auch vor dem höchsten Gut des Menschen nicht halt: seiner Gesundheit. Positiv ist, dass die Digitalisierung allgemein als gewinnbringend beurteilt wird. Alle Menschen in Deutschland sollen von ihr profitieren – auch als Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung. Unser Wertesystem gibt uns Orientierung für verantwortungsvolle Entwicklungen und die Gestaltung des Gesundheitssystems der Zukunft.

Menschenorientiert/patientenzentriert Wir stellen den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt digitaler Gesundheitstechnologien – das gilt für Patienten ebenso wie für Gesundheitsberufe und unsere Mitarbeiter.

Souverän/selbstbestimmt Wir sehen den digital mündigen Patienten im Zentrum, der selbstbestimmt über die (Nicht-)Nutzung digitaler Angebote entscheidet ebenso wie über sein Recht auf Geheimnis oder auf Unwissenheit.

Solidarisch/kooperativ Wir unterstützen die KI-basierte Forschung, die mithilfe solidarischer Datenspenden Fortschritte in Diagnostik und Therapie zum Wohle aller erzielt – jenseits staatlicher oder kommerzieller Einflussnahme.

Wirtschaftlich/fokussiert

Sicher/geschützt

Wir gehen verantwortungsvoll mit Beitragsgeldern um, indem wir unnötige Ausgaben auch mithilfe digitaler Prozesse vermeiden und dafür eintreten, dass E-Health und Gesundheit insgesamt wirksam, bezahlbar und effizient sind.

Wir setzen uns für eine sichere digitale Gesundheitswelt ein, in der alles dafür getan wird, dass die Technologien nicht schaden und Fehler zum Lernen verpflichten. Wir schützen die Privatsphäre und das Recht, über Preisgabe und Verwendung der eigenen Gesundheitsdaten zu bestimmen, und wir zeigen, welche Daten wofür genutzt werden.

Verantwortlich/verlässlich Wir fordern zuverlässige, objektive Algorithmen, verantwortungsvolle Zertifizierungen und angemessene Kontrollen, zum Beispiel auf mögliche systematische Verzerrungen.

Nutzenstiftend/unterstützend Wir erwarten kurzfristig Wirklogiken und mittelfristig klare Evidenz zum Nutzen digitaler Versorgungsangebote. Zudem erleichtern wir den Alltag unserer Versicherten mittels digitaler Anträge und Bescheinigungen.

3/4 2020 TREND Mehr Informationen zur BARMER und wie wir über Gesundheit weiter denken, erfahren Sie unter: www.barmer.de/digitale-ethik

Transparent/aufklärend Wir legen offen, wie wir Entscheidungen treffen – und zeigen mögliche positive wie auch negative gesundheitliche Folgen der Digitalisierung auf. Außerdem investieren wir in das Verständnis für digitale Produkte.

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AUSSENANSICHT

Der Sozialismus lebt Dreißig Jahre Deutsche Einheit sollten uns daran erinnern, einmal wieder über die Gründe des ­Scheiterns der DDR nachzudenken. Denn nicht die Nutzbarmachung von Ökonomie für politische Ziele ist das Problem, sondern die Verkennung der Hierarchie zwischen beidem.

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s traf sich, dass ich nach jahrelangen politischen Querelen, die einer Zulassung zum Studium im Wege standen, ausgerechnet im Herbst 1989 an der Ost-Berliner Humboldt-Uni ein Fernstudium – Literatur- und Kulturwissenschaften – beginnen konnte. Zum Fächer-Kanon gehörte in der DDR zwingend das Fach „Politische Ökonomie“, welches das Kernproblem des realen Staatssozialismus bereits im Namen trägt: Die Indienstnahme der Ökonomie für politische Ziele. Je mehr nüchterne Bilanzen der DDR-Wirtschaft damals bekannt wurden, desto heftiger waren die Reaktionen unserer „PolÖk-Profs“, bis hin zu Weinkrämpfen und sichtlicher Verzweiflung, weil mit der ökonomischen Basis auch die sozialistische Utopie, an die viele geglaubt hatten, in sich zusammenbrach. Wie sich später zeigen sollte, war die wirtschaftliche

Ralf Schuler Foto: Ralf Schuler

Leiter der Parlamentsredaktion Bild-Zeitung

Kompetenz in der SED-Spitze freilich so gering ausgebildet, dass man sich selbst beim desaströsen Bilanzbericht von Planungschef Gerhard Schürer (†2010) um die Hälfte zu Ungunsten der DDR bei den Valuta-Schulden verrechnet hatte. Auch wenn die Dramatik jener Tage im Laufe von 30 Jahren Deutscher Einheit ein wenig verflogen ist, lohnt doch auch heute immer wieder ein Blick auf das Scheitern von damals. Denn nicht die Nutzbarmachung von Ökonomie für politische Ziele per se ist das Problem, sondern die Verkennung der Hierarchie zwischen beidem. Das von der SED immer wieder machtvoll beanspruchte „Primat der Politik“ kann immer nur für die Regeln des Wirtschaftens gelten, nicht für die Verfügbarkeit von Ressourcen oder gar den Ertrag. Die Binsenweisheit, dass nur verteilt werden kann, was zuvor erwirtschaftet wurde, muss leider auch heute immer und immer wiederholt werden, obwohl sie nicht zuletzt durch das Scheitern des Realsozialismus dramatisch unter Beweis gestellt wurde. Man sollte deshalb „Sozialismus“ weniger als einen Kampfbegriff verstehen, sondern vielmehr als eine geistig-­

„Das notorische Ignorieren der wirtschaftlichen Grundrechenarten mit Blick auf den Publikumsgeschmack wird sich verheerend auswirken.“

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politische Rutschbahn hin zu einem Weltbild, in dem das Wünschbare über dem Möglichen steht. In diesem Sinne muss man leider sagen: Der Sozialismus lebt. Und genau an diesem Punkt beginnt bei mir, der ich den Zusammenbruch des letzten Versuchs miterlebt habe, ein mulmiges Unbehagen beim Blick in die Landschaft der deutschen und europäischen Politik zu wachsen. Die Corona-Krise hat auf unheilvolle Weise die Liste der politischen Wunsch-vor-Wirklichkeit-Projekte verlängert: Da ist nicht nur die langfristige Zahlung von Kurzarbeitergeld, die zwar sozial nachvollziehbar und emotional begründbar ist, aber im Grunde Sozialismus aus dem Lehrbuch entspricht: volle Bezahlung für einen Bruchteil der eigentlichen Wertschöpfung. Kreditfinanzierte Milliarden-Hilfen in Deutschland und der Europäischen Union (EU) lindern den aktuellen Schock, werden aber absehbar nicht zu Investitionsrenditen führen, die ihre künftige Tilgung ohne Einschnitte ermöglicht.

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Foto: Jens Schicke

AUSSENANSICHT

Bislang fehlt auch jeder Hinweis darauf, warum die über Gemeinschaftsschulden finanzierten Milliarden-Zuweisungen der EU an überschuldete Länder diesmal zu einem Investitionsschub führen sollten, der das wirtschaftliche Gefälle innerhalb der Gemeinschaft zumindest mildert, wenn die bisherigen Hilfsprogramme – mit entsprechenden Reformauflagen – dies schon nicht vermochten. Ein Blick auf die Target-Salden weckt eher gegenteilige, ungute Vorahnungen einer weiteren Kapitalflucht von Südnach Nordeuropa. Der Ausstieg aus Kernenergie und Kohle oder Verkehrs- und Agrarwende sind ebenfalls Projekte, bei denen die Zukunft per Beschluss „geplant“ wird, anstatt auf evolutionären Wandel zu setzen, wie es die Schlussfolgerungen aus dem Untergang des Staatssozialismus eigentlich nahelegen. Ein geradezu utopisches Lieferkettengesetz, dass deutschen Unternehmen gewissermaßen eine Weltzuständigkeit und Weltverantwortung zuweist, ist in meinen Augen ebenso alarmierend irreal, wie

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das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Grundrechteschutz des deutschen Grundgesetzes auf die ganze Welt ausweitet und damit dem Bundesnachrichtendienst weltweit Augen und Ohren verschließt. Um auch ein Beispiel aus dem nicht-ökonomischen Bereich zu nennen. „Mit Ordnungspolitik gewinnt man keine Wahlen“, hat Angela Merkel hinter verschlossenen Fraktionstüren einmal gesagt, als es um die Frage ging, ob Managergehälter per Gesetz oder in Selbstorganisation der Unternehmen reglementiert werden ­ sollen. Da ist zweifellos etwas dran. Das notorische Ignorieren der wirtschaftlichen Grundrechenarten mit Blick auf den Publikumsgeschmack wird sich allerdings früher oder später ebenfalls verheerend auswirken. Womit sich der Kreis zum 30. Jubiläum der Deutschen Einheit schließt. Verantwortungsvolle Politik besteht gerade darin, keine Schattenökonomie aufzubauen und jeden Verstoß gegen ordnungspolitische Prinzipien, auch als ausnahmsweisen Regelverstoß

zu registrieren und nicht in Serie zu wiederholen. Verantwortliche Politik traut sich zu, Mehrheiten vom Richtigen und Möglichen zu überzeugen, statt nur Wahlgeschenke zu überbringen. Und verantwortliche Politik spart heikle Themen, wie etwa den Anteil von Migration an den Kosten unseres Sozialsystems nicht aus. Fakt ist, dass die Fachkräfte-Lücke der deutschen Wirtschaft seit dem Migrationsherbst 2015 weiter gewachsen und nicht etwa kleiner geworden ist. Migration in ­ Sozialsysteme aber drückt nicht nur auf den Haushalt, sondern gefährdet auch Integration und sozialen ­Zusammenhalt – gerade in Krisen-Zeiten. Das Jubiläum der Einheit sollte nachdrücklich daran erinnern, dass man der ökonomischen Realität weder mit gedrucktem Geld noch mit Beschlüssen, Beschwörungen oder guten Intentionen entkommt. Auch gut gemeinte Luftbuchungen müssen irgendwann in der Realwirtschaft l ­beglichen werden.

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AKTUELL Interview

sprach mit Friedrich Merz, dem Vizepräsidenten des Wirtschaftsrates und ­ andidaten für den CDU-Vorsitz, über den Zustand unseres Wirtschaftsstandortes, K teuren Strom sowie ehrgeizige Klimaziele und wie wichtig es ist, dass die CDU klar eigene Standpunkte bezieht. Das Interview führte Frederike Holewik.

– Herr Merz, viele Unternehmer haben Angst, dass die Coronakrise Deutschlands Wirtschaft ­nachhaltig beschädigt. Wie kommen wir zurück zum Wachstumskurs? Die deutsche Wirtschaft befindet sich schon lange im ­Umbruch. Das hat auch, aber nicht nur mit Corona zu tun. – Wie darf man das verstehen? Es gibt große Lücken in der digitalen Infrastruktur. Teile der Automobilwirtschaft haben zu spät in neue Technologien investiert. Hohe Steuern und Energiepreise sind eine echte Belastung für Unternehmen und Privathaushalte in diesem Land. An diesen Beispielen zeigt sich bereits: Die Probleme waren zumindest teilweise schon vor Corona absehbar.

– Welche Handlungen müssen nun folgen? Deutschland war einmal die Apotheke der Welt. Heute werden die innovativen Arzneien nicht mehr in Deutschland hergestellt und nur noch wenige erforscht. Da könnte die Politik ein Signal setzen: Wir wollen wieder forschende Arzneimittelherstellung in Deutschland, und das schließt Biotechnologie und Gentechnik mit ein. – Die Beteiligung vom Bund am Biopharmaunternehmen Curevac war also richtig? Nein. Auch die Begründung kann ich bis heute nicht nachvollziehen. Was die Sache noch absurder macht ist, dass Curevac nach der deutschen Staatsbeteiligung an den Kapitalmarkt gegangen ist. Und zwar nicht in Frankfurt, Amsterdam oder Paris, sondern in New York.

„Wir spielen nicht mehr i –  Fehlt es also an Innovation? Wir brauchen mehr Mut auf Unternehmerseite, aber auch in der Politik. In der Liste der 100 größten Unternehmen der Welt kommen Unternehmen aus Europa kaum noch vor, ganz oben stehen die amerikanischen und immer mehr chinesische Techkonzerne. Wir spielen bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr in der Champions-League. Das liegt auch daran, dass Deutschland in vielerlei Hinsicht zu langsam und bürokratisch agiert. – Welche Schwachpunkte hat die Coronakrise darüber hinaus offengelegt? Zum einen sind uns die globalen Abhängigkeiten vor Augen geführt worden, vor allem von China und den USA. Am Anfang der Krise gab es in Europa nicht einmal ausreichend Schutzmasken und Beatmungsgeräte. Auch bei der Medikamentenversorgung gab es Engpässe. Das muss ein Weckruf sein.

– Lassen Sie uns noch einmal auf die hohen Energie­ preise zu sprechen kommen. Welche Möglichkeiten zur Entlastung sehen Sie da vor allem wenn gleichzeitig die Klimaschutzziele der EU eingehalten werden sollen? Verbraucher und Unternehmen zahlen in Deutschland die höchsten Energiepreise der Welt. Das kann so nicht weitergehen, hier braucht es Konzepte zur Entlastung. Und die sehr ehrgeizigen EU-Klimaziele werden wir nur mit reiner CO2-Vermeidung und Verboten nach meiner Einschätzung nicht erreichen. Wir brauchen Technologieoffenheit, um dieses Problem zu lösen. Da wäre zum Beispiel die CCS-Technologie zur Abscheidung und Rückführung oder Lagerung von Kohlendioxid. Die halbe Welt forscht an neuen Technologien, nur in Deutschland gibt es nach wie vor starke Vorbehalte dagegen. Wir können nicht immer nur sagen, was wir nicht wollen. Wir müssen auch wissen, was wir wollen.

„Verbraucher und Unternehmen zahlen in Deutschland die höchsten Energiepreise der Welt. Das kann so nicht weitergehen, hier braucht es Konzepte zur Entlastung.“ 8

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AKTUELL Interview

Foto: Jens Schicke

­orschung und Entwicklung in F alle Himmelsrichtungen ermöglichen. – Klimafragen gehören zum Kernthema der Grünen. Diese gewinnen auch in immer mehr Großstädten an Wählern. Was heißt das für die CDU? Wir werden nicht besser, wenn wir den Grünen hinterherlaufen. Ich setze auf eigenständige, klare CDU-Positionen. Auch bevor wir über Koalitionen reden, kommt es erst einmal darauf an, den eigenen Standpunkt zu beziehen. In der Umweltpolitik, bei der inneren und äußeren Sicherheit, beim Thema Migration und in der Wirtschaftspolitik unterscheidet uns eine Menge. Die Grünen sind zurzeit unser Hauptgegner, wahrscheinlich auch bei der Bundestagswahl 2021.

n der Champions-League“ – Wie meinen Sie das? Wenn Deutschland bis 2050 klimaneutral sein soll, dann brauchen wir für die privaten Haushalte, für den Verkehrssektor und vor allem für die Transformation der Industrie sehr viel mehr Strom als heute, vermutlich mehr als das Doppelte der gegenwärtig installierten Leistung. Das ist mit Wind und Sonne allein nicht zu schaffen. Und meine sauerländische Heimat wird durch noch mehr Windräder jedenfalls nicht schöner. – Einige Länder wenden sich daher nun wieder der Atomkraft zu. Kann das auch eine Lösung für ­Deutschland sein? Ich glaube nicht, dass sich an dem politischen Konsens, den es in Deutschland zu diesem Thema gibt, noch etwas ändern wird. Aber auch in Deutschland gibt es neue ­Ideen und Technologien, an denen geforscht wird, wie etwa Wasserstoff oder Thorium- und Dual Fluid Reaktoren, die eine sichere Energieerzeugung ohne radioaktive Abfälle versprechen. Wir werden sehen, ob sie uns bei der Energieerzeugung helfen werden. Technologieoffenheit ist und bleibt deshalb so immens wichtig. Die Politik darf sich nicht auf einzelne Technologien festlegen, sie muss

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– Die Grünen sind gerade auch bei jüngeren Wählern beliebt. Jetzt haben Sie sich mit ihren beiden ­Mitbewerbern um den CDU-Vorsitz, Armin Laschet und Norbert Röttgen, gerade beim JUPitch präsentiert. Ist das ihr Angebot an die jüngere Wählerschaft? Die Union hat bereits viele engagierte junge Mitglieder, die sich bei uns einbringen. Der digitale Pitch in Berlin hat auch für die CDU Maßstäbe gesetzt. Dennoch ist es natürlich richtig, dass die CDU sich weiter darum bemühen muss zukunftsfest zu werden. Das heißt konkret, dass wir innovativer, jünger und auch weiblicher werden müssen. – Welche Maßnahmen braucht es, um das zu erreichen? Wir sollten den Kreisverbänden Anreize für die Werbung weiblicher Mitglieder bieten und an der Basis familienfreundlichere Angebote schaffen, etwa mit früheren Sitzungszeiten. Auch digitale Formate könnten eine Lösung sein. Wie die Corona-Krise gezeigt hat, ist vieles leichter l machbar als wir zuvor gedacht haben.

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AKTUELL Wirtschaftspolitik

Der Weg aus der Krise kann zum Aufbruch werden Mit einer globalen Pandemie, einem zeitweisen Lockdown weiter Teile der Wirtschaft und einem noch immer infektiösen Virus stehen Unternehmen wie Politik in diesem Jahr vor völlig neuen Herausforderungen. Deutschland und Hessen sind bislang eher glimpflich durch diese beispiellose Zeit gekommen.

W

ir stehen vor der Aufgabe, die schwierige Balance zwischen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit und dem Wirtschaftsleben zu finden, denn beides ist erforderlich: Ohne weitere Vorsicht riskieren wir ein erneutes Ansteigen der Infektionen, wir wir gerade erleben müssen. Und ohne eine Belebung der Wirtschaft riskieren wir Arbeitsplätze. Beides muss zusammengehen. Wie kann also unter diesen Bedingungen der Weg aus der Krise zum Aufbruch in eine gute ­Zukunft werden? Fünf Herausforderungen erscheinen mir dabei besonders wichtig: E Wirtschaft und Unternehmen müssen weiter stabilisiert werden, damit Arbeitnehmerinnen und ­Arbeitnehmer auch in Zukunft sichere Arbeitsplätze finden; E die staatliche Infrastruktur muss erhalten und ausgebaut werden, um die Voraussetzungen für einen

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dauerhaften Aufschwung zu schaffen und etwa auch die Kommunen in der Krise zu entlasten; E die Gesundheit der Bevölkerung muss geschützt werden, indem wir von Krankenhäusern über Schutzmasken bis hin zu Pflegekräften unser Gesundheitssystem krisen­ resilient aufstellen; E die soziale und kulturelle Infrastruktur Deutschlands muss ge­ sichert werden, damit die Corona-­ Krise unsere Gesellschaft nicht spaltet, E und um Deutschland auf Jahre ­hinaus zu modernisieren, kann all dies in den anbrechenden Zwan­ zigerjahren des 21. Jahrhunderts natürlich nur ökologisch nachhaltig, ressourcenschonend und mit konsequent digitalem Fokus ­geschehen. In Hessen haben wir uns vorgenommen, diese Punkte zu beher­zigen und dazu ein umfassendes Investitions-

programm aufgelegt: Mit dem Sondervermögen „Hessens gute Zukunft sichern“ bewältigen wir die krisenbedingten Ausgaben mit einem Volumen von bis zu zwölf Milliarden Euro über die nächsten vier Jahre. Um die hessische Wirtschaft zu stabilisieren, stellen wir beispielsweise für Unternehmensbeteiligungen, Überbrückungskredite oder für die besonders schwer getroffenen Gaststätten bis zu 1,5 Milliarden Euro bereit. Hiervon sollen gesunde Unternehmen, die unverschuldet in Not geraten sind, so gestützt werden, dass sie ihre Beschäftigten halten und bei einer sich normalisierenden Lage ihre Produktion wieder hochfahren können. Wir gehen noch einen Schritt weiter: Um die Kommunen zu entlasten und gleichzeitig eigene konjunkturelle Impulse zu setzen, nehmen wir mehr als drei Milliarden Euro für den Erhalt der staatlichen Infrastruktur und die Partnerschaft mit den Kommunen in die Hand. Hierbei kompensieren wir

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zu erwartende Gewerbesteueraus­fälle und investieren gleichzeitig in die Ausstattung von Justiz, Polizei und Finanzbehörden. Denn eine hervorragende staatliche Infrastruktur verschafft Unternehmen die Rahmenbedingungen für einen langanhaltenden Aufschwung. Wir haben es unserem Gesundheitssystem zu verdanken, dass wir im internationalen Vergleich bislang verhältnismäßig glimpflich durch die Pandemie gekommen sind. Nun müssen wir aus den Erfahrungen lernen: Wie können wir unser Pflege- und Krankenhauspersonal so ausstatten, dass wir bei einer erneuten Welle krisenresilienter wären? In Hessen ­ stellen wir für den Gesundheitsschutz rund eine Milliarde Euro bereit, um neue Schutzausrüstung anzuschaffen und einen Pflegebonus an unsere Pflegekräfte auszuzahlen. Krisenresilienz wird aber auch durch eine starke ­soziale und kulturelle Infrastruktur aufgebaut. Deshalb darf auch der

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Schutz besonders gefährdeter Gruppen oder die kulturelle Landschaft der Pandemie nicht zum Opfer fallen, da alles andere unsere Gesellschaft spalten würde. Ja, wir befinden uns in der tiefsten Rezession seit der Gründung der Bundesrepublik. In dieser ­Krise liegt aber für Deutschland die Chance zum Aufbruch in eine gute Zukunft – und genau deshalb setzt unser Investitionsprogramm „Hessens gute Zukunft ­sichern“ auf eine breite Moder­ ni­ sierung durch digitale Transforma­tion, nachhaltiges Wachstum und K ­ limaschutz. Indem wir heute mit über 300 Millionen Euro in die IT-­Infrastruktur von Schulen, Künstliche Intelligenz und nachhaltiges Wachstum investieren, erhöhen wir nicht nur unsere Widerstandsfähigkeit für Ausnahmesituationen, sondern arbeiten auch an der ressourcenschonenden Wirtschaft von morgen. Für diese fünf Zukunftsfelder ­nehmen wir bewusst viel Geld in die

Hand in dem Wissen, dass es weitaus teurer wäre, bei großen Krisen klein zu denken. Jetzt ist es notwendig, auch mit dem Mittel der Schuldenaufnahme noch weitaus schwerere Konsequenzen aufzufangen. Das ist die eine Seite der Medaille, auf deren Kehrseite dann aber die Verpflichtung eingraviert steht, im Sinne der Generationengerechtigkeit wieder zu den Auflagen der Schuldenbremse zurückzukehren, sobald es vertretbar ist. Antizyklische Investitionsprogramme auf dem Höhepunkt einer Rezession sind das richtige Mittel, um Arbeitsplätze zu schützen und die Weichen für eine gute Zukunft zu stellen. Dennoch: diese Pandemie ist noch längst nicht überwunden. Sie ist vorerst eingedämmt – aber besiegt ist sie erst, wenn es einen wirksamen Impfstoff gibt, was realistischer Weise bei allen vorsichtigen Signalen aus der Forschung zumindest in der näheren Zukunft noch nicht der Fall sein wird. Wir werden also einen Weg finden müssen, dauerhaft mit der Gefahr des Virus zu leben. Dennoch bin ich zuversichtlich: mit beherzten, zukunftsweisenden Investitionen zur Stabilisierung der Wirtschaft und einem besonnenen

Volker Bouffier

Foto: Staatskanzlei Hessen

Foto: AdobeStock©evelinphoto

AKTUELL Wirtschaftspolitik

Ministerpräsident des Landes Hessen

„Wir haben es unserem Gesundheits­ system zu verdanken, dass wir gerade im internationalen Vergleich bislang verhältnismäßig glimpflich durch die Pandemie ­kommen.“ Krisenmanagement werden wir die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Verwerfungen bewältigen. So wird es Deutschland und Hessen gelingen, den Weg aus der Krise zum Aufbruch l in eine gute Zukunft zu machen.

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TITEL Bürokratieabbau

Wachstum zum Nulltarif Die Konjunktur steckt noch in einem tiefen Tal. Forscher und Verbände warnen vor einer Insolvenzwelle, ganze Branchen stehen mit dem Rücken zur Wand. Für die Politik ist es höchste Zeit, mit weiteren wirtschaftspolitischen Mitteln gegenzusteuern. Viel zu wenig beachtet wurden bislang die wachstumsfördernden Wirkungen eines Bürokratieabbaus. Weniger Bürokratie schafft mehr Freiheit – für neues Wachstum der Wirtschaft aus eigener Kraft. Eine konsequente Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung muss den Bürokratieabbau flankieren.

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Foto: AdobeStock©artjazz

TITEL Bürokratieabbau

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TITEL Bürokratieabbau

Text: Peter Hahne

F

ast zehn Jahre lang ist die deutsche Wirtschaft beständig gewachsen. Die Corona-Krise und der historische Lockdown im Frühjahr hinterlassen jedoch so immense Verwerfungen, dass eine Rückkehr zu gewohnter konjunktureller Stärke auf absehbare Zeit äußerst schwierig erscheint. Zwar hat die deutsche Wirtschaft wieder Fahrt aufgenommen. Doch rechnen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute aufs Jahr gesehen inzwischen mit einem noch stärkeren Einbruch als im Frühjahr. Es zeigt sich: Die Wirtschaft bleibt fragil, die vielen Milliarden allein reichen nicht, um den wieder steigenden Corona-Zahlen Herr zu werden. Reisebranche und Gastronomie kommen kaum auf die Beine, für Einzelhandel, Kultur und einzelne Industriezweige stellt sich die Überlebensfrage. Im globalen Maßstab hat die Pandemie nichts an Wucht und Bedrohlichkeit eingebüßt. Auch für die Wirtschaft. So kann niemand vorhersehen, wie wichtige Handelspartner durch die Krise kommen. Gut ein

Fünftel der deutschen Unternehmen sieht seine Existenz laut einer Umfrage des ifo Instituts aus dem Sommer gefährdet. Die Wissenschaftler befürchten – ebenso wie Unternehmen und Verbände – eine Insolvenzwelle. „Unternehmen sind in ihrer Existenz bedroht, und nicht alle Betriebe werden diese Zeit überleben“, prognostiziert der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Strohfeuer vermeiden Insofern ist es dringend geboten, dass sich die Wirtschaftspolitik auf eine konsequente Stärkung der Unternehmen und Wachstumskräfte konzentriert. „Eine der zentralen Herausforderungen wird darin bestehen, den Bundeshaushalt nicht mit schnellen Ausgabenprogrammen zu überlasten, die oftmals nur Strohfeuer bewirken“, warnt Astrid Hamker. Schließlich haben Bund und Länder bereits ein 130 Milliarden Euro schweres Konjunkturpaket aufgelegt. „Ein Konjunkturprogramm nahezu zum Nulltarif wäre ein echter Bürokratieabbau“, empfiehlt

die Präsidentin des Wirtschaftsrats. Peter Altmaier (CDU) denkt ähnlich. „Bürokratieabbau wirkt wie ein zusätzliches Konjunkturpaket – es kostet nichts und bringt viel..“ Sein Drängen hat sich zumindest in Ansätzen ausgezahlt. Der Bundestag hat das Ende der Krankmeldung und Hotelmeldescheine auf Papier beschlossen und die Archivierung von Steuerunterlagen vereinfacht, insgesamt summiert sich die Entlastung nach Angaben der Bundesregierung auf knapp 1,2 Milliarden Euro pro Jahr. Dennoch: Unternehmen und Verbänden reicht das nicht. Auch der Nationale Normenkontrollrats (NKR), der die Bundesregierung seit 2006 beim Thema Bürokratieabbau berät, ist nicht zufrieden. Wann, wenn nicht jetzt, in einer historischen Krise, ist der Zeitpunkt gekommen, Unternehmen von überkommenem Amtsschimmel zu befreien? Wann, wenn nicht jetzt, sollte die öffentliche Verwaltung endlich konsequent digitalisiert werden, um lange vernachlässigte Effizienzgewinne bei Staat und Unternehmen zu heben?

So viel Aufwand bürden die Gesetze der Bundesregierung der Wirtschaft auf Berichtszeitraum

in Mrd. Euro

7,0

Unterschwellenvergabeverordnung

6,0

Bürokratieentlastungsgesetz I

Mietpreisbremse

Mindestlohngesetz

4,0

5,0

Bürokratieentlastungsgesetz II

3,0

Versicherungsvertriebsrichtlinie

4,0 3,0

Upstream-Emissionsminderungsverordnung Grundsteuer-Reform Energieeinsparverordnung

2,0

Gesetz gegen illegale Beschäftigung

1,0

1,0

0

0

GKV-Entlastungsgesetz II

-1,0

Juli 2011

14

7,0 6,0

E-Vergabeverordnung

5,0

2,0

Wirtschaft 4,9 Mrd. Euro Verwaltung 1,5 Mrd. Euro Bürger 0,2 Mrd. Euro Gesamt 6,6 Mrd. Euro

Juli 2012

Juli 2013

-1,0

Juli 2014

Juli 2015

Juli 2016

Juli 2017

Juli 2018

TREND 3/4 2020

Quelle: Nationaler Normenkontrollrat, Stand: 09/2019

8,0


TITEL xxx

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TITEL Bürokratieabbau

Pandemie wird Deutschland Unternehmen kosten

(Anteil in Prozent)

So existenzbedrohend schätzen Unternehmen ihre Lage durch die Coronakrise ein

Einzelhandel 21 Verarbeitendes Gewerbe

17

Großhandel 15 Bau

2

Deutschland 21 0

5

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Bürokratie-Krake Brüssel Eine Umfrage des Instituts für Mittelstandsforschung in Bonn spricht eine deutliche Sprache: Mehr als zwei Drittel der befragten Unternehmen haben schlechte Erfahrungen mit staatlicher Bürokratie gemacht. Mit stattlichen 45

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Milliarden Euro im Jahr beziffert das Bundeswirtschaftsministerium den jährlichen Bürokratieaufwand – allein für die Wirtschaft. „Die Betriebe bemängeln vor allem den Aufwand für die Datendokumentation und die für sie oft unverständlich formulier-

Foto: AdobeStock©schemev

Quelle: info Konjunkturumfragen, Juni 2020 ©ifo Institut

Dienstleistungssektor 27

ten Vorschriften“, stellt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln fest. „Den Informations- und Berichtspflichten nachzukommen, ist aber nicht nur lästig, sondern auch kostspielig“. (Vgl Grafik: „Teure Bürokratie“, IWD 2020) Bürokratie wird allerdings nicht allein in den Kommunen, in den Landeshauptstädten oder in Berlin produziert. Auch in Brüssel sorgen übereifrige Beamte für eine Flut an Regulierungen, die die Wirtschaft unnötig belasten. Vier von zehn recht­ lichen Bestimmungen, die z­ usammen für mehr als die Hälfte der Büro­ kratiekosten verantwortlich sind, basieren auf EU-Verordnungen und Richtlinien, rechnet das IW vor. Das Kölner Institut fordert deshalb zunächst eine bessere Erfassung der EU-induzierten Bürokratiekosten, um sodann auch in der EU-Gesetzgebung die sogenannte „One in, one out-­ Regelung“ einzu­führen. Diese besagt, dass für jede neue Regelung eine alte gestrichen wird. Dem Wirtschaftsrat ist das noch zu wenig: Generalsekretär

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Foto: (c)Deutscher Bundestag Thomas Trutschel/photothek.net

TITEL Bürokratieabbau

Die Bundesregierung spricht ständig über Bürokratieabbau, dabei wird die Wirtschaft immer stärker durch Regulierungen belastet. TREND spricht dazu mit Dr. Helge Lach, Mitglied des Vorstands bei der Deutschen Vermögensberatung AG.

