1/2022 fdst.de
Kreative Köpfe Inklusive Begegnungen mit Kunst
MAGAZIN DER FÜRST DONNERSMARCK-STIFTUNG
TITEL
WIR 1/2022
WIR 1/2022
Du möchtest aus Deinem Alltag mit Behinderung
Wir suchen neue Redakteurinnen und Redakteure
erzählen, aber wer hört Dir zu?
Du hast eine Idee zu einer Geschichte und keine
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Ahnung, wie Du daraus einen Artikel schreibst?
Du möchtest interessante Menschen interviewen, weißt aber nicht, wie das geht?
Dann bist du bei uns genau richtig!
Die WIR zum Download und Link zum E-Paper finden Sie unter: fdst.de/wirmagazin WIRsprechen, der Podcast zum Magazin: fdst.de/wirsprechen Auch auf Spotify, Apple iTunes, Youtube, Deezer Die WIR auf mittendrin: mittendrin.fdst.de
WIR – das ist ein inklusives Redaktionsteam. Gemeinsam gestalten wir das WIR-Magazin.
in Miteinander, ein inklusives Begegnen auf Augenhöhe ist uns wichtig: Wir bereiten die Themen gemeinsam vor, fahren zusammen zu Interviews und unterstützen uns auch bei den Texten. Trotz der aktuellen Lage in der Pandemie und in Europa, die auch unser gemeinsames Arbeiten überschatten, freuen wir uns auf den Sommer und auf Redaktionstreffen endlich vis a vis, in der Villa Donnersmarck und bei gutem Wetter auch in ihrem schönen Garten. Und da kommen Sie ins Spiel: Wir möchten unseren Redaktionskreis erweitern und freuen uns über Neugierige. Gibt es etwas, worüber Sie schon immer schreiben wollten? Haben Sie eine Idee zu einem Artikel, den wir in dem WIR-Magazin so noch gar nicht vertieft haben? Wissen Sie nicht so recht, wie Sie Ihre Gedanken und Beobachtungen in Worte fassen können und möchten daher inklusive Redaktionsarbeit kennen lernen? Dann kommen Sie bei unserem nächsten Treffen einfach vorbei.
Neuer Schwung mit neuem Design Die Fürst Donnersmarck-Stiftung hat 2022 einen grafischen Neuanfang gestartet. Das Ziel: Alle Publikationen, ob Flyer, Broschüren, Webseite und auch das WIR-Magazin gehören zu einer Design-Familie. Das WIRMagazin macht den Anfang und erscheint in dem neuen Outfit: Übersichtlich, optisch ansprechend und barrierearm. Aber auch im neuen Design richten wir weiterhin unseren Blick auf die Themen, die in den Mainstreammedien oft keine Chance haben, über die zu schreiben und zu sprechen uns aber wichtig ist. Machen Sie mit bei der nächsten Ausgabe – nun im frischen Design. Wir freuen uns auf Sie! Termine unter wir@fdst.de Ursula Rebenstorf
Interesse?
Dann ruf an oder schreibe, wir warten schon auf Dich!
TEL PLUS SIGNAL: 0130 90 2 66 EMAIL: W I R @ F D S T. D E Redaktionsarbeit hinter den Kulissen: WIR-Redakteure bei einem CoverShooting (links), ein Redaktionsbesuch bei der AfB gGmbh (rechts)
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Inhalt
WIR 1/2022
WIR 1/2022
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RAMBA ZAMBA
STIFTUNGSMOMENTE Ganz schön persönlich
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#StandWithUkraine
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Tapetenwechsel
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Urlaub als Teilhabe
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TITEL Kreativ sein hat viel mit mir zu tun!
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Malen ist unsere Welt
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Es gibt kein richtig und kein falsch
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Ich wollte schon immer etwas Kreatives machen
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Bilder so lebendig wie das Leben
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Die Wahrnehmerin
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Meine Welt aus Ton
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Meine Musik bedeutet mir alles
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In der Kunst funktioniert Ausdruck auch ohne Sprache 35 Kunst ist eine Form zu überleben
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Klima-Kunst
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Was bleibt, was sich ändert
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Ein spät erfüllter Traum
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Zu Besuch beim inklusiven Theater RambaZamba
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Filmtipp: Glück auf einer Skala von 1 bis 10
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Eine 3-D-Fahrt in den Hades
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Alles fließt – nichts bleibt, wie es ist
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Barrierefreiheit von Kunsteinrichtungen
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Barrierefrei zu Kunst und Kultur in Berlin
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EIN BESUCH IM KUNSTHAFEN IMPERFEKT
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SERVICE
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FILMPREVIEW IM KINO DELPHI
WA S U N S B E W E G T Diakonie als Dienst am Menschen
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Eine Rolligarage in Lichtenberg
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Ein Tacho aus Italien
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WIR EMPFEHLEN Ein „Bücherwurm“ kommt selten allein
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Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung
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Der IRRTUM wird eingestellt
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Bestellcoupon
74
Impressum
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Stiftungsadressen
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UKRAINISCHE FLÜCHTLINGE IN REPTY
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M O R I T Z V O N O S WA L D, D E R M E I S T E R DES EXPERIMENTELLEN TECHNOS 5
Stiftungsmomente TITEL
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schmerzhaften Seiten – es war immerhin der Sonntag nach Ostern – ließ Martin Germer nicht aus: „Sicherlich gibt es immer wieder auch Momente, wo man zittert vor Schwäche oder vor Kränkung oder auch vor Zorn. Oder wo man sich einfach verkriechen möchte.“ Seine besondere Kraft schöpfte der Gottesdienst aus dem Wissen, dass die Menschen in der Ausstellung vor dem Altar die Kraft hatten, ihr zweites Leben anzunehmen und so vielfältig und ermutigend davon erzählen.
Intensive Begegnungen rund um die Stiftungswoche
Ganz schön persönlich
Und so war die Stiftungswoche geprägt von ganz vielen großen und kleinen, aber immer intensiven Begegnungen. Da war beispielsweise der Klient Roland Deerberg, der sich eine eigene Diskokugel wünschte – und von einem Gemeindemitglied der Gedächtniskirche eine ebensolche geschenkt bekam. Da waren die Gespräche mit den vielen Ehrenamtlichen, die sich intensiv mit der Ausstellung und den Geschichten der Menschen beschäftigt hatten. Oder der ehemalige Klient der Fürst Donnersmarck-Stiftung, der nur zum Gottesdienst kam, um alte Freundinnen und Freunde wiederzusehen.
Am Ende blieb ein wunderbarer Gottesdienst, eine schöne Ausstellung im Foyergebäude der Gedächtniskirche und eine gelungene Kooperation zwischen zwei Stiftungen. Kirsten Bielefeld, Bereichsleiterin des Ambulant Betreuten Wohnens, brachte dies während des Gottesdienstes mit diesen Worten auf den Punkt: „Wir brauchen mehr Veranstaltungen und Möglichkeiten des Austausches und der Begegnung wie diesen Gottesdienst und diese Kooperation mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Davon gewinnen wir alle: Wir lernen und wachsen als Gesellschaft und bieten – ganz nach dem Vorbild Jesu Christi – den Menschen einen Platz, die ihn sich nicht selbst nehmen können und sagen so ‚Ja‛ zu dem ersten, wie auch zu dem zweiten Leben.“ Sebastian Weinert
Zu Gast in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zur 13. Berliner Stiftungswoche
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nlässlich der 13. Berliner Stiftungswoche vom 19. bis zum 29. April ging die Fürst Donnersmarck-Stiftung (FDST) eine besondere Kooperation mit der Stiftung Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein. WIR blicken auf eine fruchtbare Zusammenarbeit zurück. Es war ein ungewöhnlicher, ein persönlicher Gottesdienst an diesem 24. April 2022 in der wunderbar blau strahlenden Gedächtniskirche am Breitscheidplatz. Sechs Menschen, sechs Geschichten, die stellvertretend standen für die zwei Leben der Klientinnen und Klienten des Wohnens mit Intensivbetreuung (WmI) der FDST. Ihre Geschichten bildeten das inhaltliche Zentrum des Gottesdienstes. Eine Woche nach Ostern fragte er danach, wie man weitermachen kann, wenn man – wie die Klientinnen und Klienten des WmI – beispielsweise durch einen Schlaganfall oder ein Schädel-Hirn-Trauma in eine neue Phase des eigenen Lebens eintreten muss. Und was es dazu braucht, dass dieses zweite Leben genauso viel Würde und Freude besitzt wie das erste. Das Ergebnis war eine intensive Begegnung mit den Menschen und ihren individuellen Leben – vor und nach dem Einschnitt.
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Ausstellung mitten in Berlin Erzählt wurden die Geschichten erstmals für die Ausstellung „Mein Lieblingsobjekt“, die zuerst im WmI selbst, dann in der Villa Donnersmarck und jetzt anlässlich der Stiftungswoche im Foyergebäude der Gedächtniskirche zu sehen ist. Für die Klientinnen und Klienten, aber auch die Stiftung ist es ein besonderes, sich mitten in Berlin in einer Ausstellung präsentieren zu können. Unterstützt werden sie dabei von einer großen Gruppe ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gedächtniskirche, die zu jedem Ausstellungstag ein Kirchencafé organisieren. Bei Tee, Kaffee oder Wasser kommt man so ganz entspannt ins Gespräch und kann die intensiven Geschichten auf sich wirken lassen.
Gottesdienst „Zwei Leben“ Im Gottesdienst standen eben diese Menschen nun vor dem Altar und erzählten aus ihrem Leben, das „so vielfältig ist wie das Leben von allen anderen auch“, wie Pfarrer Martin Germer in seiner Predigt während des Gottesdienstes hervorhob. Aber auch die traurigen und
Auf einer der Ausstellungstafeln las Besucherin Kathrin Bresinski, dass Roland Deerberg von einer Diskokugel träumt. Spontan brachte sie ihre Diskokugel, die sie nicht mehr brauchte, für ihn vorbei.
Kleine persönliche Interviews mit den Klientinnen und Klienten machten den Gottesdienst zu einem eindrücklichen Erlebnis.
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STIFTUNGSMOMENTE
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#StandWithUkraine Fürst Donnersmarck-Stiftung setzt sich für geflüchtete Menschen mit Behinderung ein
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er Krieg in der Ukraine und die dramatische Situation der vielen geflüchteten Menschen haben uns alle sehr betroffen gemacht und bei vielen den Impuls ausgelöst, selbst aktiv werden und helfen zu wollen. Das trifft auch auf die Fürst DonnersmarckStiftung zu. Denn als Stiftung, die im Ersten Weltkrieg gegründet worden ist, haben wir eine besondere Verantwortung für Menschen mit Behinderung auch in Kriegssituationen. Deswegen haben wir seit Ausbruch des Krieges am 24. Februar 2022 auch einige Maßnahmen ergriffen.
Bekanntermaßen hat Polen den größten Teil der geflüchteten Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Davon ist auch das GCR Repty betroffen, das in einem Bereich des Zentrums zahlreiche geflüchtete Kinder mit ihren Müttern untergebracht hat. Die meisten Kinder leben mit einer Behinderung oder chronischer Krankheit. Um die Kolleginnen und Kollegen vor Ort bei ihrer Aufgabe zu unterstützen und dringend benötigte Anschaffungen für die Unterkunft oder Medikamente zu finanzieren, spendete die Stiftung 10 000 € an das GCR Repty.
Spende an das polnische Rehabilitationszentrum GCR Repty
Ein geliehener Bus, Übernachtungen in Bad Bevensen, Möbelspenden für Geflüchtete
Seit 2009 verbindet die Stiftung eine Kooperation mit dem polnischen Rehabilitationszentrum GCR Repty. Die Besonderheit dieser Kooperation ist, dass sich das Rehazentrum direkt auf dem ehemaligen Grundbesitz der Fürsten von Donnersmarck befindet.
Alles begann mit einem Anruf am 7. März in der Öffentlichkeitsarbeit. Die Evangelische Allianz suchte nach einem Bus für eine Evakuierungsaktion von Menschen mit Behinderung und ihren Familien aus der Ukraine und bat die Stiftung um Hilfe. Kurze Zeit später war klar: das
Das Rehabilitationszentrum GCR Repty kann mit der Spende der Fürst Donnersmarck-Stiftung ukrainische Flüchtlinge unterstützen.
Gut erhaltenes Mobiliar aus dem Seehotel Von der Ukraine bis in die Niederlande ist das Heidehotel Bad Bevensen zu Rheinsberg wird für Flüchtlingsunterkünfte einem wichtigen Etappenziel für Flüchtende mit Behinderung geworden. verpackt.
Haus Am Querschlag würde für eine Woche auf seinen Bus verzichten, um die Fahrt zu ermöglichen. Doch schnell tat sich die nächste Herausforderung auf: Das Ziel der Aktion lag in den Niederlanden. Zu weit entfernt, um die Strecke aus der Ukraine am Stück zu fahren. Also brauchte man eine Möglichkeit für einen Zwischenhalt. Den fand die Gruppe im Heidehotel Bad Bevensen, wo sie spät in der Nacht am 11. März ankam, sich einige Stunden erholte und dann am nächsten Tag weiterfuhr. Die Gruppe bestand aus mehr als 40 Personen mit zum Teil schweren Behinderungen. Gestemmt wurde die nächtliche Organisation von einem engagierten Team aus dem Heidehotel, das nicht nur kräftig mit anpackte, als der Rollstuhllift im Bus kaputt war, sondern auch bis spät in die Nacht Tische deckte, Essen kochte und den traumatisierten Menschen ein warmes Willkommen spendete. Die Kosten für die gesamte Aktion übernahm die Stiftung.
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Mittlerweile hat die Evangelische Allianz es geschafft, noch weitere Menschen mit der Behinderungen aus der Ukraine zu evakuieren und nach Holland zu bringen, immer mit einem Zwischenstopp im Heidehotel.
Helfen, wo wir können Vor Beginn der Saison 2022 renovierte das Seehotel Rheinsberg und tauschte etliches Mobiliar aus. Genau in dieser Phase stellte die Rheinsberger Wohnungsbaugesellschaft 20 Wohnungen für Geflüchtete aus der Ukraine bereit, jedoch komplett ohne Möbel und anderen Einrichtungsgegenständen. Spontan stellte das Hotel alle brauchbaren Möbel, Bettwäsche und Handtücher für die Wohnungen bereit, ergänzt von privaten Sachspenden der Mitarbeitenden. Die Beispiele zeigen: Natürlich können wir nicht die dramatische Situation in der Ukraine lösen und sicherlich werden wir als Fürst Donnersmarck-Stiftung auch nur einen begrenzten Beitrag zur Unterstützung der Geflüchteten leisten können. Denn unser besonderes Profil und unsere Angebote sind auf einen bestimmten Personenkreis zugeschnitten. Aber wir helfen, wo wir können – und leisten so gemeinsam einen Beitrag! Sebastian Weinert
Dort lebt auch eine Mutter mit drei Kindern, eines davon mit Behinderung, sowie eine 80-jährige Frau mit ihrer schwerbehinderten Tochter. Aufgrund der herzlichen Aufnahme und geschlossenen Freundschaften mit dem Team des Heidehotels haben die Familien entschieden, in Bad Bevensen eine dauerhafte Bleibe zu finden.
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STIFTUNGSMOMENTE
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Teilnehmende reisten eigenständig zu den verabredeten Treffpunkten an, Zu-und Absagen waren spontaner möglich. „Viele haben das begeistert und dankbar angenommen, um überhaupt etwas Schönes in dieser Zeit machen zu können“, erzählt Christine Busch von ihren Erfahrungen mit den Kurzausflügen. Das galt auch für Klientinnen und Klienten in betreuten Wohnformen. Anna Wedel-Mania, die erst 2021 aus dem Ambulant Betreuten Wohnen der Stiftung ins Reiseteam wechselte, weiß, was für ein Highlight gerade für sie eine attraktive Freizeitaktivität sein kann. Die kurzen Spaziergänge wird man daher weiter verfolgen, als mögliches weiteres Standbein im Angebotsportfolio.
Das Reisebüroteam: Christine Busch und Anna Wedel-Mania
Beratung bleibt Service Neben den eigenen Reisen haben Christine Busch und Anna Wedel-Mania auch immer gute Tipps für alle, die Unterstützung für ihre barrierefreie Reiseplanung benötigen. Ob für Berlin oder in die Ferne, die kostenlose Beratung bleibt ein Teil des Service. Einzelpersonen nutzen diesen für ihre Individualreisen ebenso wie Betreuungspersonen, die sich für Reisemöglichkeiten für ihre Klienten und Klientinnen erkundigen oder die Selbsthilfe, die eine Gruppenreise plant.
Reisen heißt träumen Um die eigenen Angebote weiter zu entwickeln, stecken die erfahrene „Reiseveteranin“ Busch und „Newcomerin“ Wedel-Mania ihre Köpfe regelmäßig zusammen. Sie wälzen Prospekte zu Trends des sich rasant entwickelnden barrierefreien Reisemarktes und schauen sich potentielle Reiseziele auch mal persönlich an, ob vor Ort auch wirklich alles so reibungslos aussieht wie versprochen, ob Pflege organisiert werden kann oder was es noch zu beachten gilt, wenn man mit Menschen mit Behinderung unterwegs ist. Um zu entscheiden, wohin die Reisen gehen könnten, hört man besonders gut zu, was bei Stammgästen auf dem Wunschzettel steht. Denn Reisen und Träumen gehört immer ein bisschen zusammen. „Ein Klient wünscht sich zum Beispiel eine Kreuzfahrt“, verrät Anna Wedel-Mania. Das klingt nach spannender Zukunftsmusik. Für den Moment ist ein gut gebuchtes Reiseprogramm und die Hoffnung, es wirklich so durchführen zu können, schon fast ein kleiner Traum. Das Reiseteam sucht zur Unterstützung übrigens immer freundliche Reisebegleiter und -begleiterinnen für seine Fahrten. Sean Bussenius
fdst.de/reisenerholen/reisebuero/
Tapetenwechsel Kurzreisen und Tagesfahrten buchen Gäste zukünftig in der Villa Donnersmarck
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ie Koffer packen, Abwechslung vom Alltag, gemeinsam mit anderen unterwegs sein. Das hat eine lange Tradition in der Fürst DonnersmarckStiftung, denn Reisen für Menschen mit Behinderung sah man immer als ein Stück Rehabilitation. Seit dieser Saison buchen Reiselustige ihre barrierefreien Reisen über die Villa Donnersmarck. Anfang des Jahres zog das Team des Reisebüros von Wilmersdorf nach Zehlendorf in den inklusiven Treffpunkt der Stiftung. Für das erste Halbjahr 2022 ist noch einmal ein separates Programm mit Ausflügen, Tagesfahrten und Kurzreisen erschienen. Ab dem zweiten Halbjahr finden Gäste das alles dann unter „Reisen & Erleben“ im Programmheft der Villa Donnersmarck. Eine ideale Ergänzung zu den bisherigen Freizeitangeboten des Stiftungsbereichs, wenn Gäste das kleine oder größere Fernweh packt.
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Neustart mit Corona Für das Reiseteam Christine Busch und Anna WedelMania begann das Jahr dank des Umzugs erst einmal selbst mit einem Tapetenwechsel. Jetzt sind alle Kisten und Kästen ausgepackt, der Globus steht auf dem neuen Schreibtisch und die Saison kann beginnen. Nach zwei Jahren Pandemie und vielen notgedrungenen Stornierungen geplanter Reisen mit der Hoffnung, dass wieder mehr möglich wird. Die Angebote für das erste Halbjahr sind bereits so gut wie ausgebucht. Die Sehnsucht, endlich wieder etwas von der Welt zu sehen, ist bei vielen offenbar groß. Die Herausforderung, gemeinsam so sicher wie entspannt unterwegs zu sein, bleibt. In Lockdown-Zeiten, als man nicht in vollen Reisebussen sitzen konnte und alle Freizeiteinrichtungen geschlossen waren, hat das Reiseteam dazu neue Ideen entwickelt. Mit kleinen geführten Spaziergängen durch die Stadt füllte man die Leerstellen.
Neuer Standort und neues Programm: Die Termine für das erste Halbjahr 2022 für Tagesfahrten und Kurzreisen ist erschienen.
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Vieles hat sich seitdem verändert: Der Mauerfall führte zu einer veränderten Lage des Hauses in Deutschland. Der Reisemarkt für Menschen mit Behinderung hat sich grundlegendend gewandelt. Auch das Haus in Bad Bevensen hatte mehrere Veränderungen durchgemacht. Beispielsweise wurde 2008 groß gebaut, ein moderner Eingangsbereich geschaffen und ein barrierefreies VitalZentrum eingerichtet. In den letzten Jahren wurde auch der Speisesaal komplett modernisiert. Aus dem Erholungsheim entstand so nach und nach ein vollwertiges Hotel, das nach den Kriterien von „Reisen für Alle“ zertifiziert ist. Und auch der 1972 noch so beliebte „Raucherkeller“ gehört inzwischen der Vergangenheit an.
Ein Ort für Begegnungen
Urlaub als Teilhabe
Doch einiges ist auch gleichgeblieben. So stehen die Beziehungen, die sozialen Bindungen und die besondere Atmosphäre noch immer im Mittelpunkt des Hotelkonzeptes: „Im Heidehotel Bad Bevensen kreieren wir einen Urlaub, in dem die Gäste sich begegnen und eine Beziehung zueinander aufbauen können“, erklärt Michael Klopp, der seit 20 Jahren das Haus als Direktor leitet. „Die Gäste begegnen sich in unserem Waldcafé, auf regelmäßigen Ausflügen oder während des Musikabends und kommen miteinander ins Gespräch. Der Erfahrungsaustausch und das Miteinander stärken und geben Kraft für die Zeit nach dem Urlaub.“ Das Team in Bad Bevensen hat auf diese Weise bis heute die Seele des Heidehotels bewahrt. Auch wenn das
Bereits Anfang der 1970er Jahre waren die Gruppenreisen von Berlin nach Bad Bevensen für Gäste mit Behinderung sehr beliebt.
Gebäude inzwischen etwas in die Jahre gekommen ist und Modernisierungsmaßnahmen dringend notwendig sind, um auf Dauer auf dem Reisemarkt zu bestehen. Das Heidehotel Bad Bevensen bleibt dieser besondere Ort, an dem Menschen sich begegnen und im Urlaub ein Stück soziale Teilhabe erleben können. WIR wünschen jedenfalls alles, alles Gute zum Geburtstag – auch ohne Rauchkeller! Sebastian Weinert
heidehotel-bad-bevensen.de
Das Heidehotel Bad Bevensen feiert 50-jähriges Jubiläum
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Ein Erholungsangebot in der Lüneburger Heide
„Es ist ein schmucker Bau, dieses 70 Betten fassende Erholungsheim für Körperbehinderte. Ein schöner Speisesaal, Lese-und Fernsehzimmer sowie eine große Terrasse laden zum Aufenthalt ein. Ebenfalls sind die Zimmer behaglich eingerichtet und der Raucherkeller sei auch nicht vergessen.“ So fasste Hedwig Becker von der Selbsthilfegruppe Neukölln II in der WIR vom Juli 1972 ihre ersten Eindrücke von dem heutigen Heidehotel Bad Bevensen zusammen. Das Haus war zu diesem Zeitpunkt wenige Wochen alt und eines der größten touristischen Angebote für Menschen mit Behinderung in Westdeutschland. Seine Entstehungsgeschichte geht bis in die 1950er Jahre zurück.
Denn schon seit 1955 hatte die Fürst DonnersmarckStiftung (FDST) regelmäßig Reisen für Menschen mit Behinderung angeboten. Dabei wurde jedoch oftmals die fehlende Barrierefreiheit der bestehenden Gästehäuser zum Problem. Um hier eine dauerhafte Lösung zu finden, entschloss sich das Kuratorium der FDST zum Bau des heutigen Heidehotels. Als Standort wurde schnell die Lüneburger Heide ausgewählt, die sich nahe an der deutsch-deutschen Grenze befand und ein beliebtes Urlaubsgebiet für Berlinerinnen und Berliner war. Deswegen kam ein Großteil der Urlaubsgäste zu Beginn auch aus Berlin. Hier in Bad Bevensen fanden sie ein offenes Haus vor, dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine ganz besondere Atmosphäre kreierten. So manche Freundschaft ist in Bad Bevensen entstanden und wurde dann zurück in Berlin in der Villa Donnersmarck weitergeführt.
or 50 Jahren begann in der Fürst DonnersmarckStiftung mit der Eröffnung des Heidehotels Bad Bevensen die Geschichte des Arbeitsbereiches „Tourismus“. Heute, ein halbes Jahrhundert später, gratulieren WIR dem ältesten Hotel der Stiftung zum runden Jubiläum und blicken auf eine bewegte Zeit zurück.
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Therme und Genuss Reisezeitraum: ab sofort bis 16.12.2022 Urlaubszeit ist Wohlfühlzeit! Beginnen Sie Ihren Urlaubstag mit einem ausgiebigen Frühstück und verleben Sie abwechslungsreiche Stunden in Bad Bevensen. Entspannung pur bietet Ihnen dann am Abend ein Besuch in der Jod-Sole-Therme. 4 Übernachtungen inklusive reichhaltigem Frühstücksbuffet 2 Eintrittskarten für die Jod-Sole-Therme 1 Massage son 1 Wellnesscocktail Pro Per * kostenlose Nutzung des Vital-Zentrums mit Sauna ab und Dampf bad Euro im rd nda p kostenloser Parkplatz Z D Sta
p p p p p p
209,-
* Preis für Sparsaison. Nebensaison: 249,- Euro, Hauptsaison: 279,- Euro. Zzgl. Kurtaxe. Verlängerungsnächte: Sparsaison: 20 %, Nebensaison: 15 %, Hauptsaison: 10 % Rabatt auf den Listenpreis Wichtige Reiseinformationen finden Sie auf unserer Homepage. Heidehotel Bad Bevensen der FDS Hotel gGmbH Alter Mühlenweg 7, 29549 Bad Bevensen Telefon: 05821 959 111, E-Mail: info@heidehotel-bad-bevensen.de
www.heidehotel-bad-bevensen.de 3328 HHB AZ WIR 210x125.indd 1
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Titel
WIR 1/2022
Kreativ sein hat viel mit mir zu tun! K
unst und ihre Macherinnen und Macher waren in den letzten zwei Pandemiejahren kaum präsent. So viele Ausstellungen, Festivals und Aufführungen, wo sich Künstlerinnen und Künstler mit ihrer Arbeit normalerweise zeigen können, fanden nicht statt. Und wir alle haben gerade in dieser Zeit gemerkt, wie sehr wir die Kunst vermissen. Alles nur digital zu erleben, war ein Kompromiss. Kunst in Präsenz war oftmals mit Risiken verbunden, auf die manch eine oder einer verzichten musste. Wie haben sich Künstlerinnen und Künstler in diesen, für sie so essentiellen, Einschränkungen eingerichtet? Viele haben die Zeit kreativ genutzt, denn: Stimmungen der Gesellschaft und der Menschen, die in ihr leben, künstlerisch zu interpretieren, ihnen einen Spiegel vorzuhalten, auch zu provozieren, hat zu jeder Zeit einen hohen Stellenwert.
Bildunterschrift
Begegnungen mit inklusiver Kunst
viel über den Menschen, seine Stimmungen und darüber, was er oder sie mit Hilfe der Kunst ausdrücken und wo vielleicht auch provozieren möchte.
Mit dieser Ausgabe möchten wir zum einen die Welt der Kunst in den Fokus rücken und zum anderen die Frage stellen: wo haben Menschen mit Behinderung in der Welt der Kreativität ihren Platz? Um eine Antwort gleich vorwegzunehmen: die Begegnung mit Kunst, in der Menschen mit Behinderung aktiv sind, ist vielfältig. Ob Malerei, Handwerkskunst, Musik, Film oder Theater. Hinter allen kreativen Projekten steckt die Freude am künstlerischen Ausdruck. Die eigene Behinderung spielt in diesem Prozess oft keine große Rolle. Vielmehr erfahren wir
Für uns war diese Ausgabe eine Entdeckungsreise. Wir haben Künstlerinnen und Künstler kennen gelernt, die zum Teil selber mit Behinderung leben oder für die wir uns in der Redaktion besonders interessiert haben. Alle Geschichten in einer Ausgabe unterzubringen, war eine Herausforderung. So sind wir froh, die einzelnen Geschichten der nächsten Seiten auf dem Blog mittendrin oder in unserem Podcast Wir sprechen detaillierter auszubreiten. Eine entsprechende Kennzeichnung finden Sie immer am Ende der einzelnen Beiträge.
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„Auch Worte sind Kunst“ Redakteurinnen und Redakteure sind von Grund auf neugierig und freuen sich immer, wenn ihr Gegenüber seine oder ihre Welt im Interview erklärt. So ging es uns auch bei dem Thema Kunst. Bei den Terminen waren wir erleichtert, dass sich niemand daran störte, dass wir nicht viel Ahnung von Kunst, Theater, Film oder Musik mitbrachten. Wir danken an dieser Stelle allen Teilnehmenden für die Geduld, uns ihre Welt der Kunst näher gebracht zu haben. Selten hatten wir bei der redaktionellen Arbeit so viel Spaß gehabt und so viel Neues gelernt. Auch begegneten wir wiederholt der Frage, wie wir es schaffen, diese Eindrücke und Informatio-
nen, für unsere Leserinnen und Leser in Worte zu fassen. „All das Gehörte zu Papier zu bringen und in eine möglichst interessante Geschichte zu fassen, ist unsere normale redaktionelle Arbeit“, war unsere erstaunte Reaktion. „Auch Worte sind Kunst“, bekamen wir von manchen Gesprächspartnerinnen und -partner zu hören. Für die eigene Arbeit, die so selbstverständlich scheint, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen, ist ein großes Geschenk. Vielleicht entdecken Sie auch etwas Neues über sich auf den nächsten Seiten. Wir wünschen Ihnen das sehr! Viel Spaß beim Lesen. Ursula Rebenstorf
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Die Arbeit für heute ist fertig. Jetzt haben die drei Zeit, über sich und ihre Kunst etwas zu erzählen. Es war die Langeweile, die Birgit Richter dazu bewog, zuhause in einer Wohngemeinschaft mit dem Malen anzufangen. „Über meinen Betreuer hatte ich die Chance auf ein Praktikum hier gehabt. Hier wurde mein Talent erkannt und seit Dezember 2019 bin ich hier“, erklärt sie.
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Malen ist unsere Welt Zu Gast im Kunsthafen imPerfekt
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irgit Richter, Christin Sikora und Marcel Eckert arbeiten in den Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung GmbH (BWB) im Berliner Westhafen. Das gemeinsame der drei: Sie sind Künstlerinnen und Künstler im Kunsthafen imperfekt. Vor zehn Jahrewn hat die BWB für Kunst eine eigene Abteilung errichtet mit dem Ziel, Menschen mit Behinderung, die eine Leidenschaft für künstlerisches Gestalten haben, ihren eigenen Weg zur Kunst zu ebnen. Viele Wege führen zu einem Leben mit Kunst und manche sind steiniger als andere. Wer künstlerisches Talent besitzt, ergreift meistens ein Kunststudium oder lernt ein kreatives Handwerk. Auch die Talente von Birgit Richter, Christin Sikora und Marcel Eckert sind entdeckt und gefördert worden. Für die WIR erzählen die drei, was sie an Kunst begeistert.
Licht flutet durch die großen Fenster des historischen Backsteingebäudes im Berliner Westhafen. Wer durch das Industriehafenviertel seinen Weg hier in die ehemalige Hafengaststätte gefunden hat, trifft rund 25 Menschen an ihrem Arbeitsplatz an. Wir treffen Strahinja Skoko, Gruppenleiter in der Werkstatt und selber Künstler. Mit ihm, zwei Künstlerinnen und einem der Künstler, die im Kunsthafen arbeiten, sind wir zum Gespräch verabredet. Auf dem Weg dorthin durchqueren wir die große Halle und werfen dem einen oder der anderen
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einen neugierigen Blick über die Schulter. Da gibt zum Beispiel eine Frau gestanzten Holzbuchstaben, die an Lettern aus der Zeit Gutenbergs erinnern, den letzten Schliff. Ein Mann arbeitet an einem farbenfrohen Bild, jemand anderes lötet und schraubt an einer Installation mit winzigen Glühlampen und einer hat den Kopf auf die Arme gebettet und schläft. Eine Rampe führt durch eine offene Teeküche, wo die Mitarbeitenden sich in kleinen festen Teams zum Mittagessen oder zur Kaffeepause treffen. Einen Raum weiter sind verschiedene Arbeitstische, übersät mit Leinwänden, Pinseln und Farbpaletten jeglicher Couleur. Hier sitzt Marcel Eckert und malt gerade an Sonnenblumen im Stil Vincents van Gogh, mittlerweile sein Markenzeichen, wie er uns später schildert. Er grüßt freundlich und möchte noch schnell eine Blume beenden, bevor er zum Interview kommt. Ein Tisch weiter sitzt seine Kollegin Christin Sikora. Sie malt einen Sonnenaufgang. Daneben liegen Bilder wohl der gleichen Kollektion, denn sie alle leuchten in einem intensiven Pink mit Blau – ihre derzeitigen Lieblingsfarben, wie sie uns verrät. Christin Sikora packt gleich mehrere ihrer Bilder in eine Mappe und folgt uns zum Besprechungsraum. Dorthin kommt auch Birgit Richter, mit einer Hand ihren Rollator schiebend, mit der anderen stützt sie ebenfalls eine große Bildermappe eingeklemmt unter ihrem Arm. Marcel Eckert ist mit seiner Blume fertig und kommt mit seinen Bildern.
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Ich habe zu Hause aus Langeweile angefangen zu zeichnen.