„ Deutschland wird weiter hochreguliert“ Die Kundenberatung in der Finanzbranche ist einer der am meisten regulierten Bereiche. Selbst die Verbraucher sind inzwischen völlig überfordert. Allein für die Vermittlung einer Riester-Rente müssen dem Kunden über 50 Seiten Papier ausgehändigt werden. Jede telefonische Beratung zur Geldanlage muss seit Neuestem aufgezeichnet und zehn Jahre aufbewahrt werden. Auch gegen den ausdrücklichen Willen des Kunden. Eine Aufzeichnung ist selbst dann erforderlich, wenn gar kein Geschäft zustande kommt. Das sind Regulierungen, die niemandem nutzen – und die Wirtschaft massiv mit Bürokratie belasten. Wie sehen Sie Deutschland im internationalen Vergleich aufgestellt? Bezogen auf die Finanzmärkte ist Deutschland vor allem im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Amerika deutlich schärfer reguliert. Daraus resultieren Wettbewerbsnachteile. Vergleicht man die Ertragssituation amerikanischer und deutscher Banken, liegen Welten dazwischen. Die Hauptursache dafür ist, dass die Hürden in den USA in den letzten Jahren abgebaut wurden, während in Deutschland weiter hochreguliert wird. Allzu oft wird in der Politik vergessen, dass ein Übermaß an Regulierung das Wachstum erheblich bremst. Gerade jetzt könnte die Politik durch mutige Deregulierungsschritte und schnellen Bürokratieabbau einen Beitrag zu einer Erholung der Wirtschaft aus eigener Kraft leisten.

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Würde Ihr Unternehmen von einer digitalisierten öffentlichen Verwaltung profitieren? Es gibt viele Länder, die viel weiter sind als wir. Zum Beispiel müssen die Kunden steuerliche Vorteile fast immer noch über Papier nachweisen, da es keine Schnittstellen zu den Finanzämtern gibt. Auch die Legitimation eines Kunden könnte viel einfacher durch einen digitalen Dokumentenzugriff auf digitale Register bei den Behörden erfolgen. Die gibt es aber in dieser Form nicht. Insoweit ist die Finanzbranche ein Paradebeispiel für zu viel Papier. Das kostet Geschwindigkeit, verursacht hohe Kosten und viele Fehler. Wir würden uns wünschen, dass die öffentliche Verwaltung Vorreiter der Digitalisierung wird. Und nicht, wie heute, die Digitalisierung in den Unternehmen dort aufhört, wo die Schnittstelle zur öffentlichen Verwaltung anfängt. Digitale Effizienz stellt sich nur ein, wenn ein Gesamtprozess digital ist. Ohne digitale öffentliche Verwaltung nutzen wir unsere l Chancen nicht.

Foto: Frank Blümler

Herr Dr. Lach, wie stark fühlen Sie sich durch bürokratische Regulierungen belastet?

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TITEL Bürokratieabbau

Bürokratie kommt Unternehmer teuer zu stehen

(in Milliarden Euro)

Die teuersten Dokumentations- und Informationspflichten für die Wirtschaft in Deutschland 2017 Allgemeine Buchführung

4,69

Aufbewahrung von Rechnungen

3,34

Abgabe der Steuererklärungen

3,07

Zahlung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns Ausstellung von Rechnungen

2,91

2,59

Stichtagsinventur 2,27 0

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Wolfgang Steiger fordert „One in, one out“ auch für unmittelbar geltendes EU-Recht, besser noch ein generelles „One in, two out“, um für eine echte Entlastung zu sorgen.

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Horrende Kosten Der Normenkontrollrat weist auf einen weiteren Punkt hin: Bei der aktuell geltenden „One in, one out-Regel“ sind die Kosten für einmalige Anpas-

Foto: AdobeStock©rh2010

Quelle: Statistisches Bundesamt ©2020 IW Medien /iwd

Pflicht zur Jahres- und Konzernabschlusserstellung für Kapitalgesellschaften 3,58

sungen an neue Gesetze nicht berücksichtigt. „Und gerade diese Kosten sind häufig diejenigen, die bei den Firmen besonders spürbar sind“, weiß der NKR-Vorsitzende Johannes Ludewig. Kurzum: „Die Unternehmen in Deutschland können Wachstumsimpulse gut gebrauchen“, sagt Ludewig. „Ein solcher, der noch dazu nichts kostet, ist der Abbau unnötiger Bürokratie. Hierauf sollte die Bundesregierung setzen“, schrieb der Vorsitzende des Gremiums der Großen Koalition bereits kurz vor Corona ins Stammbuch. Geschehen ist seither nichts, im besten Fall wenig. Ludewigs Appell erscheint in der Krise jedoch dringlicher denn je. In seinem Jahresbericht 2019 beziffert der Normenkontrollrat allein den Erfüllungsaufwand für bürokratische Regelungen für die Wirtschaft mit 6,8 Milliarden Euro – pro Jahr. Seit 2011, so Ludewig, ist der jährliche Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft sogar um fast fünf Milliarden Euro gestiegen, allen „Bürokratieentlastungsgesetzen“ zum Trotz. Energieeinsparverordnung und Mindestlohn sind

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ALLES UND NICHTS HAT SICH VERÄNDERT. Für die meisten war 2020 ein schwieriges Jahr. Die Welt fühlt sich heute nicht nur ein bisschen unsicher an, sondern sehr. Deswegen ist es ein gutes Gefühl zu wissen, dass das, was gestern wichtig war, heute auch noch zählt. Vielleicht sogar mehr denn je. Wie zum Beispiel gemeinsame Ziele. Gemeinsam versuchen wir, unsere Schulen, Krankenhäuser, Unternehmen und Grenzen geöffnet zu halten. Für uns wird sich daran nichts ändern. Auch nicht an unserem Bekenntnis zu einer Welt, in der immer globaler gehandelt wird, die immer mehr Ideen miteinander teilt und die gemeinsam immer mehr Probleme löst. Wenn man es so betrachtet, hat sich doch nicht soviel verändert. Zum Glück. globaltrade.dhl/de


TITEL Bürokratieabbau

dabei nur die größten Bürokratie-Kraken, insgesamt nahm der NKR mehr als 2500 Regelungen unter die Lupe. Notiz am Rande: Allein das aktuelle Corona-Konjunkturpaket verursacht in den Unternehmen zusätzliche Bürokratiekosten von fast 250 Millionen Euro, rechnet das Statistische Bundesamt vor. Den Löwenanteil verschlingt mit fast 240 Millionen Euro die zeitweilige Senkung der Mehrwertsteuer, die eine aufwändige Umstellung von Registrierkassen, Software und Preisschildern erfordert.

Konjunkturhilfen versanden Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) mahnt vor diesem Hintergrund einen konsequenten Abbau bürokratischer Lasten an, um das Vertrauen in den Standort nicht weiter zu strapazieren. Das Argument hat Gewicht: So brachte die Bundesregierung zwar kürzlich ein so genanntes Investitionsbeschleunigungsgesetz auf den Weg. Die milliardenschweren Konjunkturspritzen sollen, so das an sich richtige Ansinnen, schneller in Investitionen in die Infrastruktur

Deutschland rangiert EU-weit knapp über dem EU-Durchschnitt Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft DESI Connectivity

Human Capital

I ntegration of Digital Technology

Use of Internet D igital Public Services

Finnland Schweden Dänemark Niederlande Irland Estland Großbritannien Belgien Luxemburg Spanien Deutschland Österreich Litauen

Quelle: Europäische Kommission, Digital Scoreboard

Europäische Union Frankreich Slowenien Tschechien Lettland Portugal Ungarn Polen Italien 0

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münden. Planungs- und Genehmigungsverfahren würden beschleunigt, glaubt die Bundesregierung. Für den Wirtschaftsrat greift das Gesetz jedoch zu kurz. Insbesondere das Verbandsklagerecht und die doppelte Umweltverträglichkeitsprüfung sind neuralgische Punkte für den Rat. Zwar hätten Klagen von Umweltverbänden bislang kein Projekt verhindern können, aber die Umsetzung erheblich verzögert und Kosten in die Höhe getrieben. Die doppelte Umweltverträglichkeitsprüfung im Planfeststellungs- und Raumordnungsverfahren stehe einer deutlichen Beschleunigung des Verfahrens im Weg. Generalsekretär Steiger fordert deshalb, rasch zu prüfen, ob die Maßnahmen im Gesetzesentwurf angepasst werden können, um den Standort nachhaltig zu stärken. Auch der BDI sieht zentrale Anliegen der Wirtschaft unberücksichtigt. Mehr Tempo sei so nicht zu erwarten. „Es hilft nicht, Milliarden bereitzustellen, wenn die Mittel nicht auch verbaut werden“, sagt Holger Lösch, stellvertretender BDI-Hauptgeschäftsführer. „Gerade jetzt müsste der Investitionsrückstau durch weniger Bürokratie bei Zukunftsinvestitionen konsequent aufgelöst werden“, fordert Steiger. Nicht nur die Wirtschafts­ verbände sind unzufrieden. Selbst der Normenkontrollrat lässt kein gutes Haar an dem Gesetzesvorhaben: „Es ist (...) nicht erkennbar, inwieweit von den vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich ein signifikanter Verkürzungs- und Beschleunigungseffekt zu erwarten ist“, so das vernichtende Urteil des NKR-Vorsitzenden Lude­ wig. Blättert man durch die Jahresberichte des Normenkontrollrates, wird schnell deutlich: Eine Entschlackung von bürokratischen Vorschriften ist möglich, überfällig und im Interesse aller – der Wirtschaft, des Staates und der Arbeitnehmer. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), der BDI, der Wirtschaftsrat, praktisch alle großen Wirtschaftsverbände haben umfangreiche Kataloge mit praktischen Vorschlägen zum Bürokratieabbau vorgelegt. „Was bisher beim Bürokratieabbau gemacht wur-

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TITEL Bürokratieabbau

de, das kommt in der Praxis nicht an“, kritisiert Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer. Handwerk beklagt Bürokratiewust Viele Handwerker dächten über eine Geschäftsaufgabe nach und machten sich Sorgen um potenzielle Nachfolger, die sich vom Bürokratiewust abgeschreckt fühlten. Mit 52 Forderungen richtet sich der ZDH an die Politik, darunter eine Lockerung der Bonpflicht, weniger Dokumentationspflichten beim Mindestlohn und das Streichen der Vorfälligkeit von Sozialversicherungsbeiträgen. Der Industrieverband BDI legt einen 66-Punkte-Katalog vor, der sich mit so unterschiedlichen Themen wie der Digitalisierung, dem Steuerrecht und dem Planungsrecht befasst. Im Hinblick auf die EU-Kommission etwa fordert der BDI, regulatorische und gesetzgeberische Initiativen in der Corona-Zeit auf den Prüfstand zu stellen. „So müssen etwa diejenigen Elemente des europäischen Green Deal gezielt vorgezogen werden, die Impulse für eine wirtschaftliche Entwicklung setzen können. Belastungen hingegen müssen vermieden oder zurückgestellt werden“, heißt es bei dem Industrieverband. Der Wirtschaftsrat dringt zusätzlich auf die konkrete Definition von zahlenmäßig erfassbaren Zielen beim Bürokratieabbau, eine Vereinfachung des Steuersystems und das Ausmisten überflüssiger Dokumentationspflichten. Wo bleibt der digitale Staat? Ein weiteres zentrales Thema, bei dem der Wirtschaftsrat bei politischen Entscheidungsträgern auf mehr Aufmerksamkeit dringt, betrifft die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. „Im Grunde befindet sich die deutsche Verwaltung in weiten Teilen nach wie vor im analogen Tiefschlaf “, kritisiert Ratspräsidentin Astrid Hamker. „Dabei ist eine moderne digitale Verwaltung ein wesentlicher Standortfaktor.“ In internationalen Rankings jedoch belegt Deutschland nach wie vor hintere Plätze. Im aktuellen Digital Economy and Society Index

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(DESI) der EU liegt Deutschland nur auf Platz 21. Eine minimale Verbesserung zum Vorjahr, die aber kaum ins Gewicht fällt. „Will Deutschland in absehbarer Zeit spürbar aufholen, indem es vergleichbar gute digitale Verwaltungsangebote für Bürger und Wirtschaft

entwickelt wie die führenden Länder in Europa und der Welt, muss es an Tempo zulegen.“, kritisiert der vierte Monitoringbericht „Digitale Verwaltung“ des NKR. Bund, Länder und Kommunen arbeiteten zwar engagiert an der Umsetzung des OZG. „Für den Anschluss an das europäische

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TITEL Bürokratieabbau

(in Prozent)

Mehr als zwei Drittel der befragten Unternehmen haben schlechte oder sehr schlechte Erfahrungen mit der Bürokratie gemacht Wir haben (sehr) schlechte Erfahrungen mit Bürokratie gemacht

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Die Dokumentation von Daten ist aufwendig

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Die für unser Unternehmen zu beachtenden Vorschriften … … sind im Allgemeinen nicht verständlich formuliert

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… ergeben im Allgemeinen keinen Sinn

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… sind im Allgemeinen nicht einfach zu identifizieren 0

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­ ittelfeld, geschweige denn die SpitM zengruppe, reicht es aber noch nicht.“ OZG steht für das 2017 beschlossene Onlinezugangsgesetz, wonach bis spätestens 2022 Verwaltungsleistun­ gen auch online angeboten werden sollen. Immerhin: Ende September hat die Bundesregierung die schon

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lange geforderte Registermodernisierung in Angriff genommen. „Wir sind heilfroh, dass der Gesetzentwurf nun endlich auf den Weg gebracht wird. Seit drei Jahren werden wir nicht müde, die Bedeutung eines vernünftigen öffentlichen Datenmanagements zu betonen“, sagt NKR-Chef

Ludewig. Ein weiterer Vorschlag des Beratergremiums: Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung muss auf allen staatlichen Ebenen zur Chefsache werden und mit mehr Budget und Personal unterstützt werden. Der Wirtschaftsrat sieht das genauso und plädiert für einen Chief Information Officer (CIO), der mit weitreichenden Entscheidungsrechten ausgestattet sein sollte. „Der Staat 4.0 braucht ein Gesicht“, betont Generalsekretär Steiger. Ein konsolidiertes Register für ein einheitliches Behördenportal und das „Once and Only-Prinzip“ mit entsprechendem Datenschutz sind weitere ­ zentrale Aufgaben, die die Politik für eine kundenfreundliche öffentliche Verwaltung dringend in ­ Angriff nehmen muss. Unterschiedliche Zuständig­ keiten im föderalen Staat mit verschiedenen IT-Systemen und rechtliche Probleme werden seit ­Jahren als E ­ ntschuldigung angeführt, kritisiert der Normen­ kontrollrat. ­„Damit dürfen wir uns nicht mehr zul frieden geben.“

Foto: AdobeStock©Andrey Popov

Quelle: Institut für Mittelstandsforschung Bonn ©IW Medien /iwd

Unternehmen hadern mit der Bürokratie

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© 2020 PricewaterhouseCoopers GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Alle Rechte vorbehalten. „PwC“ bezieht sich auf die PricewaterhouseCoopers GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die eine Mitgliedsgesellschaft der PricewaterhouseCoopers International Limited (PwCIL) ist. Jede der Mitgliedsgesellschaften der PwCIL ist eine rechtlich selbstständige Gesellschaft.

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TITEL Bürokratieabbau

Schnellere Planfestste Großbauprojekte dauern in Deutschland zu lange. Das Investitionsbeschleunigungsgesetz soll Abhilfe schaffen.

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er Bau großer Infrastrukturvorhaben dauert in Deutschland viel zu lange. Am Geld liegt es nicht, wir stellen Mittel in Rekordhöhe zur Verfügung. Doch Planung und Genehmigung von Projekten sind häufig so aufwändig, dass sie sich über viele Jahre ziehen. Um das zu ändern, hat der Bund in dieser Legislaturperiode bereits viel geleistet: Mit drei Planungsbeschleunigungsgesetzen haben wir wichtige Weichen für effizienteres Planen und Genehmigen gestellt. Dennoch lassen sich die Abläufe weiter beschleunigen. Das betrifft zum Beispiel die Frage, wann ein Genehmigungsverfahren verzichtbar ist. Aber auch Raumordnungsverfahren und gerichtliche Verfahren können noch effizienter gestaltet werden. Diese Potentiale wollen wir durch den im August im Kabinett beschlossenen Entwurf eines Investitionsbeschleunigungsgesetzes heben. Die Genehmigung von Verkehrsvorhaben erfolgt in der Regel im Rahmen von Planfeststellungsverfahren.

Foto: Valentin Brandes

Andreas Scheuer MdB Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur

„Planung und Genehmigung von Projekten sind häufig so aufwändig, dass sie sich über viele Jahre ziehen.“

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Diese dienen unter anderem der Konfliktlösung, soweit ein Verkehrsprojekt öffentliche oder private Belange berührt. Ziel ist, die unterschiedlichen Interessen angemessen auszugleichen. Nicht immer ist dafür jedoch ein umfangreiches behördliches Verfahren notwendig; nämlich zum Beispiel dann nicht, wenn das Projekt nur kleinräumig ist und keine wesentlichen Umweltbelange oder Rechte von Bürgern berührt. Das Investitionsbeschleunigungsgesetz sieht deshalb vor, dass für solche Maßnahmen im Schienenbereich kein Planfeststellungsverfahren mehr vorgeschrieben sein wird. Im Detail soll dies zum Beispiel für die Unterhaltung von Schienenwegen, die Elektrifizierung und Digitalisierung von Strecken sowie die Lärmsanierung gelten. Auch auf das Prüfen der Umweltverträglichkeit kann verzichtet werden, soweit sich die Maßnahme kaum auf die Umwelt auswirkt. Künftig entfällt zum Beispiel bei der Digitalisierung von Bahnstrecken ­ oder der Erneuerung von Bahnübergängen die Umweltverträglichkeitsprüfung komplett. Bei der Elektrifizierung von Bahnstrecken oder einer Lärmsanierung wird zunächst nur eine Vorprüfung stattfinden, aufgrund derer eine nachfolgende Umweltprüfung dann teilweise ebenfalls entfallen kann. Weitere Effizienzgewinne lassen sich durch ein strafferes Raumordnungsverfahren erreichen. Dieses Verfahren begutachtet die Raumverträglichkeit einer Maßnahme mit überörtlicher Bedeutung. Das Ergebnis fließt in nachfolgende Planungsund Genehmigungsverfahren mit

ein. Unser jüngster Gesetzentwurf sieht hier Beschleunigungseffekte auf zweierlei Wegen vor: Zum einen ist das Raumordnungsverfahren künftig nicht mehr zwingend. Wenn keine raumbedeutsamen Konflikte zu erwarten sind, kann darauf verzichtet werden. Zum anderen wird das Raumordnungsverfahren stärker digitalisiert, zum Beispiel durch Online-Veröffentlichungen. Und es wird nochmals klargestellt, dass Belange,

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TITEL Bürokratieabbau

ellungsverfahren

Foto: AdobeStock©djama

Eingangszuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte beziehungsweise Verwaltungsgerichtshöfe. Sie sind künftig erstinstanzlich zum Beispiel für Landesstraßenund für bestimmte Hafenprojekte oder auch Wind­ räder zuständig. Zugleich verzögern sich gerichtliche Verfahren aufgrund von Personalknappheit. Daher sieht das Investitionsbeschleunigungsgesetz einen flexibleren Einsatz von Richtern sowie eine Bündelung von Kompetenz in Spezialspruchkörpern vor. In dieser Legislaturperiode haben wir bei der Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren bereits viel erreicht, wie zum Beispiel, dass wir bedeutende Infrastrukturprojekte jetzt durch Maßnahmengesetze im Bundestag genehmigen können. Auch haben wir die Verfahren transparenter gemacht und damit die Bürgerbeteiligung gestärkt. Ebenso haben wir die Möglichkeit geregelt, vorbereitende Maßnahmen vor Erlass des Planfeststellungsbeschlusses in Angriff zu nehmen. Zudem haben wir die Planungsverfahren für Ersatzneubauten bei Schienen- und Straßenprojekten verschlankt. Und schließlich werden mit der Bündelung von Anhörungs- und Planfeststellungsverfahren beim Eisenbahn-Bundesamt, die noch in diesem Jahr in Kraft treten wird, Schnittstellen reduziert. Der Entwurf des jetzigen Investitionsbeschleunigungsgesetzes ergänzt die bisher umgesetzten Maßnahmen sinnvoll und wird nach meiner festen Überzeugung Planungs- und Genehmigungsprozesse spürbar beschleunigen, ohne Rechtsschutzinteressen zu l schmälern.

die bereits Gegenstand des Raumordnungsverfahrens waren, im weiteren Zulassungsverfahren nicht erneut geprüft werden. Zudem stellen wir klar, dass Linienbestimmung und Planfeststellung nach Abschluss eines Raumordnungsverfahrens zeitnah beantragt werden sollen. Dann nämlich können die erhobenen Daten und Gutachten ohne langwierige Aktualisierung für die folgenden Verfahren verwendet werden.

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Auch die Gerichtsverfahren lassen sich beschleunigen. Denn Klagen führen faktisch erst einmal für längere Zeit zum Stillstand eines Projekts. Um diese Zeit zu verkürzen, setzen wir am Instanzenzug an. Bereits mit dem ersten Planungsbeschleunigungsgesetz wurde die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts erweitert. Das jetzt in Angriff genommene Investitionsbeschleunigungsgesetz erweitert darüber hinaus die

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TITEL Bürokratieabbau

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ir sitzen in der Komplexitätsfalle: Wir sind zu hierarchisch, zu bürokratisch und zu langsam. Und das ist fatal. Denn ein nicht leistungsfähiger Staat verliert erst seine Kompetenz, dann das Vertrauen und schließlich seine Macht sowie seine internationale Relevanz. Um unseren Wohlstand und unsere Werte langfristig zu sichern, reicht daher nicht nur der Fokus auf Bürokratieabbau im engeren Sinne. Vielmehr muss sich unser Staat in den nächsten zehn Jahren mehr verändern als in den letzten 70 Jahren zusammen. Er braucht keine homöopathische Behandlung, sondern eine Radikalkur. Zu dieser Analyse sind wir – das ist

Ein „Neustaat“ fü Aufbruch in ein neue Nicht erst seit Corona schauen wir mit Sorge auf Föderalismus, Verwaltung und internationale Zusammenarbeit. Während die Welt sich in tosendem Tempo wandelt, stößt unser Staat an seine Grenzen. Projekte dauern zu lange oder scheitern ganz. eine Projektgruppe von Unionspolitikern verschiedenster Fachbereiche – gekommen und haben deshalb eine Antwort entwickelt. Die Antwort nennen wir „Neustaat“, wir beschreiben sie im gleichnamigen Buch. Wir machen damit zusammen mit zahlreichen Experten aus Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft 103 Vorschläge für eine Neuausrichtung von Staat und Politik, eine Neuausrichtung in die Zukunft. Ein neues Leitbild – der lernende Staat Dabei decken wir viele Zukunftsfelder ab – von Blockchain bis Bildung, von Klima bis KI, von Daten-

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souveränität bis zur Doppelrente. Viele der Vorschläge sind ambitioniert, manche werden Sie überraschen, doch alle sind konkret und drängen. Und: Sie sind Teil eines neuen Denkmodells: dem „lernenden Staat“. Der „lernende Staat“ geht davon aus, dass in einer digitalen, sich schnell ändernden Welt Gesetze anders gemacht werden müssen, anders aussehen müssen und anders vollzogen werden müssen wie bisher, nämlich agiler, vernetzter und digitaler. Der lernende Staat nutzt Daten als Entscheidungsgrundlage und ist bereit, Regularien in schnellen Zyklen zu ändern als es bisher der Fall war.

Das muss sich konkret ändern Wir fangen bei uns selbst an, bei der Art und Weise, wie wir Gesetze machen. Zum Beispiel mit Verlaufscharts, die garantieren, dass von A ­ nfang an in den Blick genommen wird, wie ­Gesetze in der Praxis wirken. Und auch der Vollzug soll sich ändern. Durch neue digitale Möglichkeiten ist es heute machbar, Themen gemeinsam anzugehen statt, wie es heute der Fall ist, Prozesse nebeneinander oder hintereinander abzuwickeln. Die bisherige Praxis führt zu elend langen Verfahren, auch bei politisch unstrittigen, eigentlich unkomplizierten Bauprojekten – wie dem Ausbau des

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Foto: AdobeStock©Iamio

TITEL Bürokratieabbau

sich teils widersprechende Vorgaben aus der Politik. Deshalb: Wir dürfen nicht mit dem Finger auf Beamte zeigen, sondern wir müssen bei uns selbst anfangen! Unsere Vorschläge sind ambitioniert, teilweise auch radikal. Unsere Überzeugung ist, dass wir nur durch grundlegendes Neudenken den Fortschritt erzielen können, den wir brauchen. Und die Zeit für Veränderung und Neudenken war lange nicht so ­passend wie heute: Ob Klima­wandel, Digitalisierung oder Verschiebun­ gen der internationalen Kräfte­ verhältnisse: Die Veränderung um uns herum wird i­mmer größer. Und sie wartet nicht darauf, dass wir uns

ür Deutschland – es Reformjahrzehnt

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dass der Koalitionsausschuss im Juni im Rahmen des Corona-Konjunkturpakets entsprechende Beschlüsse ­gefasst hat! Zum anderen reformieren wir Verwaltungsprozesse und Arbeitsweisen durch einen Kulturwandel in den Behörden selbst. Das beginnt beim ­ Personal: Wir wollen eine grundlegende Reform des Personalmanagements im öffentlichen Sektor – vom Recruiting über Bewerberpools statt (oftmals nur behördeninterne) Ausschreibungen auf einzelne Stellen, über Rotationspflicht zwischen Behörden als Voraussetzung für Führungspositionen bis hin zu verstärkter abteilungsübergreifender Projektarbeit. Für uns ist klar: die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sind die falschen Adressaten der öffentliche Kritik. Vielmehr geht es um starre, langsame und veraltete Prozesse. Wir haben zu viele, überkomplexe und

Nadine Schön MdB Stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

„Wir sitzen in der Komplexitätsfalle: Wir sind zu hierarchisch, zu bürokratisch und zu langsam. Und das ist fatal.“ ihr gewachsen zeigen. Seien Sie beim „Neustaat“ ­dabei! Neustaat ist aber keineswegs ein Projekt allein für die Politik-Blase. Wir wollen eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen und Wegen, wie wir als Politik und Staat besser schneller und schneller besser werden können. Lassen Sie uns gemeinsam Deutschlands Zukunft gestalten – denn die Zukunft zieht keine l Wartenummer.

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Foto: Tobias Koch

Hauptzollamts Itzehoe. Die geplante Projektdauer liegt bei 10 Jahren. Da sind die häufig auftretenden Verzögerungen noch nicht mit inbegriffen. Zur Beschleunigung würde beispielsweise die vollständige Automatisierung von Behördenverfahren führen, die nicht auf Ermessen oder Bewertung beruhen, sondern lediglich abgearbeitet werden müssen. Es ist unverständlich, warum ein Antrag auf Ummeldung, Verlängerung eines Reisepasses oder auf Kindergeld jedes Mal von Sachbearbeitern geprüft werden müssen. Die Kriterien sind klar und erfordern kein Ermessen, können also auch maschinell bearbeitet und stichprobenartig geprüft werden. Grundlegende Infrastrukturen hierfür wie eine schnelle Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes und Einführung eines staatlich zertifizierten, digitalen Identitätsnachweises, der E-ID, sind schnellstmöglich umzusetzen. Gut,


AKTUELL Interview

sprach exklusiv mit Professor Lars P. Feld, Vorsitzender des Sachverständigenrates, über die Corona-Krise und was sie für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft bedeutet, den EU-Wiederaufbaufonds und was der Brexit für Deutschland, die Europäische Union und das Vereinigte Königreich bedeutet. Das Interview führte Frederike Holewik.

– Die EU-Staaten haben sich auf Haushalt und ­Rettungspaket geeinigt. Allein das Rettungspaket umfasst 750 Milliarden Euro. Wie bewerten Sie diese Einigung? Das ist eine schwierige Frage, da sehr viele Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Das Dokument enthält einerseits den mehrjährigen Finanzrahmen, dann den Aufbaufonds und am Ende einen Ausblick auf eigene Einnahmen der Europäischen Union (EU). Es zeigt sich in der Corona­ krise, dass manche Mitgliedsstaaten damit besser umge-

– Wie kann noch verhindert werden, dass die EU eine Schuldengemeinschaft wird? Yves Mersch, der bald aus dem EZB-Rat ausscheiden wird, hat immer gesagt, sobald man eine gemeinsame Notenbankbilanz hat, hat man im Grunde schon eine Transferunion. Und natürlich stimmt das auch. ­Schließlich handelt es sich um eine Form von Risikoausgleich, der über die EZB-Bilanz läuft. Insofern ist dieser Schritt schon mit dem Mastricht-Vertrag unternommen ­worden. Auch durch den EU-Haushalt haben wir bereits

„Die Höhe der Versch hen können als andere. Insofern ist auch ein gewisses Maß an europäischer Solidarität angezeigt. Wenn man es rein makroökonomisch betrachtet, muss man sagen: Die Euro­ päische Zentralbank (EZB) macht derzeit viel – wie etwa die Liquiditätsmaßnahmen über Anleihekäufe in Höhe von einer Billion Euro. Mit Blick auf die aktuelle Situation ist dies auch ein stückweit notwendig. Denn wir können uns nicht erlauben nach diesem Pandemiejahr in eine weitere EU-Schuldenkrise zu geraten. Da einige EU-Länder übermäßig verschuldet sind, muss man sich fragen, ob diese Maßnahmen in ihrer Struktur geeignet sind, dafür zu sorgen, dass sie bevor die nächste Krise kommt, besser dastehen. Ansonsten werden wir ihnen dann noch viel stärker unter die Arme greifen müssen. Mit dem Rettungspaket erhält die EU erweiterte Kompetenzen zur Verschuldung und Besteuerung. Wenn man auf der Finanzierungsseite Besteuerungsinstrumente schafft oder über die Verschuldung auch dazu gezwungen ist, deutet vieles darauf hin, dass wir in Richtung eines europäischen Bundesstaates gehen. Die Entscheidungsträger müssen sich fragen, ob das verfassungskonform ist. Allein der Verweis darauf, das Paket sei nur temporär, zieht bei über 30 Jahren Laufzeit nicht. Das ist kein Liquiditäts­ kredit, da geht es um mehr.

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eine Transferunion. Aus dem Strukturfonds werden keine ­Kredite vergeben, sondern Zuschüsse gezahlt. Die Höhe der Verschuldung ist das Neue und die lange Laufzeit. Temporäre Maßnahmen gab es früher auch schon in Form von Zahlungsbilanzkrediten in den 1970er Jahren. Von den Alternativen ist eine Abwicklung über die EU und den EU-Haushalt noch am ehesten erträglich. Gesamtschuldnerische Anleihen, wie sie diskutiert worden sind, sogenannte Coronabonds, sind viel problematischer. Dann lieber eine Verschuldung der EU mit Garantien der Mitgliedsstaaten. Dabei ist die Verschuldung auf die ­Garantiehöhe begrenzt. Ob wir da rauskommen, hängt davon ab, ob wir nach der Laufzeit auch sagen, jetzt ist Schluss mit der Verschuldung. –  Welche Implikationen hat es, wenn immer höhere ­Schulden von den Notenbanken mitgetragen werden? Die Verschuldung hat eine Laufzeit von 37 Jahren, aber der Knackpunkt könnte viel früher kommen. Sollten wir in der nächsten Krise feststellen, dass die Maßnahmen nicht gewirkt haben, gibt es nur wenige Optionen. Entweder müsste die EZB voll eintreten oder es käme zu einem e­ chten Bail-out, bei dem die Mitgliedstaaten ein in ­Bedrängnis geratenes Land unterstützen müssen.

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AKTUELL Interview

Foto: Sachverständigenrat

„Die Verschuldung hat eine Laufzeit von 37 Jahren, aber der Knackpunkt könnte viel früher kommen. Sollten wir in der nächsten Krise feststellen, dass die Maßnahmen nicht gewirkt haben gibt es nur wenige Optionen.“

huldung ist das Neue“ Trotz der riesigen Summen sind die aktuellen Unternehmungen deshalb moderat, weil es von der kategorialen Einordnung noch nicht so weit ist, dass wir etwa dem italienischen Staat wirklich beispringen müssen. Mit anderen Worten: Die Maßnahmen, die getroffen werden, müssen wirklich dazu führen, dass Länder wie Italien am Ende besser dastehen.

I­ndustriepolitik. Da bewegt man sich auf den französischen Kurs zu. Man wird auf der anderen Seite noch genauer beobachten müssen, ob die Briten ­tatsächlich auf ein Handels­ abkommen verzichten. Das kann Auswirkungen auf die EU haben. Insbesondere wenn die Briten den Schulterschluss mit den USA eingehen.

– Ein weiteres historisches Ereignis wirft seine Schatten voraus: Nicht nur, dass der zweitgrößte Nettozahler die EU verlässt, es scheint auch auf einen ungeregelten Brexit hinauszulaufen. Was heißt das für die Statik der EU? Das wichtigste ist, dass das wirtschaftsliberalste Land die EU verlässt. Die Mitgliedsstaaten lassen sich von wirtschaftsliberal bis -kritisch einordnen. Bei Abstimmungen im Ministerrat waren die Zünglein an der Waage auf ­beiden Seiten Deutschland und Frankreich. Die deutsch-französische Achse war der Kompromisskern, der die beiden Seiten zusammengebracht hat. Mit dem A ­ ustritt der Briten verschiebt sich dies. Das Übergewicht der marktkritischen Staaten ist eindeutig und Deutschland versucht seine Politik jetzt schon an­zupassen, ob in Fragen der Wettbewerbs- oder der

– Welche Prioritären sollte die deutsche EU-Ratspräsidentschaft Ihrer Meinung nach setzen? Die wichtigste Priorität war es, den mehrjährigen Finanzrahmen abzustecken und den Aufbaufonds ins Werk zu setzen. Bei der Umsetzung dieser Maßnahmen muss die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nun darauf achten, dass die vorgelegten Aufbau- und Resilienzpläne der einzelnen Staaten diese Namen auch verdienen und ihre Widerstandsfähigkeit erhöhen. Es muss darum gehen, Hilfen mit marktwirtschaftlichen Reformen zu verbinden. Das Problem in Italien ist ja nicht, dass wir zu wenig Glasfaserkabel für die Digitalisierung verlegt haben, sondern, dass niemand investieren möchte. Man ist mit dem Marktanteil zufrieden, den man hat. Das ist im deutschen Mittelstand ganz anders. Wenn sich das nicht ändert in Italien, dann l haben wir ein großes Problem.

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AKTUELL Start-ups

Wie kommen die Start-ups durch die Krise? S tart-ups haben noch keine ­gewachsenen Strukturen, meist keine Rücklagen und machen nur selten Gewinne, wes­wegen sie die Risikoprüfung von Banken in der Regel nicht bestehen würden. Klar ist: Die Corona-Krise darf nicht dazu führen, dass unsere hoch-innovativen Unternehmen auf ihrem Wachstumskurs ausgebremst werden. Die Bundesregierung arbeitet seit vielen Jahren mit einem umfangreichen Instrumentarium daran, die Finanzierung von Start-ups an der Seite von privaten Investoren zu unterstützen. Dazu zählen zum Beispiel

Thomas Jarzombek MdB Foto: Tobias Koch

Beauftragter des Bundes­ wirtschaftsministeriums für die Digitale Wirtschaft und Start-ups

der High-Tech Gründerfonds und der Venture Capital-Fonds coparion, die direkt in Start-ups investieren. Mit der Frühphasenfinanzierung durch das Programm EXIST fördern wir junge Tech-Startups. Mit EXIST Potentiale geben wir einen langfristigen Impuls für mehr Entrepreneurship in Hochschulen. Daneben investieren die Dachfonds in Kooperation mit dem Europäischen Investitionsfonds und der KfW Capital in Venture C ­ apital- und Venture Debt-Fonds, die ihrerseits zukunftsträchtigen Start-ups Finanzierungsmittel zur Verfügung stellen. Mit dem Programm INVEST – Zuschuss für Wagniskapital werden die Investitionen von Business Angels mobilisiert. In der Start-up-Beteiligungsfinanzierung agieren wir insgesamt marktnah und meist nach dem so genannten pari passu Prinzip – immer gemeinsam mit privaten Investoren

„Klar ist: Die Corona-Krise darf nicht dazu führen, dass unsere hoch-innovativen Unternehmen auf ihrem Wachstumskurs ausgebremst werden.“ 30

Foto: AdobeStock©NDABCREATIVITY

Der massive Wirtschaftseinbruch durch die Pandemie stellt ­ Unternehmen vor große Herausforderungen. Gerade auch Start-ups leiden erheblich unter der Krise. Gleichzeitig sind sie in einer ­ besonderen Situation, weil sie bereits in normalen Zeiten kaum Chancen haben, Kredite von Banken zu bekommen.

zu iden­ tischen Konditionen. Damit sollen noch mehr private Mittel für den Wagniskapitalmarkt gewonnen werden. Diesen Ansatz betonen wir auch während der Corona-Krise, wie man an dem zwei Milliarden Euro umfassenden Start-up-Maßnahmenpaket sieht. Dieses basiert auf zwei Säulen: Bei der ersten Säule werden die bestehenden Kooperationen mit KfW Capital und dem Europäischen Investitionsfonds (EIF) genutzt, um privaten Wagniskapitalfonds zusätzliche öffentliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Damit werden die Fonds in die Lage versetzt, auch in dieser schwierigen Zeit Finanzierungsrunden von Start-ups mit ausreichenden Mitteln zu begleiten. Seit Mitte Mai ist die Antragstellung bei KfW Capital und Europäischen Investitionsfonds möglich, erste Auszahlungen sind bereits erfolgt. Außerdem wird zusätzlich über den High-Tech Gründerfonds, coparion sowie über das KfW-Finanzierungsprogramm ERP-Startfonds direkt in Start-ups investiert. Bei der zweiten Säule werden öffentliche Mittel über Landesförderinstitute entweder direkt

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AKTUELL Start-ups

Anzahl der Gründungen von Start-ups in Deutschland im 2. Quartal 101 105

Software 69 71

Medizin 39

eCommerce

22 23 23 21

Immobilien Sport 15

Bildung

12

Gaming 0

Neben diesen konkreten Corona-Hilfen arbeitet die Bundesregierung weiter daran, die Bedingungen für Start-ups zu verbessern. So soll ein Beteiligungsfonds für Zukunftstechnologien von bis zu zehn Milliarden Euro bei der KfW aufgelegt werden. Ziel ist es, insbesondere die Finanzierungsmöglichkeiten in der kapitalintensiven Skalierungsphase von Start-ups zu stärken und neue Investorengruppen für die Wagniskapitalfinanzierung in Deutschland zu gewinnen. Das Konzept für diesen Fonds steht. Nach einem Kabinettbeschluss werden wir uns beim Bundestag im Haushaltsverfahren um die Haushaltsmittel bemühen. Auch strukturell brauchen Startups Verbesserungen, um sich gut zu entwickeln und Innovationen voranzutreiben. Ein wichtiges Instrument zur Gewinnung insbesondere internationaler Fachkräfte ist die Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Wir haben bereits wichtige Schritte unternommen, um das zu ermöglichen. So sieht das aktuelle Konjunkturpaket die Schaffung einer attraktiven Möglichkeit der Mitarbeiterbeteiligung vor. Zudem erleichtert das Fachkräfteeinwande-

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2019 2020

19 20

40

60

80

100

rungsgesetz die Arbeitsaufnahme von qualifizierten Fachkräften. Natürlich spielt die Vernetzung mit wichtigen Akteuren des Starttup-­ Ökosystems eine zentrale Rolle für Start-ups. Mit dem German ­Accelerator vernetzen und helfen wir Start-ups bei ihrer Wachstumsstrategie in den USA und in Asien. Zudem sorgt die Digital Hub Initiative des BMWi für Vernetzung international führender Unternehmen, KMU, ­Forschungseinrichtungen, Start-ups und Investoren. Schließlich muss der Staat auch selbst zum Innovationstreiber werden. Der öffentliche Sektor ist ein bedeutender Auftraggeber und kann auf diesem Wege enorme Innova­ tionen ermöglichen. Hier ­sollten deutlich mehr Start-ups und Mittelständler zum Zug kommen. Ich bin mir sicher: Mit dem Ausbau der bestehenden Maßnahmen, dem Aufsetzen der Corona-Liquiditätshilfen, der Stärkung der Kapitalausstattung und der Verbesserung der strukturellen Bedingungen für Startups werden wir es schaffen, die Krise zu meistern und die Innovationskraft in Deutschland nicht nur zu erhalten, l sondern weiter zu stärken!

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Quelle: startupdetector, Statista

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Mobilität

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59 36 35

Industrie

oder über weitere Intermediäre wie z.B. Family Offices, Business Angels, Fintechs an Unternehmen in Form von Mezzanin- oder Beteiligungsfinanzierungen ausgereicht. Das Kontraktvolumen unserer bestehenden Maßnahmen der Beteiligungsfinanzierung beträgt (zusammen mit unseren Partnern wie dem EIF) rund acht Milliarden Euro, davon können noch rund 3,5 Milliarden Euro neu investiert werden. Zusammen mit dem zwei Milliarden Euro-Maßnahmenpaket für Start-ups und den kleinen Mittelstand stehen damit 10 Mrd. Euro zur Verfügung. Das kann sich – zusammen mit dem geplanten Zukunftsfonds mit zehn Milliarden Euro – sehen lassen. Auch der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) leistet einen Beitrag zur Stabilisierung der Wirtschaft in Folge der Corona-Pandemie. Er stellt Unternehmen der Realwirtschaft branchenübergreifend Hilfen zur Stärkung ihrer Kapitalbasis und zur Überwindung von Liquiditätsengpässen bereit. Auch größere Start-ups können hier Unterstützung erhalten, sofern sie über ein etabliertes Geschäftsmodell verfügen.

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Lebensmittel


AKTUELL Nachhaltigkeit

Im Sinne des von Ludwig Erhard geprägten Leitbildes der Sozialen Marktwirtschaft sind sowohl Unternehmen und Politik als auch jeder Einzelne in der Pflicht, sich mehr denn je für einen nachhaltigen Umgang mit unserem Planeten einzusetzen. Banken spielen als „Scharnier“ zur Wirtschaft dabei eine Schlüsselrolle.

D

er Klimawandel nimmt ­zunehmend bedrohlichere Ausmaße an. So hat sich die Zahl der Naturkatastrophen zwischen 2000 und 2019 gegenüber den vorherigen 20 Jahren fast verdoppelt. Für die weltweit insgesamt mehr als 7.000 Katastrophen größeren Ausmaßes in diesem Zeitraum ist vor allem der Klimawandel verantwortlich. 4,2 Milliarden Menschen wurden in den letzten 20 Jahren Opfer von Überschwemmungen, Stürmen, Dürren, Waldbränden und weiteren Natur­ katastrophen.1 Im Sinne des von Ludwig Erhard geprägten Leitbildes der Sozialen Marktwirtschaft sind sowohl Unternehmen und Politik als auch jeder Einzelne in der Pflicht, sich mehr denn je für einen nachhaltigen Umgang mit unserem Planeten einzusetzen. Die Politik hat dabei eine Vorreiterrolle eingenommen: Der EU-Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums, die Pariser Klimaziele oder der europäische „Green Deal“ – die Vielzahl der Initiativen verdeutlicht, welche Dringlichkeit die Regierungen dem Kampf gegen den Klimawandel welt-

Foto: ING-Bank - Fritz Philipp

Dr. Joachim von Schorlemer Stellvertretender Vorstandsvorsitzender der ING-DiBa AG

„Banken tragen eine zentrale Verantwortung, um die W ­ irtschaft umweltfreundlicher zu gestalten.“ 32

weit beimessen. Banken als „Scharnier“ zur Wirtschaft spielen dabei eine Schlüsselrolle. Immerhin beziffert die Europäische Kommission den zusätzlichen Kapitalbedarf allein für die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens mit jährlich mehr als 180 Milliarden Euro. Dieses Finanzierungsvolumen ist nur mit der Unterstützung der Banken als Kapitalsammelstellen zu erreichen. Daher kommt ihnen die wichtige Aufgabe zu, den nachhaltigen Umbau der Wirtschaft voranzutreiben und so zur erfolgreichen Bekämpfung des Klimawandels beizutragen. Insbesondere mit dem Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums setzt die Europäische Kommission dieses Vorhaben in die Tat um. Ziel des Plans ist der deutliche Ausbau von Kapitalzuflüssen in nachhaltige Investitionen. Mit der Taxonomie-Verordnung geht sie den ersten Schritt und schafft ein EU-weit gültiges und transparentes Klassifizierungssystem mit einheitlichen Begrifflichkeiten für entsprechende wirtschaftliche Aktivitäten. Zusätzlich verfolgt die Kommission mit dem European Green Deal den Plan, Europa bis zum Jahr 2050 zu einem klimaneutralen und ressourcenschonenden Kontinent zu machen, der keine Netto-Treibhausgasemissionen mehr freisetzt und bei dem das Wirtschaftswachstum von der Ressourcennutzung unabhängig ist. Zur Umsetzung des Deals sind umfangreiche Investitionen erforderlich, für die privates Kapital durch den Finanzsektor mobilisiert werden muss. Die Banken sind gefordert, die Wirtschaft bei dieser Transformation eng zu begleiten und zu unterstützen. Für die Institute bedeutet dies einen Paradigmenwechsel. Nachhal-

Banken für eine

tigkeit muss auf strategischer Ebene und als integraler Bestandteil des Geschäftsmodells verankert werden. Banken stehen damit vor Fragen wie: In welche Kunden und Segmente wollen wir zukünftig investieren? Welche Geschäftsmodelle sollten gemieden werden? Wie können etwaige Kreditrisiken beherrschbar bleiben, und welchen gesellschaftlichen Zielen dienen die abgeschlossenen Geschäfte? Damit rückt auch die aktive Umsetzung eigener Nachhaltigkeitsziele in den Fokus. Eine Bank kann gegenüber Kunden und der Öffentlichkeit nur glaubwürdig auftreten, wenn sie das Thema Nachhaltigkeit selbst imple-

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AKTUELL Nachhaltigkeit

Foto: AdobeStock©tanaonte

tragen Verantwortung nachhaltigere Zukunft

mentiert und verinnerlicht hat, zum Beispiel indem sie dieses Ziel in allen Geschäftsbereichen umsetzt oder in den Zielvereinbarungen berücksichtigt. Dies ist umso bedeutsamer, als Banken bei der Gestaltung einer nachhaltigeren Zukunft nicht nur als Geldgeber, sondern auch als Berater und Gestalter agieren. Veränderungen hin zu einem umweltbewussten Verhalten lassen sich am besten im Dialog einer funktionierenden Geschäftsbeziehung verwirklichen. Dabei liegt es in der Verantwortung der Bank, den Kunden dabei zu beraten, die richtigen und effizientesten Maßnahmen zu ergreifen. Auch im Privatkundenbereich geht es

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darum, einen wirksamen gesellschaftlichen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit zu leisten, indem Banken Kunden Transparenz über deren CO2-Fußabdruck geben. Auf Basis des Ausgabeverhaltens ihrer Kunden können Banken im Dialog sinnvolle Impulse geben und echte Verhaltensveränderungen bewirken. Doch das Bewusstsein für die strategische Relevanz von Nachhaltigkeit ist noch nicht bei allen Banken angekommen. Während niederländische und französische Institute bereits recht weit sind und als Benchmark gelten können, haben Banken in anderen Ländern, darunter teilweise

auch in Deutschland, noch Nachholbedarf. Das Ziel jedes Hauses sollte es jedoch sein, die Kunden in die Lage zu versetzen, nachhaltiger zu agieren. Es empfiehlt sich, über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg branchenübergreifend mit öffentlichen und privaten Partnern zusammenzuarbeiten. Idealerweise geschieht dies in enger Zusammenarbeit mit anderen Banken, denn Nachhaltigkeit ist eine gemeinsame, gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der Wettbewerb zweitrangig sein sollte. Daher gibt es Initiativen wie ­„Terra“, mit denen die Kreditbücher von Banken in Richtung des ZweiGrad-­Klimaziels ausgerichtet werden können. Dazu erfolgt eine Analyse des Kreditbuches, um Potenziale für eine Reduzierung der CO2-Emissionen zu identifizieren. Als Ergebnis dieser Prüfungen wird die Kapitalallokation gezielt stärker auf CO2-arme Technologien konzentriert. Damit kann ein Marktstandard für die Ermittlung der Klimabilanz im eigenen Kreditbuch von Banken geschaffen werden. Denn nur wenn das Vorgehen aller Marktteilnehmer vergleichbar ist, entsteht auch Transparenz darüber, welche Fortschritte gemacht werden. Banken tragen eine zentrale Verantwortung, um die Wirtschaft umweltfreundlicher zu gestalten. Der Klimawandel ist eine immense Herausforderung, die uns alle angeht. Mit ihrer Arbeit und ihrem Einfluss haben Banken die Möglichkeit, einen wirksamen und erheblichen Beitrag zur erfolgreichen Bekämpfung des Klimal wandels zu leisten. Quelle: Bericht über Opfer und Schäden von Katastro­ phen 2000-2019 des UN-Büros für Katastro­ phenvorbeugung: https://www.tagesschau.de/ausland/ naturkatastrophen-klimawandel-101.html

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BREXIT: Beide Seiten müssen sich bewegen N

achdem die britische Regierung die Verhandlungen ­Anfang Oktober für gescheitert erklärt hatte, nahm sie sie nur wenige Tage später wieder auf. Damit ein Abkommen bis Anfang 2021 ratifiziert und rechtlich umgesetzt werden kann, bleibt wenig Zeit. Ob ein solches dann auch nationale Parlamentsmehrheiten findet, ist ungewiss. Viele Fragen sind offen. Der Güterhandel ist immer noch quantitativ von allergrößter Bedeu-

Foto: IfW Kiel, Michael Stefan

Prof. Gabriel Felbermayr, Ph.D. Präsident, IFW Kieler Institut für Weltwirtschaft

„Auch in der Fischerei – für beide Seiten von hoher symbolischer und politischer Bedeutung – gab es noch keine Fortschritte.“

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tung für beide Seiten. In der Theorie sind sich London und Brüssel einig, dass Zölle und Mengenbeschränkungen vermieden werden müssen. Ein Vertrag nach Vorbild des CETA-­ Abkommens mit Kanada würde dies leisten. Doch Brüssel lehnt eine solche Lösung ab und will auf Marktzutrittsbarrieren nur verzichten, wenn sich das VK auf gleiche Wettbewerbs­ bedingungen im Umwelt- und Sozialrecht sowie bei staatlichen Beihilfen verpflichtet. London ist aber gegen jede Art der regulatorischen ­Angleichung an die EU. Eine Lösung k­ önnte sein, dass sich das VK verpflichtet, nicht hinter existierende Standards zurückzufallen, es aber zukünftige EURegeln nicht übernehmen muss. Im Bereich der EU-Beihilfevorschriften fordert Brüssel nicht mehr, dass das VK die europäischen Regeln vollständig übernehmen muss, sofern seine Regelungen äquivalent zu jenen der EU sind. Allerdings hat London bisher nicht geklärt, wie sein künftiges Beihilferecht ausgestaltet werden soll. Ein weiteres wichtiges Thema betrifft die so genannten Ursprungsre-

Foto: Jens Schicke

AKTUELL Europa

geln. Diese legen fest, unter welchen Bedingungen ein aus dem VK in die EU exportiertes Gut zollrechtlich auch wirklich als aus dem VK stammend gilt, und umgekehrt. Mit diesen R ­ egeln wird vermieden, dass Unternehmen aus einem Drittstaat zollfrei nach Großbritannien und von dort zollfrei weiter in die EU liefern, obwohl die EU mit dem Drittstaat keinen Freihandel vereinbart hat. Ursprungsregeln sind regelmäßig mit hohem bürokratischem Aufwand verbunden. Sie bringen Hürden vor allem in h ­ ochgradig integrierten Lieferketten im verarbeitenden Gewerbe in Sektoren wie der Automobilindustrie und der Lebensmittel- und Getränke­ industrie. Aktuelle Forschung zeigt, dass die Sorge vor einem Unterlaufen des EU-Zollschutzes in der Realität häufig unbegründet ist. London drängt in diesem Bereich auf liberale Regelungen, gegen die sich Brüssel bisher wehrt. Hier könnte man dem VK entgegen gehen, zum Beispiel, indem nur für jene Waren Ursprungsnachweise nötig sind, für die sich die externen

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AKTUELL Europa

Hop oder top: Die Verhandlungen­ zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich über ein ­Frei­handels­abkommen gestalten sich auch im neuen – und ­vermutlich letzten Anlauf ­– als sehr schwierig.

Zölle der EU von jenen des VK hin­ reichend stark unterscheiden. Der Dienstleistungshandel bekam in den Verhandlungen bislang wenig Aufmerksamkeit, weil das VK offiziell ein CETA-ähnliches Abkommen anstrebt, das ohnehin geltendem WTO-Recht sehr nahe kommt. Zölle auf Dienstleistungen existieren nicht. Ursprünglich strebte das VK eine halbautomatische Anerkennung von Berufsqualifikationen an, was Brüssel aber bisher nicht akzeptierte. Hier ist ein Kompromiss vorstellbar, da es zuletzt Bewegung auf beiden Seiten gab. Uneinigkeit besteht weiterhin, wie das Gesamtabkommen strukturiert wird. Die EU drängt auf ein einziges übergreifendes Abkommen, wie sie das auch für die Schweiz anstrebt, während das VK eine Sammlung von Abkommen wünscht. Möglich erscheint ein Mantelabkommen, das zukünftige Abkommen integriert und systematisiert. Auch die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), insbesondere im Kontext der Streitbeilegung, ist umstritten. Das VK sträubt sich gegen

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jede Regelung, die britische Gesetze einer Zuständigkeit des EuGH unterwerfen würde, während die EU argumentiert, dass die Rolle des EuGH als oberste Rechtsinstanz für die Konsistenz des Acquis Communautaire unerlässlich sei. Dieses Argument ergibt nur Sinn, falls tatsächlich über die Regelungen bisheriger Abkommen, etwa CETA, in erheblichem Ausmaß hinausgegangen wird. Neben diesen „Governance“-Fragen bereitet auch der einzigartige Status Nordirlands – als Teil der ­britischen Zollunion, aber de facto Teil des EU-Binnenmarktes – weiterhin Kopfschmerzen. Die Londoner Regierung ist nach wie vor nicht in der Lage, den Unternehmen in der Region klare Vorgaben zu machen, wie der Handel ab dem 1. Januar nächsten J­ ahres praktisch abgewickelt werden soll. Ein Beispiel für die hohe Komplexität ist die Administration von Mengenbeschränkungen gegenüber Drittstaaten. So wäre es logisch, wenn EU-Zollkontingente nicht für Güter gelten, die nach Nordirland geliefert werden, weil das Gebiet ja nicht Teil

der EU-Zollunion ist. Die WTO-­ gebundenen Zollkontingente der EU sollen ja nach vollzogenem Brexit ­zwischen der EU und dem VK aufgeteilt werden, wobei nordirische Importeure Zugang zu den Anteilen des VK hätten. Es ist praktisch aber nur schwer möglich zu verhindern, dass Waren, die im Rahmen eines Zollkontingents nach Irland eingeführt werden, im Norden der Insel konsumiert werden, da es keine Handelsgrenzen zwischen Irland und Nordirland geben soll. Auch in der Fischerei – für beide Seiten von hoher symbolischer und politischer Bedeutung – gab es noch keine Fortschritte. Zwar hat die EU von ihrer (unhaltbaren) Forderung Abstand genommen, die Fangquoten unverändert zu lassen, aber über die Details der neuen Quotenzuweisungen ist noch nichts bekannt. Beide Seiten müssen sich bewegen, soll es nicht zu einem harten Bruch Anfang 2021 kommen. Der wäre auf beiden Seiten des Ärmelkanals ein heftiger Dämpfer für erhoffte neue l Konjunkturdynamik.

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AKTUELL Wohnungspolitik

nsicherheit und Sorge prägen dieser Tage die Zukunft, sind größer denn je. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass viele Menschen hoffnungsvoll auf den Staat blicken. Doch komplexe Problemlagen und nie dagewesene Herausforderungen können nicht durch einen Akteur allein bewältigt werden. Es braucht einen gemeinsamen Kraftakt von Staat, Bürgern und Wirtschaft, um unseren Wohlstand zu erhalten und für kommende Generationen zu bewahren. Viele wichtige Zukunftsthemen wie Klimaschutz, bezahlbares Wohnen sowie Digitalisierung und staatliche Regulierung weisen einen starken Immobilienbezug auf. Grund genug für die Bundesfachkommission Bau, Immobilien, Smart Cities im Wirtschaftsrat das Strategiepaket „Kurswende Immobilien“ zu erarbeiten. Die Kurswende versteht sich als ganzheit-

Foto: Valentin Brandes

Michael Zahn Chief Executive Officer Deutsche Wohnen SE

„Wohneigentum ist auch ein Leistungsversprechen an die junge Generation.“

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liches Programm, um umweltfreundlichen und bezahlbaren Wohnraum für die Zukunft zu sichern.

Kurswende Wohneigentum Mit der Corona-Krise und den damit verbundenen massiven wirtschaftlichen Verwerfungen sowie nationalistischen Entwicklungen in vielen Ländern ist ein „sicherer Hafen“ der nachvollziehbare Wunsch vieler Menschen. Was könnte mehr eine verlässliche Basis für das tägliche Leben sein, als die eigenen vier Wände? Das beste Rezept, um möglichst vielen Menschen zu ermöglichen, Wohneigentum zu schaffen, sind die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft: Eigenverantwortung und die Garantie des Privateigentums. In Zeiten der Rezession gelten daher die Worte von Ludwig Erhard mehr denn je: „Eine starke Triebkraft der wirtschaftlichen Leistung ist das Streben nach Eigentum. Es ist darum ein bedeutsames politisches Ziel, möglichst vielen Menschen die Eigentumsbildung in eigener freier Verfügung zu ermöglichen.“ Möglichst viele Menschen zu Wohneigentümern zu machen, ist darüber hinaus kein reiner Selbstzweck. So stellt das Wohneigentum die nachhaltigste und oftmals auch die renditeträchtigste Säule der privaten Altersvorsorge dar. Wohneigentum stärkt die Eigenverantwortung für die Werthaltigkeit der eigenen Immo­bilie und stabilisiert durch einen längeren Verbleib an einem Wohnort so-

wohl das soziale Umfeld als auch die Identifi­kation mit dem Wohnort. Der Mietwohnungsmarkt wird entlastet und die Wohnungseigentümer entziehen sich der Volatilität eines Mietverhältnisses. Die Eigentumsquote in Deutschland ist seit 1993 von 38 auf 45 Prozent gestiegen. Im internationalen Vergleich hinken wir jedoch weiter stark hinterher und befinden uns europaweit betrachtet gerade einmal auf dem vorletzten Platz – besonders bei jungen Menschen zwischen 24 und 34 Jahren ist die Eigentumsquote in den letzten Jahren sogar auf zwölf Prozent gefallen. So überrascht es nicht, dass das Medianhaushaltsvermögen in Italien mit 240.000 Euro über dreimal höher als mit 70.800 Euro in Deutschland ist. Wohneigentum ist schließlich auch ein Leistungsversprechen an die junge Generation. Um mehr Menschen die Teilhabe am Wohlstand des Landes zu ermöglichen, bedarf es einer Kurswende und einer politischen Strategie zur Förderung der Eigentumsbildung. Es gilt in einem ersten Schritt, die Bildung von Eigenkapital zu erleichtern, sei es durch eigenkapitalähnliche Instrumente oder die Umwandlung von bestehenden Sparinstrumenten. In einem zweiten Schritt sollten die in den letzten Jahren aus dem Ruder gelaufenen Erwerbsnebenkosten gesenkt werden. Die aktuelle Belastung mit Grunderwerbsteuer, Notarkosten und Maklergebühren von bis zu zwölf Prozent des Kaufpreises übersteigt

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Foto: AdobeStock©endstern

Konzepte statt Regulierung U

Deutschland belegt bei der Bildung von Wohn­eigentum in Europa einen der letzten Plätze. Das gilt es zu ändern, wenn Deutschland seinen Wohlstand sichern und auch nachfolgenden Generationen ermöglichen will.