Auch Christin Sikoras Weg führte über ein Praktikum in den Kunsthafen. „Ich habe schon immer gerne mit Farben gespielt und experimentiert. Dann bin ich auf Farbenspiele gekommen, so wie es gerade aus meinem Kopf herauskam“, blickt sie zurück. Für eine Künstlerin hat sie sich nie gehalten. Erst durch verschiedene Praktika stellte sie fest: Sie würde gerne etwas mit Kunst machen. „Ich habe zuhause alle möglichen Pinsel gehabt und Farben gemischt. Hier habe ich weiter ausprobiert und auch angefangen, große Bilder zu malen und neue Techniken zu probieren, z. B. mit Spachteln zu arbeiten“, erzählt sie. Die Ergebnisse dieser Überlegung hält sie jetzt für uns hoch und erläutert: „Hier habe ich zum Beispiel mit einer großen Leinwand angefangen und überlegt, was soll da drauf, eine große Landschaft mit viel Bunt. Ich benutze gerne rosa, grüne und blaue Farben. Dann mische ich alles zusammen für einen Sonnenaufgang. Das macht mir viel Spaß.“
Christin Sikora
Gruppenleitung als Mentoring Ebenfalls ein Praktikum ebnete Marcel Eckert den Weg in den Kunsthafen. „Seit 2015 bin ich dabei. Bei Strahinja Skoko habe ich dann große Fortschritte gemacht“, nickt er seinem Gruppenleiter und künstlerischen Mentor zu. Auch Birgit Richter arbeitet eng mit ihrer Mentorin Jaqueline zusammen. „Jaqueline Gaumert zeigt mir, wie ich zeichnen und malen kann. Aber das Bild auf meinem Tisch hier habe ich fast alleine gemacht.“
Birgit Richter
Nicht nur Techniken und künstlerische Ratschläge erhalten die drei von ihren Mentorinnen und Mentoren. „Dass Kunst als Beruf auch ausgeübt werden kann, versuchen wir hier zu ermöglichen. Wir finden es sehr wichtig, dass es eine Werkstatt gibt, wo Kunst ernst genommen wird und wo Menschen arbeiten können, die von sich sagen: Ich bin ein Künstler und ich möchte Kunst auch professionell machen. Dabei unterstützen wir unsere Mitarbeitenden“, erklärt Strahinja Skoko. Outsider Art heiße das, lernen wir. Das ist Kunst von Menschen, die nicht an einer Akademie Kunst studiert haben
Marcel Eckert
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links: Vom Künstler Hundertwasser und von Wimmelbildern lässt sich Birgit Richter inspirieren. Rechts: Marcel Eckert mit einem Selbstportrait.
und nicht vom herkömmlichen Kunstsystem beeinflusst sind. „Ich bin sehr fantasievoll und eine Idee kommt mir dann plötzlich unerwartet zugeschossen. Und dann bringe ich diese auch zu Papier“, erklärt Birgit Richter diesen Ansatz. Sie selber lässt sich von Friedensreich Hundertwasser, dem berühmten österreichischen Maler und Architekten des 20. Jahrhunderts, inspirieren. Wie er liebt Birgit Richter leuchtende Farben und detailgenaue Bilder, die ähnlich wie Wimmelbilder gleich mehrere Geschichten erzählen. „Es entspannt mich total, in diesem Stil zu zeichnen und zu malen. Wenn ich beim Malen denke, dann habe ich einen Bildschirm im Kopf und ich überlege, wie ich ihn auf Papier übertragen kann“, erklärt sie. Auch Marcel Eckert hat u. a. in Vincent van Gogh ein berühmtes Vorbild gefunden. „Ich habe einfach ein Bild von ihm genommen und es vor mich hingestellt und mir vorgestellt, wie er die Sonnenblumen betrachtet. Herausgekommen ist dann so eine Art Hommage“, erklärt er. Christin Sikora malt gerne Landschaften, vorzugsweise Sonnenauf- und -untergänge. Denn hier kann sie am besten ausdrücken, was ihre Ideen ihr eingeben: ein Fest der Farben.
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Es gibt Tage, da ist der Radiergummi mein bester Freund
Ein Bild zu beenden, das Gefühl zu haben, es ist vollbracht, ist so individuell wie die Kunstschaffenden selber. Marcel Eckert legt ein fast fertiges Bild auch mal weg und „wenn dann noch mal eine Idee kommt, kann es sein, dass ich es noch mal verändere. Aber meistens höre ich auf, damit ich es nicht verschlimmbessere“, schmunzelt er. „Aber es gibt Tage, da ist der Radiergummi mein bester Freund.“ Christin Sikora kann sich oft nicht dazu entschließen, ein Bild als fertig zu betrachten. „Ich habe sehr viele Ideen und fange auch parallel neue Bilder an und
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mache sie oft nicht zu Ende“, verrät sie. Dann braucht sie den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen, Tipps, was sie noch verbessern könne, oder einfach auch den Rat, dass es so gut sei. „Ich finde es toll, dass wir so unterschiedlich malen, so verschiedene Stile bei uns haben“, springt ihr Marcel Eckert bei, „Christin malt eher abstrakt und ich mag die darstellende Kunst und die Dinge genauer darzustellen.“ An Kunstausstellungen haben alle drei mit ihren Bildern schon teilgenommen. Das war sehr aufregend. Doch ob sich viele Menschen dort für die Bilder interessieren oder sie auch kaufen, ist den dreien nicht so wichtig. Aber sie zeigen ihre Bilder sehr gerne und erklären die einzelnen Ideen dahinter. Auch wir lassen uns die Kunstmappen, die eifrig ausgepackt werden, zeigen und verbringen die restliche gemeinsame Zeit mit Bilder gucken. „Ich bin froh, dass mich meine Familie so beim Malen unterstützt“, sagt Christin Sikora. Und nach kurzem Nachdenken: „Aber auch wenn andere denken, die kann ja gar nicht malen, ich stehe zu meinen Bildern, zu meiner Kunst.“ Das Malen an sich ist es, was sie voll ausfüllt. Birgit Richter ergänzt: „Jedes Mal, wenn ich Feierabend habe, bin ich überrascht, dass es schon wieder so spät ist, und freue mich schon auf morgen, wieder hierher zum Arbeiten zu kommen.“ Ihre Kollegin und ihr Kollege nicken zustimmend. Auf die Frage, was wir über sie und ihre Bilder schreiben werden, suchen wir erst nach einer Antwort. „Auch Worte können Kunst sein, wir freuen uns auf den Text“, hilft Strahinja Skoko. Das leuchtet ein und so packen Christin Sikora, Birgit Richter und Marcel Eckert ihre Mappen zusammen und machen Feierabend. Und wir verabschieden uns von der sympathischen Kunstoase inmitten des Westhafens und denken: Wie gut, dass wir Fotos von den Künstlerinnen und Künstlern gemacht haben. Denn sie helfen dabei, den Worten die richtigen Farben zu verleihen. Ursula Rebenstorf, Martin Küster
Es gibt kein Richtig und kein Falsch Kunst entdecken im Kunsthafen imPerfekt
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n der ehemaligen Hafengaststätte des Berliner Westhafens befindet sich ein besonderer Arbeitsbereich der Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung GmbH (BWB): der Kunsthafen imPerfekt. In einer Kunstoase werden Kunst und Handwerk auf vielfältige Weise experimentell verbunden. Die 40 Menschen, die hier arbeiten, stellen ein breites Spektrum von verschiedenen Mal- und Zeichentechniken bis hin zu Skulpturen, Objekten und Grafiken her. WIR sprachen mit dem Gruppenleiter des Kunsthafens und Künstler Strahinja Skoko.
Herr Skoko, wie und wann kam die Idee, einen extra Arbeitsbereich für Menschen mit Behinderung zu gründen, bei dem die Kunst und das freie Schaffen die zentrale Rolle spielt? Der Kunsthafen imPerfekt ist vor ca. zehn Jahren erst als ein Projekt entstanden und hat sich dann von diesem Punkt aus entwickelt. Jetzt ist er ein Arbeitsbereich der Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Dass Kunst als Beruf auch ausgeübt werden kann, versuchen wir hier zu ermöglichen. Wir finden es sehr wichtig, dass es eine Werkstatt gibt, in der Kunst ernst genommen wird und wo
Menschen arbeiten können, die von sich sagen: Ich bin ein Künstler und ich möchte Kunst auch professionell machen. So wie ganz viele andere Systeme ist die Kunstwelt und der Kunstmarkt leider nicht immer zugänglich. Deswegen ist es unsere Aufgabe, hier nicht nur die künstlerischen Prozesse zu begleiten und über einzelne Bilder oder ihre Kompositionen zu reden, sondern wirklich auch Wettbewerbe und Interviews und Ausstellungen zu machen und die Künstler dabei zu unterstützen. Die Menschen hier arbeiten hauptberuflich? Viele machen erst mal ein Praktikum. Das dauert dann zwei Wochen. Wir zeigen, was hier alles möglich ist. Wir fragen, was sie interessant finden. Dann entscheiden sich die Menschen, ob Kunst für sie das Richtige ist oder nicht. Wir haben hier zum Beispiel Leute wie Christin: Sie hat ein Praktikum gemacht und für sich festgestellt: Ich bin aber keine Künstlerin und ich kann das nicht. Wir hingegen finden: Sie ist eine großartige Künstlerin und genau richtig im Kunsthafen imPerfekt. Für andere ist das Arbeiten hier auch ein bisschen fremd. Dann kommen sie und sehen, wie hier gearbeitet wird und merken, dass sie ein Talent haben und bleiben.
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OUTSIDER ART Outsider Art („Außenseiter-Kunst“) oder auch Art brut („rohe Kunst“) ist ein Sammelbegriff für autodidaktische Kunst von Laiinnen und Laien, Kindern, Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen Behinderung und gesellschaftlichen Außenseiterinnen und Außenseitern, etwa Insassinnen und Insassen von Gefängnissen, aber auch gesellschaftlich Unangepassten. Die Bezeichnung ging vom französischen Maler Jean Dubuffet aus, der sich eingehend mit einer naiven und antiakademischen Ästhetik beschäftigte.
Strahinja Skoko zeigt WIR-Redakteur Martin Küster die Kunstwerke, die im Atelier des Kunsthafen angefertigt werden.
Kunst ist eine Sprache
Alles kommt aus dem Inneren
Kreativität, Fähigkeiten und Ressourcen fördern – das hat an sich einen großen Wert. Können Sie für unsere Leserinnen und Leser den künstlerischen Aspekt beschreiben? Ich finde, Kunst ist eine Sprache und so wie in viele andere Sprachsysteme bietet sie ganz viel an. Kunst kann auch therapeutisch sein. Warum sich die Menschen dafür entscheiden und was sie mit ihrer Arbeit sagen möchten, das ist bei uns sehr unterschiedlich. Die Wertschätzung der Kunst kommt durch Veröffentlichungen, durch Ausstellungen in Galerien. Das ist ein zweiter Teil der Arbeit. Alle Künstler freuen sich, wenn die Werke in einer Ausstellung zu sehen sind. Die Kunst ist auf jeden Fall eine Art Selbstverwirklichung, wie man sich selber ausdrücken kann. Aber sie ist auch ein Beruf.
Was genau ist Outsider Art? Das ist Kunst von Menschen, die nicht an einer Akademie Kunst studiert haben, die sich nicht in diesem klassischen System befinden und daher auch nicht von dem Kunstsystem beeinflusst sind. Alles kommt aus dem Inneren. Es wird nicht geschaut, was ist im Moment in Mode oder wie kann ich mich selbst dem Kunstmarkt anpassen.
Auch in der Kunst wird an Profit und an Rentabilität gedacht. Ihr Konzept ist ein völlig anderes. Machen da auch die Ämter mit? Das muss ja auch finanziert werden. Die BWB und der Senat finanzieren unseren Arbeitsbereich. Aber einen Teil erwirtschaften wir durch Kunstmessen, mit Ausstellungen und dem Verkauf der Bilder und Produkte. Es ist sehr wichtig, dass wir hier nicht nur für die Künstler kämpfen, sondern für die ganze Outsider Art, die sehr oft von dem ganzen Kunstsystem nicht gesehen und wahrgenommen wird. Diese am Rande stehende oder außenstehende Kunst ist nicht im Fokus von Museen und Galerien. Aber ich glaube, das kommt immer mehr. Es ist daher auch wichtig, dass wir uns mit anderen Werkstätten und Galerien zusammenschließen, die sich auf Outsider Art spezialisiert haben. ART CRU ist so ein Beispiel.
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Einige Bilder, die wir gesehen haben, kann man nicht von denen bekannter Künstlerinnen oder Künstlern unterscheiden, da sie professionell gemalt sind. Haben Ihre Mitarbeitenden auch die Möglichkeit, ihre Bilder einem breiteren Publikum vorzustellen? Besonders durch die Pandemie war es schwierig. Es gab keine Ausstellungen. Man konnte nichts zeigen. In der Zeit produzierten die Künstler einen Katalog. Aber wir haben letztes Jahr bei POSITIONS Berlin Art Fair, einer großen internationalen Kunstmesse in Berlin, teilgenommen. Darüber hinaus haben wir in Zusammenarbeit
mit der Galerie ART CRU Arbeiten gezeigt. Für dieses Jahr planen wir zwei Ausstellungen auf jeweils 100 Quadratmetern. Dort schauen wir, dass wir so viel wie möglich zeigen. (Einen Eindruck gibt es auf instagram.com/ imperfekt_kunstwerkstatt/) Wie ist die Begegnung mit anderen Künstlerinnen und Künstlern auf Kunstmessen? Das Interesse war recht groß. Wir haben sehr, sehr viel positives Feedback bekommen und ich finde es wichtig, dass die Künstler und die Kunst im Vordergrund stehen und dass diese Grenzen, über die ich eben gesprochen habe, verschwinden. Ich habe mal in einer Werkstatt gearbeitet, wo ich immer zwei Teile zusammenschrauben musste und irgendwann dachte ich, ich bin doch eigentlich unterfordert. Kreativ sein in diesem Arbeitsbereich ist ein ganz schöner Kontrast zu meinen Erfahrungen. Das tut mir leid, dass Sie so schlechte Erfahrungen gemacht haben. Viele meiner Freunde arbeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt und sitzen oft nicht gerne den ganzen Tag am Computer und erledigen immer das Gleiche. Es gibt aber auch Menschen, die diese Struktur und Routine brauchen und die das mögen. Das ist natürlich nichts für jeden. Und es gibt auch hier Künstler, die zum Beispiel eine fast gleiche Handbewegung machen. Auch dadurch entstehen Bilder. Der Kunstbereich kann Inklusion ermöglichen. Es gibt kein Richtig und kein Falsch. Kunst ist eine Sprache und mit dieser Sprache kann man ganz viel erzählen. Ich finde das toll, dass wir hier übergreifend an einem gemeinsamen Ziel arbeiten können.
Die Berliner Galerie ART CRU ist eine der führenden Galerien in Berlin mit wechselnden Ausstellungen von Outsider Art-Künstlerinnen und Künstlern.
Galerie ART CRU Berlin im Kunsthof Oranienburgerstraße 27 10117 Berlin
Öffnungszeiten
dienstags u. donnerstags: 12-18 Uhr mittwochs: 14-18 Uhr (Zwischen zwei Ausstellungen bleibt die Galerie geschlossen.)
art-cru.de
DER IMPERFEKT KUNSTHAFEN: bwb-gmbh.de/de/produktionservice/imperfekt-kunstwerkstatt
Herr Skoko, vielen Dank für das Gespräch. Interview: Martin Küster
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nsere Wege mit Anna Gräfin Henckel von Donnersmarck kreuzten sich schon während des Stiftungsjubiläums 2016. Dort war sie sehr an den Menschen interessiert, die in der Fürst Donnersmarck-Stiftung leben, arbeiten oder auch schon viele Jahre treue Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter sind. Für unser Titelthema haben wir nun die Möglichkeit bekommen, die Filmschaffende, ihre Arbeit und ihren Werdegang näher kennen zu lernen. Liebe Gräfin Henckel von Donnersmarck, können Sie sich und Ihren Werdegang nochmal den Leserinnen und Lesern des WIR Magazins vorstellen? Sehr gerne. Ich arbeite als Kuratorin für Filmprogramme und bin Leiterin der Berlinale Shorts, dem Kurzfilmwettbewerb der Berlinale. Gleichzeitig bin ich freie Künstlerin und produziere Videoinstallationen für Theater und Ausstellungen.
Ich wollte schon immer etwas Kreatives machen Die Filmschaffende Anna Henckel-Donnersmarck im Gespräch
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Am Anfang dieser beiden Berufe stand eine Ausbildung an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg, wo ich Animationsfilm sowie Dokumentarfilmregie studierte. Schon während des Studiums habe ich gemerkt, dass ich für das Produzieren für Film und Fernsehen nicht geeignet bin. Denn in diesen Bereichen muss man einen sehr langen Atem haben und viele Menschen überzeugen können, bis die Finanzierung eines Projektes sicher gestellt ist und man endlich zu drehen beginnen kann. Dafür fehlt mir leider die Geduld. Ich möchte schneller in die Umsetzung kommen und aktiv werden. Da mir die Arbeit mit dem bewegten Bild aber sehr viel Freude bereitet, bin ich sehr froh, dass ich meinen Platz im Theater, beim Tanz und bei der Oper finden konnte. Von dem Herstellen von Bühnenprojektionen kam ich dann dazu, Videoinstallationen für Ausstellungen zu realisieren. Parallel dazu arbeite ich seit meinem Studium auf Kurzfilmfestivals, sei es als Mitglied der Auswahlkommission oder als Moderatorin. Haben Sie als Mitglied der Familie von Donnersmarck auch eine Funktion in der Stiftung? Nein, das habe ich nicht. Mein Vater ist Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung. Ich habe im Jubiläumsjahr 2016 viel Einblick in die Stiftung gewinnen können, durfte mit Herrn Golka, dem damaligen Leiter der Öffentlichkeitsarbeit, eine „Kaffeetour“ durch alle Einrichtungen machen und gemeinsam mit Herrn Weinert, dem heutigen Leiter der Öffentlichkeitsarbeit, eine Ausstellung zur Vergangenheit und Gegenwart der Stiftung realisieren. Ansonsten bin ich neugierige Beobachterin.
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Filmemachen für Ausstellungen und Theater Woher kommt denn Ihre Begeisterung für Filme? Es ist eher eine Begeisterung für das Filmemachen. Ich wollte schon immer etwas Kreatives, etwas mit meinen Händen machen. Deswegen ist der Film für mich so spannend: Hier treffen viele verschiedene Künste und Techniken aufeinander; verschiedene Arten, sich mit der Realität auseinandersetzen kommen zusammen. Ich kam also eigentlich durch das Machen zum Film. Wir hatten zu Hause zwar einen Fernseher, aber es gab bei uns auf dem Land in Bayern kein Kino, d.h. den Film als Kunstform habe ich erst später entdeckt.
Die Berlinale in der Pandemie Sie haben nun die dritte Berlinale in der Pandemie erlebt. Wie war das für Sie? Dieses Jahr war natürlich die große Frage, was wir machen und verantworten können. Wir haben uns letztendlich an den Entscheidungen des Berliner Senats orientiert: solange die Kinos offen sind, wird das Festival stattfinden. Es gab keine Ausnahmeregelungen für uns, wir haben uns an die zu dem Zeitpunkt gültigen Regeln gehalten und keinen Sonderstatus bekommen. Aus unserer Sicht war es auch unsere Pflicht, zu zeigen, dass man Kulturveranstaltungen auch in Zeiten einer Pandemie durchführen kann. Unseres Wissens nach hat sich im Kino dann auch niemand angesteckt.