AKTUELL Wohnungspolitik

Wohneigentumsquote in Europa

(Anteile in %)

Norwegen 80 Tschechien 79 Polen 78 Spanien 78 Italien 77 Portugal 72 Belgien 70 Irland 67 Großbritannien 62 Schweden 62 Quelle: Euroconstruct/ifo, 4/2019

Niederlande 60 Finnland 58 Frankreich 58

oftmals das zur Verfügung stehende Eigenkapital und führt entweder zu einer Versagung einer Finanzierung oder wenig attraktiven Zinskonditionen. Es ist zu begrüßen, wenn der seit Jahren diskutierte Freibetrag auf die Grunderwerbsteuer endlich Wirklichkeit würde. Drittens sollte der Staat die Rahmenbedingungen für bezahlbares Wohneigentum schaffen. Dazu sollte eine Baulandoffensive gestartet und die Schaffung von Wohneigentum durch Umwandlung nicht weiter erschwert werden. Kurswende Klimaschutz Klimaschutz ist ein gesamtgesellschaftliches Ziel. Die Dekarbonisierung des Gebäudesektors und die Steigerung der Energieeffizienz sind dabei die größten Herausforderungen. Um bis 2050 einen nahezu klimaneutralen Gebäudebestand zu erreichen, bedarf es neben technologisch fortschrittlichem Neubau auch neuer Impulse für die energetische Sanierung des Gebäudebestands.

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Die Sanierungsquote beläuft sich aktuell auf ein Prozent – zu wenig, um die Klimaziele zu erreichen. Deshalb müssen die Erlöse aus der neu geschaffenen nationalen Kohlendioxid-Bepreisung von Wärme und Verkehr, die in den Energie- und Klimafonds (EKF) eingezahlt werden, in den Gebäudesektor zurückfließen. Dann können dort mehr Investitionen in Klimaschutz und Energiewende ausgelöst werden. Der EKF muss zum zentralen Instrument für die Finanzierung der Gebäudesanierung weiterentwickelt werden, indem Mieter und Selbstnutzer im Sinne der Sozialverträglichkeit bei Sanierungen unterstützt werden. Kurswende Regulierung Während der Erfolg und der Wohlstand Deutschlands in der Vergangenheit auf einem starken, aber schlanken Staat und der Nutzung von marktwirtschaftlichen Prinzipien beruhte, waren die vergangenen Jahre von zunehmender Regulierung und staatlichen

Österreich 54 Dänemark 50 Deutschland 45 Schweiz 39

Eingriffen in das Miet-, Bau- und Vergaberecht geprägt. Die Immobilienwirtschaft muss wieder stärker als Teil der Lösung wahrgenommen werden. Das Mietrecht steht nur am Ende einer langen Verursacherkette und kann nicht die Probleme lösen, vor denen wir heute stehen. Gerade in angespannten Wohnungsmärkten sind Investitionen von privatem Kapital zwingend notwendig, um neuen Wohnraum zu schaffen oder bestehenden Wohnraum zu erhalten und zu modernisieren. Dafür braucht es geordnete Marktbedingungen und einen Abbau von bürokratischen und wirtschaftlichen Hindernissen. So sollten Baugenehmigungsverfahren beschleunigt und steuerliche Anreize für Investoren geschaffen werden. l

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AKTUELL Immobilien

Seit Ende Januar 2020 sind die Mieten in Berlin gedeckelt

(in Euro pro qm)

Mietobergrenzen nach Mietendeckel bei Neubezug* 6,45

1919 bis 1949

6,27

1950 bis 1964

6,08

1965 bis 1972

5,95

1973 bis 1990

6,04

1991 bis 2002 2003 bis 2013

8,13 9,8

*   Werte bei Wohnungen mit Sammelheizung und Bad. Bei Bestandsmieten ist ein Aufschlag von 20 Prozent sowie ein Lagezuschlag möglich.

Quelle: Senat Berlin

Foto: AdobeStock©Rainer Fuhrmann

bis 1918

frontiert. Ein Beispiel: Während die bundesrechtliche Mietpreisbremse Mieterhöhungen bei Neuverträgen von zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete zulässt, verbietet dies der Berliner Mietendeckel. Ein untragbarer Zustand. Hier muss schnellstmöglich wieder Rechtssicherheit geschaffen werden. Dies ist Ziel der abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht. Sie ist ein klares Stoppzeichen der

Mietrecht ist Bundesrecht T

Der Berliner Mietendeckel verhindert den Neubau von mehr und bezahlbaren Wohnungen.

rotz massiver verfassungsrechtlicher Bedenken hat die rot-rot-grüne Koalition in Berlin den Mietendeckel auf den Weg gebracht und Chaos auf dem Wohnungsmarkt verursacht. Was zunächst wie ein einfaches, soziales Rezept klingt, steigende Mieten staatlich zu deckeln oder sogar abzusenken, ist in Wirklichkeit eine populistische Scheinlösung. Klar ist: Durch den Mietendeckel wird keine einzige Wohnung neu gebaut. Im Gegenteil. Investoren ziehen sich aus dem Markt zurück. Auch mit dem sozialen Anstrich des rotrot-grünen Vorzeigeprojektes ist es

Dr. Jan-Marco Luczak Foto: Yves Sucksdorff

Rechts- und Verbraucher­poli­ tischer Sprecher der CDU/CSUBundestagsfraktion sowie Initiator und Koordinator der abstrakten Normenkontrolle gegen den Berliner Mietendeckel vor dem Bundesverfassungsgericht

nicht weit her: Denn vor allem gut situierte Mieter in teuren, sanierten Altbauwohnungen in bester Citylage profitieren. Während sich für sie die Miete oftmals halbiert, gehen Mieter etwa in Marzahn leer aus. Sie zahlen selten mehr als die festgesetzten Obergrenzen. Ungeachtet seiner zweifelhaften wirtschaftlichen und sozialen Effekte krankt der Mietendeckel aber vor allem daran, dass das Land Berlin keine Kompetenz hat, ein solches Gesetz zu erlassen. Das Mietrecht gehört als Teil des bürgerlichen Rechts zur konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes. Dieser hat davon umfassend und abschließend Gebrauch gemacht, was eine Sperrwirkung entfaltet. Das Land Berlin ist daher nicht befugt, eigene oder wie beim Mietendeckel sogar widersprechende Landesgesetze zu erlassen. Berlin hat sich darüber beispiellos hinweg gesetzt. Die Folge: Vermieter und Mieter werden mit sich widersprechenden Normbefehlen kon-

„Vor allem gut situierte Mieter in teuren, sanierten Altbau­ wohnungen in bester Citylage profitieren vom Mietendeckel.“ 38

Bundestagsabgeordneten, den Übergriff des Berliner Senats in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes nicht hinzunehmen. So konnte das für das Verfahren notwendige Quorum von einem Viertel der Bundestagsabgeordneten allein mit Unterschriften der CDU/CSU bereits übertroffen werden. Gemeinsam mit Abgeordneten der FDP stehen 40 Prozent aller Bundestagsabgeordneten hinter der abstrakten Normenkontrolle – das ist ein starkes politisches Signal. Zusätzlicher Rückenwind kam zuletzt aus Bayern. Mitte Juli hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof das bayerische Volksbegehren „#6 Jahre Mietenstopp“ abgelehnt, weil ein Bundesland keine eigenen, den bundesrechtlichen Mietgesetzen widersprechenden Regelungen erlassen darf. Das Mietrecht ist und bleibt Bundesrecht. Der Berliner Senat täte gut daran, nicht das Scheitern des Mietendeckels abzuwarten, sondern das Gesetz bis zur Entscheidung aus Karlsruhe aussetzen, um weiteren Schaden abzuwenden und sich endlich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Mehr und bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. l

TREND 3/4 2020


KLIMA & ENERGIE Interview

sprach exklusiv mit Kadri Simson, EU-Kommissarin für Energie darüber, wie sich die EU-Klimaziele mit dem ­ Ankurbeln der Wirtschaft nach der Pandemie vertragen.

– Ursula von der Leyen nannte den Green Deal „Europas Mann auf dem Mond-Moment“, aber zuletzt ist es sehr ruhig um das Thema geworden. Hat es seinen Schwung verloren? Es ist klar, dass die EU eine starke Antwort auf diese beispiellose COVID-19-Krise brauchte, um sicherzustellen, dass sich Bevölkerung und Wirtschaft so schnell wie möglich erholen. Aber sie hat weder etwas an der Tatsache geändert, dass wir immer noch vor großen klimapolitischen Herausforderungen stehen, noch hat sie die Verpflichtung der EU zur Klimaneutralität bis 2050 beeinträchtigt. Unser Ziel bleibt dasselbe – eine EU, die von sauberer Energie angetrieben wird, den Planeten schont und sich um ihre Bürger kümmert. Es wächst das Verständnis dafür, dass wir die Krise als Chance für den Aufbau einer besseren Zukunft sehen sollten. Im Januar haben wir die Green-Deal-Strategie mit dem Green-Deal-Investitionsplan und dem Just-Transition-Mechanism weiterverfolgt, um die notwendige Finanzierung für einen Übergang zu sauberer Energie sicherzustellen, der fair ist und niemanden zurücklässt. Im März haben wir das Klimagesetz vorgeschlagen, um bis 2050 ein klimaneutrales Europa zu gewährleisten. Im Frühjahr und Sommer haben wir Strategien für Industrie, Landwirtschaft, biologische Vielfalt und Kreislaufwirtschaft vorgelegt – entscheidende Elemente des Green Deal. In meinem Verantwortungsbereich, der Energie, wurden im Juli zwei sehr wichtige Bausteine auf den Weg gebracht: die Strategie zur Integration des Energiesystems und die Wasser-

Foto: European Union, 2020 - Ina Fassbender

Das Interview führte Frederike Holewik.

„Um bis 2050 zur Klimaneutralität zu gelangen, müssen alle ihren Beitrag leisten: die Bürger, die Mitgliedstaaten und der Privatsektor, die KMU, die Industrie.“

„ Es ist wirtschaftlich klug, in grüne Technologien zu investieren“ 3/4 2020 TREND

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KLIMA & ENERGIE Interview

stoffstrategie. Und natürlich sollten wir bedenken, dass der grüne Übergang eine Investitionschance zur wirtschaftlichen Erholung ist. Er ist mit der Digitalisierung eine der beiden Hauptprioritäten des Wiederherstellungsinstruments Next Generation EU. Der Green Deal ist unsere ökologische als auch wirtschaftliche Strategie – er wird uns in den nächsten Jahren leiten.

mit öffentlichen Geldern unterstützen, scheinen wir einen Schritt vorwärts, langfristig aber zwei Schritte zurückzugehen. Ich bin sicher, dass es jetzt an der Zeit ist, mutige, zukunftsorientierte Investitionen zu tätigen. Ich bin überzeugt, dass Europa eine starke industrielle Basis braucht, und die Pandemie hat die Notwendigkeit der Sicherung strategischer Lieferketten innerhalb Europas und seiner Nachbarschaft nur noch verstärkt. Dies bedeutet eine erneute Konzentration auf Investitionen in die Umgestaltung unserer Industrie, um Europa nachhaltig und wettbewerbsfähig zu halten. Dass eine neue Industriestrategie eines der ersten Dokumente war, das die Kommission verabschiedet hat, unterstreicht, dass dies für uns eine Schlüsselpriorität ist.

– Die Pandemie stellt viele Unternehmen in Europa vor Probleme. Aber schon vorher litten viele EU-Länder unter Deindustrialisierung. Kann der Green Deal jetzt umgesetzt werden ohne die Wirtschaft weiter zu schädigen? Einerseits müssen wir zur Bewältigung der Krise Gelder dort einsetzen, wo sie eine unmittelbare Wirkung auf die Wirtschaft haben und die am stärksten betroffenen Sektoren unterstützen. Auf der anderen Seite müssen wir den langfristigen Nutzen im Auge behalten und unsere Wirtschaft für die Zukunft widerstandsfähiger machen. Indem wir die Prioritäten und Technologien von gestern

Foto: European Union, 2020 - Aurore Martignoni

– Sie haben mehrfach betont, dass der Green Deal selbst die Wirtschaft ankurbeln wird. Welche konkreten Maßnahmen sind dafür geplant? Die Kommission hat ein historisches Konjunkturinstrument in Höhe von 750 Milliarden vorgeschlagen, das inzwischen auch vom Europäischen Rat gebilligt worden ist. 30 Prozent dieser Ausgaben sollten klimabezogen sein, das gesamte Paket muss dem Grundsatz „keinen Schaden ­anrichten“ folgen. Dies wird Europas Wirtschaft massiv Aufschwung geben, und wir wissen aus der letzten Krise, dass grüne Konjunkturmaßnahmen mehr Wachstum und Arbeitsplätze schaffen als traditionelle, weniger nachhaltige. Während die meisten Entscheidungen darüber, wie dieses Geld investiert wird, in den Händen der Mitgliedstaaten liegen werden, ist die geplante Initiative „Renovierungswelle“ ein gutes Beispiel für eine konkrete Maßnahme. Nahezu 40 Prozent des gesamten europäischen Energieverbrauchs entfallen auf das Heizen und Kühlen von Gebäuden. Dies macht Renovierungen zu einer der besten Möglichkeiten, Energie einzusparen und Treibhausgase zu reduzieren. Gleichzeitig sind Renovierungen eine arbeitsintensive Tätigkeit, die neue Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft ankurbeln.

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– Welche Rolle spielen Investitionen aus dem privaten Sektor? Eine entscheidende Rolle. Die Kommission kann Vorreiter sein, aber unser Investitionsbedarf kann nicht allein durch die EU und öffentliche Mittel gedeckt werden. Um bis 2050 zu Klimaneutralität zu gelangen, müssen alle ihren Beitrag leisten: Bürger, Mitgliedstaaten und Privat­ sektor, die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die Industrie. Ich glaube, dass es wirtschaftlich klug ist, in grüne Technologien und Infrastruktur zu investieren. Das ist das Signal, das wir mit der EU-Politik deutlich aussenden. Wir bieten technische und finanzielle Unterstützung, um diese Investitionen zu erleichtern, etwa durch das ­InvestEU-Programm. – Der Green Deal verbindet Handlungsfelder, darunter etwa Energie und Mobilität. Die Mitgliedsstaaten haben

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unterschiedliche Ansätze, um den Anteil Erneuerbarer in ihrem Energiemix zu erhöhen. Zielt der Green Deal auf eine Harmonisierung ab? Der Energiemix liegt in der freien Entscheidung der Mitgliedsstaaten und das soll auch so bleiben. Die Ausgangspunkte der EU-Länder sind sehr unterschiedlich, ebenso wie ihre natürlichen Ressourcen und Bedingungen. Wenn man bedenkt, dass unser Energiesystem bis 2050 weitgehend auf Erneuerbaren basieren muss, gilt es alle uns zur Verfügung stehenden erneuerbaren Ressourcen zu nutzen. In der Kommission besteht unsere Aufgabe ­darin, alle Hindernisse auf EU-Ebene für diesen Prozess zu beseitigen und ein unterstützendes Umfeld zu schaffen, damit so schnell wie möglich so viel erneuerbare Energie wie möglich eingesetzt werden kann. Ein Beispiel dafür ist die Offshore-Energiestrategie, bei der wir Hinweise geben werden, wie die Regeln in der Praxis anzuwenden sind, um Investitionen in Offshore-Windparks und -netze zu beschleunigen. – Die Mobilitätsemissionen sollen bis 2050 um 90 Prozent gesenkt werden. Welche Rolle spielt Wasserstoff, um dieses Ziel zu erreichen im Vergleich zur E-Mobilität? Im Energiesystem der Zukunft könnte Wasserstoff zu ­einem wichtigen Protagonisten werden, insbesondere bei der Dekarbonisierung von Industrie und Verkehr in ganz Europa. Wir haben unsere Pläne zur Erreichung dieses Ziels in den EU-Strategien zur Integration von Wasserstoff- und Energiesystemen dargelegt. Wir setzen darauf, dass die E-Mobilität eine zentrale Rolle für einen sauberen Straßenverkehr in der EU spielen wird, aber nicht alle ­Verkehrsbereiche eignen sich gleichermaßen gut für die Elektrifizierung. Für schwere Nutzfahrzeuge wird neben elek­ trischen Batterien wahrscheinlich Wasserstoff eine weitere realistische Lösung sein. Darüber hinaus hat ­Wasserstoff das Potential, die Schifffahrt und vielleicht mit der Zeit auch den Luftverkehr zu dekarbonisieren. – Wie stellen Sie sich einen europäischen Binnenmarkt für Wasserstoff vor? Ich gehe davon aus, dass es ein schrittweiser Ansatz sein wird. Wir sehen bereits heute Wasserstoff-Cluster, die aus der lokalen Produktion und Nutzung von regenerativem Wasserstoff entstehen. Mit der Zeit dürfte sich die industrielle Nutzung von Wasserstofftechnologien beschleunigen und damit die gesicherte Nachfrage schaffen. Das fängt beim kohlenstoffarmen Wasserstoffprodukt, der Vergrößerung des Umfangs sowie der Einführung von Elektrolyseuren zur Erzeugung von erneuerbarem Wasserstoff an. Bis dahin müssen wir über weitreichende Wasserstoff-Transportpipelines und geeignete Regeln für die Zertifizierung und den grenzüberschreitenden Handel verfügen, um einen EU-Wasserstoffmarkt auf­ zubauen. Dies wird der EU die Gelegenheit geben, einen zuver­lässigen, Euro-basierten Maßstab zu entwickeln, der auch für die Importe verwendet werden kann. Diese s­ ollen

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Foto: Fotolia.com ©electriceye

KLIMA & ENERGIE Interview

sich ebenfalls schrittweise entwickeln, angefangen bei ­u­­nmittelbaren Nachbarn, wie Marokko und der Ukraine, später dann auch ausgeweitet werden auf internationale Partner. – Große Konzerne sind eher in der Lage neue Regeln umzusetzen. Wie kann die EU sicherstellen, dass sie nicht kleinen und mittelständischen Unternehmen schaden? Kleine und mittlere Unternehmen sind das Rückgrat der europäischen Wirtschaft, und wir behalten ihre Interessen und Bedürfnisse immer im Auge, wenn wir unsere Klima- und Energiepolitik gestalten. Es gibt viele verschiedene EU-Fonds und andere Instrumente, die KMU beim grünen Übergang helfen können. Aber ich glaube in der Tat, dass kleinere Unternehmen oft zukunftsorientierter und flexibler sind als große Konzerne. Es gibt viele ausgezeichnete Beispiele dafür, wie KMU Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt ihres Geschäfts stellen und dabei Verbraucher und Kunden gewinnen. – Sind mehr Regulierungen der richtige Weg, um Europa auf eine grünere Zukunft vorzubereiten? Regulierungen sind nie Selbstzweck, sondern zielen darauf ab, einen verlässlichen und stabilen Rahmen zu schaffen, damit Unternehmen handeln und Investoren ihr Geld in den Dienst übergeordneter strategischer Ziele stellen können. In einer Situation, in der wir unsere Wirtschaft in drei Jahrzehnten vollständig umgestalten müssen, müssen wir ein politisches Umfeld schaffen, das diese Ambition unterstützt und Investitionen lenkt. Ich erwarte nicht, dass es „mehr“ Regeln gibt, aber sie müssen den Anforderungen der Zukunft besser gerecht werden. Ohne ein klares Engagement, verbindliche Ziele und konkrete Maßnahmen wäre es unmöglich, den Wandel so schnell und in diesem l Umfang zu erreichen.

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KLIMA & ENERGIE Industriestandort

Die EU hat bis 2050 Klimaneutralität beschlossen. Die Bundesregierung ist mit Klimazielen bisher am unteren Rand geblieben, um der Wirtschaft Belastungen zu ersparen. Jetzt muss sich Deutschland jedoch darüber klar werden, wie es das Ziel bis 2050 erreichen kann ohne seine industrielle Basis zu schwächen.

Gemeinsam zur ­Klimaneutralität 2050

T

rotz aller Unzufriedenheit, die es mit Politik immer geben muss, sind wir in Deutschland in den letzten Jahren doch einigermaßen durch den Winter gekommen. Wir haben unsere industrielle Basis bewahrt, wir haben unseren Mittelstand bewahrt, wir haben Wachstum oberhalb des Potenzialwachstums gehabt, und wir haben eine Rekordzahl an Beschäftigung gesehen. Das war die Situation vor Corona. Aber auch schon damals hatten wir bereits strukturelle Probleme. Bei-

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spielsweise die internationalen Veränderungen im Hinblick auf die Digitalisierung. Auch unsere Diskussionen im Hinblick auf den Klimaschutz sind ja keine neuen Diskussionen. Sie begleiten mich, seit ich Umweltminister bin, und das ist immerhin rund acht Jahre her. Seither hat sich manches geändert, wo ich mich frage, ob wir die Leute nicht manchmal zur Verzweiflung treiben. Meine Vorgänger hatten noch erklärt, die EEG-Umlage werde nicht über 3,5 Cent steigen, mittlerweile liegt sie deutlich höher.

Und da fragen sich viele natürlich, wie weit sie noch steigen soll. Mit einer Strompreisbremse sind wir gescheitert. Aber wir haben es immerhin geschafft, durch marktwirtschaftliche Instrumente den Ausbau der erneuerbaren Energien günstiger zu machen. Deshalb ist die EEG-Umlage eben nicht auf zwölf Cent, sondern nur auf gut sechs Cent gestiegen. Das ist schon eine Leistung, weil sich der erneuerbare Strom im Netz in dieser Zeit verdoppelt hat. Und: Wir können heute froh sein, dass wir – entgegen

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KLIMA & ENERGIE Industriestandort

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hausgasneutralität bis 2050 erreichen wollen. Ich bin der Präsidentin des Wirtschaftsrates, Astrid Hamker, sehr dankbar dafür, dass sie gesagt hat, wir müssen den Emissionshandel zum Dreh- und Angelpunkt machen. Ja! Da rennt sie bei mir offene Türen ein. Aber die Frage ist dann eben auch: Haben wir den Mut, den Emissionshandel dann marktwirtschaftlich frei laufen zu lassen? Denn es bedeutet ja, dass die verfügbare Menge von CO2 in Richtung 2050 immer weiter sinkt; irgendwann werden es homöopathische Dosen sein, und dann ist ganz Schluss. Und das bedeutet, dass die Preise pro Zertifikat in den nächsten Jahrzehnten in enorme Höhen schnellen werden, was zu einer kompletten Transformation der Wirtschaft führen wird. Darüber müssen wir reden. Mein Ziel ist es, die Wirtschaft zu unterstützen. Ich bin nicht derjenige, der kleinteilig regulieren will. Aber ich möchte derjenige sein, der hilft, dass der Industriestandort Europa auch in Zukunft erhalten bleibt. Und das ist nicht immer einfach. Wenn ich in die Wirtschaft hineinhöre, bekomme ich leider sechs oder sieben verschiedene Positionen angeboten, jeweils aus Sicht der Betroffenen gut begründet und belegt; aber wenn die Wirtschaft will, dass die Politik mit der Wirtschaft gemeinsam etwas verändert, dann müssen wir zusammen ein kohärentes Leitbild entwickeln. Und ich bin bereit, dabei auch in weitem Maße auf die Wirtschaft zu hören. Wir müssen die Frage beantworten, wie wir gemeinsam das Ziel der Klimaneutralität 2050 erreichen. Das gilt für die Automobilindustrie, für die chemische Industrie, für Kupfer und Aluminium, letztlich für alle Bereiche, in denen CO2 emittiert wird. Beispiel Stahlindustrie: Hier bin ich sehr beeindruckt, wie proaktiv die Branche das Thema aufgegriffen hat. Heute wird Stahl durch den Einsatz von Kokskohle produziert. Das kann man weiter optimieren, noch eine ganze Reihe von Jahren lang. Aber solange man Kokskohle verwendet, wird man niemals klimaneutral Stahl produzieren. Die Stahlindustrie hat sich deshalb überlegt, Koks langfristig

zunächst durch blauen, dann durch grünen Wasserstoff zu ersetzen. Sie plant also künftig mit einer komplett klimaneutralen Erzeugung. Das hat mich dazu gebracht, auf Technologieneutralität zu setzen. Dann muss die Industrie aber auch sagen, welche Technologien sie braucht – damit wir als Politik zum Beispiel wissen, welche Ladeinfrastruktur für Autos und LKW wir unterstützen müssen. Ich bin nicht derjenige, der der Wirtschaft Vorgaben macht. Ich stehe als Gesprächspartner bereit. Wir haben ungefähr zehn verschiedene Wege, die wir gemeinsam gehen können, es ist aber klar, dass alle diese Wege auf die Klimaneutralität 2050 hinauslaufen. Damit sind enorme GePeter Altmaier MdB

Foto: BPA Steffen Kugler

vielfach anders lautender Ratschläge – auch an der Photovoltaik festgehalten haben. Photovoltaikanlagen werden heute außerhalb des EEG gebaut, ohne Zulagen. Alle unsere Klimapläne beruhen auf der Annahme, dass wir bis 2050 eine Reduzierung des fossilen CO2-Ausstoßes um 80 Prozent erreichen werden. Wir sind am unteren Rand geblieben, auch um der Wirtschaft Belastungen zu ersparen. Vor zwei Jahren hat Präsident Macron jedoch den Vorschlag gemacht, das Ziel zu verändern, hin zu Klimaneutralität 2050. Das hat der Europäische Rat im letzten Jahr quasi einstimmig – ohne Polen – beschlossen. Das ist keine rein quantitative Veränderung, das ist eine qualitative Veränderung. Weil es bedeutet, dass es dann quasi keine fossilen Emissionen mehr geben wird. Natürlich kann man über die Verfahren Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid (CCS) oder Abscheidung und Verwendung von Kohlendioxid (CCU) reden. In Deutschland war es nur bislang nicht einmal möglich, hierzu ein einziges Demonstrationsprojekt zu errichten. Ob es uns je gelingen wird, wird sich zeigen. Aber wir müssen natürlich darüber reden, wie wir die Klimaneutralität bis 2050 realisieren wollen. Das EU-Parlament hat kürzlich ein Zwischenziel vorgelegt, wonach der Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 um 60 Prozent gegenüber 1990 sinken soll. Das heißt: Wir erleben im Moment einen Wettlauf der Ziele. Zum Beispiel bei den CO2-Emissionen im Automobilsektor. Das liegt auch daran, dass Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland hier nicht mehr die gleichen Ziele verfolgen und sich nicht mehr so einig sind, wie das einmal war. Deshalb müssen wir den Herausforderungen ins Gesicht blicken, ich kann Ihnen nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Was ich aber weiß ist: Egal ob der nächste Sommer ein verregneter wird, egal, wie die Corona-Infektionszahlen sich entwickeln – das Klimathema wird solange nicht von der Agenda verschwinden, bis wir nicht geklärt haben, wie wir das Ziel der Treib-

Bundesminister für Wirtschaft und Energie

„Ich komme immer gerne zum Wirtschaftsrat, weil hier Fachleute anwesend sind, die sich nicht nur theoretisch mit den Themen ­befassen, sondern sie ganz konkret in ihre Geschäftsmodelle übersetzen müssen und wissen, wie die Dinge in der Praxis aussehen.“ schäftschancen und große Chancen auf neue Wertschöpfung verbunden. Genauso klar ist aber auch, dass bis heute funktionierende Geschäftsmodelle bedroht sind. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir unseren Wohlstand erhalten. Das ist genau der Punkt, auf den ich meinen Amtseid geschworen habe. Und das können wir nur mit einer gut funktionierenden, optimistischen Wirtschaft. Ich bin überzeugt, dass wir die Herausforderungen gemeinsam bewältigen können. (Quelle: Auszüge Rede Energieklausur des Wirtschaftsrates 2020)

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KLIMA & ENERGIE Interview

sprach mit Dr. Stefan Kaufmann, Innovationsbeauftragter Grüner Wasserstoff der Bundesregierung, über die Potenziale von Wasserstoff für den Klimaschutz und die Notwendigkeit seines neuen Amtes.

– Herr Dr. Kaufmann, Sie sind der Innovationsbeauftragte für grünen Wasserstoff der Bundesregierung. Weshalb brauchen wir ein gesondertes Amt für einen nachhaltigen Rohstoff? Um unsere Klimaschutzziele zu erreichen, müssen wir insbesondere die industriellen Kernbranchen wie Stahl- und Chemieindustrie sowie den Verkehrssektor dekarbonisieren. Dafür brauchen wir Grünen Wasserstoff. Er ist ein Schlüsselfaktor für die Zukunft des Industriestandortes Deutschland. Daher hat die Bundesregierung die Nationale Wasserstoffstrategie beschlossen und in diesem Zusammenhang mein Amt geschaffen.

Foto: BMBF

Das Interview führte Frederike Holewik.

„ Grüner Wasserstoff ist ein Schlüsselfaktor“ – Welche Bedarfe sehen Sie für Wasserstoff in Deutschland? Die Nationale Wasserstoffstrategie geht davon aus, dass sich der Wasserstoffbedarf bis 2030 auf bis zu 110 Terawattstunden verdoppeln wird. Annahmen bis 2050 ­reichen weit darüber hinaus. So wird allein für eine klima­ freundliche Stahlproduktion im Jahr 2050 ein Jahresbedarf an Grünem Wasserstoff von 80 Terawattstunden geschätzt – das sind 2,4 Millionen Tonnen Wasserstoff. – Wo sollen diese Mengen an Wasserstoff denn h­ erkommen? Dr. Kaufmann: Ein Ziel der Wasserstoffstrategie ist es, bis 2030 fünf Gigawatt an Elektrolyseleistung in Deutschland aufzubauen. Das reicht für etwa 14 Terawattstunden Wasserstoff im Jahr – also rund einem Achtel des angenommenen Bedarfs. Das zeigt: Deutschland wird voraussichtlich auch in Zukunft einen Großteil seines Energie­ bedarfs importieren müssen. Daher arbeiten wir bereits mit Hochdruck an stabilen Lieferpartnerschaften für Grünen Wasserstoff. Regionen mit viel Wind und Sonne sind hier prädestiniert – etwa in Afrika oder Australien. Das Interesse, Wasserstoff nach Deutschland zu exportieren, ist groß. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass das auch mit Anlagen ‚made in Germany‘ geschieht. Der potentielle Exportmarkt ist riesig: Branchenschätzungen gehen daher von bis zu 500.000 neuen Arbeitsplätzen aus.

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– Welche Ziele haben Sie für den Ausbau der Wasserstofftechnologie definiert? Wir wollen Leitmarkt und Leitanbieter für Wasserstoff­ technologien werden. Forschung und Innovation entlang der gesamten Wasserstoffwertschöpfungskette – ­Erzeugung, Transport und Nutzung – spielen dafür eine Schlüsselrolle. Es geht etwa um den Sprung in industrielle Größenordnungen, den Aufbau einer Serienfertigung aber auch potentieller Gamechanger wie die OffshoreWasserstoff­erzeugung auf See. Klar ist: Der Wettbewerb ist hart – andere Industrienationen haben die Chancen längst erkannt. – An welchen Punkten hakt es noch? Dr. Kaufmann: Beim Thema Import brauchen wir einen Testlauf im großen Stil. So brauchen wir auch ein einheitliches, globales Zertifizierungssystem, um Grünen Wasserstoff zu einem weltweiten Handelsgut zu machen. Auf der Prioritätenliste steht daher ein innovations- und investitionsoffenes Ordnungsrecht ganz oben. Wir müssen jetzt schnell den Rahmen für eine nachhaltige und wettbewerbsfähige, zukunftsweisende Wasserstoffwirtschaft schaffen – national, europäisch und global. Das wäre ein wichtiges Signal für die Industrie, mit Investitionen voranl zugehen.

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KLIMA & ENERGIE Klimschutz

Die Industrie hat ihre ­Treibhausgase bereits sehr erfolgreich gesenkt.

D

er Vorschlag der EU-Kommission vom Gipfel Mitte Oktober liest sich ambitioniert: Bis 2030 sollen die EU-Treibhausgasemissionen um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 sinken. Bisher galt als Ziel für 2030 minus 40 Prozent. Im Dezember sollen sich alle Mitgliedsstaaten zum neuen drastisch verschärften Klimaziel bekennen. Zu Recht fragen sich viele: geht das? Und geht es, ohne dass wir unsere Wettbewerbsfähigkeit und damit Arbeitsplätze in Deutschland aufs Spiel setzen? Viele Unternehmen haben vor langer Zeit damit begonnen, sich mit dem Kampf gegen den Klimawandel auseinanderzusetzen. Aus unternehmensstrategischen Erwägungen heraus, nicht aufgrund politischer Vorgaben. LANXESS etwa hat seine Emissionen seit seiner Gründung im Jahr 2004 bis 2019 mehr als halbiert – von 6,5 auf 3,1 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die gesamte deutsche Chemische Industrie: Während ihre Produktion seit 1990 um 69 Prozent stieg, ging ihr

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Energieverbrauch um 14 Prozent, ihre Treibhausgas-Emissionen sogar um 48 Prozent zurück. Zu wachsen und gleichzeitig Emissionen zu senken – die Chemische Industrie hat gezeigt, dass das möglich ist. Schon heute gilt, dass Chemieprodukte „made in Europe“ ökologisch günstiger und mit weniger Klimabelastung hergestellt werden als die aus vielen anderen Regionen der Welt! Und wir gehen weiter mit viel Ehrgeiz voran: Im November 2019 hat sich LANXESS als eines der ersten großen Chemieunternehmen weltweit das Ziel gesetzt, bis 2040 klimaneutral zu werden. Ein Ziel, deutlich ambitionierter als das neue verschärfte Klimaziel der EU. Bis 2025 wollen wir unsere CO2-Emissionen um 800.000 Tonnen senken, bis 2030 um weitere 800.000 Tonnen. Damit hätten wir unseren Ausstoß an Treibhausgasen im Vergleich zu 2004 um 75 Prozent reduziert. Bis 2040 soll der Wert dann auf unter 300.000 Tonnen sinken, die wir in einem letzten Schritt mit Kompensationsmaßnahmen abbauen wollen. All dies ist in einem Industrieunternehmen nicht trivial. Wir müssen dazu viele unserer Produktionsverfahren neu denken und überarbeiten. Dahinter stehen immer aufwändige Ingenieurleistungen und hohe Investitionen. Wir sind dazu bereit, weil wir – wie die Unternehmen der deutschen

chemischen Industrie insgesamt – Verantwortung übernehmen. Doch unser guter Wille und Ehrgeiz allein werden nicht reichen. Wir brauchen die Unterstützung der Politik. Unterstützung ist etwas anderes als ständig neue Vorgaben auszurufen. Wenn die Politik ambitionierte Ziele beschließt und dann noch verschärft, steht sie auch in der Verantwortung, ihre Erreichbarkeit durch entsprechende Rahmenbedingungen zu ermöglichen. Dazu gehören vor

Dr. Hubert Fink Mitglied des Vorstandes LANXESS AG

Foto: LANXESS AG

Foto: LANXESS AG

Ambitionierte Ziele auch politisch flankieren

„Klimaneutralität in einem Industrieunternehmen zu erreichen, ist nicht trivial.“ allem erneuerbare Energien zu wettbewerbsfähigen Preisen und einfache, schnelle Genehmigungsverfahren für neue, emissionsmindernde Anlagen. Auf diesen und anderen Feldern muss die Politik jetzt schnell handeln, sonst schwächt sie die Industrie – und damit ihren stärksten Verbündeten im l Kampf gegen den Klimawandel.

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KLIMA & ENERGIE TREND-Grafik

Teurer Strom Text und Grafiken: F rederike Holewik, Katja Sandscheper

Nur in Italien und Zypern ist der Strom in Europa teurer als in Deutschland. Und nur Dänemark belegt Strom mit 67,8 Prozent mit noch höheren staatlichen Abgaben als Deutschland mit 53,6 Prozent. Andere Länder wie das Vereinigte Königreich machen vor, dass eine Energiewende marktwirtschaftlich kostengünstig zu erreichen ist. Daran sollte sich Deutschland ein Beispiel nehmen. Gerade in Zeiten, in denen die Wirtschaft mit den Folgen der Corona-Pandemie kämpft, bedarf es Erleichterungen für Unternehmen, damit sie zurück auf den Wachstumspfad finden.

Entwicklung der Zahlungen nach dem EEG

(in Millionen Euro) 26.033

+7%

26.250 Solare Strahlungsenergie

25.706

-1%

24.248 24.346

+13% +0%

Windenergie auf See

5,4

Windenergie an Land Geothermie

22.500

Biomasse

Millionen

21.394

+9%

Deponie-, Klär- und Grubengas Wasserkraft

Arbeitsplätze in der Wasserstoff-Industrie bis 2050 in Europa

19.641 19.118

+14%

Hoffnungsträger Wasserstoff: Zentrales Element der Energiewende

+3%

18.750

(Prognose) 16.764

+27%

800

15.000 13.182

+22%

Milliarden Euro Jahresumsatz bis 2050 in Europa

10.780

11.250

+20%

(Prognose)

9.017

+14% 7.879

+ 36% 7.500

100

5.809

Quelle: Bundesnetzagentur

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Fördermittel jährlich für Reallabore der Energiewende bis 2022 0

2006 2007 2008 2009 2010

2011

2012 2013

2014

2015

2016

2017

2018

TREND 3/4 2020

Quelle: BMWI

Millionen Euro

3.750


KLIMA & ENERGIE TREND-Grafik

So hoch sind die Strompreise ausgewählter Staaten in Europa

(Preis in Cent/kWh)

Stromkosten pro Land für private Haushalte inklusive Steuern und Abgaben und Geschäftskunden Privatkunden Geschäftskunden

Preis in 10 Jahren

⬈ 27% 29,84 67,8 ⬈ 10% 7,07 24,03 21,4 ⬈ 30% 11,48 23,01 39,5 ⬈ 20% 16,61 21,22 19,2 ⬈ 46% 15,17 20,34 39,2 ⬈   5% 10,76 20,25 25,3 ⬈ 13% 9,41 17,65 35,4 ⬈ 31% 10,24 17,48 18,2 ⬈ 13% 7,68 13,43 22,1 ⬊ -3%

Dänemark Spanien Italien Großbritannien Österreich Niederlande Frankreich Tschechien Polen

53,6

Quelle: Eurostat 2020

30,88

15,57

10,03

0

5

10

Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoenergieverbrauch

15

20

(in Prozent)

25

Anteil erneuerbarer Energien am Energieverbrauch nach Sektoren 50,0

18,0

30

(in Prozent)

Werte für 2019 sind vorläufige Werte

37,5 13,5 25,0 9,0 12,5

4,5

2005

2010

2015

2020

0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

Quelle: Umweltbundesamt auf Basis AGEE-Stat · Stand 02/2020

Deutschland

Anteil am Bruttostromverbrauch Anteil am Endenergieverbrauch von Wärme und Kälte Anteil am Endenergieverbrauch Verkehr

So hoch ist die Stromsteuer Regelsteuersatz

20,50 F 3/4 2020 TREND

(in Euro / Megawattstunde)

Strom für Fahrbetrieb

11,42 F

Strom für Wasserfahrzeuge

0,50 F

Quelle: Zoll

Quelle: Umweltbundesamt auf Basis AGEE-Stat · Stand 02/2020

Steuern und Abgaben

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Kritische Rohstoffe bevorraten

Foto: AdobeStock©Dietlinde DuPlessis

KLIMA & ENERGIE Rohstoffpolitik

Die Corona-Krise hat Deutschlands Abhängigkeit von Rohstoffmärkten klar gezeigt. Hier ist die Politik gefragt.

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urch die zunehmende politische Einflussnahme auf die Rohstoffversorgung wird ein fairer Wettbewerb untergraben. Viele Staaten verhängen Exportzölle, erlassen Ausfuhrrestriktionen oder greifen durch Subventionen in die Rohstoffmärkte ein. So sind viele kritische Markt- und Angebotskonzentrationen entstanden. Um der verarbeitenden Industrie in Deutschland Zugänge zu Rohstoffen zu sichern, ist deshalb die Politik gefragt. Sie sollte einen marktwirtschaftlichen Rahmen setzen, der Unternehmen zur Lagerhaltung motiviert. Rohstoffreserven können kurzfristige Lieferengpässe überbrücken. Die Wirtschaft besitzt die nötige Expertise sowie Lagerkapazitäten. Keinesfalls darf der Staatshaushalt dadurch belastet werden. Deutschland hat bereits strategische Reserven wie die Lebensmittel- oder Erdölvorräte, die der Staat verwaltet. Diese Vorbilder eignen sich kaum für sich ständig verändernde Rohstoffbedarfe der deutschen Industrie. Die Unternehmen wissen, welche Rohstoffe sie benötigen und sollten deshalb selbst eine strategische Reserve vorhalten. Die Vorräte zögen jedoch eine deutlich höhere Kapital­ bindung und einen größeren Finanzierungsbedarf nach sich. Wichtig wäre, die steuerlichen Vorschriften für die Wirtschaft bei der Vorratsbewertung zu verbessern, um Anreize für eine Bevorratung mit wichtigen Rohstoffen zu geben. Der Rohstoffvorrat würde ohne Änderung des Handels- oder Steuerrechts zum Aufbau von Umlaufvermögen führen. Hier könnte steuerbilanziell eine Roh-

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stoffbevorratungsrücklage eingeführt werden, die sich nach den Anschaffungskosten der Rohstoffe bemisst und zu einem sofortigen Betriebsausgabenabzug berechtigt. Der Gesetzgeber muss darauf achten, dass die Nutzung der Rücklage zielgerichtet erfolgt. Dies kann etwa durch eine Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats erreicht werden, die festgelegt, für welche Rohstoffe die Rücklage zulässig ist. Rohstoffimporte für eine Bevorratung unterliegen den regulären zoll- und umsatzsteuerrechtlichen Vorschriften. Folge: Sie werden dreifach mit Abgaben belegt. Zoll, gegebenenfalls Einfuhrumsatzsteuer und Umsatzsteuer. Diese Abgabenlast muss für die bevorratenden Unternehmen angemessen geregelt und möglichst auf die Entnahme aus der Reserve beschränkt werden. Eine weitere Möglichkeit ist das Treuhandmodell. Treuhänder, also der physische Verwalter der Vorräte, wäre das bevorratende Unternehmen. Treugeber wäre die öffentliche Hand, etwa das Bundeswirtschaftsministerium. Ein Treuhandverhältnis ist ein übliches Mittel, wenn der Treugeber die wirtschaftliche Verwaltung von Vermögensgegenständen nicht gewährleisten will. Der Treuhänder kann die Kosten für Anschaffung und Lagerung vom Treugeber zurückbekommen. Für das Unternehmen entstehen so keine Belastungen, aber es bereichert sich auch nicht. Die treuhänderisch verwalteten Rohstoffe gehen nicht in die Unternehmensbilanz ein. Zugleich sind die Risiken für Steuerzahler minimiert und die öffentliche Hand behält l die Kontrolle über die Rohstoffvorräte.

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KLIMA & ENERGIE Rohstoffpolitik

sprach exklusiv mit Volker Backs, Vorsitzender Bundesarbeitsgruppe Rohstoffpolitik im Wirtschaftsrat, über das Konzept des Gremiums zur Lagerhaltung kritischer Rohstoffe. – Herr Backs, mit Corona ist die Wirtschaft eingebrochen. Der Industrie werden wichtige Rohstoffe wie etwa Aluminium derzeit nicht abgenommen, die aber trotzdem produziert werden müssen … Das ist tatsächlich eine große Herausforderung. Die ­Herstellung etwa von Primär-Aluminium ist ein kontinuierlicher Prozess. Die Öfen laufen 365 Tage und 24 Stunden durch. Sie können die Produktion nicht v­ o­rübergehend drosseln oder einstellen. Dies würde massive Kosten verursachen. In einem solchen Fall droht die Stilllegung eines Standorts und der Verlust vieler Arbeitsplätze. Bedingt durch den massiven Wirtschaftseinbruch und ­ einer geringeren Abnahme ist dies eine reale Gefahr für die Aluminiumproduktion in Deutschland. Die Finanz­ krise hat es gezeigt: Seinerzeit hat Europa ein Drittel seiner ­ Aluminiumproduktion verloren, weil die Anlagen ­still­gelegt ­wurden.

Foto: Hydro

– Aber nach der Finanzkrise ging es doch mit der Wirtschaft wieder aufwärts. Woher kommt heute das Aluminium? Vor allem aus China, womit wir beim nächsten Problem wären. Aluminiumhütten in Europa sind extrem effizient. Bei in der EU produziertem Primäraluminium haben wir Treibhaus-Emission von nur rund sieben Tonnen pro

„ Die Stilllegung droht“ Tonne Aluminium. Der globale Durchschnitt beträgt aber 18 Tonnen. Jedes Mal, wenn wir Produktionskapazitäten an das Ausland verlieren, ist dies also auch ein Rückschlag im Kampf gegen den Klimawandel. – Was schlagen Sie vor, um diese Probleme zu lösen? Die Frage ist, welche Möglichkeiten sich bieten, die Produktion von Primärmetall trotz Nachfrageeinbruch ­ nicht zu drosseln. Wir müssen einen Weg finden, die derzeit anfallenden Überschussmengen entweder in Form von ­Commodity-Produkten oder kundengerechten Standardqualitäten als Reservekontingente für die Weiterverarbeitung in Deutschland oder zum Aufbau einer strategischen Rohstoffreserve aus lokaler Produktion für Aluminium zu nutzen. So könnten wir auch die sehr hohe Abhängigkeit von China etwas korrigieren.

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– Generell sehen wir bei Rohstoffen eine sehr hohe Abhängigkeit von China. Das hat sich in der CoronaKrise auch als wenig vorteilhaft herausgestellt. Genau deshalb haben wir in der Bundesarbeitsgruppe Rohstoffpolitik des Wirtschaftsrates den ersten Schritt hin zu mehr Lagerhaltung getan und ein Konzept ent­wickelt, das es Unternehmen erleichtern soll, benötigte kritische Rohstoffe selbst zu lagern. Dies könnte Erfolg haben, wenn es entsprechend steuerlich berücksichtigt würde. Auch konnten wir bei der Erarbeitung der Rohstoff­ strategie der Bundesregierung verankern, dass ein Gutachten in Auftrag gegeben wird, wie wir auch in Deutschland unsere R ­ ­ohstoffversorgung stärker strategisch sichern. China verfolgt bereits ein staatliches Kaufprogramm für Schlüsselrohstoffe. Deutschland darf hier keinesfalls ins l ­Hintertreffen geraten.

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AKTUELL Digitalisierung

Frankreich, Großbritannien und Deutschland müssen enger zusammenarbeiten und gemeinsam Strategien ­entwickeln, die mit der NATO kompatibel sind. Dazu gehört auch eine Cyber-Abwehr.

D

ie digitale Technologie ist zu einem eigenen Konfronta­ tionsfeld geworden“, sagte der französische Präsident Emmanuel Macron in einer Rede vor der Französischen Militärakademie. Europa brauche die Fähigkeit, seine „digitalen Infrastrukturen selbst zu kontrollieren“. Die Forderung ist eindeutig: Europa benötigt eigene Kompetenz in digitaler Technologie und eine gemeinsame Cyber Defense. Macron stellte auch einen Zusammenhang zwischen Cyber-Abwehr und einer europäischen Kooperation in der Nuklearpolitik her. Seine Äußerungen sind im Lichte des deutsch-französischen Aachener Kooperationsvertrages zu betrachten. In Artikel 4 heißt es ausdrücklich: „Sie leisten einander im Falle eines Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung; dies schließt militärische Mittel ein.“ Die NATO ist nach wie vor Garant für unsere Verteidigung. Doch unter Donald Trump ist die Unterstützung durch die USA in Zweifel gezogen worden. Macron bezeichnete die Institution daraufhin als „hirntot“- beides hat die NATO deutlich geschwächt. Frankreich, Großbritannien und Deutschland müssen zwingend enger zusammenarbeiten und gemeinsame Strategien entwickeln, die mit der NATO kompatibel sind. Dazu gehört auch eine Cyber-Abwehr. Cyber-Attacken können Vorstufen zu militärischen Auseinandersetzungen sein. Paralysierende Attacken gab es in Europa bereits mehrmals. In seinem Buch „Sandworm“ listet Autor

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Deutschland im ­CyberAndy Greenberg eine Reihe solcher Angriffe auf. So wurde etwa 2017 das digitale Vorreiterland Estland lahmgelegt und estnische Websites mit Falschinformationen geflutet. Die Attacke ging von russischen Hackern aus. Vermutet wird ein Zusammenhang mit pro-russischen Unruhen anlässlich der Umbettung sowjetischer Kriegsgräber. Im August 2008 marschierten russische Truppen in Ost-Ossetien ein. Gleichzeitig fielen Internet und Elektrizitätsversorgung in Georgiens Hauptstadt Tiflis aus. Damit waren Aufklärung und Abwehr russischer Fehlinformation zunächst nicht mehr möglich. Die US-Seite präsentierte ihr ­Aggressionspotential mit israelischer

Unterstützung bei einem Angriff auf die iranische Uran-Anreicherungsanlage in Natanz. Mit dem Schadprogramm Stuxnet beschädigte sie 2.000 der 8.700 Zentrifugen schwer. Erstmals wurde mit Software kritische Hardware zerstört. Die weitreichendste und teuerste Cyberattacke bisher gab es 2016 auf die ukrainische Hauptstadt Kiew samt Umland. Soweit feststellbar, setzte die russische Hackergruppe Shadow Brokers eine sehr effektive Schadenssoftware ein – ein zentraler Teil der Software war zuvor von der NSA gestohlen worden. Über den Server einer kleinen Buchhaltungsfirma, die für das Container-Logistik-Unternehmen Maersk in der Ukraine engagiert war, fand diese Hardware bis 2017 den

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ds ­Sicherheit r-Zeitalter Weg in die zentrale IT des Container-­ Logistikers Maersk und legte nicht nur den Konzern weltweit lahm, sondern steckte weltweit weitere Unternehmen an auch in den USA. Den Gesamtschaden bezifferte das Weiße Haus auf zehn Billionen Dollar. Es kann so die Funktionsfähigkeit eines ganzen Staates eingeschränkt werden, ohne dass ein Soldat die Grenze überschritten hätte. Als Antwort Panzer, Luftwaffe und Marine zu schicken, wirkt jedoch eher lächerlich. Die „Cyber-Großmächte“ USA, China, Israel und Russland haben jeweils mehrere 10.000 „Software Kriegern“ aufgebaut – jederzeit verfügbar. Die technische Ausrüstung umfasst ein oder mehrere Hyper-Scale-Datenbanken mit einigen 100.000 Servern

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per Datencenter. Aufgrund ihrer Größe und Wärmeentwicklung sind sie durch Satelliten genau zu identifizieren. Keines dieser Zentren steht in Europa. In Deutschland hingegen, gibt es derzeit – soweit bekannt – nur wenige hundert entsprechend ausgebildeter Soldaten. Auf einen Cyber-Angriff zu reagieren, ist oft ein zeitraubendes Puzzlespiel – allein um die Quelle der Attacke ausfindig zu machen. Gegenstrategien erscheinen jedoch möglich. So verkündeten die USA 2019 gegenüber Russland, dass sie Malware in das russische Elektrizitätsnetz gelegt haben. Die Angriffswaffe wurde auf dem Territorium des ­möglichen Feindes platziert, aber nicht gezündet. Der Feind ist jedoch informiert.

Nach allem, was wir wissen, sind die Cyber-Kapazitäten in Deutschland und Europa im Aufbau, aber Lichtjahre von den Kapazitäten der Cyber-Supermächte entfernt. Dabei ­ ist Deutschland durch sogenanntes ­ Peering besonders angreifbar. Weil hierzulande verschiedene Mobilfunkanbieter operieren, die sich gegenseitig Schnittstellen für die netzübergreifende Kommunikation einräumen, entstehen Schwachstellen. Diese sind Einfallstore für Hacker. In Kombination mit der Miniaturisierung nuklearer Sprengköpfe, entsteht für Europa eine neue Dimension der Bedrohung. Eine vollständige Abrüstung aller nuklearen Mächte wäre wünschenswert. Aber auf absehbarer Zeit ist sie nicht in Sicht. Deshalb: Wenn unsere Partner uns militärisch stützen, ist es unsere Verpflichtung Ressourcen auf die Cyber-Abwehr zu konzentrieren, um als Bündnispartner auf Augen­ höhe agieren zu können. Diese militärische Dimension einer notwendi-

Prof. Dr. Kurt J. Lauk President, Globe CP GmbH, und Ehrenvorsitzender des Wirtschaftsrates

Foto: Wirtschaftsrat

Foto: AdobeStock©James Thew

AKTUELL Digitalisierung

„Auf einen Cyber-Angriff zu reagieren, ist oft ein zeitraubendes Puzzlespiel.“ gen, vertieften Zusammenarbeit muss auch bei den Brexit-Verhandlungen zentrales Thema sein. Deutschland ­ spielt hier eine zentrale Rolle dies voranzutreiben, denn die EU-Kommission ist eher überfordert. Es ist Zeit, die strategische euro­ päische Sicherheitsgemeinschaft, inklusive eigener nuklearer Optionen, tiefer zu ergründen. Eine deutsche Sicherheitspolitik ohne europäische Kom­ponente in der NATO wird nicht nur die Allianz schwächen, sondern auch die Verlässlichkeit Deutschlands l als Partner in Zweifel ziehen.

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AKTUELL Digitalisierung

Das Herz der deutschen Wirtschaft, die Industrie, schlägt auch in der Corona-Krise. Doch auf dem Weg in die Wissensgesellschaft muss sie sich verändern. Denn ­Hardware braucht integrierte Software, und Daten brauchen Regeln und Verantwortung.

D

ie Corona-Krise und ihre Folgen bringen viele Unternehmen und teils ganze Branchen in Not. Auch den Maschinenbau trifft die Pandemie hart, wie die Negativrekorde aus dem PwC-Maschinenbau-Barometer für das zweite Quartal 2020 zeigen: Die Kapazitätsauslastung der deutschen Maschinenbau-Unternehmen liegt derzeit durchschnittlich bei unter 75 Prozent. Experten rechnen bis Mitte 2021 mit einem Umsatzrückgang von fast 18 Prozent für die Branche. Wie dramatisch die Krise noch wird, welche Unternehmen sie letzt-

Dr. Ulrich Störk

Foto: PwC

Sprecher der Geschäftsführung von PwC Deutschland

„Hinter dem Schlagwort ­,Industrie 4.0‘ steckt mehr als nur ‚Maschinen plus Daten‘.“ 52

lich am härtesten treffen wird, für ­solche Prognosen ist es noch zu früh. Umso wichtiger ist es, schon vor der Krise nötig gewordene Veränderungen – allen voran die digitale Transformation – entschlossen voranzubringen. Das Herz der deutschen Wirtschaft schlägt Trotz aller Ungewissheit bin ich äußerst hoffnungsvoll. Die Industrie ist mit 25 Prozent der Bruttowertschöpfung nach wie vor das Herz des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Und dieses schlägt auch in der Corona-Krise. Die Branchenbesten wissen aber auch, dass die Industrie der Zukunft mehr braucht als einzigartige Maschinen, Erfindungsreichtum, globale Vertriebsnetze und exzellenten Kundenservice. Diese traditionellen Stärken gilt es zwar für die Digitalisierung der Industrie zu nutzen. Doch hinter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ steckt mehr als nur „Maschinen plus Daten“. Konkret geht es zum Beispiel darum, Produktionslinien oder ganze Fabriken mit Sensorik und Automa­

Plattform für die vierte industrielle Revolution Innovative Geschäftsmodelle müssen Maschinen, Prozesse und Daten zusammenbringen. Dafür braucht es regional- und branchenübergreifende Kooperationen sowie Ökosysteme, die Produzenten, Partner, Dienstleister und Lieferanten intelligent vernetzen. Um Fertigung, Lieferketten, operative Prozesse und Organisationen zu verbinden und Synergien für alle Beteiligten zu schaffen, sind diese zu ­„softwarealisieren“. Wie gewaltig die Aufgabe der „vierten industriellen Revolution“ ist, wissen wir von PwC aus unseren Kundenprojekten. Damit diese Revo­ lu­tion gelingt, beteiligen wir uns an strategischen Allianzen wie ADA­ MOS, ein Netzwerk, das ­Unternehmen aus ­ Industrie, IT und Beratung zusammenbringt. Es bietet Maschinenund Anlagenbauern ­einen schnellen ­Einstieg in die Digitalisierung. Was darf Künstliche Intelligenz? Doch um die Daten vernetzter Fa­ ­ briken zu bündeln, auszuwerten und dadurch Innovationen voranzubringen, braucht es Regeln. Ob Blockchains in der Finanzwirtschaft oder Algorithmen in der Fertigung: Wer setzt die ethischen Standards? Wer kontrolliert die Algorithmen – und nach welchen Werten und Kriterien? Welche Entscheidungen kann, darf und vor allem soll Künstliche Intelligenz eigenständig treffen? All das müssen wir als Gesellschaft dringend beantworten. „Datenschutz für den Datenschatz“ Die EU-Datenschutzgrundverordnung regelt lediglich den Schutz personenbezogener Daten und kann nur der erste Schritt hin zu einer wirksamen Daten-Governance sein. Wir

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Foto: AdobeStock©Gorodenkoff

Industrie 4.0Plattformen schaffen

tionskomponenten auszustatten und in übergreifenden Wertschöpfungsnetzwerken zu integrieren. Im Wettbewerb wird die Nase vorn behalten, wer die Ressource „Daten“ am intel­ ligentesten nutzt. Oder anders formuliert: Zukunftsorientierte Hardware braucht AI gestützte Software.


AKTUELL Digitalisierung

Digitalisierung schafft neue Geschäftsmodelle in der Industrie Welche Bedeutung hat Industrie 4.0 für das Geschäftsmodell ihres Unternehmens?

2020

Wir entwickeln neue Produkte und Dienstleistungen bzw. planen dies

2019

Wir verändern bereits bestehende Produkte und Dienstleistungen, bzw. planen dies

26 % 22 %

Wir nehmen bestimmte Produkte und Dienstleistungen vom Markt, bzw. planen dies

28 % 20 %

Industrie 4.0 hat keinen Einfluss auf unser Geschäftsmodell

25 % 32 %

Industrie beeinflusst das Geschäftsmodell

73 % 65 % 0

10

20

30

40

50

60

70

Basis: 445 Anwender und Planer von Industrie-4.0-Anwendungen ab 100 Mitarbeitern in Deutschland/Mehrfachnennungen möglich.

brauchen eine international gültige Datenkonvention, ähnlich der Menschenrechtskonvention – mindestens auf europäischer Ebene, besser weltweit. Eine solche Konvention sollte insbesondere das Recht auf Datenzugang, Datenintegrität und Datensicherheit umfassen. Denn: Wer einen Datenschatz hütet, wird zunehmend zum Angriffsziel. Cyberangriffe nehmen deutlich zu. Das Bundeskriminalamt nennt im „Bundeslagebild Cybercrime“ für 2018 87.100 Fälle im engeren Sinne – und 60,7 Millionen Euro Schaden. Die tatsächliche Summe dürfte weitaus höher sein, weil die Statistiken viele Angriffe und Schäden nicht erfassen. Für wirkungsvolle Datensicherheit und angemessenen Datenschutz zu

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sorgen, ist Aufgabe der Politik und Unternehmen gleichermaßen. Dabei gilt es, eine gesunde Balance auszuloten zwischen berechtigten Bedenken sowie Schranken, die Innovationen möglicherweise erschweren, und den sich ergebenden Chancen. Erfolge „Made in Germany“ für die digitale Zukunft nutzen Unsere Industriegesellschaft wird zur Wissensgesellschaft, unsere Industrie­ ökonomie wird zur Wissensökonomie. Diese Entwicklungen verändern auch den Arbeitsmarkt. Technologie wird die Menschen entlasten – ja. Sie wird auch manche Jobs von Menschen übernehmen, andere obsolet machen. Damit zusammenhängende Sorgen sind teils

berechtigt, bei Gering- und Hochqualifizierten gleichermaßen. Was wird aus den Menschen? Werden sie Tätigkeiten übernehmen, für die es genuin menschliche Eigenschaften braucht – Empathie, Kreativität und Kommunikation zum Beispiel? Genau damit rechne ich! Die vielen wertvollen Daten und ihre Chancen ändern nichts daran, dass die Menschen im Mittelpunkt unserer Überlegungen bleiben müssen. Sie müssen die Fähigkeiten erwerben können, die sie im digitalen Zeitalter brauchen. Das ist eine Verantwortung der Führungskräfte in Politik und Wirtschaft. Gemeinsam werden wir es schaffen, die Erfolgsrezepte der Industrie „Made in Germany“ auf unsere l digitale Zukunft zu übertragen.

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Quelle: Bitkom Research 2020

51 % 46 %


AKTUELL Digitalisierung

Digitalisierungsschub Mit der Pandemie hat das deutsche Gesundheitswesen den angeschaltet. Doch dieser Wandel braucht Orientierung und ethische Leitplanken.