WIR-Redakteurin Sabine Lutz
Höhepunkte in diesem Berlinale-Jahrgang Gab es denn in diesem Jahr irgendein Ereignis auf der Berlinale, an das Sie sich am liebsten erinnern? Ich selbst komme während des Festivals nicht dazu, ins Kino zu gehen. Selbst wenn ich Zeit hätte, habe ich den Kopf nicht frei. Das macht dann keinen Spaß. Ich genieße es aber immer sehr, mich in das Gewusel und den Trubel am Potsdamer Platz fallen zu lassen: man trifft immer jemanden, den man kennt und der Zufall spielt einem die schönsten Begegnungen zu. Insofern war dieses Jahr schon sehr anders und ungewohnt. Dennoch ist es immer wieder bezaubernd, wenn die Filmemacherinnen und Filmemacher kommen und ihre Filme zum ersten Mal auf der Leinwand und mit dem Publikum sehen. Wir haben wirklich ein ganz fantastisches Publikum, das sich auch von
WIR-Redakteur Michael Grothe
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derung zu sein, wenn man eine Sensibilität für das Thema entwickelt hat. Aber man braucht manchmal einen externen Anstoß, um sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Im Hinblick auf die Berlinale geht es ja um drei Aspekte: Wie inklusiv sind wir als Arbeitgeber? Wie inklusiv ist unser Programm? Und wie inklusiv sind unsere Spielorte und unser Publikum? In unserem Team gibt es einige, die mit einer Behinderung leben, die aber nicht auf den ersten Blick sichtbar ist: z.B. hat eine Kollegin eine starke Seheinschränkung, eine Andere chronische Schmerzen. Was die Filme angeht: Wir bekommen für die Berlinale Shorts nicht viele Filme über oder mit Menschen mit Behinderung eingereicht, haben aber ein spezielles Augenmerk auf diese Thematik. Denn es interessiert mich sehr, wie im Film mit dem Thema „Behinderung“ umgegangen wird und wie Menschen mit Behinderung erzählt werden. Leider war bisher noch kein Film dabei, der es in den Kurzfilmwettbewerb der Berlinale geschafft hätte.
Menschen mit Behinderung in Film und Fernsehen Eine Kunstinstallation von Anna von Donnersmarck für die Berliner Philharmoniker, © Monika Rittershaus
schwierigen Themen und herausfordernden Ästhetiken nicht abschrecken lässt. Und wir haben ganz wunderbare Spielstätten mit großen Sälen. Gerade nach dem Corona-Jahr war es ein Geschenk für die Künstlerinnen und Künstler, ihre Filme endlich auf der großen Leinwand erleben zu können. Und das Publikum war froh, wieder im Kino zu sitzen und den Filmen ihren Applaus schenken zu dürfen. Festivals sind ja eine der ganzen wenigen Gelegenheiten, bei denen man sich bei den Filmemacherinnen und Filmemachern bedanken kann – sei es, indem man während des Filmes emotional mitgeht, beim Abspann laut klatscht, beim Publikumsgespräch seine Fragen oder Beobachtungen mitteilt oder sein Kompliment später im Foyer dem Filmteam direkt übermittelt. Dieser Publikumskontakt ist etwas, was den Filmemacherinnen und Filmemachern sehr wichtig ist und wovon sie auch noch lange nach dem Festival zehren.
Prozess der Themenfindung oder Themenauswahl Wie kommen Sie denn zu Ihren Themen? Bei den Videoinstallationen kommen die Themen ja in
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der Regel zu mir, da es sich immer um Auftragsarbeiten handelt, für die ich speziell angefragt werde. Ich bin da ganz offen. Es macht mir Spaß, mich immer wieder auf neue Themen einzulassen und unbekanntes Terrain zu erkunden.
Kontakte mit Menschen mit Behinderung Durch Ihr Engagement für die Fürst DonnersmarckStiftung hatten Sie ja auch viel Kontakt mit Menschen mit Behinderung. Würden Sie sagen, dass diese Kontakte sich auf Ihre Arbeit ausgewirkt haben? In der Wahrnehmung auf alle Fälle. Ich achte beispielsweise bei Ausstellungen viel bewusster auf Fragen der Barrierefreiheit: Auf welcher Höhe bringen wir Schilder an? Wie stark müssen Kontraste sein? Wie gut ist eine Rauminstallation mit einem Rollstuhl befahrbar? Diese Wahrnehmung hat mein Kontakt mit der Stiftung auf jeden Fall geschult. Ich glaube, es ist gar nicht so schwer, barrierefrei oder aufmerksamer für die Belange von Menschen mit Behin-
Im Fernsehen werden inzwischen aber zunehmend auch Filme beispielsweise mit Kleinwüchsigen oder Menschen im Rollstuhl gezeigt – in ganz „normalen“ Rollen. Nehmen Sie da auch eine Veränderung wahr? Im Kinofilm kommen nur selten Menschen mit Behinderung vor, da scheint mir das Fernsehen doch progressiver. Die Fernsehredaktionen achten sicherlich bei der Stoffentwicklung und beim Casting inzwischen deutlich stärker auf Diversität und auch auf die Abbildung von Behinderung. Wenn beispielsweise Auswahlkommissionen oder Redaktionen diverser besetzt sind, kommen automatisch auch andere Inhalte zur Sprache. Das merken wir in unserem WIR-Magazin sehr gut. Bei der Arbeit am Set kommt natürlich noch die Frage dazu, an welchen Stellen Menschen mit Behinderung gut mitarbeiten können und wann dies nicht möglich ist. Beim Schreiben, der Stoffentwicklung, im Schnitt und so weiter können Menschen mit Behinderung sicherlich ohne Probleme arbeiten. Aber ein Drehtag ist streng durchgetaktet und körperlich oft sehr anstrengend. Das ist wahrscheinlich auch von der Art der Behinderung abhängig. Am Set ist es vermutlich wichtig, die Rahmenbedingungen gut planen zu können? Ja, das stimmt. Aber ich habe bei meinen eigenen Projekten erfahren, dass man sich die Umstände entsprechend
gestalten kann. Bei meinem aktuellen Projekt für die Kunsthalle Karlsruhe beispielsweise habe ich eine Mitarbeiterin mit einem kleinen Kind, das noch viel Betreuung braucht. Also haben wir den Dreh und die Postproduktion so gestaltet und mit viel Puffer versehen, dass sie Beruf und Familie unter einen Hut kriegen kann. Man bekommt vieles organisiert, wenn man es nur will und weiß, wo man die Prioritäten setzt und worauf man Rücksicht nehmen muss. Dann lassen sich alle Beteiligten auch gerne darauf ein. Das betrifft natürlich auch die Menschen mit Behinderung selbst. Als ich mit meiner Behinderung konfrontiert war – ich war zu diesem Zeitpunkt Redakteurin bei der Deutschen Welle Welle (gemeint ist Sabine Lutz, A. d. R.) – wollte mich mein damaliger Chef gerne behalten. Aber ich habe mir nicht zugetraut, mit meiner Behinderung zu arbeiten und die Stelle aufgegeben. Das ist ein interessanter Punkt. Ja, man muss die Hilfe natürlich auch annehmen, die man angeboten bekommt. Und die Verantwortlichen müssen die richtigen Rahmenbedingungen schaffen und für eine gute Arbeitsatmosphäre sorgen, damit einem dies nicht so schwerfällt. Es gibt beispielsweise inzwischen einige Produktionsfirmen, die Babysitter in der Kalkulation ihrer Film-Förderanträge auflisten – als Denkanstoß, denn solche Positionen sind eigentlich nicht vorgesehen. Aber je öfter man darauf hinweist, desto größer ist die Chance, dass man diese Gelder irgendwann mal ganz selbstverständlich bewilligt bekommt. Und wenn sie das erste Mal bewilligt wurden, ist die Ablehnung beim zweiten Mal noch schwieriger? Ganz genau. Man muss es halt ausprobieren. Ich selbst bin immer wieder verblüfft darüber, wie viele Türen sich dann doch relativ einfach öffnen lassen, wenn man sich einfach mal traut. Liebe Gräfin Henckel von Donnersmarck, herzlichen Dank für das Gespräch! Interview: Sabine Lutz, Michael Grothe
DAS GANZE INTERVIEW mit Anna Henckel-Donnersmarck finden Sie in unserem Blog mittendrin.fdst.de/anna-henckeldonnersmarck Weitere Informationen zu Anna HenckelDonnersmarck: annahd.net
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Daniel Kupferberg initiierte zum Andenken an seine Künstlerkollegin Ulla Jösch einen Bildband mit ihren Kunstwerken.
Bilder so lebendig wie das Leben Zum Abschied einer Künstlerkollegin
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lla Jösch ist dem WIR-Magazin keine Unbekannte. 2014 berichteten wir über die Klientin einer Betreuten Wohngemeinschaft der Fürst Donnersmarck-Stiftung (FDST), als sie sich für einen abgaesenkten Bordstein vor ihrer Haustür in der Steglitzer Albrechtstraße einsetzte. Eine Ausstellung mit ihren Bildern veranstaltete die Villa Donnersmarck 2019, denn Ulla Jösch war auch Malerin. 2021 starb sie nach langer Krankheit. Zu ihrem Gedenken initiierte Daniel Kupferberg, Betreuer von Ulla Jösch und ihr Künstlerkollege, einen Bildband mit ihren Werken. 2009 hospitierte Daniel Kupferberg in der Wohngemeinschaft, in der Ulla Jösch lebte. „Ich lernte ihre kantige Persönlichkeit mit ihrem Humor, ihrer unglaublichen Stärke, aber auch mit ihrer Verletzlichkeit, ja Zerbrechlichkeit kennen”, erinnert er sich. Schnell merkten Klientin und ihr Betreuer, der selber Kunst studiert hat, dass sie in der Kunst eine gemeinsame Sprache fanden. Oft wenn Daniel Kupferberg in der WG Dienst hatte, nahm er sich die Zeit, mit Ulla Jösch zu malen. Dabei enstanden ganze Geschichten, deren Worte oft über das Bild spazieren und Teil der Kreation wurden. Ulla Jösch liebte
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Gedichte von Heinz Erhardt, von denen sie manche auswendig konnte. Dieser Humor begleitete sie auch beim Malen. So sind auf ihren Bildern Pferde mit Dauerwelle zu sehen oder ein Schneemann reist in einer Bratpfanne. „Ulla Jösch hatte gerne erzählt und geredet, während sie malte. Die Formulierungen flossen beim Malen mit ein oder fanden auf dem Papier eine Ergänzung”, erklärt Daniel Kupferberg. „Manche Gefühle sind schwierig in Worte zu fassen. So drückt ein Bild von einem Kaktus, auf dem sich ein Schmetterling hinsetzt, ganze Gefühlswelten aus.”
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Jeder Mensch ist ein Künstler. (Joseph Beuys)
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Eine Ausstellung wurde für Ulla Jösch in der Villa Donnersmarck organisiert. „Ob sie sich dadurch als Künstlerin definierte, lässt sich schwer sagen”, überlegt er. „Aber ich glaube, das hat sie sehr darin bestärkt, dass ihre kreative und auch künstlerische Ader einen Wert hat. Wie bei Joseph Beuys hat meiner Meinung nach jeder Kreativität
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Wir haben unsere Malutensilien ausgebreitet und einfach losgelegt.
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und kann gestalten. Dieses Bedürfnis habe ich bei Ulla Jösch sehr stark sehen können.” Als es Ulla Jösch gesundheitlich schlechter ging, besuchte Daniel Kupferberg sie im Hospiz. Worte brauchten beide nur wenige angesichts der Situation. Stattdessen malten sie wieder: Tiere, Landschaften, Blumen; das Leben in seiner ganzen Schönheit. Manche ihrer Bilder hängen noch heute in der Wohngemeinschaft, in der Ulla Jösch zusammen mit anderen Klientinnen und Klienten gelebt hatte. Alle zusammen wählten nun zusammen mit Daniel Kupferberg die Bilder aus, die in einem Kunstband Platz finden sollten: Das Pferd mit Dauerwelle, der Schneemann in der Bratpfanne und auch der zarte Schmetterling, der auf dem Kaktus sitzt. Der Bildband liegt nun im Gemeinschaftsraum der Wohngemeinschaft aus. Jede und jeder kann darin blättern oder sich die Originale an den Wänden anschauen. „Sie ist nicht mehr da, aber ihre Bilder hängen hier immer noch, die schaue ich mir gerne an”, sagt Harald Jahnke, einer ihrer Mitbewohner.
Das Interview mit Daniel Kupferberg erscheint im Juni 2022 im mittendrin.fdst.de/podcastwirsprechen-ulla-joesch Der Bildband steht auch bei mittendrin.fdst.de als PDF zum Download zur Verfügung.
Ursula Rebenstorf
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Wer Vera Kellner und ihr visuelles Tagebuch näher kennen lernen möchte, kann auf ein Interview mit ihr in einer neuen Podcastfolge von WIRsprechen ab Juni gespannt sein. mittendrin.fdst.de/podcast-wirsprechen-diewahrnehmerin
Die Wahrnehmerin Ein visuelles Tagebuch über mein Leben mit Multipler Sklerose
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era Kellner, Absolventin der Universität der Künste im Bereich Visuelle Kommunikation, arbeitet an einem einzigartigen Projekt: Ein visuelles Tagebuch über ihre Krankheit Multiple Sklerose. Was kein Kunstprojekt sein soll und was sich in acht Pappschachteln verbirgt, haben WIR bei einem Besuch der jungen Künstlerin erfahren dürfen.
Dass sich die Multiple Sklerose (MS), die Krankheit der tausend Gesichter, immer wieder melden würde, war Vera Kellner schon bei ihrem ersten Schub 2010 bewusst. Trotzdem startete sie, frisch das Abi in der Tasche, erst mal in die Unabhängigkeit. „MS, sei jetzt mal still, ich fange an zu studieren”, beschwor sie ihre Krankheit und zog nach Düsseldorf, von dort nach Hamburg und schließlich nach Berlin – der Liebe wegen und weil sie 2011 an der dortigen Universität der Künste (UdK) einen Studienplatz für visuelle Kommunikation bekommen hatte. Situationen beobachten, Stimmungen wahrnehmen, den Zustand einer Gesellschaft ergründen und mit Hilfe von Bildern, Texten und Fotos visuell zu gestalten, so fasst Vera Kellner das Studium zusammen, das sie mit einer Bachelorarbeit abschloß.
Als würde meine » Wahrnehmung abdriften. 28
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Wie ein Feuerwerk fühlte sich der Schub an, mit dem Vera Kellner 2016 auf der Intensivstation der Charité landete. „Mein Gehirn wollte einfach nicht mehr aufhören, sich zu entzünden”, beschrieb sie. Eine Zeit lang lähmten die starken Entzündungen Körper und Geist vollkommen. Es folgten künstliche Ernährung, Beatmung und zunehmend Erblindung. Eine lebensbedrohende und auch traumatische Erfahrung, durch die sich Vera Kellner durchkämpfte. „Am schlimmsten war während des Schubs, ich war völlig weg, alles war taub, ich konnte meinen Körper nicht mehr wahrnehmen, nichts hören, nichts fühlen, nichts”, beschreibt Vera Kellner. Ihr Leben ist nun, Jahre später, komplett anders. Heute lebt sie in einer betreuten Wohngemeinschaft der Fürst Donnersmarck-Stiftung und bewegt sich im Rollstuhl.
Der Blick nach innen Es sind auch die Kompetenzen, die sie in ihrem Kunststudium trainiert hat, die Vera Kellner halfen, sich Stück für Stück wieder in ihrem Körper zurechtzufinden. So wie sie früher gesellschaftliche Stimmungen und Entwicklungen visualisierte, so richtet Vera Kellner nun ihren prüfenden Blick nach innen, erspürt ihren Zustand, ihre Fortschritte und ihre Veränderungen. Das alles hält sie auf unzähligen Zetteln fest. Da ist eine Zeichnung von zwei Körperhälften, die die körperliche Wahrnehmung vor sechs Jahren als einzelne Fragmente und heu-
te wieder als einen ganzheitlichen Körper, der immer stärker und beweglicher wird, zeigen. Ihre Erblindung: ein gewöhnliches Auge mit schwarzem Stift gezeichnet visualisiert, wie sie früher sehen konnte. Ein weiteres Auge mit vielen Zickzackstrichen regelrecht durchgestrichen, das heute. Aber auch der Blick nach außen hilft, ihr verändertes ich wahrzunehmen. „Ich sah ein Mädchen in der U-Bahn, die mehrmals ihr Lachen für Tiktok aufnahm, bis sie mit dem Lachen zufrieden war, bis es in ihrer Wahrnehmung echt klang”, erzählt Vera Kellner. „Durch meine erlebten MS-Schübe erfuhr ich meinen Körper immer wieder als fremd. Ich fragte mich bei dem Tiktok-Mädchen mit ihrem unechten Lachen, wie wirkt sich das Erleben auf die eigene Identität aus, wenn der eigene Ausdruck willentlich so stark beeinflusst wird bzw. sich so stark verändert?“
Das ist kein Kunstprojekt Wie ein visuelles Tagebuch hält Vera Kellner ihre Veränderungen und wie sie diese wahrnimmt fest. Damit sie sich später vielleicht erinnern kann, was sie gefühlt hat und was sie noch konnte oder was noch nicht. Vorschläge von
befreundeten Künstlern und Künstlerinnen, daraus ein Kunstprojekt zu machen, lässt sie noch zögern. „Das ist kein Kunstprojekt, ich weiß noch nicht, wohin mich diese Reise, dieses Tagebuch führen wird. Deswegen traue ich mich mich auch gar nicht, von einem Kunstprojekt zu sprechen, weil ich ja einfach nur das dokumentiere, was ich spüre“, sagt sie. Immerhin sortiert sie die Zettelflut thematisch in Pappkästen, eine Idee von ihrem Betreuer Daniel Kupferberg, der selbst auch Künstler ist. Demnächst kommt ein Künstlerkommilitone vorbei, um das Projekt weiter zu denken und zu gestalten. Ob Kunstprojekt oder nicht, Vera Kellner gibt mit ihrem Tagebuch nicht nur einen intensiven Einblick in ihre persönliche Auseinandersetzung mit sich selbst. Das Innenleben in den acht Pappschachteln ermöglichen dem Betrachtenden eine einzigartig Erfahrung mit der Frage, die sich viele stellen: Was ist echt in meinem Leben und was vielleicht nur die optimierte Vorstellung davon? Vielleicht wird die visuelle Kommunikatorin eines Tages ihr fertiges Projekt ausstellen. WIR würden dann wieder darüber berichten. Unbedingt! Ursula Rebenstorf
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Meine Welt aus Ton L
ucio Campoli ist Heilerziehungspfleger in Ausbildung im Team Reinickendorf Schwerpunkt BEW der Fürst Donnersmarck-Stiftung (FDST). Hier verbindet er soziale Arbeit mit Klientinnen und Klienten der FDST mit Kunst und Kreativität. Denn Lucio Campoli ist auch Keramiker. Einmal im Monat kommen Klientinnen und Klienten in die Zeltinger Straße, um gemeinsam mit Ton zu arbeiten.