D

ie Corona-Pandemie stellt auch Deutschland vor große Herausforderungen. In allen Bereichen wirkt sich das Virus aus. Schon heute zeigen sich deutliche Veränderungen in unserer Gesellschaft. Wir rücken näher zusammen, obwohl wir doch gleichzeitig auf die Abstandsregeln achten müssen. Obwohl die Pandemie noch mitten im Gange ist, führt sie uns schon jetzt deutlich vor Augen, dass unser Land auch diese Herkulesaufgabe meistern kann. Das gilt insbesondere fürs Gesundheitswesen. Trotz erneut stark steigender Infektionszahlen geht es nicht in die Knie. Im Gegenteil, wir sind gut gewappnet für die zweite Welle, in der wir schon mittendrin stecken. Das erste halbe Jahr zumindest haben wir die Krise relativ gut überstanden. Das ist auch deshalb gelungen, weil sich das deutsche Gesundheitssystem als robust, belastbar,

Prof. Dr. Christoph Straub Foto: Mathias Kehren

Vorstandsvorsitzender der BARMER

„Die BARMER hat einen Kanon an Werten aufgestellt, die ­beschreiben, in welchem ­ethischen Rahmen wir den digitalen ­Fortschritt mitgestalten wollen.“

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leistungs- und vor allem rasch entwicklungsfähig erwiesen und schnell auf Krisenmodus geschaltet hat. Doch nicht in allen Bereichen zeigt sich unser Gesundheitssystem so ­flexibel wie derzeit im Corona-Krisenmanagement. Jahrzehntelang musste sich das Gesundheitswesen den Vorwurf gefallen lassen, vor allem beim Thema der Digitalisierung hinterherzulaufen. Und dieser Vorwurf war durchaus berechtigt. Denn trotz vieler guter Ideen und beeindruckender Beispiele kam der Gesundheitssektor beim Thema Digitalisierung lange nicht von der Stelle. Andere Branchen waren Deutschlands Ärzteschaft, Kliniken, Pflegeeinrichtungen, Apotheken und nicht zuletzt auch Krankenkassen weit voraus bei der digitalen Transformation ihrer Geschäftsprozesse. Doch Corona hat überall Wirkung gezeigt. Die Pandemie führte neben anderen Branchen, wie beispielsweise dem Einzelhandel und der Gastronomie auch im Gesundheitswesen zu einem deutlichen Schub bei der Digitalisierung. Die Krise beschleunigte damit eine Entwicklung, die durch die Politik auf Bundesebene bereits angestoßen worden war, vor allem durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz, das Digitale-Versorgung-Gesetz und das Patientendaten-Schutz-Gesetz. Covid-19 zündete dann den Digitalisierungsturbo im Gesundheitswesen. Das beste Beispiel dafür ist die Videosprechstunde. Deren Steigerungsraten sind beeindruckend. Laut einer repräsentativen Studie der Stiftung Gesundheit in Zu-

sammenarbeit mit dem health innovation hub haben bereits 52,3 Prozent der Ärztinnen und Ärzte erste Erfahrungen mit der Videosprechstunde gemacht. Auch die Versicherten der BARMER haben neue Möglichkeiten ausprobiert. Seit Beginn der Corona-Krise greifen sie deutlich stärker auf digitale Angebote ihrer Krankenkasse zurück. Begünstigt wurde diese Entwicklung auch durch die zeitweilige Schließung der BARMER-Geschäftsstellen während des Lockdowns. Im

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AKTUELL Digitalisierung

Foto: AdobeStock©Rido

durch Corona

ersten Halbjahr 2020 ist die Zahl der Downloads der BARMER-App, mit der Anliegen bequem mit dem Smartphone oder Tablet erledigt werden können, um fast 20 Prozent gestiegen. Und die Zahl der digital eingereichten Anträge auf Mutterschaftsgeld wuchs um 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aber auch digitale Präventions- und Versorgungsprogramme haben in der Corona-Krise die Chance, sich stärker zu etablieren. So sind Rehasport und Nachsorge

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auch mit virtueller Hilfe möglich. Die BARMER hat entsprechende Angebote ausgebaut und in kurzer Zeit neue digitale Services eingeführt. Dazu gehören diverse Schulungsformate des Betrieblichen Gesundheitsmanagements, eine Hebammenberatung für werdende und junge Eltern oder auch die Initiative „Ich kann kochen!“, bei der wir Lehrerinnen und Lehrern sowie Erzieherinnen und Erziehern von Kitas und Grundschulen praktisches Ernährungswissen nun auch digital vermitteln.

Und zu Beginn der Corona-Pandemie haben wir eine sehr erfolgreiche Corona-Sprechstunde über den Teledoktor angeboten. Diese Beispiele zeigen, dass die Krankenkassen während der Pandemie neue digitale Lösungen gesucht und verstärkt umgesetzt ­haben. All dies deutet darauf hin, dass die Beteiligten für digitale Angebote grundsätzlich aufgeschlossen sind. Zugleich zeigt sich aber auch in Teilen der Ärzteschaft immer noch Skepsis. Niedergelassene Ärztinnen und ­Ärzte sehen sich einer ganzen Reihe von Anforderungen gegenüber, die mit der Digitalisierung verbunden sind. Ein Beispiel ist die Implementierung der Telematik-Infrastruktur in den P ­ raxen, zum Beispiel der Konnekt­ oren. Arztpraxen sind zudem gefordert, im kommenden Jahr AU-­ Bescheinigungen digital an die Kassen zu senden und die elektronischen Patientenakten (ePA) zu füllen. Sie spielen hierbei eine Schlüsselrolle. Denn ohne ihre Mitwirkung lässt sich das große Potenzial der ePA nicht erschließen. Allerdings dürfen wir uns vom digitalen Wandel nicht überrollen lassen. Es braucht Orientierung und ethische Leitplanken, damit wir die Digitalisierung steuern und nicht sie uns. Die BARMER hat deswegen einen Kanon an Werten aufgestellt, die beschreiben, in welchem ethischen Rahmen wir den digitalen Fortschritt mitgestalten wollen. Allen voran steht hier natürlich das Thema Datenschutz. Den Menschen ist es besonders wichtig, dass ihre Gesundheitsdaten sicher sind. Wir schützen die Privatsphäre und das Recht, über Preisgabe und Verwendung der eigenen Gesundheitsdaten zu bestimmen, und wir zeigen, welche Daten wofür genutzt werden. Die zunehmende Digitalisierung eröffnet neue Felder in der medizinischen Versorgung. Sie bietet viele Chancen, man darf aber auch nicht vergessen, dass sie viel Geld kosten werden. Es ist gut angelegtes Geld, wenn diesem Aufwand immer ein entsprechender Nutzen gegenüber­ l steht.

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Foto: AdobeStock©fotomek

AKTUELL Nachhaltige Geldanlagen

Keine teuren Bio-Produkte! Studie zeigt klaren Trend zu grünen Geldanlagen.

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mmer mehr Menschen wollen verantwortungsvoller und ressourcenschonender leben. Die Wege dorthin sind vielfältig: mehr regionale Lebensmittel kaufen, weniger fliegen, Plastikmüll vermeiden, weniger Konsum insgesamt – aber auch nachhaltig Geld anlegen. Das wird einer aktuellen Studie1 zufolge für viele Menschen immer wichtiger. So gaben 39 Prozent der Befragten an, zukünftig mehr nachhaltige Geldanlagen nutzen zu wollen.

Karl Matthäus Schmidt Foto: Quirin Bank

Vorstandsvorsitzender Quirin Privatbank AG

Bislang sind nachhaltige Geld­­ anlagen jedoch oft als teuer, riskant oder wenig(er) ertragreich verschrien. Lange Zeit war das auch zutreffend – und hat sich in den Köpfen der Anleger festgesetzt. So ist laut Studie jeder vierte Befragte bereit, zugunsten von Nachhaltigkeit auf bis zu 30 Prozent an Rendite zu verzichten. Ebenso viele halten nachhaltige Anlagen für zu riskant. Das dritte grundlegende ­Missverständnis: Viele Anleger glauben, sie müssten die Nachhaltigkeit im Depot mit höheren Kosten erkaufen. Denn oft werden nachhaltige Geldanlagen mit Bio-Produkten im Supermarkt verglichen. Deren Herstellung ist teuer. Nachhaltigkeit bei der Geldanlage wird aber anders „erzeugt“ und kostet – im Gegensatz zum Bio-Lebensmittel – nicht mehr als herkömmliche In­vestments.

„Den nachhaltigen Wandel zu unterstützen, heißt auch, die Unternehmen und Branchen mit einzubeziehen, die bisher wenig in diese Richtung unternommen haben.“ 56

Damit trifft keiner dieser Vorbehalte zu, nicht mehr jedenfalls. Zumindest dann nicht, wenn Anleger ein paar grundlegende Zusammenhänge beachten und neue Möglichkeiten der nachhaltigen Geldanlage nutzen. Diese verbinden Nachhaltigkeitskriterien mit Kriterien einer wissenschaftlichen Kapitalanlage, die prognosefrei investiert und auf eine breite, weltweite Streuung setzt. Damit bieten sie das Beste aus beiden Welten: Anlegen mit gutem Gewissen, aber ohne Greenwashing, dafür auf einem soliden, renditeoptimierten Fundament. Übrigens haben nachhaltige Indizes zuletzt eine deutlich bessere Performance abgeliefert als ihre nicht nachhaltigen Pendants. Wenn dies mehr Anleger wüssten, würden vermutlich noch viel mehr Menschen nachhaltig investieren, was für Umwelt und Gesellschaft ein enormer Gewinn wäre. Und auch auf politischer Ebene dürfen wir nicht müde werden, den Wandel zu mehr Nachhaltigkeit voranzutreiben. Dabei ist es wichtig, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit nicht als Gegensätze zu verstehen. Ein wirklich bleibender Erfolg kann sich nur einstellen, wenn beides Hand in Hand geht. Den nachhaltigen Wandel zu unterstützen, heißt vor allem auch, diejenigen Unternehmen und Branchen mit einzubeziehen, die ­bisher noch vergleichsweise wenig in diese Richtung unternommen haben. Hier ist das Verbesserungspotenzial besonders groß und damit auch die p ­otenzielle Nachhaltigkeitswirkung auf Wirtschaft, Gesellschaft und ­Umwelt. Bei den meisten bisherigen nachhaltigen Geldanlagen passiert genau das nicht, es wird nur auf Unternehmen gesetzt, die heute schon lupenrein nachhaltig unterwegs sind. Damit wird aber nur der Status quo zementiert, jedoch kein Wandel unterstützt. Und genau diesen Wandel brauchen wir dringend, um die Lebensgrund­ lagen von morgen zu erhalten und die sozialen Ungleichgewichte weltweit zu l reduzieren. 1S tudie „Nachhaltige Geldanlagen in Deutschland“, puls Marktforschung GmbH im Auftrag der Quirin Privatbank AG, Erhebung im Juni 2020

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Wolfgang Steiger Generalsekretär des Wirtschaftsrates der CDU e.V.

Neuen Generationenvertrag vereinbaren

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n der Corona-Krise haben Bund, Länder und Kommunen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie mit gewaltigen Summen abgefedert. Das war bei den allermeisten Hilfsmaßnahmen richtig! Um diese Herausforderung zu bewältigen, musste geklotzt und nicht gekleckert werden. Trotz stark gestiegener Staatsverschuldung steht Deutschland im europäischen Vergleich dennoch gut da. Das verdanken wir der soliden Haushaltspolitik der letzten Jahre, für die sich der Wirtschaftsrat konsequent eingesetzt hat. Schwarze Null und Schuldenbremse haben die fiskalpolitischen Spielräume erst geschaffen, die unserem Land jetzt durch die Krise helfen. Es ist jedoch von fundamentaler Bedeutung, so bald wie möglich zu soliden haushaltspolitischen Prinzipien zurückzukehren. Deutschland braucht deshalb einen neuen Generationenvertrag, damit die Jüngeren nicht nur Schuldenberge erben. Im Schatten der soliden Haushaltslage sind die Sozialausgaben trotz der guten Konjunktur und ­ der Beschäftigungsrekorde der letzten Jahre rasant gestiegen. Sie haben inzwischen die schwindel­ ­ erregende Höhe von mehr als einer Billion Euro ­erreicht. Zum Vergleich: 1991 lagen die Sozialausgaben noch bei rund 400 Milliarden Euro, im Jahr 2000 waren es rund 600 Milliarden Euro. Diese estrem hohen ­Sozialausgaben schränken die politischen Ge­ staltungsspielräume zukünftiger Generationen drastisch ein. Ein wichtiger Punkt des neuen ­Generationenvertrags muss deshalb die Eindämmung des ausufernden Wohlfahrtsstaats sein, ebenso der ­möglichst baldige Einstieg in den Schuldenabbau. An die wirtschaftliche Dynamik der letzten Jahre werden wir nur durch kluge Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Digitalisierung anknüpfen können. Konsumtive Sozialtransfers in Milliardenhöhe hinge-

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gen führen zu einer immer höheren Staatsquote und weniger Flexibilität in konjunkturellen Abschwüngen – ein Blick auf Italien oder Griechenland liefert dafür Anschauungsmaterial. Die Rückbesinnung auf einen schlanken, effizienten Staat wäre ein starkes Signal für Zukunftsfähigkeit. Denn eine nachhaltige Sozialpolitik benötigt unabdingbar eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik als Grundvoraussetzung. Immer neue soziale Wohltaten werden wir uns in den absehbar mageren nächsten Jahren nicht mehr leisten können. Die Sozialpolitik mit der Gießkanne hat zudem ein leistungsfeindliches Anspruchsdenken in der Breite der Gesellschaft gefördert. Als Reaktion auf die Corona-Krise muss die Bundes­ ­ regierung längst überfällige Reformen für Unternehmen und Leistungsträger in diesem Land anpacken, um die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu erhalten. Der Handlungsbedarf ist offensichtlich: Über drei Millionen Steuerzahler zahlen inzwischen den Spitzensteuersatz, vom Facharbeiter bis zum Ingenieur. Die daraus folgende Steuer- und Abgabenbelastung von weit mehr als 50 Prozent widerspricht dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, einem Eckpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft. Deutschland belegt mit seiner Steuer- und Abgabenquote sogar einen traurigen Abstiegsplatz in der Welt. Beim Breitbandausbau sind wir im euro­ päischen Vergleich nur Mittelmaß. Unsere Verkehrs­ infrastruktur hat großen Sanierungsbedarf. Und auch massive Investitionen in Bildung müssen Teil des neuen ­Generationenvertrags werden, denn kluge Köpfe sind unser wichtigstes Kapital. Nur wenn die Älteren jetzt verantwortungsbewusst handeln und die junge Generation hierzulande eine Zukunft sieht, können wir gemeinsam die Herausforderungen des l 21. Jahrhunderts meistern.

STANDPUNKT STEIGER

Foto: Jens Schicke

„Die Politik muss schnell zur soliden ­Haushaltsführung zurückkehren und den ­ausufernden Wohlfahrtsstaat eindämmen.“

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WIRTSCHAFTSRAT Innenansicht

FAMILIENUNTERNEHMEN UND MITTELSTAND

PFLEGE

Vizepräsident Friedrich Merz bewertet EU-Corona-Rettungspaket

Staatssekretär Westerfellhaus begrüßt Neugründung der Bundesarbeitsgruppe

Für Friedrich Merz, Vizepräsident des Wirtschaftsrates, war die Einigung der europäischen Staats- und Regierungschefs auf den Corona-Hilfsfonds ein grundsätzlich positives Signal. „Die Handlungsfähigkeit der EU ist gewährleistet“, sagte er in einer Videokonferenz zum Thema „Wie kann Europa seiner globalen Rolle gerechter werden?“ Zugleich sprach er sich für eine ausschließlich zweckgebundene Verwendung der Mittel aus. Merz warnte jedoch davor, für den Klimaschutz das Mandat der Euro­päischen Zentralbank auszuweiten. Zum Thema Werkverträge erklärte er, dass sie wichtiger Teil der Rechtsordnung und des Arbeitsmarktes seien: „Deshalb bin ich dagegen, Werkverträge für bestimmte Indus­trien einfach zu verbieten. Auf der anderen Seite: Was in Teilen der F ­ leischindustrie passiert, mit Sub-sub-sub-Verträgen, das hat mit einem anständigen Umgang mit den Mitarbeitern und mit Sozialer Marktwirtschaft nichts mehr zu tun. Das sind Missbräuche des Werk­ vertragssystems, und die muss und kann man auch abstellen.“ l

Der Pflegebereich war in den letzten Jahren einem hohen Maß an Regulierung und politischen Veränderungen ausgesetzt. Um angesichts des demografischen Wandels dem enormen gesellschaft­ lichen Stellenwert der Pflege Rechnung zu tragen und dem Thema eine kraftvolle Stimme zu geben, hat der Wirtschaftsrat die Bundesarbeitsgruppe Pflege gegründet. Zur Auftaktsitzung waren Teilnehmer aus allen Bereichen der Altenpflege vertreten. Als hochkarätige Redner waren der Bevollmächtigte der Bundesregierung für Pflege, Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, und der pflegepolitische Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Erich Irlstorfer, zugeschaltet. Neben der Vorstellung seines Fünf-Punkte-Programms für eine bessere Pflege, betonte der Staatssekretär wie wichtig die ­Gründung der Bundesarbeitsgruppe Pflege sei. Auch der Erich Irlstorfer unterstrich die Bedeutung des Gremiums und diskutierte mit den Unternehmern die Themen, die den Gesundheits­ ausschuss beschäftigen. Beide Referenten plädierten für die Zusammenarbeit aller im Sektor Pflege beteiligten Akteure, um gute und vernünf­tige Lösungen für künftige Herausforderungen zu finden und freuten sich auf den Austausch mit der Bundesarbeitsgruppe. Vorsitzender des neuen Gremiums ist Daniel Schuster, l Geschäftsführer der ProCurand Unternehmensgruppe.

WR-DIALOG

Foto: European Union, 2019 - Etienne Ansotte

Eurobonds mit EU-Wiederaufbaufonds nicht vom Tisch Der erste „WR-Dialog“ stand unter dem Motto „Was sich hinter Nullzins, Rekordverschuldung und Ordnungsverlust zusammenbraut“. Prof. Dr. Dirk Meyer, Professor für Volkswirtschafts­ lehre, insb. Ordnungsökonomik an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, gab seine Einschätzungen zum EU-­ Wiederaufbaufonds und der Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB). Ein wichtiges Strukturmerkmal des EU-Wiederaufbaufonds sei, dass dieser mit dem Notstandsparagraphen begründet wurde, was alle 27 EU-Staaten betrifft. Im Gegensatz dazu beziehe sich das frühere Kriseninstrument, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) nur auf die 19 Euro-Staaten. Die Diskussion über Eurobonds sieht Prof. Meyer durch die Einführung des Aufbaufonds nicht als beendet an. Im Gegenteil: Die Tür für eine gemeinschaftliche Schuldenhaftung sei durch den Aufbaufonds und das europäische Kurzarbeiterprogramm Sure weiter geöffnet worden. Von den Prinzipien Wettbewerb, Föderal lismus und Markt entferne sich Europa immer mehr.

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Foto: AdobeStock©pikselstock

NEUES AUS DEN KOMMISSIONEN 

DIGITAL FINANCE

Burkhard Balz wirbt für Europa-Lösung Die Pandemie hat das Zahlungsverhalten der Bürger verändert. Seitdem erfolgt vieles digital und eine Rückkehr zu mehr Bargeld sei auch nicht mehr zu erwarten. Das sagte Burkhard Balz, Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, auf der konstituierenden Sitzung der neuen Bundesarbeitsgruppe Digital Finance des Wirtschaftsrats und betonte, wie wichtig gerade dabei europäische und technologieoffene Lösungen seien. Ein wachsender Wettbewerb sei durch sogenannte „Big Techs“ wie Apple oder Facebook, die in das Zahlungsgeschäft drängten, aber auch durch chinesische Zahlungsanbieter, zu erwarten. Deshalb sei es notwendig, europäische Zahlungslösungen zu entwickeln und dafür einen europäischen Ordnungsrahmen zu beschließen. Die Grundlage sei eine „digitale Identität“, für die der Gesetzgeber l gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen müsse.

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Foto: Bundesbank - Frank Rumpenhorst

Foto: Friedrich Merz

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VERKEHRSPOLITIK

Marktwirtschaft Ade

Klimaschutz und Innovation vereinen

Im WR-Dialog „Low forever? Wirkungen, Folgen und Grenzen der ‚ewigen‘ Niedrigzinspolitik“ ordnete Prof. Dr. Gunther Schnabl die geldpolitischen der Entwicklungen im Euro-Raum und in der EU in einen internationalen Kontext ein und warnte vor einer Abkehr von marktwirtschaftlichen Prinzipien in der Corona-Pandemie. Er wies darauf hin, dass die Rolle der Geldpolitik oft verkannt werde. Das gelte auch für die aktuelle Lage. Um dies zu illustrieren erläuterte er das Konzept der weichen Budgetrestrik­ tionen. Dies beschreibt, dass ineffiziente Unternehmen mit Geld der Notenbank unterstützt werden, um Arbeitsplätze zu erhalten. Die Notenbank selbst wiederum bekomme dann Unterstützung von der Zentralbank. So würden zwar die Arbeitsplätze gehalten, da es jedoch keine Produktivitätssteigerungen gebe, sinke mit der Zeit das Lohnniveau. Prof. Schnabl warnte davor, als Reaktion auf die Pandemie eine ähnliche Strategie zu fahren. Zunächst biete eine expansive Geldpolitik natürlich die Möglichkeit den politischen Wunschzettel abzuarbeiten. Dies führe jedoch dazu, dass l keine Strukturanpassungen mehr vorgenommen würden.

Durch die Corona-Pandemie sind Logistik- und Lieferketten ins Stocken geraten, Verkehrsunternehmen haben massive Ein­ nahmeausfälle zu verkraften, Schiene und Luftverkehr straucheln – bei unveränderten Aufgaben in Sachen Klimaschutz. „Mit ­unserem New Mobility Approach wollen wir Nachhaltigkeit, ­Mobilität und Digitalisierung zusammen denken – in einem Ansatz“, erläutert Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer im Dialog mit der Mobilitätskommission des Wirtschaftsrates. „Wir müssen aus der Krise lernen. Dazu wollen wir einen europäischen Notfall-Pandemieplan für den Güterverkehr erarbeiten. Denn bislang gibt es keine europaweiten Vorkehrungen für die zentralen Verkehrs­ infrastrukturen und Verkehrsträger im Falle von Pandemien.“ Die Mitglieder der Kommission und der Bundesminister ­waren sich einig, dass Technologieoffenheit das Gebot der Stunde sei. Bei der Umsetzung der Wasserstoffstrategie, insbesondere dem Aufbau der Infrastrukturen, ermutigte die Kommission Andreas Scheuer, von Anfang an europäisch zu denken. Zugleich brauche es einen pragmatischen Blick auf alle Erzeugungsmöglichkeiten für erneuerbaren – grünen – und klimaneutralen – blauen, ­türkisen – ­Wasserstoff, um einen europäischen Wasserstoff­binnenmarkt zu l schaffen.

EUROPÄISCHE FINANZ- UND WÄHRUNGSPOLITIK

Foto: Tobias Koch

Die Krise als Chance Die Union hat Prinzipien, aber keine Dogmen, konstatierte Ralph Brinkhaus, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in einer Videokonferenz mit Unternehmern im Wirtschaftsrat. Das gelte auch für die Bewältigung der Coronakrise. Die Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds dürften nicht leichtfertig ­versprochen werden, doch in der Krise seien diese Maßnahmen angemessen. Entscheidend sei, dass der EU-Wiederaufbaufonds eine Sondersituation bleibe, sagte Ralph Brinkhaus weiter. Noch werde um die Rückzahlung der Kredite gestritten und ob es für die Gelder eine Konditionierung geben soll. Die „sparsamen Vier“ setzten sich dabei für eine besonders strenge Regelung ein, andere Länder forderten Auflagenfreiheit. Deutschland positioniere sich in der Mitte, erklärte der Fraktionsvorsitzende weiter. Nach Vorstellung der Union geht es beim EU-Wiederaufbaufonds um Nachhaltigkeit. Die Rückzahlung der Schulden solle bereits in diesem Mehrjäh­ rigen Finanzrahmen (MFR) der Staatengemeinschaft anlaufen. Deutschland habe eine Verantwortung gegenüber den a­ nderen EU-Staaten und übernehme mit der EU-Ratspräsidentschaft nun auch eine Führungsposition, betonte Ralph Brinkhaus. Aber Deutschland profitiere auch selbst stark von der EU und ihrem Binnenmarkt. Es sei also im nationalen Interesse, sich für die EU stark zu machen. Dabei ginge es in der EU um mehr als Geld. Es handle sich auch um das weltweit größte Friedensprojekt sowie ein Wohlstandsprojekt, das auch die europäische Souveränität sichert. l

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Foto: BMVI

WR-DIALOG

EUROPA

Viel Volumen, wenig Zukunft „Das Volumen des Aufbaufonds ist schlicht zu hoch und die ­ Zukunftsaspekte zu niedrig“, betonte die Vizepräsidentin des EU-Parlamentes Nicola Beer MdEP in einem W ­ ebtalk mit demWirtschaftsrat Brüssel. Es könne nicht sein, dass man der nächsten Generation nur die Schulden hinterlassen wolle. Gemäß der EU-Kommission solle das Paket eigentlich die am stärksten von der Pandemie getroffenen Regionen mit Investitionen in ihre Zukunftsfähigkeit unterstützen. Doch am meisten profitieren wirtschaftliche schwache Länder Osteuropas. Baer k­ritisierte, dass die Ver­ teilungsschlüssel für die diversen ­Programme des Wiederaufbaupakets von der EU-Kommission auf ­Grundlage der Bevölkerungsgröße, der Wirtschaftskraft und der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von 2015 bis 2019 erarbeitet wurde. Einen Krisen-Faktor gebe es hingegen gar nicht. Außerdem enthalte der Aufbaufonds gleich mehrere Elemente, die mit der Corona-Krise nichts zu tun hätten: die A ­ ufstockung der EU-Strukturfonds, der Agrarmittel und des Klima­ anpassungsfonds um jeweils zweistellige Milliardensummen. Für Nicola Beer sind klare Konditionalitäten und deren Erfüllung für die M ­ ittelvergabe unerlässlich, hierfür werde sie sich mit ­aller l Kraft im ­Europäischen Parlament einsetzen.

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Foto: Laurence Chaperon

Foto: AdobeStock©owenmeany

WIRTSCHAFTSRAT Innenansicht


WIRTSCHAFTSRAT Klausurtagung Energie- und Umweltpolitik

Aufbruch zur integrierten Energiewende D ie Klausurtagung Energie- und Umweltpolitik des Wirtschaftsrates fand im Zeichen der Corona-­ Pandemie unter besonderen Bedingungen statt: Als Hybrid-Veranstaltung mit geladenen Gästen im Hotel Adlon in Berlin und weiteren hochkarätigen Teil­ nehmern, die online zugeschaltet waren. Der „Aufbruch zur integrierten Energiewende 2030“ kann nach Einschätzung der Tagungsteilnehmer nur unter marktwirtschaftlichen Bedingungen gelingen. Im Mittelpunkt stehen dabei eine sektorübergreifende CO2-Bepreisung, eine Senkung der Stromkosten, mehr Energieeffizienz, ein ordnungspolitischer Rahmen für eine leistungsfähige Infrastruktur, ein kräftiger Digitalisierungsschub und ­wettbewerbsfähiger Wasserstoff. „Fest steht: Effizienter Klimaschutz und nachhal­ tiges Wachstum sind keine Gegensätze, sondern müssen in ­Einklang gebracht werden. Der Schlüssel dazu liegt in ­Berlin und Brüssel“, erklärte Ratspräsidentin Astrid Hamker zum Auftakt der Veranstaltung. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier zeigte sich offen für eine technologieoffene, marktwirtschaftlich getriebene Energiewende, forderte die Industrie zugleich aber auch dazu auf, auf dem Weg zur Klimaneutralität 2050 gemein-

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Impressionen von der 18. Klausurtagung des Wirtschaftsrates zur Energie- und Umweltpolitik

sam mit der Politik ein kohärentes Leitbild zu entwickeln. „Ich bin bereit, dabei in weitem Maße auf die Wirtschaft zu hören.“ (s. S. 42) RWE-Vorstandschef Dr. Rolf Martin Schmitz forderte, die Erneuerbaren Energien massiv auszubauen. „Das muss schneller gehen, und die Netze müssen schnell kommen.“ BP-Europa Chef Wolfgang Langhoff kündigte für die ­kommenden Jahre eine Verzehnfachung der Investitionen seines Unternehmens in emmissionsarme Energien an. „Die ­Herkulesaufgabe Energiewende gelingt nur mit Marktwirtschaft und Wettbewerb.“ Österreichs Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck

wies auf die zentrale Bedeutung neuer Technologien hin: „Wir brauchen die Innovationen, wir brauchen die neuen Ideen, und wir brauchen vor allem die Kraft der Digita­ lisierung, um die Transformation der Energiewirtschaft zu bewältigen“, so Schramböck. Dr. Joachim Pfeiffer, Sprecher für Wirtschafts- und Energie­ politik der Unionsfraktion im Bundestag, lenkte den Blick auf

die Erfolge. „Wir können sehr stolz sein auf das, was wir im Klimaschutz erreicht haben. Nur in Europa und in Deutschland sind die Emissionen gesunken, und das bei steigender Wirtschaftsleistung.“

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WIRTSCHAFTSRAT Klausurtagung Energie- und Umweltpolitik

Dieter Janecek, Grünen-Sprecher für Wirtschaftspolitik,

die Realisierung von Infrastrukturprojekten bleibt essen­ tiell.“ Ins gleiche Horn stieß 50-Hertz-Chef Stefan Kapferer, indem er die Notwendigkeit attraktiver Rahmenbe­ ­ din­ gungen für Netzinvestoren in den Mittelpunkt rückte: „Sonst wandern die Investoren in andere Weltregionen ab.“ Unions-Fraktionsvize Andreas Jung machte sich für eine Ausweitung des Emissionshandels stark. „Viele Unternehmen tragen dadurch bereits seit Jahren ihren Teil zur CO2-Minderung bei.“ Wolfgang Anzengruber, Vorstandsvorsitzender der Verbund AG, regte mehr transnationale Netze für die kommende

„Wasserstoffwirtschaft“ an.

PwC-Geschäftsführer Dr. Ulrich Störk drang auf mehr ­ lanungssicherheit für unternehmerische Investitionen in P die Energiewende. Dr. Rainer Gerding, Bundesgeschäftsführer des Wirtschaftsrates, resümierte: „Es geht darum, die entscheidenden

­ ukunftsthemen jetzt anzupacken und die Marktkräfte zu Z l stärken.“

Fotos: Jens Schicke

warb ebenfalls für einen konsequenten Ausbau der Erneuerbaren. „Die Elektromobilität braucht große Mengen Strom, die wir bereitstellen müssen.“ Roland Harings, CEO des Kupferkonzens Aurubis, kriti­sierte die Vielzahl von Regulierungen, die sich Unternehmen ­stellen müssten. „Wir sehen den Carbon Border Adjustment Mechanism sehr skeptisch, weil er dem Industriestandort Europa massiv schaden kann.“ Lanxess-Vorstand Dr. Hubert Fink thematisierte die gesellschaftliche Akzeptanz der Chemieindustrie. „Ohne ­ sie ­werden wir langfristig nicht agieren können. Un­sere Kunden fragen, welchen CO2-Fußabdruck wir in ihrer ­ ­Produktion hinterlassen.“ EU-Energie-Kommissarin Kadri Simson hob die Vorreiterrolle der EU für die Klimaneutralität hervor. „Aber unser Investitionsbedarf kann nicht allein durch öffentliche Mittel gedeckt werden.“ ENEL-CEO Francesco Starace unterstrich die Rolle des „European Green Deal“ als Wachstumstreiber. „Aber

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WIRTSCHAFTSRAT EuroPod

Wirtschaftsrat zum Anhören D

ie deutsche EU-Ratspräsidentschaft startete am 1. Juli in turbulenten Zeiten. Die Corona-­Pandemie, der Einbruch der Wirtschaft und der nahende Brexit stellen sie vor große Herausforderungen. Gleichzeitig sind die ­Erwartungen an das deutsche Krisenmanagement hoch. Deshalb hat sich der ­Wirtschaftsrat entschieden, diese spannenden ­Monate mit einem eigenen Podcast zu begleiten. Im EuroPod kommen P olitiker, Unternehmen und ­Wissenschaftler zu Wort und ordnen die Entwicklungen auf europäischer Ebene kritisch ein. Ein kleines Best-of von Zitaten unserer bisherigen Gäste:

aft sehr „ Es zeigt sich, dass die deutsche Wirtsch telstand krisen­resilient ist, insbesondere der Mit s uns jetzt mit vielen Hidden Champions. Es mus ntschaft gelingen, im Zuge dieser EU-Ratspräside sen müs Wir . men neh ­ itzu die anderen Länder m en.“ leist beit gsar Brücken bauen und ­Versorgun

chaftsrates Astrid Hamker, Präsidentin des Wirts

„ Die Coronakrise darf nicht als Ausrede herhalten, um die Tore für eine Schulden-Vergem einschaftung zu öffnen. Wir müssen viel mehr zur Solidität der Staats­finanzen auf EU-Ebene zurückke hren.“ Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates

„ Zu den jetzigen gemeinsamen A nstren­ gungen gibt es m einer Meinung nach wenige vernünft ige Alternativen .“ Rainer Wie

land, Vize-Prä sident des EU -Parlamen

ts

„ In der Union haben wir Prinzipien und n es keine Dogmen und wenn die Situatio delt, han erfordert, dass man ­entsprechend be dann muss dann auch handeln. Ich glau das hat hier in Deutschland bei den Corona-Paketen jeder verstanden und auf europäischer Ebene ist es auch so.“

Ralph Brinkhaus MdB, stagsfraktion Vorsitzender der CDU/CSU-­Bunde

Zu hören gibt es die Folgen online auf https://soundcloud.com/pressestelle-wirtschaftsrat Um auf dem Laufenden zu ­bleiben, können Sie sich auch für unseren Europa-Newsletter anmelden.

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JUNGER WIRTSCHAFTSRAT Demokratie

Im Netz für Demokratie streiten W ir alle verbringen viel Zeit damit, auch online mit Menschen in Kontakt zu treten. Radikale Gruppierungen nutzen das aus. Sie spiegeln als Trolle – also Personen, die andere gezielt emotional provozieren – vor Wähler zu sein. In Kommentarspalten und Twitter-Unterhaltungen inszenieren solche radikale Aktivisten eine Welt, die extremer scheint als sie ist. Die berühmte Filter-Bubble entsteht nicht nur durch Algorithmen, sondern auch durch bewusste Manipulationen durch Troll-Armeen. In Finnland hat Sauli Niinistö übrigens schon 2014 begonnen, Amtsträger, Politiker und Staatsdiener umfassend darin zu schulen, solche Manipulationen zu entlarven und online gegen sie zu arbeiten. Er rief 2015 alle Finnen dazu auf, als Staatsbürger den Kampf gegen diese Trolle aufzunehmen. Oft reichen schon wenige Personen einer Gruppe, um die ganze Gruppe zu immunisieren. Die Maßnahmen wirken in Finnland – und sie waren nötig, denn das Land ist seit über 100 Jahren massiv russischer Propaganda ausgesetzt. Eine ähnliche Mobilisierung brauchen wir in Deutschland auch.

Foto: Jens Schicke

Marcus Ewald Bundesvorsitzender Junger Wirtschaftsrat

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Die massenhafte Manipulation von Amts- und Mandatsträgern und ihrer Anhänger ist ein gezielter Angriff auf einen Teilbereich unserer Meinungsfreiheit: der Meinungsbildung und hier ganz konkret von Parteien. In unserer Demokratie kommt Parteien die verfassungsgemäße Aufgabe zu, an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Wenn verdeckt und zentral gesteuert darauf Einfluss genommen wird, um nicht verfassungsgemäße Ziele zu verfolgen, ist dies ein Angriff auf unsere Demokratie. Fake-News haben es leicht: Der Lügner weiß, was dem Publikum gefällt und wovor es sich fürchtet – und sagt genau das. Wer die Wahrheit sagt, ist nicht so flexibel. Diese Strategie ist einfach, erfolgreich und zutiefst antiliberal. Gezielt werden so Personen mit gemäßigten Meinungen mundtot gemacht und Menschen mit differenzierten Meinungen als Verräter beschimpft. Eine wehrhafte Demokratie des 21. Jahrhunderts muss mit diesen Phänomen des digitalen Zeitalters umgehen lernen und Bürger für den Kampf gegen Fake News rüsten. Die politischen Parteien sind gefragt, mit gutem Beispiel vorangehen. Wir werden sie bekämpfen, wo auch immer sie uns begegnen. Und wir werden siegen, denn die Freunde der offenen Gesellschaft sind in der Mehrheit. Zeigen wir ihren Feinden, welche Kräfte in uns überzeugten Demokraten schlum­ l mern.

Foto: Jens Schicke

Fake News haben es leicht, weil der Lügner weiß, was dem Publikum gefällt.

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WIRTSCHAFTSRAT Engagement

Text: A rmin Peter

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s ist ein ehrgeiziges Ziel: Bis 2050 soll die europäische Wirtschaft komplett CO2-frei produzieren, so sieht es der „Green Deal“ der EU-Kommission vor. Der Wirtschaftsrat beteiligt sich auch über seine Bundesfachkommission Umwelt und Klima mit konstruktiven Vorschlägen an der Diskussion. Neuer Vorsitzender des Gremiums ist Detlev Wösten, Chief Innovation Officer bei der Hamburger H&R GmbH & Co. KGaA. Der 48-Jährige ist ein moderner Pionier: Sein Unternehmen produziert hochwertige chemisch-pharmazeutische Spezialprodukte wie Prozess- und Weißöle oder Wachse, wozu Wasserstoff benötigt wird – und den stellt H&R in einer Elektrolyse-An-

lage selbst her. „Wir nutzen dabei die großen Potentiale des Grünstroms in Norddeutschland, vor allem aus Windkraft“, erklärt Detlev Wösten. „Das Verfahren ist eigentlich ganz einfach: Wasser wird unter Strom gesetzt, sodass es sich in seine Bestandteile Sauerstoff und Wasserstoff aufteilt. Die Gase werden aufgefangen und gereinigt – und fertig ist der Wasserstoff. 2019 haben wir so rund vier Millionen Normkubikmeter für den Eigenbedarf produziert, 2.500 Tonnen CO2 eingespart und Schwankungen im Stromnetz ausgeglichen.“ Auf lange Sicht wird der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft auf Basis erneuerbarer Energien eine zentrale Rolle bei der Erreichung der Klimaschutzziele spielen. Bundesregierung

und EU-Kommission haben das erkannt und in diesem Jahr Wasserstoffstrategien verabschiedet. So soll klimaneutraler Wasserstoff für die integrierte Energiewende Europas in der Industrie unverzichtbar werden. „Wir haben durch Strategiepapiere den Rahmen gesetzt und das ‚all electric‘-Dogma durchbrochen, jetzt müssen wir endlich ins Handeln kommen“, sagt Detlev Wösten. „Der Fokus darf bei der Umsetzung nicht auf Ordnungsrecht und staatlichen Detailvorgaben für einzelne Sektoren liegen, sondern auf einem möglichst grenzüberschreitenden, marktwirtschaftlichen Rahmen für den Aufbau einer integrierten Wasserstoffwirtschaft. Mit dem richtigen Fahrplan sind die ehrgeizigen Klimaziele bis 2050 machbar.“

Foto: H&R

„ Dekarbonisierung ­gelingt nur europäisch und mit Sozialer Marktwirtschaft“

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Foto: H&R

WIRTSCHAFTSRAT Engagement

Detlev Wösten, Chief Innovation Officer bei der Hamburger H&R GmbH & Co. KGaA, engagiert sich ehrenamtlich als Vorsitzender der Bundesfach­ kommission Umwelt und Klima im Wirtschaftsrat. Das Gremium bringt sich mit konstruktiven Vorschlägen in die Umwelt- und ­Klimadebatte ein. Die großen Themen sind derzeit die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung, der Green Deal der EU-Kommission und die hohen Strompreise in Deutschland Hinzu kommt, dass gerade Deutschland beim Thema Gasmanagement noch Nachholbedarf hat: „Ich hatte einmal das Vergnügen, ein Wasserstoffauto zu testen“, erzählt Wösten, der mit seiner Frau im südlichen Hamburger Umland lebt. „Da konnte man die Vorteile von Wasserstoff in der Mobilität erleben. Allerdings ist auch klar, dass im Bereich Infrastruktur noch einiges passieren muss.“ Deutschland verfügt zwar über eine sehr gute Erdgas-Infrastruktur, allerdings muss der Rechtsrahmen weiter entwickelt werden, um Pipelines und Gasspeicher auch für die Wasserstoff-Wirtschaft, und damit auch Pionieren wie H&R, verfügbar zu machen. Besonders wichtig ist dem überzeugten Europäer dabei ein einheitliches Vorgehen der EU. „Deutschland geht derzeit einen sehr ambitionierten Weg. Der gleichzeitige Ausstieg aus Kohle und Kernkraft war ein nationaler Alleingang“, bilanziert er. „Die Bundesregierung sollte gerade während der deutschen Ratspräsidentschaft darauf achten, dass wir nicht national, sondern im europäischen Gleichklang arbeiten, um das maximale Potential für Grünstrom zu erschließen.“

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Die Kosten für Strom bereiten dem neuen Kommissionvorsitzenden Sorgen: Deutsche Verbraucher und Firmen zahlen derzeit mit über 30 Cent pro Kilowattstunde die höchsten Preise in Europa. Zudem liegt der Staatsanteil am Strompreis inzwischen bei rund 54 Prozent – tatsächlich resultieren nur 21 Prozent des Strompreises aus den tatsächlichen Kosten der Stromerzeugung. „Vor allem

„Der gleichzeitige Ausstieg aus Kohle und Kernkraft ist ein nationaler Alleingang.“ durch Abgaben und Umlagen ist der Strompreis zu hoch, die Energiekosten werden damit für viele Unternehmen zum Standortrisiko“, kritisiert Wösten. „Wir bräuchten deshalb eine R ­ oadmap für das vollständige Auslaufen der EEG-Umlage und gleichzeitig eine marktwirtschaftliche Perspektive für Erneuerbare.“ Um möglichst viel Treibhausgas zu möglichst geringen Kosten für Unternehmen und Bürger einsparen zu können, setzt der Hamburger auf

mehr Effizienz und möglichst große Technologieoffenheit. „Natürlich sehen auch wir die Rolle der bat­ terie­elektrischen Mobilität in einigen Bereichen, aber in einem technologie­ offenem Mix werden auch Wasserstoff und darauf aufbauende Technologien wie Power-to-Liquids bzw. Powerto-­ Chemicals eine Rolle spielen“, ist ­ Wösten überzeugt. „Wichtigste ­Voraussetzung ist aber, dass tatsächlich große Mengen grünen Stroms zu ­ international wettbewerbsfähigen Kosten verfügbar sind.“ Eine ebenfalls wichtige und leider auch sehr knappe Ressource ist für Detlev Wösten die Freizeit. Wenn die Arbeit es zulässt, verbringt er gern entspannte Stunden auf dem Golfplatz, trifft Freunde oder geht auf Reisen – auch wenn das in letzter Zeit coronabedingt seltener möglich war. Für das überzeugte Nordlicht kein grundsätzliches Problem: „Ich würde zwar Europa als meine Heimat bezeichnen, aber wir fühlen uns hier sehr wohl“, sagt er. „Eine Stadt wie Hamburg macht mit den kurzen Wegen zu den Küsten einfach Spaß.“ Im Wirtschaftsrat engagiert sich der 48-Jährige vor allem deshalb, weil ihm die Soziale Marktwirtschaft ein Herzensanliegen ist. „Megatrends wie etwa die Digitalisierung ändern unser Leben und die Geschäftsprozesse. Zugleich schrumpft der Anteil Deutschlands an der weltweiten Wirtschaftsleistung, die Machtachsen verschieben sich“, sagt er. „Nur wenn wir Klimaschutz, Innovation und Wirtschaftsleistung als Einheit verstehen und auf die Grundpfeiler unserer Sozialen Marktwirtschaft bauen, kann Europa auch künftig eine Führungsrolle beanspruchen.“ Als Vorsitzender der Bundesfachkommission Umwelt und Klima will Detlev Wösten seinen Teil dazu beitragen, dass diese Ideen auch künftig Gehör finden. „Dankbar bin ich deshalb auch für die leidenschaftliche Arbeit in den Bundes- und den Landes-Geschäftsstellen sowie dem engagierten Mitwirken der vielen ­ ehrenamtlichen Mitglieder beim Wirtschaftsrat und der Bundesfachkommission Umwelt und Klima­ l politik“, sagt er.

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WIRTSCHAFTSRAT Aus den Ländern

Hessische Wirtschaftstage Die Corona-Pandemie stellt unsere Wirtschaft vor historische Herausforderungen. Wir erleben eine Zwangspause für Unternehmen, das Zusammenbrechen von Lieferketten und in der Folge eine gesamtwirtschaftliche Rezession. Doch insbesondere in dieser Extremsituation kommt es für Wirtschaft und Politik entscheidend darauf an, in gemeinsamer Verantwortung zu handeln. Die digitalen Hessischen Wirtschaftstage sollen ein Signal der Verantwortung und des Optimismus aussenden. „Das Thema Digitalisierung hat mit der Corona-Krise stark an Bedeutung gewonnen. Der Wirtschaftsrat stellt mit den digitalen Hessischen Wirtschaftstagen wichtige Weichen. Das sind gute Signale für die Zukunft“, eröffnete Prof. Dr. Kristina Sinemus, Vorsitzende des Landesverbands Hessen im Wirtschaftsrat den Wirtschaftstag. Hessische Wirtschaftstage „Oft werde ich gefragt, was der Digital Unterschied zwischen Sozialer Marktwirtschaft und Kapitalismus ist. Eine Soziale Marktwirtschaft existiert, wenn es den Arbeitnehmern gut geht, weil es den Unternehmen gut geht. Im Kapitalismus hingegen geht es den Unternehmern gut, weil es den Arbeitnehmern schlecht geht“, sagte Friedrich Merz, Vizepräsident des Wirtschaftsrats. „Unsere solide Haushaltspolitik hat sich in der Krise bezahlt gemacht. Im Zuge der EU-Ratspräsidentschaft müssen wir Brücken bauen und als best-practice zeigen, dass unsere Politik geholfen hat, besser durch die Krise zu kommen“, betonte Astrid Hamker, Präsidentin des Wirtschaftsrates. „In Europa muss es eine klare Zweckbindung der Mittel ­geben und es gilt, zur Solidität zurückzufinden. Die Krise darf nicht für eine Vergemeinschaftung von Schulden herhalten“, so Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates. „In der Krise ist in erster Linie die Fiskalpolitik gefordert, sie hat großartig gewirkt. Auch auf EU-Ebene wurden wichtige fiskalische Maßnahmen getroffen. Die Finanzierung der ­deutschen Wirtschaft darf nicht nur auf dem Bankensektor fußen, sie muss auch auf dem Kapitalmarkt aufbauen“, sagte Dr. ­Sabine Mauderer, Mitglied des Vorstands, Deutsche Bundesbank. „Der EU-Wiederaufbaufonds ist ein tolles Signal für E ­ uropa, insbesondere für die südeuropäischen Staaten. Die Rahmenbedingungen jedoch müssen so überarbeitet werden, dass die nächsten Generationen nicht zu lange durch die Hilfs­ maß­nahmen belastet werden“, unterstrich Nicola Beer MdEP, ­Vize­präsidentin des Europäischen Parlaments. Auf den hochkarätig besetzten Podien aus Wirtschaft, ­Politik und Wissenschaft wurden diese Themen intensiv dis-

Wirtschaftsrat der CDU e. V. Landesverband Hessen

1. – 2. Juli 2020 Beginn: 14.00 Uhr │ Ende: 18.30 Uhr

Die Stimme der Sozialen Marktwirtschaft

@Gerd Altmann by pixabay.com

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Nordrhein-Westfalen Digitale Gesundheitsdialog NRW 2020 mit Bundesminister Jens Spahn MdB Über die Perspektiven der Zukunftsbranche Gesundheitswirtschaft diskutierte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit rund 350 Vertretern des Wirtschaftsrats, Unternehmern aus dem Gesundheitswesen sowie Mitgliedern der Geschäftsführung von Janssen Deutschland in einer Videokonferenz mit ­Mitgliedern des Wirtschaftsrates in Nordrhein-Westfalen. ­Anlass war der Digitale Gesundheitsdialog NRW 2020, zu dem der Landesverband auf den Campus des forschenden Pharmaunternehmens eingeladen hatte. Im Dialog mit Jens Spahn standen Themen wie E-Health, die Telematik-Infrastruktur, die Krankenhausplanung sowie die Impfstoffentwicklung. v.l.n.r. Jens Spahn MdB, Bundesminister für Gesundheit, Andreas Gerber, V ­ orsitzender der „Die Pandemie hat geGeschäftsführung, Janssen-Cilag GmbH zeigt, dass digitale Lösungen die V ­ersorgung von Patienten deutlich verbessern. Viele Ärzte aber auch Psychotherapeuten haben per Videosprechstunde den Kontakt zu i­hren Patienten aufrechterhalten. Wir sorgen dafür, dass Innovationen schnell im Versorgungsalltag ankommen – vom E-Rezept bis zur App auf Rezept. Nur wenn wir unser ­Gesundheitswesen konti-

Foto: Mathias Morawetz

Hessen

kutiert: „Mittelstand nach der Corona-Krise“, „Exportweltmeister Deutschland – Zukunft der internationalen Handelspolitik“, „Lessons learned – Infrastruktur für das Leben von morgen“ und „Finanzmärkte zwischen Brexit-Krise und Corona-Schock“. Im Abschlusstalk präsentierten Tilman Kuban, Vorsitzender der Jungen Union Deutschland und Prof. Hans Helmut Schetter, Vizepräsident des Wirtschaftsrates ihre Strategien für ein geeintes Europa. „Wir müssen mehr Mut- als Wutbürger sein“, erklärte Tilman Kuban, Vorsitzender Junge Union Deutschland und forderte: „Man muss der jungen Generation Hoffnung geben. Hierzu brauchen wir ein stabiles und solidarisches Europa, das wir auch bereit sind, mit Geldern zu unterstützen. Investitionen sollen eine europäische Innovationskultur fördern. Hier müssen wir Mutmacher sein.“ Prof. Hans Helmut Schetter betonte, dass ein geeintes Europa alternativlos ist. „Europa muss groß gedacht werden, mit gemeinsamen ­Projekten, Solidarität und großer Subsidiarität. Dazu gehört auch Platz zu schaffen, für die, die den Platz nutzen wollen, um die Zukunft unseres Landes zu gestalten.“

Foto: Mathias Morawetz

Rückblick Einblick Ausblick

v.l.n.r. Mark Steinbach, Dr. Rainhardt Freiherr von Leoprechting, Jens Spahn MdB, Andreas Gerber, Dr. Hans-Christian Wirtz, Alice Reckmann, Dominik Burziwoda

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WIRTSCHAFTSRAT Aus den Ländern

Foto: Wirtschaftsrat

Landesgeschäftsführer Frank-Norbert Oehlert hatte den Generalsekretär der CDU Deutschlands, Paul Ziemiak, zu einem Dialog eingeladen, der für Mitglieder live übertragen wurde. Im Zentrum des Gesprächs standen die Pandemie und die Kommunalwahlen im Land. „Die Kommunen haben die Auswirkungen des Shutdowns auf Menschen, Gesellschaft und Wirtschaft konkret gespürt. Ihnen kommt die schwierige Aufgabe der Bewältigung der schwersten Wirtschaftskrise seit der Paul Ziemiak (l.) und Frank-Norbert Oehlert (r.) Gründung der Bundesrepublik zu. Bei stark zurückgehenden Steuereinnahmen werden zugleich die Sozialausgaben steigen. Die bereits jetzt angespannten Kommunalhaushalte geraten in eine Schieflage, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft dürften nur eine temporäre, wohl begründete und überlegte Ausnahme bleiben. „Der Staat ist in der Sozialen Marktwirtschaft der Schiedsrichter und kein Mitspieler“, sagte Paul Zimiak. Staatsinterventionistische Tendenzen seien abzulehnen.

Mecklenburg-Vorpommern

Foto: Dietrich Monstadt MdB

Dietrich Monstadt MdB diskutiert mit Unternehmern Über die künftige Ausrichtung der Gesundheitswirtschaft im Land diskutierte Dietrich Monstadt MdB mit Unternehmern im Wirtschaftsrat. Vor allem ihrer Sorge, dass die Fallzahlen von Covid-19-Erkrankungen wieder steigen könnten, verlieh die Landesfachkommission Gesundheitswirtschaft Ausdruck. Die Gesundheitswirtschaft ist ein sehr wichtiger Wirtschaftssektor im Land. Dafür braucht es mehr qualifiziertes Personal, das schon heute vor allem für die Pflege nicht zu finden sei. Mecklenburg-Vorpommern müsse hier die eigene Ausbildung fokussieren, Quereinsteigern und Rückkehrern den Einstieg erleichtern, aber auch die Anwerbung und Integration ausländischer Fachkräfte verstärken. Dabei müsse die zügige Anerkennung ausländischer Dietrich Monstadt MdB Abschlüsse und Zusatzqualifikationen, aber

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Baden-Württemberg Volkswirtschaftlicher Ausblick mit Prof. Dr. Michael Hüther Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, gab im Webtalk mit Unternehmern im Wirtschaftsrat seine Einschätzung zu den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise und bewertete das Konjunkturpaket der Bundesregierung. Prof. Dr. Hüther äußerte sich vorwiegend optimistisch über das Konjunkturpaket, die Gesamtsumme und auch den Zeitpunkt der Hilfe. Wichtig für die künftige Wirksamkeit seien die Zielgenauigkeit der Maßnahmen und die Befristung der Hilfen. Das Paket solle zu einem Dynamikwechsel verhelfen und Anstöße geben, dürfe aber in keinem Fall zu einer dauerhaften Lösung Prof. Dr. Michael Hüther werden. Laut den derzeitigen Prognosen solle das Bruttoinlands­ produkt bereits 2021 wieder auf Vorkrisenniveau liegen, betonte Prof. Dr. Hüther. Auf die Frage nach dem Risiko für eine Inflation, gab er Entwarnung. Die Vermögenspreise würden sich im normalen Rahmen bewegen und es gebe eine hohe Preisstabilität durch den internationalen Wettbewerb. In der Diskussion standen zudem die Arbeitsmarktentwicklung sowie eine europäische Krisenbewältigung im Fokus.

Foto: Uta Wagner

Paul Ziemiak diskutiert mit NRW-Wirtschaftsrat

auch die Ausbildung ausländischer Mitbürger – bei vorhandenen Sprachkenntnissen – fester Bestandteil eines strategischen Konzepts zur Sicherstellung des Arbeitskräftepotentials in der Pflegewirtschaft werden.

Landesverband überreicht Innenminister Analyse zu Innovationsbremsen Der Wirtschaftsrat hat eine Mitgliederbefragung zum Thema „Innovationsbremsen in Baden-Württemberg“ durchgeführt. Die Ergebnisse wurden im Rahmen einer Videokonferenz ­digital an Innenminister Thomas Strobl überreicht. „Die Politik muss mit Nachdruck an einer zeitnahen Behebung der Hürden arbeiten, um den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg zu stärken“, sagte Landesvorsitzender Joachim Rudolf. Zusammen mit Sven Lierzer, Head of Public Affairs der BridgingIT GmbH, und Rainer Scharr, geschäftsführender Gesellschafter der Friedrich Scharr KG, führte er die Umfrageergebnisse genauer aus. Der Wirtschaftsrat hat 368 Unternehmen befragt. Konkret sehen 66 Prozent der befragten Unternehmer die künftige Wettbewerbsfähigkeit Baden-Württembergs durch Innovationsbremsen in Form von Gesetzen, Verordnungen und politischen Rahmenbedingungen erschwert. Dabei nannten die Befragten vor allem Hürden aus dem Bereich Öffentliche Verwaltung und Bürokratie, der Datenschutzgrundverordnung sowie der digitalen Infrastruktur. Innenminister Thomas Strobl bedankte sich für den konstruktiven Austausch. Es freue sich über Impulse aus der Unternehmerschaft, um den Fokus auf wirtschaftspolitische Hürden zu lenken. Nur dann könne die Landesregierung den Abbau dieser mit NachInnenminister Thomas Strobl druck vorantreiben.

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Foto: CDU Baden-Württemberg

nuierlich modernisieren, bleibt es so stark wie wir es jetzt erlebt haben“, sagte der Bundesgesundheitsminister. „Die Corona-Pandemie hat eindrucksvoll gezeigt, wie leistungsfähig das deutsche Gesundheitssystem ist. Das haben nicht zuletzt die zurückliegenden Monate gezeigt: Tests, Impfstoffe und Therapien gegen COVID-19 werden in einem nie dagewesenen Tempo entwickelt. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass dieses System leistungsfähig bleibt, medizinische Innovationen belohnt und Patienten auch in Z ­ ukunft die beste Versorgung erhalten!“, betonte Andreas Gerber, V ­ orsitzender der Geschäftsführung von Janssen Deutschland.


Foto: Wirtschaftsrat

Die Chance zum Durchbruch für Brandenburg Auf dem Sommerabend der Sektion Potsdam richtete der stellvertretende Ministerpräsident und Minister des Innern und für Kommunales, Michael Stübgen, seinen Blick auf die Chancen Brandenburgs in den nächsten Jahren. Eine nie dagewesene Dimension privater Investitionen biete die Chance zum Durchbruch, sagte Michael Stübgen. Dies sei in Anbetracht der nicht absehbaren Folgen durch die Corona-Krise insbesondere eine Frage guten Regierens. Durch eine solide Haushaltspolitik sei man für die Zukunft handlungsfähig. Durch die Aufnahme eines Milliardenkredits, um einen Zukunftsinvestitionsfonds aufzusetzen, und den Corona-Kredit in Höhe von zwei Milliarden Euro, sei es möglich, dort wo es am dringendsten ist, schnellstmöglich einzugreifen, betonte Stübgen. Er forderte, dass die noch nicht abgerufenen Mittel nun für den Anschub der Wirtschaft, wie etwa durch Infrastrukturprojekte, verwendet werden. Dabei zeigte sich der stellvertretende Ministerpräsident zuversichtlich: Durch die angestoßenen Neuansiedlungen und Investitionen in BranDetlev Seeliger (l.), Michael Stübgen (r.) denburg stünden bereits mehr neue Arbeitsplätze bis 2025 in Aussicht, als man im Bereich des Kohleabbaus bis 2038 voraussichtlich verlieren werde. Weiterhin forderte Michael Stübgen, das Thema Sicherheit und Ordnung stärker in den Fokus zu rücken. So sei ein Aufbau von Polizeikräften für das Land besonders wichtig. Auch müsse man sich dringend um den Rechtsapparat kümmern. Der Mangel an Richtern und Staatsanwälten müsse strukturell angegangen werden. „Wir haben schwierigste Zeiten vor uns“, mahnte Stübgen. Hinsichtlich der anstehenden Steuerschätzungen und den damit einhergehenden Haushaltseinschränkungen zeichnete er Parallelen zur Wirtschaftskrise vor rund zehn J­ ahren. Durch gutes Regieren und eine lösungsorientierte Politik sei er allerdings überzeugt, erneut erfolgreich zu sein, diese zu bewältigen.

Hamburg Trigema-Chef Wolfgang Grupp: „Wir brauchen die volle Haftung für die Entscheidungsträger“ Dass Wertschöpfungs- und Lieferketten über mehrere Kontinente hinweg filigran sind, zeigt die Corona-Pandemie. Insofern verwundert der Ruf nach einer Relokalisierung bestimmter Produkte nicht. Dem Trend, Produktion ins Ausland zu verlagern und auf Massenproduktion in Niedriglohnländern zu setzen, hat sich das Textilunternehmen Trigema aus dem

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baden-württembergischen Burladingen ohnehin immer widersetzt. „100% Made in Germany“ lautet seit jeher das Credo des mittelständischen Unternehmens. In einem Online-Interview mit dem Wirtschaftsrat sprach Trigema-Chef Wolfgang Grupp u.a. über die Erfolgsfaktoren seiner Firma und unternehmerische Verantwortung. Er warnte davor, angesichts der Corona-Krise über Jahrzehnte aufgebaute Errungenschaften in der internationalen Zusammenarbeit in Frage zu stellen. Sowohl mit der Globalisierung als auch mit Europa gingen enorme Vorteile einher, die es zu bewahren gelte. Auf der anderen Seite betonte der Unternehmer aber auch, dass Deutschland in der Lage sein müsse, bestimmte Güter – gerade in Krisenzeiten – selbst Wolfgang Grupp zu produzieren. Überhaupt nicht einverstanden zeigte sich Wolfgang Grupp mit staatlicher Unterstützung für Firmen, die schon vor der Corona-Krise schlecht wirtschafteten: „Solche Geschäfte müssen endlich vom Markt verschwinden. Das hat mit Marktwirtschaft nichts mehr zu tun. Wir brauchen die volle Haftung für die Entscheidungsträger.“

Saarland Nadine Schön: „Wir brauchen ein echtes Reformjahrzehnt“ einer Videokonferenz mit Unternehmern im WirtschaftsAuf rat betonte Nadine Schön MdB: Große Krisen hätten in der Geschichte immer große Reformen hervorgebracht. Die habe man dringend nötig. Die stellvertretende Vorsitzende der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion wörtlich: „Wir brauchen ein echtes Reformjahrzehnt und einen besseren Zeitpunkt als jetzt wird es dafür nicht geben!“ Die Bundesabgeordnete machte deutlich, an welchen Stellen unser auf teilweise 200 Jahre alten Strukturen beruhendes System an seine Grenzen stoße, und gab ganz konkrete Vorschläge zur Verbesserung. „Unser Leitprinzip muss der ‚lernende Staat‘ sein.“ So müssten Gesetze fortlaufend an Hand von klar messbaren Erfolgsindikatoren überprüft und an neue Gegebenheiten angepasst werden. Nur ein ‚lernender Staat‘ könne Nadine Schön MdB auf Megatrends wie Digitalisierung, neue internationale Konkurrenz, Klimawandel, Pandemie-Vorsorge und den Wandel der Gesellschaft adäquat reagieren. Ziel sei es nun die Reformvorschläge in das Wahlprogramm der Union aufzunehmen und so auch in mögliche Koalitionsverhandlungen für die nächste Legislaturperiode. Gerade erst haben die zwei CDU-Bundestagsabgeordneten Thomas Heilmann und Nadine Schön ihr Buch „NEUStaat“ vorgestellt, in dem sie 103 radikale Reformvorschläge machen, um das Gemeinwesen krisen- und zukunftsfest zu machen.