Gelernt hat Lucio Campoli das Kunsthandwerk in Italien. Typisch für eine Ausbildung zum Keramiker sei es, in verschiedenen Keramikschulen, die berühmt für regionale italienische Keramik sind, zu lernen, erklärt der Römer bei unserem Besuch in der Keramikgruppe. Im Sommer 2021 kaufte er Ton und Utensilien für das Keramikhandwerk ein, um einmal im Monat mit mit Interessierten Keramik herzustellen. „Hier im Norden gibt es viele Klientinnen und Klienten, die an Kunst interessiert sind“, erklärt er die Idee, regelmäßig Keramikkunst mit Menschen mit Behinderung herzustellen.
Heute mache ich Buchstaben Lucio Campoli arbeitet selber mit Porzellan und stellt Gebrauchskeramik her. In seiner Keramikgruppe kann aber jede und jeder das herstellen, worauf er oder sie Lust hat. Eveline Peske kommt seit Beginn in die Gruppe. Was sie auch beschäftigt, geben ihre Hände mit Hilfe von Ton Gestalt. Zurzeit stellt sie ein Haus in Einzelteilen her, denn sie zieht um. Häuser interessieren sie. Als WIR die Gruppe besuchten, blätterte Eveline Peske zunächst im WIR-Magazin, schließlich möchte sie wissen, wo sie mit ihren Tonarbeiten erscheinen wird. Spontan beschließt sie, sich heute auch mit Wörtern zu beschäftigen. Das Haus muss warten. Sie rollt den Ton wie Kuchenteig aus, um Buchstaben auszuschneiden und zu formen. „Ich mache heute mal Buchstaben“, verkündet sie. „Du musst aufpassen, dass die einzelnen Teile nicht zusammenkleben“, warnt Lucio Campoli, nimmt einen Spezialspachtel und verstreicht die Ränder eines A sorgfältig. Eveline macht indessen weiter mit einem P. „Zwar sieht das etwas doof aus, aber egal“, sagt sie, bevor sie den nächsten Buchstaben ausrollt: ein Ü. Viel Zeit hat auch Alexander Wilde mit seinem Relief zugebracht. Heute soll es fertig werden. Was fehlt, ist
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ein Loch, um es an der Wand aufzuhängen. „Wie willst das machen?“, fragt Lucio Campoli den Klienten. Er hält das Relief hoch, damit Alexander Wilde die Stelle markieren kann, wo er das Loch haben möchte. Mit einem Spezialmesser bohrt Lucio Campoli nun das Loch rein, denn der Ton ist schon sehr hart geworden und Alexander Wilde kann das Relief schwer halten und gleichzeitig mit Kraft das Loch bohren. „Ich bastele gerne. Schon als Kind konnte ich stundenlang an verschiedenen Dingen werkeln, daher passt das jetzt gut“, erzählt Alexander Wilde, während er das nun fertige Relief umdreht, um sein Kunstwerk zu signieren.
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Lucio Campoli unterstützt Alexander Wilde bei den letzten Feinarbeiten.
Jede Sache braucht seine Zeit, man kann so viele Dinge mit Ton machen, es ist wichtig, sich da ein konkretes Ziel zusetzen und dann mit einer Arbeit anzufangen.
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Elf Leute sind mittlerweile in der Gruppe dabei. Die meisten haben wie Alexander Wilde einen Schlaganfall oder eine Gehirnblutung durchgemacht. Kunsthandwerk, die haptische Arbeit mit Ton und Formen, ist eine Möglichkeit, selbstwirksam und kreativ zu sein, auch nach einem Schlaganfall. Einige haben schon früher mit Ton gearbeitet. Lucio Campoli zeigt eine perfekt geformte Rosenblüte aus Ton, die mit Hände geformt worden ist. Der Klient war früher selber Keramiker, erzählt er, aber „durch seine Behinderung hat er viele Kenntnisse vergessen, die er nun wieder ausprobieren kann.“ Auch eine Madonna aus Ton lässt erahnen, dass die Macherin mit Keramikarbeiten vertraut ist. Bislang ruht das Projekt, denn sie ist mit dem Ergebnis noch nicht zufrieden. „Keramik braucht ganz viel Zeit. Die Ergebnisse sieht man nicht sofort und das fertige Stück sieht vielleicht ganz anders aus, als man sich das vorgestellt hat“, erzählt Lucio Campoli. Aber Zeit ist nicht das Problem in der Gruppe. An einem oder parallel an mehreren Projekten gleichzeitig können die Teilnehmenden sich ausprobieren. Lucio Campoli hilft und berät, wo es gewünscht wird.
Ein letzter Check, bevor das Relief fertig ist.
Eveline Peske gestaltet Buchstaben aus Ton. Lucio Campoli hilft mit Ausbesserungsarbeiten.
Alle Arbeiten werden in einem großen Schrank aufbewahrt. Wenn ein Stück fertig ist, kann es rüber in das P.A.N. Zentrum gefahren werden, denn dort gibt es einen Brennofen, den Lucio Campolis Gruppe mitbenutzen kann. Anschließend kann die Keramik auch bemalt werden. Der Umgang mit Farben ist für die Gruppe noch unbekannt. Doch bei Keramik mache „man immer eine neue Tür auf“, erklärt Lucio Campoli. Ursula Rebenstorf
Lucio Campoli zeigt eine Rose aus Ton, ein Kunstwerk aus seiner Gruppe.
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zeug. Ich merkte eine gewisse Verwandtschaft zwischen den Klängen und dem Nichttonalen. Damit meine ich Geräusche ohne einer tonalen Struktur. Wenn man Geräusche hört, gibt es nicht zwingend keine Tonalität. Allerdings kann zwischen den Tönen eine Tonalität liegen. Da wird elektronische Musik interessant.
Meine Musik bedeutet mir alles Moritz von Oswald, der Meister des experimentellen Technos im Gespräch
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ede Ausgabe des WIR-Magazins hat ihre besondere Momente. Einen Nachmittag lang mit dem Musiker Moritz von Oswald höchstpersönlich bei Tee und Kuchen im hauseigenen Studio umgeben von antiken Mischpulten zu plaudern, war für den WIRRedakteur Martin Küster mit seiner Begeisterung für elektronische Musik und Techno definitiv einer dieser Momente.
Moritz, was bedeutet Musik für Dich persönlich? Kennst du meine Musik ein bißchen? Ich habe im Internet bei Youtube Musikvideos von Dir recherchiert und war überrascht, wie viele experimentelle Stücke da zu finden waren. Wenn man sich diese Geräte anschaut, mit denen verschiedene Formen von Hall erzeugt werden können, (er zeigt auf sein technisches Studioequipment, A. d. V.), sieht man, es geht bei uns um das Experimentieren. Das bedeutet für mich eine gewisse Freiheit mit dem, was man mit diesen Instrumenten machen kann, vorausgesetzt, man kann sehr gut spielen. Ich bin ja gelernter Drummer. Da muss man viele Instrumente beherrschen. Allerdings ist es auch wichtig, gute Ohren zu haben (lacht), denn ich bin weiterhin in Clubs als DJ unter-
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wegs. Die Anlagen dort sind so laut, da braucht man einen Gehörschutz. Aber zurück zu meiner Musik: Sie bedeutet für mich alles. Sie war bereits ein wichtiger Teil in meinem Elternhaus. Mein Vater sollte eigentlich Konzertpianist werden. Er musste aber in der Familie andere Rollen übernehmen, so dass er dieses Ziel nicht weiter verfolgen konnte. Aber an mich und meine Brüder hat er dieses Ziel weitergegeben. Zuhause ging es immer um Klänge, Musik, Party und darum, mit Musik eine gute Zeit zu haben. Ich habe in Deiner Musik Einflüsse von Chick Corea, Miles Davis und anderen großen Namen aus dem Jazz heraushören können. Wie kamst Du auf die Idee, elektronische Musik mit Jazz zu verbinden? Das fing bei mir sehr früh an. Jazz wurde bei uns schon zuhause viel gehört. Black Music war unser Thema und zwar mit allem was dazugehört, vor allem der Soul. In meiner Jugendzeit haben Musiker generell damit angefangen, mit elektronischen Instrumenten zu improvisieren. Es gab natürlich auch Miles Davis. Dann kam die ganze Jazzrock-Ära und dann ging das so langsam los. Mein Interesse war geweckt, aber eher für das Schlag-
Was für Voraussetzungen brauchen Musikerinnen und Musiker in dem Moritz von Oswald Trio, um einen Musikstil so umzusetzen, wie Du Dir das vorstellst? Meine Trio-Kollegen müssen eigentlich nichts mitbringen. Es ist nur gut, wenn Sie offen sind und sich frei von irgendwelchen Schubladen machen. Die Sichtweise oder Denkweise der sogenannten Major Companies, nach der alles nach irgend etwas klingt, ist für mich schon zu festgelegt. Da gibt es keine Freiheit. Insofern sollten die Leute einfach Spaß an der Freiheit und auch an der Kommunikation untereinander haben. Man muss nicht darauf warten, was der eine oder die andere macht. Kommunikation zwischen den Personen kann manchmal auch nur über das Gehör stattfinden. Ich habe meine letzte Platte hier in diesen drei kleinen Studioräumen aufgenommen. Wir hatten absichtlich keinen Blickkontakt, sondern nur über das Hören miteinander gesprochen.
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Wenn es anfängt, zu braten…
Wer gibt da den Takt vor? Ist es der Schlagzeuger oder hört ihr spontan auf das, was gerade in der Musik passiert? Im Prinzip baut alles auf Rhythmus auf. Ich habe meine Arrangements natürlich
so vorbereitet, dass ich dann auch sehr spontan auf das reagieren kann, was in dem einen und dem nächsten Moment entsteht. Das ist so eine Art Kettenreaktion. Für die Proben arrangiere ich ein paar Sachen für das, was kommen könnte. Die werden dann von mir auch elektronisch abgespielt. Das sind sogenannte RhythmTracks, oder auch Rhythmusgerüste, für den Drummer (Heinrich Knobberling, A. d. V.), der Jazz-Schlagzeuger und Professor an der UdK ist. Er weiß einfach, was er tut. Die andere Musikerin (Laurel Halo, A.d.V.) ist Keyboarderin. Sie hat darin Erfahrung, frei zu spielen. Laurel improvisiert und bekommt von mir auch bestimmte Instrumente zugewiesen, natürlich immer mit der Frage verbunden, ob sie damit etwas anfangen kann. Sie ist auch eine sehr gute Rhythmikerin. Also ist alles vorher ein bisschen arrangiert? Ein bisschen, aber nur ein ganz kleines bisschen. Man drückt auf Start und dann wird alles, was die Keyboarderin, was der Schlagzeuger macht, und was ich mache, in verschiedenen Spuren live aufgenommen. Dann wird alles zusammen gemischt. Wichtig ist der Moment, in dem es beim Spielen anfängt zu braten. Das ist der Moment, wo diese Energie entsteht. Was motiviert euch bei Konzerten mehr? Wenn während des Stückes die Leute konzentriert zuhören oder wenn sie abfeiern? Das hängt auch ein bisschen von den anderen beiden ab. Da müsste man eigentlich sie fragen. Es hängt auch davon ab, ob sich etwas von uns auf alle überträgt. Es ist immer ein guter Moment, wenn man ein Feedback bekommt. Man spricht schon zum Publikum. Wenn wir miteinander auf eine gute Art und Weise kommunizieren, ist das natürlich für mich in dem Moment inspirierend. Es kommt eine Energie zusammen, so dass das Ganze weitergeht. Das ist gerade in diesen improvisatorischen Momenten sehr wichtig. Man knüpft an einem Moment an und dann an den nächsten. Diesen Bereich nennen Jazzmusiker Jams. Ich mag diesen Begriff aber überhaupt nicht, denn es wird einfach nur improvisiert.
ZUR PERSON: Moritz von Oswald ist ein deutscher Musiker, Musikproduzent und Musiklabelinhaber. Der studierte Drummer arbeitete in den 1980er Jahren bei der NDW-Formation Palais Schaumburg. Nach Auflösung der Band arbeitete er in verschiedenen Projekten, wie Basic Channel, Chain Reaction, Main Street oder Rhythm & Sound, bis er ab 1992 unter dem Pseudonym Maurizio dubbige Techno-Produktionen veröffentlichte. Bis heute gelten diese als Klassiker des Genres. Er produzierte für das Berliner Tresor-Records-Label. 2008 veröffentlichte von Oswald zusammen mit Carl Grey auf dem Klassiklabel Deutsche Grammophon Re-Kompositionen von Ravels „Boléro“ und Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“, die auf Aufnahmen Herbert von Karajans basierten. Es folgte 2009 die Gründung des Moritz von Oswald Trio, mit dem er mehrere Alben u.a. mit dem Drummer Tony Allen auf Honest Jon‘s Records veröffentlichte. 2021 erschien das fünfte Album des Moritz von Oswald Trios mit dem Titel Dissent.
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Für mich sind Ton und Geräusch das Gleiche.
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© MORITZ VON OSWALD
er Clubmusik. Dann haben wir versucht, das Miteinander auch über einen Sänger zu verbinden. So etwas wurde schon damals in den sehr konservativen Technokreisen Dub Techno genannt. Im Prinzip bedeutet das für dich als Produzent, dass das ganze Studio komplett wie ein Instrument gespielt wird. Dabei wird alles live gespielt. In meinem Studio spiele ich auch eine Art Live-Dubbing, wo ich die Instrumente dazu bringe, zu verhallen, und dadurch noch in eine andere Dimension reinzukommen.
Was ist für Dich ein Klang, was ein Geräusch und welche Rolle spielen beide für Dich in der Musik? Es klingt ein bisschen abstrakt, aber ein Klang und ein Geräusch sind für mich fast dasselbe. Ich habe versucht, daraus ein System zu machen. Ein Beispiel: Die verschiedenen Geräusche von Flugzeugen und deren Motorgeräusche beim Fliegen. Wenn man sich auf diesen „Lärm“ einstellt, kann man etwas im Hintergrund hören. Es gibt tiefe Töne, helle, ein Rauschen. Ein ganzes Klangspektrum. Auch das Rauschen ist im Prinzip nur ein anderer Ton. Es gibt eine Summe aus verschiedenen Tönen, die in einem Geräusch vorkommen. Daher ist es für mich eigentlich egal, ob ich einen Ton oder ein Geräusch höre. Das ist das gleiche. Du hast bei „Universal Music“ produziert. Wie schafft man es, als Musiker zu so einem großen Label zu gelangen? Ich hatte bei Universal einen sehr guten Freund, einen Musikwissenschaftler. Er war Head of Jazz and Classics, d. h, er hat verschiedene Abteilungen geführt. Er hat mich gefragt, ob ich eine klassische Komposition neu bearbeiten möchte. Das habe ich zusammen mit einem Freund aus Detroit gemacht und zwar bei der Deutschen Grammophon, dem traditionellen Klassiklabel, das von Universal gekauft geworden war. Die Platte ist wirklich toll geworden. Du bist dafür bekannt, den Reggae Dub in den Techno reingebracht zu haben. Kannst Du dazu etwas erzählen? Es gab eine Zeit, in der ich auch mit einem sehr guten Partner, der wiederum Kunststudent gewesen ist, das Faible für Reggae teilte. Angefangen haben wir aber mit straight-
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Was ist Live-Dubbing? Beim Live-Dubbing versucht man die Levels, die Lautstärke der Instrumente auf einem analogen Mischpult, also die verschiedenen Fader und Knöpfe, live wiederum auch die Intonation, zu manipulieren und Effekte zu erzielen. Es gibt auch im Reggae immer die sogenannten Vocal Tracks. Das sind dann die Hauptstücke und dazu gibt es einen Dub, wo man ganz genau hört, was bearbeitet wird. Also Echo und Hall. Dazu werden gerne Hallgeräte benutzt und so viel wie möglich versucht, live die Geräte miteinander kommunizieren zu lassen, Geräte und Studio als ein Instrument zu nutzen. Inwiefern macht Dich das traurig, dass keine CDs mehr verkauft werden und vieles entweder billig oder frei verfügbar im Netz ist? Als CDs herauskamen und Vinyl ablösten, bedeutete das für den kommerziellen Plattenfirmenmarkt einen gigantischen Gewinn, weil so viel mehr CDs verkauft wurden ohne Knacken und Knistern und mit einer längeren Spieldauer. Ich bin bei Vinyl geblieben und hatte auch immer mit einer Plattenfirma, die aus Begeisterung am Klang mit Vinyl zu tun hatte, zusammengearbeitet. Diese reduzierten Tracks auf den CDs, im Radio oder als MP3, machen mich nicht traurig. Ich kann damit umgehen. Es ist nur so, dass die Konsumenten auf sich ein bisschen aufpassen müssen, dass sie ihr Gehör und auch ihre Empfindsamkeit nicht völlig für die Klangqualität verderben. Man sagt ja, alles an Vinyl klingt besser. Ich finde, es klingt tiefer. Es hat eine gewisse Dreidimensionalität, die man zum Teil, das hängt von der Produktion ab, bei CDs, im Radio mit MP3 oder bei Plattformen wie Spotify nicht hinbekommt. Es klingt meiner Wahrnehmung nach einfach nicht attraktiv, nicht gut genug. Moritz, herzlichen Dank für Deine Zeit und Deine Antworten. Interview: Martin Küster
Lieblingsbild von Jürgen Ansorge
In der Kunst funktioniert Ausdruck auch ohne Sprache Eine Stippvisite bei der Kreativgruppe des Ambulant Betreuten Wohnens der Fürst Donnersmarck-Stiftung
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rsel Hocke und Holger Thomas leiten die Kreativgruppe des Ambulant Betreuten Wohnens der Fürst Donnersmarck-Stiftung seit vielen Jahren. Pandemiebedingt fanden die Treffen längere Zeit nicht statt. Nun kommen Klientinnen und Klienten mit künstlerischen Ambitionen wieder regelmäßig zusammen. Der helle Raum in der Mainzer Straße wird dazu zu einem Atelier umfunktioniert. In entspannter Atmosphäre stehen die Kunsttherapeutin und der Heilerziehungspfleger den Teilnehmenden bei ihrem Schöpfungsprozess zur Seite. Es gibt keine starren Vorgaben, keinen Druck oder Zwang zu Perfektion, nur Anregungen zu Motiven, Papier und Arbeitsmaterialien. „Egal ob sie mit Aquarellfarben, Kreide oder Tinte arbeiten wollen – wir versuchen alle Ideen aufzugreifen“, sagt Holger Thomas. Und weiter: „Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass alle hier, unabhängig
davon, ob sie verbal kommunizieren können oder nicht, den künstlerischen Ausdruck als Gemeinsamkeit haben. So verstehen sie sich auch ohne Worte.“ WIR haben ein paar Stimmen eingefangen – warum kommen die Teilnehmenden gern zum Gruppentreffen? Jürgen Ansorge Ich mag es einfach kreativ zu sein, mit Farben zu experimentieren. Das finde ich herrlich. Schon früher habe ich mich sehr mit Graffitis beschäftigt. Das war eigentlich mein einziges Hobby. Am Anfang weiß ich oft gar nicht, was ich malen soll. Das kommt dann einfach so und dann geht es los. Mir geht es gut dabei, das hätte ich früher nicht gedacht. Ich kann dann für die Zeit das ganze Rehazeug, Arbeit und alles einfach mal vergessen. Auf meinem Lieblingsbild ist ein
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Frosch zu sehen. Den habe ich gemalt, als ich hier in der Gruppe angefangen habe. Ich habe mir gedacht, so ein schönes Grün, das habe ich ja noch nie gesehen. Das Bild wurde dann auch in einer Einladungskarte abgedruckt. Demnächst mache ich eine Reise mit einem Kreuzfahrtschiff übers Mittelmeer. Ich habe das Schiff gemalt und jetzt habe ich mir ein Motiv aus Barcelona vorgenommen. Das wird eine der Stationen der Reise sein. Antje Koltermann Es ist einfach angenehm, kreativ zu sein. Ich kann beim Malen die Zeit vergessen, eigentlich sogar alles rundherum. Ich bin dabei ganz im Hier und Jetzt. Auch meine Gefühle kann ich dadurch ausdrücken. Und ich freue mich immer wieder, etwas Neues ausprobieren zu können. Beispielsweise heute habe ich mit Kohle gemalt. Ein Selbstporträt von mir – eine Frau mit dem Wunsch nach Frieden. Deshalb habe ich das Wort „Peace“ draufgeschrieben.
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Mein Lieblingsbild nenne ich „Berge bei Nacht“. Ein Erzähler erzählt von dem Mond und den Bergen. Fred Schmidt Nach einem Schlaganfall lebe ich mit Aphasie. Durch meine Bilder kann ich ohne Sprache Geschichten erzählen. Es gefällt mir, mich mit anderen auszutauschen und dabei für mich kreativ zu sein. Das Bild mit den Booten auf dem Wasser erinnert mich an Urlaube mit meinem verstorbenen Partner. Wir waren 34 Jahre lang ein Paar. Nun male ich weiße Häuser auf Mykonos. Auch dort waren wir zusammen. Übrigens – ich such eine Wohnung. Es ist schwer für mich, mit meinem Handicap in der 4. Etage ohne Aufzug zu leben. Wenn wer was weiß, bitte melden. Jan Siewert Ich male sehr gerne hier in der Gruppe. Es macht mir Spaß. Manchmal ist mir zuhause ein bisschen langweilig,
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es ist eine schöne Abwechslung. Früher habe ich auch schon gemalt, die Bilder hängen in der WG, in der ich wohne. Vom Beruf her bin ich allerdings KFZ-Mechaniker und Fachinformatiker für Systemintegration. Man sagt, ich hätte ein gutes Gefühl für Farben und mein Malstil erinnert an Pointilismus, weil ich erstmal Punkte aufs Blatt setze und die schließlich zu einem Motiv verbinde. Zu diesem Bild wurde ich durch ein Gemälde von Monet angeregt. Es gefällt mir einfach alles daran!
Linke Seite, oben: Fred Schmidt, rechts unten: Antje Koltermann Rechte Seite: von links nach rechts: Jürgen Ansorge, Fred Schmidt mit Lieblingsbild, Jan Siewert bei Malen seines aktuellen Werkes unten: Jan Siewert mit seinem Lieblingsbild nach Monet rechts: aktuelles Werk von Antje Koltermann: „Peace“ inspiriert durch den Ukraine-Krieg
Heute habe ich ein weiteres angefangen. Es ist wieder angelehnt an Monet – Mohnblumen auf einer Wiese. Helga Hofinger
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Kunst ist eine Form zu überleben
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Vor ihrer Erkrankung plante Anna Terwesten eine Ausstellung, die sich mit Gewalt und Missbrauch in der Gesellschaft befasst. Diese sollte in drei Bereiche gegliedert sein: Im ersten Teil sollten Familienbilder mit einer bestimmten Drucktechnik auf Holzscheiben die Wurzeln der dargestellten Personen zeigen und symbolisieren. Danach sollten Stimmen dazu hörbar und als Schrift sichtbar gemacht werden. Zum Schluss sollten Bilder folgen, die die eigene Kraft und somit Befreiung zum Ausdruck bringen.
Anna Terwesten hat selbst Gewalterfahrungen in ihrer Jugend machen müssen. Für sie ist Kunst eine Form zu Überleben. „Wenn ich im Hier und Jetzt produziere, fühle ich, dass innerlich mein Wasser anders gefärbt ist“, sagt sie. Christine Busch
Alle, die neugierig geworden sind, finden Anna Terwesten und sehr viele ihrer Bilder auf Facebook. facebook.com/anna.terwesten
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nna Terwesten fotografiert, gestaltet Objekte aus Naturmaterialien und Alltagsgegenständen und war früher viel in der Welt unterwegs. Nach einer Erkrankung hilft ihr die Kreativität wieder ins Leben zurückzufinden. Für unser Treffen hat Anna Terwesten ihre Wohnung zu einer Galerie umgestaltet. Die poetischen Fotografien, die sie mir zeigt, hatte sie vor Jahren bereits in Frankfurt ausgestellt. Meist fängt sie einen Augenblick spontan ein, ihre Bilder entstehen im Moment. In der Serie, die sie mir zeigt, sind unterschiedliche Formen des Lichteinfalls zu sehen. „Ich habe die Bilder mit Passepartouts versehen, um die Blicke des Betrachters in die Mitte der Bilder zu lenken“, beschreibt sie. Anna Terwesten ist Autodidaktin. „Aber innerlich fühle ich mich als Künstlerin“, sagt sie. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie in verschiedenen Bereichen der sozialen
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Arbeit. Bis sie im November 2019 durch ein Aneurysma eine schwere Gehirnblutung erlitt und mehr als zwei Monate im Koma lag.
Anna Terwestens Lieblingsbild zeigt Blumen im Wildwuchs im Frühlingslicht. Sie hat es mit einem Handy in einer Gartenkolonie aufgenommen.
Sie ist in der Gesundungsphase, trotzdem ist es für sie nicht leicht, die künstlerische Arbeit wiederaufzunehmen. Nicht immer hat sie die Kraft dazu und kann sich ausreichend konzentrieren. Sie denkt, es würde ihr guttun, wieder ein eigenes Atelier zu haben. „Zu Hause zu arbeiten ist schwierig, da ist mehr Durcheinander“, sagt die 56-jährige.
Künstlerisch breit aufgestellt Anna Terwesten blickt auf ein sehr reichhaltiges, vielfältiges Schaffen zurück. Neben der Fotografie hat sie Objekte aus Alltagsgegenständen gestaltet, so beispielsweise einen Sessel aus einem Einkaufswagen. Vierzehn Jahre lang lebte sie auf Korsika. Sie wohnte in einer Hütte auf dem Land, arbeitete viel mit Holz und schmückte mit diesen Skulpturen ihren Garten.
Natur ist für Anna Terwesten besonders in der Stadt wichtig. Schon als Kind war sie von Farben und Formen der Natur fasziniert.
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DIE BROSCHÜRE WURDE IN LEICHTER UND IN SCHWERER S P R A C H E V E R Ö F F E N T L I C H T. Als PDF-Dokument ist sie zu finden unter: mittendrin.fdst.de/umwelt-und-koerperbehinderung-und-klimawandel/ Auf Wunsch senden wir Ihnen gerne ein gedrucktes Exemplar zu. Bestellung bitte per Mail an schleher.fdh@fdst.de
Klima-Kunst Rehabilitandinnen und Rehabilitanden des P.A.N. Zentrums untersuchen die Folgen des Klimawandels
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elchen Einfluss hat das Klima auf mich? Wie wirken sich Veränderungen des Klimas auf meinen Körper aus? Und was hat das alles mit meiner Behinderung zu tun? Diese Fragen stellten sich sechs Rehabilitandinnen und Rehabilitanden aus dem P.A.N. Zentrum anlässlich der 12. Berliner Stiftungswoche 2021. Als vielstimmige Antwort erschien die gemeinsam konzipierte und erarbeitete Broschüre Umwelt und Körper – Eine theoretische und künstlerische Annäherung an den Zusammenhang zwischen Klima und Gesundheit. Die Texte in der Broschüre stellen die Essenz von Gesprächen, Diskussionen sowie gemeinsam gelesenen Texten dar. Herzstück sind allerdings die künstlerischen Werke zu jedem Kapitel. Diese Werke sollen einen sinnlichen Zugang zu den abstrakten Themen ermöglichen. Sie sollen berühren und Raum für Emotionen schaffen. Auffällig ist die Vielfalt der schöpferischen Mittel, mit denen die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden ihre Themen verbildlichten: Aquarell- und Kreidemalerei, klassische und experimentelle Fotografie, ein AirbrushGemälde sowie eine Skulptur aus Ton.
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„Ich finde das Werk nach wie vor wirklich gut gelungen“, sagt Lennart Kaldeweide in einem Gespräch knapp ein Jahr nach der Veröffentlichung. Er hat an der Broschüre mitgearbeitet und hält das Thema – auch wenn zurzeit viele andere Probleme auf der Tagesordnung stehen – weiterhin für sehr wichtig. „Wir sehen aktuell zum Beispiel in Australien, wie verheerend die Folgen des Klimawandels sein können.“ Einzig an der Form der Veröffentlichung hat Lennart Kaldeweide im Nachhinein leise Zweifel: „Um ein größeres – und evtl. auch ein jüngeres – Publikum zu erreichen, hätten wir vielleicht mehr ins Internet und in die sozialen Netzwerke gehen müssen.“ Diesen Zweifeln wollen wir begegnen und freuen uns über die Gelegenheit, diese Broschüre, an der neben Lennart Kaldeweide auch André John, Stephan Münch, Andreas Quintin, Andrea Schulz und Stefan Röpke mitgewirkt haben, digital den Leserinnen und Lesern des WIRMagazins im Themenschwerpunkt Kunst der aktuellen Ausgabe zur Verfügung stellen zu können.
Das Leben neu leben lernen. Ein Wasserglas halten, Briefe schreiben, selbstbestimmt leben: Menschen, die eine Schädigung des Nervensystems erworben haben, stehen vor großen Herausforderungen. Im P.A.N. Zentrum bieten wir ihnen nach Ende der medizinischen Reha Anschluss: Schrittweise individuell den Alltag zurückerobern.
Neue Wege in den Alltag
Telefon: 030 4 06 06 – 0 E-Mail: aufnahme@panzentrum.de www.panzentrum.de Rauentaler Str. 32 13465 Berlin
Neurologen, Neuro-Psychologen, Neuro-Pädagogen und Therapeuten arbeiten in unserem Therapiezentrum interdisziplinär und an einem Ort. Das Ziel: Der Auszug der Rehabilitanden in ein möglichst selbstständiges Leben. Den meisten gelingt das nach 18 Monaten.
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Was bleibt, was sich ändert Detlef Wendorf – Ein Künstlerporträt
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in freundlich lächelnder Mann in seinen 50ern begrüßt mich in seiner Wohnung. Sein Name: Detlef Wendorf. Man sieht, dass hier ein Künstler wohnt. Da hängen nicht nur Bilder an der Wand, stehen Skulpturen auf dem Regal, pendeln getöpferte Blumenampeln nach dem Vorbild alt-peruanischer Kulturen vor dem Fenster. Es stehen auch professionelle Farbstifte und Pinsel für den nächsten Einsatz bereit. Hier versammelt sich sichtbar und in Schubladen verstaut sein Wirken der vergangenen Jahrzehnte. Das Wissen anderer kreativer Menschen vieler Kulturen und Epochen steht in inspirierenden Büchern zum Nachschlagen bereit. Die natürliche Schönheit von Blumen in Vasen und Grünpflanzen ergänzen die Sammlung. Seine Wohnung atmet die Atmosphäre eines schöpferischen und vielseitig interessierten Menschen. Aktuell arbeitet Detlef Wendorf an der Druckpresse. Sein künstlerisches Schaffen konzentriert sich gerade auf Radierungen. Diese Kunstrichtung zum Herstellen von Tiefdrucken wurde vom Lateinischen „radere“ abgeleitet, das mit „kratzen, wegnehmen, entfernen“ auf Deutsch übersetzt werden kann. Mit feinen Strichen ritzt er geduldig und konzentriert seine Motive und die Signatur DW mit Jahreszahl spiegelverkehrt in Platten aus Kunststoff oder Stahl. Das erfordert an sich schon viel Geschicklichkeit. Mit dem Tremor in der linken, seiner bevorzugten, Hand ist es nochmal anstrengender. Mit der Kurbel dreht er schließlich gegen den Widerstand der Platte kraftvoll seine Motive in ein neues Leben als Kunstwerk. Manchmal arbeitet er jedoch auch an einem Projekt zum Upcyceln. So verhilft er beispielsweise benutzten Feuerwerksbatterien zu einem neuen Leben als Stiftehalter.
Leben ist wie Kunst: ein Geheimnis im Wandel Sein eigenes Leben hat sich Detlef Wendorf ebenfalls neu erschaffen. Erschaffen müssen. 2008 gab es für ihn einen deutlichen Einschnitt. Ein Früher, an das er sich kaum
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Auf feinem Büttenpapier druckt Detlef Wendorf die Radierung eines Engels.
erinnert. Und das Danach. Durch eine Meningitis fiel er ins Koma. Erst viele Tage später wachte er wieder auf. Die Erinnerung an die „Zeit davor“ war nahezu ausgelöscht. Schon die Erinnerung an den „Satz davor“ war ihm schier unmöglich. Sein Kurzzeitgedächtnis hatte massiv gelitten. Besonders das Erledigen von bürokratischen Angelegenheiten war eine kaum zu bewältigende Hürde. Als er nach dem Krankenhausaufenthalt nach Hause kam und all die Briefe dort liegen sah, war das „Stress pur“, wie er sagt. Auch hatte er seine Arbeit verloren, musste sich an die Krankenkasse und Behörden für seinen Lebensunterhalt wenden.
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Aber meine handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten waren geblieben.
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„Beinahe hätte ich sogar meine Wohnung verloren“, erzählt er mir. „Doch ein Sozialanwalt hat mir geholfen, sie zu behalten.“ Und „Job weg, Erinnerung weg, Vergangenheit weg, Zukunft weg, Freundin weg – ich kannte
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mich selbst nicht mehr“, sagt Detlef Wendorf heute. „Aber meine handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten waren geblieben. Und mein logisches Denken“. Erleichterung und ein Hoffnungsschimmer strahlen aus ihm heraus. Und die gute Erfahrung, dass ihm wenigstens ein Halt geblieben war: seine Nachbarin. Für sie hat er vor etwa eineinhalb Jahren ein Bild von einer abendlichen Strandlandschaft auf Norderney gemalt, weil ihr die Atmosphäre gefiel. Beim Betrachten des Bildes erzählt er, was ihm beim Malen grundsätzlich wichtig ist: „Die Gesamtkomposition, der Lichteinfall, die Anordnung der einzelnen Elemente. Sie lassen eine Tiefenwirkung entstehen.“ Mittlerweile kann sich Detlef Wendorf wieder ein wenig mehr an sein früheres Leben erinnern. Und er hat eine neue innere Einstellung zu seinem Erinnerungsverlust gewonnen: „Es hat auch etwas Positives. Es hat meiner Kreativität geholfen. Weil alles ausgelöscht war, war mein Kopf frei – von den Einflüssen der Außenwelt befreit.“ Er fügt nachdenklich hinzu: „Meine Kreativität ist anders geworden. Ich kann aber nicht sagen, was wäre, wenn ich keine Meningitis bekommen hätte.“ Früher einmal hatte Detlev Wendorf eine Ausbildung als Porzellanmaler in der Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM) begonnen. Zwar hatte er sie nicht abgeschlossen, aber sie hat ihm Impulse für weitere Vorhaben gegeben. So ist ihm die Liebe zum Malen von Blüten und Früchten geblieben. Er hatte zudem mit dem Töpfern begonnen, in einem Töpferladen gearbeitet. Das war eine berufliche Station von mehreren, wie etwa auch das Betreiben eines Blumenladens oder das Arbeiten mit Holz. Nach der Meningitis hat er eine Zeit lang im Kunstwerk blisse des Lwerks, einem Atelier mit öffentlichem Café und Galerie, gearbeitet und dort auch einige Werke ausgestellt. Jetzt arbeitet er zu Hause und wird vom Ambulant Betreuten Wohnen der Fürst Donnersmarck-Stiftung unterstützt.