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Foto: Tobias Koch

Berlin-Brandenburg

Foto: Trigema

WIRTSCHAFTSRAT Aus den Ländern


WIRTSCHAFTSRAT Aus den Ländern

Hessen

Foto: Wirtschaftsrat

Innovations- und Energieforum diskutiert mit Politikern Zum ersten, hybriden Diskussion begrüßte das Netzwerk Umwelt & Energie neben hochkarätigen Unternehmern beider Branchen, die hessische Digitalministerin und Landesvorsitzende Prof. Dr. Kristina Sinemus, das Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Energie, Klaus-Peter Willsch MdB (CDU) sowie den digitalpolitischen Sprecher der hessischen Bündnis 90/Die Grünen-Landtagsfraktion, Torsten Leveringhaus. „Nachhaltige und zukunftssichere Digitalisierung ist ohne sichere Energieversorgung nicht machbar. Deshalb benötigen wir eine leistungsfähige, energieeffiziente Infrastruktur, die die Energieversorgung auch für künftige Generationen sicherstellt. Die Energiewende kann nur mit Digitalisierung gelingen“, betonte die Ministerin. Diskutiert wurde die Verbesserung der energiepolitischen Die Vorsitzenden der Landesfachkommission Umwelt& Energiepolitik, Prof. Dr. Peter Birkner (l.) und Björn RahmenbedingunVortisch (r.) mit Torsten Leveringhaus MdL (Mitte). gen, damit die Zu-

kunftsindustrie Rechenzentren wachsen kann. Nur in Hessen und besonders Frankfurt verfüge Deutschland über eine Backbone-Architektur auf internationalem Spitzenniveau. Björn Vortisch, Co-Vorsitzender der Landesfachkommission Umwelt- & Energiepolitik, überreichte den Politikern ein Positionspapier seiner Kommission zum Thema und betonte: „Der Erfolg der Digitalisierung ist hierzulande abhängig von einer erfolgreichen Energiepolitik und -strategie. Nur wenn ausreichend Kapazitäten verfügbar und die Versorgung mit Strom sicher und bezahlbar bleibt, wird Frankfurt seine starke Rolle im Standortwettbewerb um Rechenzentrumskapazitäten halten können.“

Sachsen Wirtschaftstag mit Ministerpräsident Kretschmer Unter dem Motto „Sachsen 2030 – Wovon wollen wir leben?“ setzten sich knapp 100 Mitglieder in Dresden sowie live per Video-Stream zugeschaltete Gäste mit der Frage der Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandortes Sachsen auseinander. Ziel ist es, alle innovativen Kräfte im Freistaat in effizienten Wertschöpfungsketten miteinander verknüpfen. „Wir brauchen ganzheitliche Konzepte und Umsetzungsstrategien um unsere Innovationskraft zu steigern, unsere heimischen Ressourcen besser zu nutzen und um unseren Mobilitätsstandort zu s­ichern“, sagte Landesvorsitzender Dr. Dirk Schröter. Der sächsische

MAX AICHER EIN NAME. EINE VISION. Auch in der Zukunft wird die Max Aicher Unternehmensgruppe großen Wert auf Energie, Umweltschutz und Effizienz legen. Wir achten auf erneuerbare Energie, um regionale Energiegewinne zu unterstützen. Ebenso hat der Schutz unserer Ressourcen einen hohen Stellenwert, damit auch unsere Urenkel noch ein unbeschwertes Leben auf dieser Erde führen können. Wir denken weiter. Wir übernehmen Verantwortung für die Zukunft. Mehr Information zu unseren Leistungen und Bemühungen finden Sie im Internet unter www.max-aicher.de.

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­ inisterpräsident Michael Kretschmer verwies auf das ErfolgsM rezept des wirtschaftlichen Aufbruchs 1990: mehr Freiheit und weniger Regulierung für unternehmerisches Handeln. Der Staat müsse sich darauf konzentrieren, die Rahmenbedingungen zu schaffen. So ließen sich Wachstumsimpulse zünden und nicht durch immer mehr Zuschüsse und Subventionen aus Steuergeldern. Er sprach sich für eine signifikante Senkung des Strompreises aus und bekräftigte, das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 fertigzustellen.

Niedersachsen

Foto: Wirtschaftsrat

Christian Lindner diskutiert mit Unternehmern über New Work Die Corona-Krise hat auch die Arbeitswelt vor neue Herausforderungen gestellt. Viele Arbeitsbereiche und –strukturen mussten plötzlich neu gedacht werden. Diese Revolution der Arbeitswelt ist aber viel mehr als nur Homeoffice. Mehr Flexibilität, eine Reform von Arbeitszeit- und Arbeitsschutzgesetz und Selbstführung werden zukünftig nötig sein. Dies und mehr wurde auf einem Podium der Kommission Digitales Niedersachsen des Wirtschaftsrates diskutiert. Der Vorsitzende der Landesfachkommission Sebastian Bluhm, diskutierte mit Christian Lindner MdB, Bundesvorsitzender der FDP und Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, Prof. Dr. Anabel Ternès von Hattburg, CEO & Founder der GetYourWings gGmbh sowie Sebastian Koeppel, geschäftsführender Gesellschafter der beckers beste GmbH, über die „(R)evolution des Christian Lindner MdB Arbeitsmarktes dank Corona“ und wie New Work für Unternehmen umgesetzt werden kann. Christian Lindner MdB verdeutlichte die massiven Anstrengungen von Unternehmen und Privatpersonen in der Corona-Krise. Für ihn sei deutlich geworden, dass wir über enorme Flexibilitätsreserven verfügten.

Carsten Linnemann MdB: Soziale Marktwirtschaft statt Staatswirtschaft Die Landesvorsitzende in Niedersachsen, Anja Osterloh, begrüßte zugeschaltete Unternehmer und Gastredner Carsten Linnemann MdB zu einem Webtalk. Der Vorsitzende der Mittelstands- und Währungsunion der CDU/CSU äußerte sich kritisch zur Zeit nach Corona: „Wir haben erst zehn bis 15 Prozent der wirtschaftlichen Folgen dieser Krise hinter uns.“ Derzeitige Umfragewerte bekannter Forschungseinrichtungen würden wenig aussagen. Die tatsächlichen volkswirtschaftlichen Folgen ließen sich nur erahnen. Carsten Linnemann geht davon aus,

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Brüssel Prioritäten der Deutschen EU Ratspräsidentschaft „Die deutsche Ratspräsidentschaft findet in einem historischen Moment statt. Ihre Prioritäten sind klar definiert. Wir arbeiten zu allererst an der Überwindung der Corona-Pandemie, setzen uns aber klar ein für ein stärkeres, gerechteres, innovativeres und nachhaltigeres Europa“, stand Susanne Szech-Koundouros, deutsche Botschafterin und stellvertretende Ständige Vertreterin der Bundesrepublik Deutschland bei der EU, in einem Webtalk mit Mitgliedern des Wirtschaftsrates Rede und Antwort. Die Deutsche Ratspräsidentschaft müsse als ehrlicher Makler und in moderierender Funktion dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen als Folge der Pandemie den EU-Ländern nicht nachhaltig schaden. „Darum wollen wir unter deutscher Ratspräsidentschaft gemeinsam einen Wiederaufbauplan für Europa auf den Weg bringen, zusammen mit einer Einigung auf einen Haushaltsrahmen für die Jahre 2021 bis 2027“, sagte die Botschafterin. Des Weiteren gebe es Themen, die man wegen feststehender Fristen klären müsse, etwa den Brexit. Susanne Szech-Koundouros betonte, man müsse aus der Corona-Pandemie lernen und sich für eine Verbesserung des EU-Krisenmanagements einsetzen. Entscheidende Voraussetzung für die Erholung in Europa sei die wirtschaftliche Erholung der

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Foto: CC BY-NC 4.0

v.l.n.r.: Linda Teuteberg MdB, Dr. Dirk Schröter, Ministerpräsident Michael Kretschmer

dass es im Herbst zu einer Welle von Insolvenzen kommen und die Zahl der Arbeitslosen auf etwa drei Millionen anwachsen werde. Auch das Verbrauchervertrauen werde so schnell nicht zurückkehren, sagte Carsten Linnemann. Nach den notwendigen Sofortmaßnahmen müssten nun gezielt Strukturveränderungen folgen. Carsten Linnemann MdB Auch die staatliche Beteiligung bei der Lufthansa dürfe kein falsches Zeichen setzen. „Im Herbst könnten die Rufe nach Staatsbeteiligungen in Unternehmen lauter werden“, betonte Carsten Linnemann. Aber es dürften keine weiteren folgen. Vielmehr sollte bei den Krediten nachgebessert werden, etwa bei den Fristen. Zudem sei entscheidend, dass die Gesellschaft nicht gespalten werde. Der Bundestag müsse signifikant verkleinert und weniger Verbeamtung zugelassen werden. Darüber hinaus sprach sich Carsten Linnemann gegen Steuererhöhungen aus. Die Mehrwertsteuersenkung werde nicht ausreichen, um mittlere und kleinere Einkommen zu mehr Konsum zu animieren. Diskutiert wurden auch die allgemeine Vorschulpflicht, eine Neuausrichtung des Arbeitszeitgesetzes sowie der europäische Energiemarkt.

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Bremen

Foto: Wirtschaftsrat

Hintergrundgespräch mit Senatorin Kristina Vogt MdBB Bremer Unternehmer diskutierten unter der Moderation des Landesvorsitzenden Jörg Müller-Arnecke in einem Hintergrundgespräch mit der Senatorin für Wirtschaft, Arbeit und E ­ uropa, Kristina Vogt MdBB, über ihr aktuelles Kerngeschäft: das Bundeskonjunkturpaket. Als Vorsitzende der Wirtschaftsministerkonferenz gab es für die Senatorin zuletzt keine Vers chnaufp aus e : Das Bestehen jedes einzelnen Un te r n e hm e n s nach der CoroWirtschaftssenatorin Kristina Vogt im Gespräch mit dem na-Krise ist ihr Wirtschaftsrat ein wichtiges Anliegen. Insbesondere der Dialog zwischen Wirtschaft und Politik liegt ihr am Herzen, auch überregional. Mit Blick auf Wasserstofftechnologien und Windenergie wünscht sich Kristina Vogt einen engen Schulterschluss der norddeutschen Politik. Die Senatorin diskutierte mit Mitgliedern des Wirtschaftsrates über die Einführung e­ iner Mindestrente, die Abwanderung der Wirtschaftskapazität aus der Stadt sowie die Auszahlung der Corona-Finanzhilfen. Sie ermutigte die Unternehmer sich die Diskussion um den wirtschaftlichen Wandel einzubringen – nur so könne Bremen als attraktiver Wirtschaftsstandort aus der Krise hervorgehen.

Sachsen Mitteldeutscher Wirtschaftsdialog: Marco Wanderwitz MdB über Chancen im Osten Im Rahmen des Mitteldeutschen Wirtschaftsdialogs der Landesverbände Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt schilderte Marco Wanderwitz MdB, Ostbeauftragter der Bundesregierung, wie es gelingen könne, „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in Deutschland zu erlangen. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie begann mit einem Parforceritt durch 30 Jahre Wiedervereinigung, EU-Ratspräsidentschaft, Corona und Konjunk-

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turpakete der Bundesregierung. Er stellte u.a. heraus, dass mit Corona viele Lieferketten weggebrochen seien, Deutschland aber nach wie vor von Rohstoffen aus dem Ausland abhängig sei. Um die innere Einheit Deutschlands zu vollziehen, müsse in West und Ost besser zugehört und mehr übereinander in Erfahrung gebracht werden, damit man sich besser verstehe. Seit 2018 existiere die Kommission „Gleichwertige LebensParlamentarischer verhältnisse“ des Bundesministeriums des InStaatssekretär nern, die Handlungsempfehlungen veröffentlicht Marco Wanderwitz MdB habe – vom Ausbau der Infrastruktur bis hin zur Stärkung des Ehrenamtes. Bei der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und den damit verbundenen Lohnunterschieden müsse man auch die Ausgabeseite in Betracht ziehen, sagte Wanderwitz. Mieten in München seien als größter Block der Lebenshaltung nicht mit denen in Chemnitz vergleichbar. Ferner rangiere die Wirtschaftskraft in den neuen Ländern immer noch 25 Prozent unter Westniveau. Die Löhne im Osten hätten sich zuletzt schneller als die Produktivität entwickelt. Marco Wanderwitz lobte die Vereinheitlichung vieler ­Förderprogramme auf Bundesebene, die zwischen alten und neuen Ländern unterschiedlich geregelt waren. Ferner ging er auf die zukunftsweisenden Elemente in den Konjunkturprogrammen ein, die auf KI, Wasserstoff, autonomes Fahren und Technologie setzen, um Wachstumsimpulse zu entfachen. Insbesondere die Ausweitung der steuerlichen Forschungs­ förderung werde die Konjunktur beleben.

Sachsen-Anhalt Mitteldeutscher Wirtschaftsdialog mit Staatssekretär Dr. Jürgen Ude Magdeburg, Dresden, Erfurt: Die drei mitteldeutschen Landesverbände des Wirtschaftsrates haben ein neues Ver­ anstaltungsformat ins Leben gerufen: die „Mitteldeutschen Wirtschaftsdialoge“. Gleich im ersten digitalen Webtalk mit Dr. Jürgen Ude, Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitalisierung des Landes Sachsen-Anhalt und mit Dr. Christoph Mühlhaus, Sprecher des Clusters Chemie und Kunststoffe Mitteldeutschland, diskutierten zahlreiche Unternehmer im Wirtschaftsrat mit den beiden Referenten die Möglichkeiten der Wirtschaft in Forschungsvorhaben zu investieren und die Potentiale von Clusterbildungen und Leitmärkten in der Region. Dazu – so war man sich schnell einig – sollte es auch eine Staatssekretär Dr. Jürgen Ude „länderübergreifende Zusammenarbeit“ und ­ einen interministeriellen Austausch der drei mitteldeutschen Bundesländer geben, um die Innovations­ strategien voranzutreiben. Insbesondere in den Fokus genommen werden sollten dabei auch die Bereiche Wasserstoff, Wasserstoffstrategie Strukturwandel, Automotive und Elektromobilität.

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Foto: Harald Krieg

Unternehmen. Die deutsche Ratspräsidentschaft strebt daher an, die Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Europa zu erhöhen und strategische Wertschöpfungsketten zu stärken. Grundlage hierfür sei ein innovatives Europa, das auf den zentralen Säulen von digitaler und technologischer Souveränität fuße. Man setze auf die Offenhaltung von Märkten und die Stärkung von Handel und Investitionen auf Basis internationaler, durchsetzbarer Regeln und trete Protektionismus und Renationalisierungsmaßnahmen entschieden entgegen.

Foto: Marco Wanderwitz

WIRTSCHAFTSRAT Aus den Ländern


WIRTSCHAFTSRAT Aus den Ländern

Schleswig-Holstein

Thüringen

Paradigmenwechsel in der deutschen Außenwirtschaftspolitik

Antje Tillmann MdB: Die Wirtschaft zieht ab 2021 wieder an

Impressum Herausgeber: Astrid Hamker, Präsidentin, für den Wirtschaftsrat der CDU e.V. Redaktion: Klaus-Hubert Fugger, Chefredakteur / Katja Sandscheper, Redakteurin Wissenschaftliche Beratung: Dr. Rainer Gerding, Bundesgeschäftsführer Gemeinsame Postanschrift: Redaktion Trend Luisenstraße 44, 10117 Berlin Telefon 0 30 / 2 40 87-300/301, Telefax 0 30 / 2 40 87-305 Internet: www.trend-zeitschrift.de

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Mit einem Überblick über die Hilfspakete und Sofortmaß­ nahmen der Bundesregierung eröffnete Antje Tillmann MdB, finanzpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfrak­tion ,eine Videokonferenz der Fachkommission Steuern-Haushalt und Finanzen des Landesverbandes. Ferner gab sie einen Ausblick auf die weiteren 25 Milliarden Euro Unterstützung des Bundes für Unternehmen ab 15 Beschäftigte, die bis Ende ­ August 2020 zur Verfügung stehen. Die Bundesregierung habe auf Grund des seit 2014 schuldenfreien BunBundestagsabgeordnete Antje Tillmann im Gespräch deshaushaltes ausreichend Spielraum, große Hilfspakte anbieten zu können, sagte Antje Tillmann. Sollte jedoch eine zweite Corona-Welle gleichen Ausmaßes kommen, sei der Handlungsspielraum deutlich begrenzter, da man beachten müsse, dass die 2020 zu erwartenden Steuerausfälle schon mit „eingepreist“ seien. Ungeachtet dessen geht die Bundestagsabgeordnete davon aus, dass die Wirtschaftskraft und demzufolge auch das Steueraufkommen ab 2021 wieder anzögen und man 2023 bei Wirtschaft und Steuern ein Wiedererreichen des Vor­ krisenniveaus erwarte. Die für die Neuverschuldung angesetzte Tilgungsfrist von 20 Jahren halte sie jedoch für zu unambi­ tioniert. Die nächste Krise werde sicherlich keine 20 Jahre auf sich warten lassen. Daher setzt sich Antje Tillmann für eine schnellere Tilgung ein, was die Unternehmer im Wirtschaftsrat sehr begrüßten. Bankverbindung: Deutsche Bank AG/Bonn, 3105590 (BLZ 380 700 59) IBAN: DE84 3807 0059 0310 5590 00, BIC: DEUTDEDK380 Verlag: Information für die Wirtschaft GmbH Anzeigenkontakt: Katja Sandscheper, Telefon 0 30 / 2 40 87-301 Gesamtherstellung: STEINBACHER DRUCK GmbH Anton-Storch-Straße 15, 49080 Osnabrück Telefon 05 41 / 9 59 00-0, Telefax 05 41 / 9 59 00-33 Erscheinungsweise: quartalsweise Anzeigenpreise: Zurzeit gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 17

Projektleitung: Information für die Wirtschaft GmbH

Bestellungen: Beim Verlag

Geschäftsführer: Iris Hund Klaus-Hubert Fugger (v.i.S.d.P.) Daniel Imhäuser Luisenstraße 44, 10117 Berlin Telefon 0 30 / 2 40 87-401, Telefax 0 30 / 2 40 87-405

Bezugsbedingungen: Einzelpreis 7,50 Euro (einschl. MwSt.) Jahresabonnement 25,– Euro ­(einschl. MwSt.), zzgl. Versandkosten. Abonnements (vier Ausgaben) ­werden für ein Jahr berechnet. Kündigungen müssen sechs Wochen vor Ablauf des Abonnements schriftlich vorliegen, andernfalls verlängert es sich für ein weiteres Jahr.

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Foto: Antje Tillmann

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Der Landesverband hat einen Internationalen Kreis Hanseregion ins Leben gerufen, um zusammen mit den übrigen vier norddeutschen Ländern den von der Bundesregierung eingeläuteten Paradigmenwechsel in der Entwicklungs- und Außenwirtschaftspolitik auf der Ebene der Landesregierungen zu flankieren. Für die Auftaktveranstaltung hat der Sprecher des Kreises, Prof. Dr. Stefan Liebing, Präsident des Afrikavereins der Deutschen Wirtschaft e.V. den Bundestagsabgeordneten Stefan Rouenhoff, Leiter der Projektgruppe Afrikapartnerschaften der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, eingeladen. Beide fokussieren dabei besonders den afrikanischen Kontinent. Schnell bestand Konsens, dass Deutschland im Vergleich zu China enormen Nachholbedarf hat, wenn man aus wirtschaftlichen Chancen auf beiden Seiten Wohlstand schaffen möchte. Dafür müssten deutsche Entwicklungshilfeprojekte unternehmerisch geerdet werden und Investitionen in die Landwirtschaft afrikanischer Staaten durch deutsches Regierungshandeln diplomatisch flankiert und gegen gewisse Risiken abgesichert werden. Die Bundesregierung sollte dazu das hohe landwirtschaftliche und agrarindustrielle Know-how in Deutschland viel stärker in ihren Paradigmenwechsel in der Afrikapolitik einbinden. Sonst bleiben auch zukünftig die deutschen Einflussmöglichkeiten auf die dortige Naturschutz- oder Klimapolitik, die Prinzipien einer Sozialen Marktwirtschaft oder auch die Migration begrenzt. Die Dringlichkeit ist durch die weltwirtschaftlichen Verwerfungen der Corona-Krise drastisch gestiegen. Viele Entwicklungsländer sind durch ­sinkende Rohstoffpreise, gekappte Investitionen oder Störungen in den Lieferketten und rückläufige Nachfragen geschwächt. Prof. Dr. Liebing forderte dazu bilaterale Verträge mit den wichtigsten Ländern, die durch Partnerschaften auf Landesebene flankiert werden sollten.


dpa meldete am 3. September

Der Wirtschaftsrat lehnt einen direkten Einstieg des Staates beim Stahlkocher Thyssenkrupp entschieden ab. „Die aktuelle Notlage darf nicht als Hebel benutzt werden, um unsere Wirtschaftsordnung zu verändern“, mahnte Generalsekretär Wolfgang Steiger.

Am 31.08.2020 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung Der Generalsekretär des Wirtschaftsrats nannte Scholz’ Steuererhöhungspläne „Gift in der aktuellen Konjunkturlage“ und wies darauf hin, dass höhere Einkommenssteuersätze nicht nur wohlhabende Privatpersonen träfen. Im Handelsblatt am 21.08.2020 zu lesen Auch der Wirtschaftsrat ist vom Tempo des Tesla-Fabrikbaus beeindruckt und fordert, Planverfahren generell zu beschleu­ nigen, etwa indem Klagerechte von Umweltverbänden eingeschränkt werden. Das Handelsblatt am 06.08.2020 „Der Klimaschutz ist eine politische Aufgabe. Dafür hat die Europäische Zentralbank kein Mandat“, sagt Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrats. Besonders gefährlich wäre es, wenn die EZB im Rahmen ihrer Anleihekauf­ programme grüne Bonds bevorzugen würde. Das würde nicht nur gegen den Grundsatz der Marktneutralität verstoßen. In der Bild vom 29.07.2020 zu finden „Werkverträge sind eine entscheidende Säule unserer ­arbeitsteiligen Wirtschaft, die nicht leichtfertig abgeschafft werden sollten“, sagt die Präsidentin des Wirtschaftsrates, Astrid Hamker.

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Im Spiegel der Presse ImSpiegel

WIRTSCHAFTSRAT Forum

Im Handelsblatt vom 22.09.2020 Der Wirtschaftsrat unterstützt den Vorschlag von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, Firmen die wirtschaftlich unter Corona leiden, aber ein überzeugendes Geschäftsmodell haben, eine flexible Sanierung zu ermöglichen. „Durch eine zügige Umsetzung kann sichergestellt werden, dass Unter­ nehmen trotz Corona-bedingter Überschuldung mit Einverständnis ihrer Gläubiger die Chance auf eine Sanierung haben“, sagte Generalsekretär Wolfgang Steiger. Er forderte, das Gesetz schnell zu verabschieden. Die Rheinische Post berichtete am 16.09.2020 „Die staatliche Zahlung des Kurzarbeitergeldes sollte die harte Konjunkturdelle durch den Corona-Lockdown abfedern, darf aber nicht zum Dauerinstrument werden“, kritisierte Wolfgang Steiger, General­sekretär des Wirtschaftsrats, die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes. Der Vize-Präsident des CDU-­ Wirtschaftsrats, Friedrich Merz, bekräftigte seine Kritik: „Kurzarbeitergeld ist ein Instrument, um kurzfristig eine Krise zu überwinden. Wird es zu lange gezahlt, besteht die Gefahr, dass Arbeitnehmer in ihren Firmen mit Kurzarbeit festgehalten werden, obwohl sie anderswo dringend gebraucht würden.“ Die WELT schrieb am 7.09.2020 Die Umsetzung des EU-Wiederaufbaufonds ist das wichtigste Projekt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. „Der Aufbaufonds könnte ein historischer Schritt hin zu einer Schuldengemeinschaft sein“, warnte der Wirtschaftsrat in einem Positionspapier. „Die eigene Schuldenfähigkeit der EU ist der eigentliche Sündenfall des Fonds“, sagt Generalsekretär Wolfgang Steiger. Die WirtschaftsWoche veröffentlichte am 11.09.2020 „Vieles an der Rettungspolitik der Bundesregierung war richtig, aber beileibe nicht alles gut. In der Steuerpolitik muss sich die große Koalition dringend einen Ruck geben – sonst droht un­seren Unternehmen doch noch ein bitteres Ende“, schrieb die Präsidentin des Wirtschaftsrates in einem Gastkommentar. l

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt am 24.07.2020 „Unser Land lebt über seine Verhältnisse. Dieser Trend wird sich jetzt in der Krise nochmals verstärken“, legte Wolfgang Steiger in einem Namensbeitrag „Zurück zum Erfolgsmodell, zurück zur Ordnung“ dar.

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Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb am 13.07.2020 Die zeitliche Reduzierung des Entschuldungsverfahrens für natürliche Personen auf drei Jahre und die schnellstmögliche Einführung eines vorinsolvenzrechtlichen Restrukturierung­ verfahrens im Bereich der Unternehmensinsolvenzen wären ein erstes wichtiges Signal an die betroffenen Unternehmen, appellierte der Wirtschaftsrat.

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30 1.074 Corona-Hilfen und das neue Haushaltsbudget bis 2027 spielen der EU-Kommission 1.074 ­Milliarden Euro in die Hände – das höchste Budget, das es in der EU gab. Für die Corona-Hilfen wird die EU-Kommission erstmals in der Geschichte Schulden aufnehmen. Einmalig so betonten die Staats- und Regierungschefs soll dieses Ereignis bleiben und keinesfalls den Einstieg in eine Schuldenunion sein.

Allein 2020 rechnet die Bundesagentur für Arbeit mit einem „enormen Defizit“ von 30 Milliarden Euro. Grund sind 6,7 Millionen Kurzarbeiter und 3.661.000 Menschen ohne Arbeit – allerdings hat sich der Anstieg gegenüber den Vormonaten deutlich

1,9 Knapp zwei Milliarden Euro fehlten dem DAXUnternehmen Wirecard plötzlich in der Bilanz. Quelle: Handelsblatt

Zahlen des Quartals

Quelle: EU-Kommission

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Kluge Köpfe  ...  wohinter noch?

37,5 15.800.000 Der Streaming-Dienst Netflix zählt in der Corona-Krise zu den Gewinnern: Das Unternehmen verdoppelte die Zahl seiner prog­ nostizierten Neu-Abonnenten auf 15,8 Millionen. Im zweiten Quartal kamen durch die Lockerung des Lockdowns „nur noch“ 10,8 Millionen neue Abonnenten hinzu.

Laut Klimaschutzbericht wurden in Deutschland im Jahr 2019 rund 37,5 Prozent weniger Treibhausgase ausgestoßen als 1990. Gegenüber dem Vorjahr sanken die CO2-Emissionen um fast 54 Millionen Tonnen. Quelle: Klimaschutzbericht der Bundesregierung 2019

Quelle: dpa

21.500.000.000 8.851.528 Die USA liegen mit 8.851.528 Corona-Infektionen auf Platz eins weltweit, gefolgt von Indien mit 6.835.655 und Brasilien mit 5.000.694 Corona-Infektionen auf den Plätzen zwei und drei. Quelle: John Hopkins Universität

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Ab 2021 bekommen 1,3 Millionen ­Menschen Grundrente, die während ihrer 35-jährigen Erwerbstätigkeit nur eine niedrige Rente erwirtschaften konnten. Das sind vor allem Frauen. Für sie macht das im Schnitt um die 80 Euro pro Monat aus. Den Steuer­ zahler kostet das in der Großen Koalition lang umkämpfte Vorzeige­projekt von Bundes­minister Hubertus Heil allein bis 2025 rund 21,5 Milliarden Euro. Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Jeder kennt die einprägsame Anzeigenkampagne „Kluge Köpfe“ der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nur wohinter versammeln sich die Leser zukünftig und wie lange noch? Die FAZ, hört man, hat sich wirtschaftlich endlich wieder gefangen. Wie viele Verlage durch massive Investitionen in Onlineprodukte. Printmedien für ein breites Leserpublikum verlieren so stark, dass große Verlagshäuser ihre Auflagen durch Zukäufe kleinerer zu halten versuchen. Die Charttechnik der technischen Aktien-Analyse kennt viele bunte Linien. Sie heißen „Unterstützung“ und „Widerstand“ oder sind nach Tagen benannt. Irgendwo dazwischen liegt immer eine Trendlinie. Nun fragt sich der Beobachter der Medienlandschaft seit einigen Jahren, bis wohin sollen die Auflagen noch rutschen, bis sie sich auf einer „Unterstützungs“-Linie fangen? Spindoc sieht keine Auffanglinie nach unten. Die harte These lautet: Zukünftig versammeln sich auch „kluge Köpfe“ vor allem hinter Tablet-Bildschirmen, weniger hinter Papier. Wird also alles gut in unseren großen Medienstädten Frankfurt, Berlin, Hamburg, München oder Berlin? Wohl kaum: Inhalte kosten weit mehr Geld als bedrucktes Papier oder die alten Vertriebsnetze. Online-Produkte sind aber weit weniger margenstark, weil es – nicht zuletzt durch GEZ-subventionierte Öffentlich-Rechtliche – zu viel kostenlose ­Informationen im Netz gibt. Es bleibt also offen, wohinter sich „kluge Köpfe“ versammeln, wenn sie nicht für fundierte Inhalte bezahlen (wollen).

Ihr Spindoktor TREND 3/4 2020


Sicherheit ist, sich rundum geborgen zu fühlen. Am besten ein Leben lang.

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Wir haben einen Plan Klimaschutz braucht konkrete Konzepte. Besonders im Gebäudesektor, der ein Drittel aller CO2-Emissionen in Deutschland verursacht. Denn nur wenn wir jetzt das Richtige tun, können wir einen klimaneutralen Gebäudebestand bis 2050 erreichen. Als eines der größten Immobilienunternehmen Europas stehen wir zu unserer Verantwortung und leisten unseren Beitrag zum Erreichen der Klimaziele. Mit sozialverträglichen Lösungen, die alle mitnehmen – wie in unserem Umsetzungsvorschlag im Rahmen des nationalen Emissionshandels.

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