Neue Sinneswelten erschaffen Jedes Detail, jeder Strich, jede Farbnuance, jedes Material, jeder einzelne Schritt wirkt sich auf das Ergebnis aus, das Detlef Wendorf zu einem Eigenleben erweckt. Ein Strich anders gesetzt, ein Material anders gewählt, ein Papierblatt anders aufgelegt - mit jeder Auswahl oder Abweichung bekommt das Ergebnis eine andere Ausprägung. Aber die Offenheit der Sinne ist ohnehin die Voraussetzung, damit sich die Betrachtenden im Innersten berühren lassen. So kann ein Kunstwerk eine übersetzende Funktion ausüben, die Kunstschaffende durch ihre Sinne und ihren Stil vermitteln. Das handwerklich geschickte Umsetzen von Gesehenem und Gefühltem führt zum Erschaffen neuer Sinneswelten. Bei Detlef Wendorf drückt sich Hochachtung vor jeder
Einzelheit in der Vorbereitung und an seinen Werken aus. Gerne wählt er erotische Darstellungen aus. Dabei sprechen ihn die „Natura“, die „Körperspannung“, das „Stilvolle“ ebenso an wie bei architektonischen Abbildungen, am Oktopus oder an Blumenmotiven. „Je nachdem, von wo das Licht kommt, wirkt das Bild lebendig. Das ist beim Tulpenbild von der Seite besser zu sehen als in der Frontansicht“, erläutert er. „Ich habe es für einen 3D-Effekt mit Strukturpaste gemalt.“ So entsteht ein Wechselspiel zwischen Licht und Tiefenwirkung. Das Bild verändert sich, je nachdem, ob man frontal schaut, es von der Seite betrachtet oder im Licht bewegt. Plötzlich sieht man eine Tiefe, einen Schatten, ein Lichtspiel. Auf einen Becher hat er beispielsweise Obst-Motive, nach Studien in Aquarell auf Pappe, mit Porzellan-Hobbyfarben gemalt. Im Gegensatz dazu ist der Becher mit der Pfingstrosen-Darstellung spülmaschinengeeignet, da Detlef Wendorf sie mit professionellen Porzellanmalfarben gestaltet hat, die bei sehr hohen Temperaturen gebrannt wurden.
Ein Kunstwerk entsteht Detlef Wendorf demonstriert mir den gesamten Druckprozess einer Radierung mit der Abbildung eines Engels. Vom Auswählen des Motives, von gutem Büttenpapier, über das Mischen der Farben bis zum sorgsamen, präzisen Druck durch die Presse. Es ist wie eine Geburt. Ein Kunstwerk ist entstanden. Der Beginn eines Eigenlebens. Denn, soviel Wissen, Planung und Geschicklichkeit auch hineingesteckt wurde – Kunst hat ihr eigenes Geheimnis, welches von den Betrachtenden zu ergründen ist. Vielleicht wird Detlef Wendorf seine Werke zum Entdecken der Magie auch wieder einmal in einer Ausstellung zeigen können? Karin Mühlenberg Ambulant Betreutes Wohnen der Fürst Donnersmarck-Stiftung
Wie Detlef Wendorf eine Radierung entstehen lässt, erfahren Sie in unserem Blog mittendrin.fdst.de/detlef-wendorf
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Ein spät erfüllter Traum Elke Ackers Weg zu den „Malfreu(n)den“ Elke Acker zeigt ihre Werke in dem Kunstatelier der Villa Donnersmarck.
Das Kunstatelier der Villa Donnersmarck ist ein inspirierender Ort. Etwas versteckt neben dem Haupthaus stapelt sich in den Regalen hinter der großen Glastür bunter Krimskrams. Werke der Kunstgruppen aus vielen Jahren, Pappen, Pinsel, Farben und jede Menge Materialien, mit denen man der eigenen Kreativität Gestalt geben kann. Vor Elke Acker liegen noch der letzte kleine Farbkasten und zwei Leinwände ihrer Schüler und Schülerinnen. Die haben gerade beseelt das Atelier verlassen. Alle 14 Tage zeigt ihnen die gebürtige Urberlinerin die Techniken der Aquarellmalerei. Zwei Stunden, in denen die Zeit fliegt und still steht, in dem schönen Gefühl, zu lernen und in den eigenen Ideen abzutauchen. „Malfreu(n)de“ ist der erste Kunstkurs, den die Malerin leitet, die man nicht Künstlerin nennen darf. Dabei kann sie bereits auf viele Ausstellungen verweisen. Auch in der Villa Donnersmarck hingen ihre Bilder. „Künstlerin, das ist eine Nummer zu groß für mich“, lacht sie. „Ich bin einfach jemand, der mit Begeisterung malt und sich freut, dass er heute das kann,
was er kann.“ Dieses Können verdankt sie Geduld, einem Zufall und der Beharrlichkeit einen Traum zu verfolgen, der sie nie losgelassen hat. Für sie bestimmt schien er aber nicht zu sein.
Mit Talent wird man geboren Elke Acker weiß genau, wann sie sich das erste Mal gewünscht hatte, malen und zeichnen zu können. Im Krankenhaus, in dem sie nach Kinderlähmung mit sechs Jahren lag: „Im Bett neben mir war ein Mädchen, das konnte phantastisch Vögel zeichnen – das war so schön, das wollte ich auch können“, erinnert sie sich. Aber auch an die Antwort ihrer Mutter auf diesen Wunsch. Die war davon überzeugt, mit Talent wird man geboren. Wem das nicht in die Wiege gelegt war, brauchte sich da wenig Hoffnung machen. Das nahm das junge Mädchen enttäuscht so hin, denn mit Naturtalent schien sie nachweislich nicht gesegnet zu sein. „Meine Mutter wusste
einfach damals nicht, dass man beim Malen viele Dinge auch lernen kann“, sagt Elke Acker entschuldigend. Nur wusste sie es lange selbst nicht. Die Schulzeit mit Kunstunterricht nahm ihren Lauf, ohne dabei einen Funken zu entzünden. Ein paar Kunstlehrer, die inspirierten, Noten, für die man sich nicht schämen musste, die aber auch die Gewissheit nicht widerlegen konnten, „ich kann das sowieso nicht.“ „Keine Hoffnung, aber auch keine Depression“, sagt Acker rückblickend. Sie wurde Lehrerin für Deutsch und Mathematik an einer Grundschule, ein Job, neben dem nicht viel Zeit für anderes blieb. Auch die Freizeit blieb ohne Kunst. Mit ihren Krücken waren Museumsbesuche und die langen Wege in den weitläufigen Gebäuden zu beschwerlich.
Das. Lernen. Sie. Ein Zufall änderte alles. Elke Acker hatte eine Lehrerkollegin, die regelmäßig bei ihr im Auto mitfuhr. Auf einer Fahrt erzählte man sich beiläufig die Wochenendpläne – die Kollegin wollte am Sonntagvormittag zu einem Malkurs. „Wie bitte!? Kann ich da mitkommen?“ Natürlich konnte sie, und die Erfahrung war so schön wie schrecklich: „Ich hatte Tränen in den Augen, konnte den Pinsel kaum halten, so blockiert war ich – aber zu sehen, es gibt solche Kurse, bedeutete: Ich brauche eine Lehrerin.“ Elke Acker fand diese nach langer Suche über eine Kleinanzeige. Die Voraussetzung, ebenerdiges Atelier, gab es nur selten. Zur Probestunde fragte die Künstlerin, was die neue Schülerin denn am liebsten lernen möchte. Schüchtern zeigte diese auf ein realistisches Stilleben einer Kartoffel, das an der Wand hing. „Und dann sagte die Frau, mit dem Brustton der Überzeugung: ‚Das lernen Sie.‘“, erinnert sich Acker an den Anfang ihrer Lehrlingszeit – sie war zu diesem Zeitpunkt 50 Jahre. Und tatsächlich, sie lernte, Aquarellmalerei, von der Pike auf. Zehn Jahre blieb sie, dann wechselte sie zum Künstler Erwin Leber, um weiter zu lernen. Acryl, Kreiden, Bleistift, alle Techniken, die im
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Angebot waren. Noch etwas anderes änderte sich mit der Zeit: Seit 2003 ist Elke Acker auf den Rollstuhl angewiesen. Das Hilfsmittel eröffnete aber die Möglichkeit, alle Museumsbesuche nachzuholen, die zuvor so mühsam waren. Eine Welt tat sich auf.
Kein Bedauern, keine Pause Bis heute würde Elke Acker niemals behaupten, sie könne malen, ungeachtet aller Gegenbeweise, die sie in den 30 Jahren angehäuft hat, in denen sie mittlerweile Pinsel & Co. führt. Es gibt noch so viel zu lernen. Die Radierung fehlt ihr noch in ihrem Handwerkskasten. Bedauert hat sie es nie, erst so spät ihren Weg gefunden zu haben. „Ich bin einfach froh darüber, dass mich mein Bedürfnis dazu getrieben hat, es in die Tat umzusetzen und darin eine gewisse Befriedigung zu finden“, sagt sie bescheiden. In ihren Schülerinnen und Schülern im Kurs „Malfreu(n)de“, die mit ihren ersten Strichen hadern, erkennt sie sich pausenlos wider. Ein schönes Gefühl, etwas mit vollem Herzen weiterzugeben. Es gibt doch so viel zu lernen… Sean Bussenius
M A L F R E U (N) D E Mittwochs, 14-tägig, 14-16 Uhr in der Villa Donnersmarck. Anmelden unter 030 847 187-0 oder villadonnersmarck.de
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sie dann aber in Notwehr erschießt, nachdem er sie mit ihren vielen Affären konfrontiert. Mit dessen Sohn Alwa lebt sie anschließend in Paris, später in London, wo sie am Ende als Prostituierte arbeitet und Jack the Ripper zum Opfer fällt.
Mein ganz persönlicher Eindruck vom Stück Über die Möglichkeit, für das WIRMagazin das RambaZamba Theater zu besuchen und darüber schreiben zu können, habe ich mich gefreut. Besonders gespannt war ich, da ich bisher noch nie ein Theaterstück gesehen habe, in dem professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler mit und ohne Behinderungen gemeinsam spielen. Zu Beginn des Stückes war die Bühne noch mit einer großen Folie verhangen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler waren dadurch kaum zu erkennen. Mein erster Gedanke war, dass die Folie auch irgendwann während der Vorstellung abgehängt wird, was dann nach kurzer Zeit auch geschah. Über der Bühne war ein Bildschirm, auf dem der Text mitzulesen war. Das kannte ich so vorher auch nicht, finde es aber toll, dass so auch Menschen mit Hörbeeinträchtigungen ermöglicht wird, dem Stück richtig zu folgen.
Remmidemmi im Prenzlauer Berg
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u den schönen Künsten, mit denen wir uns beschäftigen, zählt auch das Schauspiel – insbesondere im Theater. Allerdings werden Menschen mit Behinderung hier oft ausgeblendet und sind selten sichtbar. Es geht aber auch ganz anders. WIR-Redakteurin Kirsten Heil hat das inklusive RambaZamba Theater in Prenzlauer Berg besucht und sich das Stück Lulu angesehen. Für uns berichtet sie über diesen für sie besonderen Abend. 46
Anfangs wirkte die Darstellung des Stückes etwas befremdlich auf mich. Besonders das Bühnenbild, da auf der Bühne lediglich überall braune Erde verteilt war, die sich in der Mitte zu einem kleinen Hügel anhäufte. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben diese Erde aber immer wieder aktiv in ihr Spiel einbezogen, indem sie beispielsweise durch die Erde krochen. Die Wände waren mit graffitiartigen Leinentüchern verhangen, die mit buntem Licht angestrahlt wurden. Der üppige Szenenaufbau wurde lediglich im Singsang des Chors, fester Bestandteil der Inszenierung und stets auf der Bühne, vorgetragen. Das alles fand ich sehr interessant. Das Stück war für mich besonders, es hatte etwas, das ich nicht kannte. Ich wusste nicht, was mich erwartet und ich wurde überrascht. FOTO: ANDI WEILAND
Zu Besuch beim inklusiven RambaZamba Theater Zum Stück Lulu: Alter Stoff mit aktuellen Themen
jenseits moralischer Zwänge spielen in dem Theaterstück eine entscheidende Rolle.
Das Bühnendrama Lulu von Frank Wedekind ist eine Zusammenfassung der Tragödien Erdgeist (1895) und Die Büchse der Pandora (1905) und war in der wilhelminischen Gesellschaft der Jahrhundertwende ein echter Skandalstoff. Im Zentrum stehen Macht, Sex, Scham, Angst, Tabus. Aber auch Freiheit und Selbstbestimmung
Das Stück handelt von Lulu, einem Straßenmädchen, das von ihrem Mentor und Geliebten Dr. Schön nacheinander an zwei unterschiedliche Männer verheiratet wird. Beide Männer versuchen sie nach ihrem Bild zu formen, verzweifeln letztlich an ihren Affären, sterben oder nehmen sich das Leben. Schließlich heiratet Lulu Dr. Schön, den
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Besonders gut gefallen, teilen alle, sind ram·ba·zam·ba[ˌ ambaˈt samba] len hat mir Schauspieaber auch skeptisch. lerin Zora Schemm, umgangssprachlich: Trubel, wilde Art des Feierns Aaron dazu: „Inkludie die namensgesion geht oft nur so Synonyme: Radau, Remmidemmi, Rummel, bende Rolle der Lulu weit, wie es gemütSpektakel, Tamtam, Trara verkörpert hat. Sie ist lich ist.“ Daher sei mir als erstes aufgefallen. Man sah sie schon auf der es noch ein langer Weg dahin. Bis dahin seien aber Mitte der Bühne hinter der Folie, als die Gäste noch Projekte wie das RambaZamba Theater oder das Theanach ihren Plätzen suchten. Ich war erstaunt, wie lange ter Thikwa wichtige Leuchttürme. Schließlich handele sie so still dort stehen konnte. Mich hat ihr schauspie- es sich beim RambaZamba Theater um einen profeslerisches Talent und ihre Bühnenpräsenz durchweg sionellen Schauspielbetrieb und kein soziales Projekt begeistert. Es ist ihr gelungen, die Figur der Lulu glaub- oder Hobby. Aber trotz aller Professionalität sei es haft und eindrucksvoll wiederzugeben, auch wenn auch einfach eine „große Familie“, so Zora und Aaron sich vor über 100 Jahren wohl niemand eine Lulu mit einstimmig. Trisomie 21 hätte vorstellen können. Dem RambaZamba gehe es auch darum, dass man Umso mehr habe ich mich darüber gefreut, dass ich im nicht ständig das Thema Behinderung thematisieAnschluss noch ausführlich mit Zora Schemm, sowie re, sondern einfach tolle Theaterstücke zu zeigen – mit ihren Kollegen Aaron Smith (in der Rolle des Alwa) sowohl Klassiker als auch moderne Stoffe. Und es und Jost Op Den Winkel (Chor) sprechen konnte. gehe darum zu zeigen, dass Menschen mit und ohne Behinderungen diese Stücke zusammen spielen könNach dem Stück sind wir gemeinsam mit mit Nora Lin- nen und daraus etwas tolles, kreatives und beeindrunemann, der Pressesprecherin des RambaZamba Thea- ckendes machen. ters, in die Proberäume gegangen, wo wir nicht lange auf Zora und ihre beiden Kollegen warten mussten und Auch Themen wie Sexualität werden dann, wie auch die Chance für ein ausführliches Gespräch bekamen. im Stück Lulu, ganz unabhängig von der Behinderung behandelt, auch wenn Sexualität von Menschen mit „War es schwer, dieses Stück zu spielen?“ ist meine Behinderung gesellschaftlich ein Tabuthema ist. Die Eingangsfrage an Zora. Ihre Antwort: „Mir macht es Idee, eine Inszenierung von Lulu zu erarbeiten, sei einfach Spaß. Es kommt einfach aus dem Herzen her- daher auch konkret aus dem Ensemble gekommen. aus. Besonders weil Lulu ja die Hauptrolle ist, sozusagen die Chefin des Stückes.“ Zora erklärt, dass sie seit „Theater ist auch immer eine große Chance für solche 2009 schon in vielen Theaterstücken, wie Die Räuber, Themen“, ergänzt Jost, der zurzeit als Gastschauspieler Antigone oder der neuesten Inszenierung Die Ratten beim RambaZamba ist und zum ersten Mal mit einem mitgewirkt hat. All diese Stücke nennt sie ihre Lieb- inklusiven Ensemble arbeitet. „Denn Theater ist auch lingsstücke. Mir wird erneut klar, dass ich es mit einem immer ein Ort der Begegnung. Ein Ort Austausch zu Profi zu tun habe. schaffen zwischen den Menschen auf der Bühne und dem Publikum.“ Besondere Erwartungen habe er nicht Beeindruckt hat mich auch die Textsicherheit, die – gehabt, als er hinzugestoßen ist, überrascht habe ihn so meine ursprünglichen Gedanken – für Menschen aber das große Selbstbewusstsein des Ensembles, mit Lernschwierigkeiten sicher noch schwieriger zu die starke Verbundenheit mit dem RambaZamba und lernen sein müssen. Da wirke auch das Haus und die gleichzeitig, wie herzlich er aufgenommen wurde. „Die enge Zusammenarbeit im Ensemble mit, erklärt Aaron: Menschen hier im RambaZamba Theater kommen ganz „Die enge Zusammenarbeit im Ensemble und das viele offen auf einen zu und leben diesen InklusionsgedanWiederholen und Proben helfen dabei. Es gibt da viele ken einfach vor.“ Beispiele in unserem Ensemble. Viele entwickeln sich auch im Laufe ihrer Zeit hier, werden wortgewandter Mein Fazit und immer selbstsicherer. Menschen mit Behinderungen haben eine andere Sprache. Wenn man sich auf Der Abend im RambaZamba Theater hat meinen Horidiese Sprache einlässt, dann kann man unglaublich zont erweitert und mich auf vielerlei Hinsicht überviel von diesen Stücken mitnehmen.“ rascht. Ich kann nur jedem empfehlen, selbst einmal herzukommen und dieses besondere Theater mit seiDen Wunsch, dass es irgendwann eigentlich ganz nor- nem grandiosen Ensemble zu erleben. mal sein sollte, dass Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam auf allen Bühnen Theater spieKirsten Heil
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Ü B E R D A S T H E AT E R RAMBAZAMBA Das RambaZamba Theater im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg spielt schon seit 30 Jahren unter diesem Namen Theaterstücke, die Menschen mit und ohne Behinderung vereint. Das Theater ging aus einer Kunstwerkstatt hervor, die die Theaterleute Gisela Höhne und Klaus Erforth für ihren Sohn Moritz, der mit dem Down Syndrom geboren wurde, 1990 gründeten. Der inklusive Gedanke der Kunstwerkstatt übertrug sich auf die Theatergruppe und schließlich auf das RambaZamba. Heute besteht das feste Ensemble aus über 33 Schauspielerinnen und Schauspielern mit und ohne Behinderung.
einfach » Esauskommt dem Herzen heraus.«
rambazamba-theater.de RambaZamba Theater Schönhauser Allee 36-39 10435 Berlin
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Die Einzelmeinungen zum Film Nico Stockheim:
Filmtipp: Glück auf einer Skala von 1 bis 10 Bundesdeutscher Filmstart am 2. Juni 2022
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ie WIR-Redakteurin Kirsten Heil und ihre Kollegen Michael Grothe und Nico Stockheim hatten vorab die Gelegenheit, den neuen Film Glück auf einer Skala von 1 bis 10 zu sehen. Hier berichten sie worum es in dem Film geht und was ihnen besonders gefallen hat.
Ein Roadtrip und der Beginn einer außergewöhnlichen Freundschaft Der körperlich behinderte Igor lebt allein in Lausanne in der französischen Schweiz und jobbt als Fahrradkurier für Biogemüse. In seiner Freizeit beschäftigt er sich vor allem mit den Werken großer Philosophen wie Epikur oder Nietzsche. Ein paar Kontakte zu anderen Menschen wären ihm ganz lieb, aber unglücklich ist er nicht. Louis hingegen ist ein echter Workaholic, der vor lauter Arbeit in seiner Bestattungsfirma beinahe vergessen hat, zwischendurch auch mal zu leben. Als er beim Autofah-
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Mein erster Gedanke war, dass der Film einfach den Erfolg von Ziemlich beste Freunde kopieren will. Aber damit lag ich weit daneben und tat dem Film unrecht. Denn es handelt es sich um einen witzigen, intelligenten und sehr emotionalen Road Movie. Im Mittelpunkt stehen zwei Männer, die vom Zufall zusammengebracht werden und in kürzester Zeit das Leben des jeweils anderen nachhaltig prägen. Der Workaholic und Bestatter Louis und der Obstkurier mit zerebraler Kinderlähmung Igor könnten nicht unterschiedlicher sein. Dennoch bauen sie in kürzester Zeit eine wunderbare und zumeist glaubhaft erzählte Beziehung zueinander auf. Die wird vor allem durch die Chemie zwischen den beiden Hauptdarstellern, Bernard Campan und Alexandre Jollien, befeuert. Mit seinen charmanten und witzigen Szenen greift der Film aber auch wichtige Themen aus dem Alltag von Menschen mit Behinderung auf. Darunter Emanzipation von den Eltern, Selbstbild und Sexualität oder der Umgang mit den Vorurteilen und Unsicherheiten anderer Menschen. Igor und Louis kommen zu dem Schluss: „Was die anderen denken ist mir scheißegal!“ Kirsten Heil: Ich fand den Film und sein Thema sehr gelungen. Zum einen werden Vorurteile in Bezug auf Menschen mit Behinderung ausgeräumt. Zum anderen zeigt mir der
Film, dass es auch möglich ist, leichter mit der eigenen Behinderung umzugehen.Besonders gefallen hat mir der Charakter Igor. Seine Art, die Dinge zu beschreiben, mit viel Witz und Charme sowie passenden Zitaten großer Philosophen. Der Umgang der beiden Hauptcharaktere miteinander war fürsorglich, witzig und herzlich. Ich denke, der Film macht deutlich,dass Faktoren wie unterschiedliche Lebensweisen, Bildung, körperliche Beeinträchtigungen für eine tiefe Freundschaft nebensächlich sind. Außerdem zeigt der Film, dass wir Menschen aufgrund ihres Aussehens oftmals viel zu schnell vorverurteilen. Die beiden Männer im Film beweisen allerdings eindrücklich, dass man viel vom anderen lernen kann, wenn man anfängt sich zuzuhören. Das Ende des Films hat mich sehr berührt, weil aus zwei Menschen, die anfangs so unterschiedlich schienen, sehr gute Freunde wurden. Michael Grothe: Die Kinolandschaft gibt oft nur wenige gute Filme zum Thema her. Menschen mit Behinderung werden im Kino kaum gezeigt. Insbesondere im Zusammenhang mit Lebensglück oder guten Freundschaften. Hier handelt es sich dann obendrein noch um einen sehr guten Film. Igor antwortet auf die Frage, ob er glücklich sei: „Ja!“. Auf die weitergehende Frage, welche Zahl auf einer Skala von 1 bis 10, entgegnet er: „9,5.“ Die Freundschaft zwischen einem behinderten und einem nichtbehinderten Menschen, zwischen erfolgreichem Unternehmer und einem Bioobstkurier, ist ganz hervorragend dargelegt und dargestellt. Insbesondere Igor, gespielt von
ren mal kurz nicht aufpasst und Igor auf seinem Dreirad anfährt, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Igor ist nämlich sehr interessiert an Louis und seinem Beruf als Bestatter. Er besucht ihn am nächsten Tag bei der Arbeit. Als Louis aber keine Zeit hat, beschließt Hobbyphilosoph Igor, ein kleines Experiment durchzuführen und legt sich in die Ladefläche eines Leichenwagens. Plato sagte schließlich: „Philosophieren bedeutet sich im Sterben zu üben“. Genau diesen Wagen überführt Louis mit einem Leichnam an Bord jedoch am selben Tag noch ins süfranzösische Montpellier. Der perfekte Aufktakt für einen Roadtrip mit viel Herz, klugen Gedanken und schwarzem Humor, der das Leben der beiden Protagonisten nachhaltig verändert. Der Beginn dieser besonderen Freundschaft wird begleitet von der Auseinandersetzung und Abrechnung mit Vorurteilen, Zwängen, Abhängigkeiten, Intoleranz und Klischees.
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Alexandre Jollien, ist hervorzuheben. Ich frage mich, wie viel seiner eigenen Persönlichkeit und Erfahrungen eingeflossen ist. Denn seine Darstellung eines Menschen mit angeborener Behinderung, der es vermag, die eine oder andere Klippe in seinem Leben mehr oder weniger gut zu umschiffen, ist sehr authentisch und glaubwürdig. Die Rolle ist ihm exzellent gelungen. Der Film soll Vorurteile abbauen. Er möchte dazu einladen, sich in seiner Umgebung umzusehen, wer Hilfe oder Gesellschaft bedarf, um das Leben zu genießen. Auf einer Skala von 1 bis 10 vergebe ich „9,0“.
Eine 3-D-Fahrt in den Hades Projektive Kunst des Lichtkollektives Skullmapping im Hotel Grand Hyatt Berlin
V E R LO S U N G Das WIR-Magazin verlost an seine Leserinnen und Leser 3x2 Freikarten zum Film und zwei Bücher des Hauptdarstellers Alexandre Jollien: „Liebe Philosophie, kannst du mir helfen“? Einfach bis zum 2. Juni 2022 eine Mail an wir@fdst.de schicken. Am 2. Juni 2022 findet die Verlosung statt und wir benachrichtigen unmittelbar die Gewinnerinnen und Gewinner.
Ein Engel wie von Peter Paul Rubens entkommt seinem Gemälde und erlebt auf der Flucht eine charmante Liebesgeschichte.
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s ist das Beste, was sie je gesehen, erlebt, berührt habe“, sagte mir meine Redaktionskollegin Kirsten Heil freudestrahlend, als sie mir ein besonderes Geschenk zum Geburtstag überreichte: eine außergewöhnliche Ausstellung projektiver Kunst im Großen Ballsaal des Grand Hyatt Berlin. Dort mischten das belgische Lichtkunstkollektiv Filip Sterckx und Antoon Verbeeck, genannt SKULLMAPPING, vom 18. Dezember 2021 bis 3. Februar 2022 virtuelle Projektionen auch im 3D-Format mit klassischen Elementen der Kunst und des Animationsfilms. Mein Interesse war geweckt.
Sieben Schaustellungen in einem verdunkelten Ballsaal Die erste Schaustellung mit Namen Skeleton Dance offenbarte sich den Betrachtenden in einem schmalen Eingangsbereich von einem für die optimale Perspektive empfohlenen Standpunkt aus.
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Eine Fläche ähnlich einem Kopfsteinpflaster öffnete sich wie durch einen Reißverschluss zu einer Grube. Darin lagen zwei Skelette, die in Bewegung kamen und nach Tangomusik erstaunlich natürliche tänzerische Bewegungen vollführten. Das wirkte so echt, dass der Gedanke an eine Projektion komplett in den Hintergrund trat. Besonders beeindruckend war dabei der Kontrast zwischen den den Tod symbolisierenden Skeletten und der urlebendigen Bewegung. Weiter ging es zu einer Projektion Gallery Invasion, bei der sich ein kleiner Affe auf ein real aufgehängtes Bild hinbewegte. Dabei vollführte er an der Wand des Saales entlang kunstvolle Bewegungen, wobei ihm ein Hochdecker-Flugzeug in die Quere kam, mal spielerisch, mal kämpferisch. Eines der Highlights war die Projektion Cooking Lessons by Le Petit Chef. Hier wurde auf einem tatsächlich gedeckten Tisch durch einen animierten, ca. daumengroßen
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Koch und dessen Helfer ein Mahl auf dem Teller angerichtet. Und um den Teller herum wurde das Fabrizieren der Mahlzeit projiziert. Es war, als wollte Le Petit Chef dem Zuschauer das Kochen lehren. Übrigens, wer bereit ist, rund 100 Euro zu investieren, kann im Restaurant des Grand Hyatt Berlin ein Le Petit Menu zu sich nehmen, während Le Petit Chef und seine Gesellen auf dem Tisch werkeln und servieren. Bei dem Werk Cocktail Factory standen die Besucherinnen und Besucher vor einer Cocktailbar, auf der dreierlei animiert wurde: ein Vulkan übergehend in einen Dschungel, auslaufend auf Strand und Meer. Während sich animiertes kleines Personal um die Anlieferung der Früchte, die Zubereitung und das Servieren der Cocktails kümmerte, konnte man zwei Bikini-Schönheiten beim BeachVolleyball zuschauen. Nebenan ging es weiter zu Rubens Cupid. Einem wirklichen Gemälde Peter Paul Rubens, Das Fest der Venus (Veneralia), entsprang ein Cupido. Er flog um das Bild herum und stolzierte auf dem Rahmen umher. Letztlich fand er wieder auf seinen Platz ins Bild zurück. Mein Orca, bei dem sich die Besucherinnen und Besucher in eine Art Sealife-Aquarium versetzt fühlten, fand – wegen seiner optischen Kleinheit – bei mir keinen Anklang. Bei The Styx, der siebenten und letzten Schaustellung, sollte mir der Höhe- oder Glanzpunkt der Ausstellung widerfahren. Hier wurde jede und jeder vorab gefragt, ob das Tragen einer 3-D-Brille erwünscht und die Bereitschaft, Teil des Geschehens zu werden, vorhanden sei. Alsdann sollte man auf einer hölzernen Bank Platz nehmen und sich die VR-Brille aufsetzen. In The Styx, über den der Fährmann in der griechischen Mythologie die Toten in den Hades, in die Unterwelt, bringt, nimmt der Besucher und die Besucherin an einer unwirklichen Kahnpartie teil. Mit der 3-D-Brille auf der Nase gleitet er oder sie an verschiedenen Umgebungen vorbei, durch tropische Wälder mit Tempelbauten, durch einen einer Pyramide ähnelnden Tunnel hindurch. Eine dreiköpfige Seeschlange zischt aus dem Wasser empor; man gelangt zum Fährmann Charon, der einen mit funkelnden Augen auffordert, seinen oder ihren Obolus zu entrichten und landet schließlich an einer breiten Küste an.
Gemälde erwachen zum Leben. Die Gemälde von Antoon Verbeeck werden in einer von Filip Sterckx erstellten Animation zum Leben erweckt.
Fiere Margriet ist eine alte belgische Legende über eine junge Frau, die von einer Diebesbande getötet und in einen Fluss geworfen wird. Ihr Körper schwimmt auf wundersame Weise flussaufwärts, umgeben von einem magischen Licht.
Am Ende der Ausstellung gab es Gelegenheit, an in dieser speziellen Kunst Kundige Fragen zu stellen. Wer, so wie ich, neugierig geworden ist, findet Informationen unter projectedart.de oder skullmapping.com Michael Grothe, Kirsten Heil Die Cocktail Factory, eine Bartheke wie eine tropische Insel der Träume.
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Der daumengroße Chefkoch von Skullmapping kocht in Restaurants und bei Veranstaltungen auf der ganzen Welt.
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wachsenden Coronazahlen und dann auch noch der nahe Krieg in der Ukraine, der einen fast mehr beschäftigte als Umzugskartons auszupacken. Krieg und Corona schlagen uns allen weiterhin massiv um die Ohren. Ein Ende dieser von Menschen gemachten Apokalypse ist derzeit nicht absehbar! Um nicht ganz und gar die Hoffnung zu verlieren, flüchte ich zum wiederholten Male in die Kunst. Ich tauche meine verletzten Gefühle in Farben. Blau ist mein Liebling! Schon der Volksmund kennt sich aus: Rot ist die Liebe, Grün die Hoffnung, Blau die Treue, Gelb der Neid und Weiß die Unschuld. Farben drücken meine Gefühle aus – und regen selbst welche an. Sie wirken auf meinen lädierten Körper und meine verletzte Seele. Schon immer lassen sich bei mir Situationen und Befinden bewusst durch Farben, Worte oder Musik angenehm beeinflussen.
Alles fließt – nichts bleibt, wie es ist A
m Anfang dieser Kolumne steht mein größter Irrtum: Anscheinend besteht das Leben aus Ordnung, Sinn und festen Regeln? Morgens geht die Sonne auf, abends geht sie unter. Auf Hunger und Durst folgen Hunger und Durst. Und das Tag für Tag – immer der gleiche Rhythmus, weltweit, für alle und jeden! Muss das so sein?
schwerpunkt planen und mich Themenschwerpunkte des WIR-Magazins, schon immer gerne zu Selbstversuchen inspiriert haben, starte ich jetzt einen solchen Versuch in der Welt der Kunst. Mich fasziniert und begeistert vieles auf Erden, so auch das Malen. Wie bei fast allem im Leben kommt es für mich auf einen Versuch an, um versteckte Fähigkeiten zu mobilisieren.
Nein, man kann auch ausbrechen aus festgeschmiedeten, geregelten Kreisläufen. So auch ich. So wie ich täglich die Strümpfe, die Unterwäsche oder die Oberbekleidung seit Jahrzehnten zuverlässig wechsle, wechsle ich jetzt meinen eingefahrenen Lebensstil, meinen Wohnsitz – ich wandle mich, ich ziehe um!
Auf den ersten Schritt folgt der zweite und so weiter und so weiter. Ich genieße die Freiheit, immer wieder Neues zu entdecken, Erfahrungen zu machen, dazuzulernen, Talente zu erproben und wenn nötig, auch zu scheitern.
Ich male mir die Welt, wie sie mir gefällt! Solch ein Umzug ist anstrengend, wohl besonders für schwerbehinderte Menschen wie mich. Aber die Sache flutscht. Ich mache es mir gefügig und frei nach Pippi Langstrumpf: Ich male mir die Welt, so wie sie mir gefällt! Und da wir Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe des WIR-Magazins redaktionell einen Kunst- und Kultur-
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Doch eines nach dem anderen. Ich bin im Februar 2022 umgezogen. Nüchtern betrachtet war das eine ‚volle‘ Schnapszahl: 2/2022!!! Vom 5. Stock einer Friedenauer Dachwohnung in den 1. Stock des Johanniter-Quartiers an der Havel in Potsdam, mit bequem anmutendem Fahrstuhl, ideal für den Einsatz meines Rollators und meines Rollstuhls. Viele Wirrnisse standen mir bei diesem ortswechselnden Prozess im Weg: der windpeitschende Sturm, die
Auch deshalb beginne ich im schnell für mich heimisch gewordenen Johanniter-Quartier einen Aquarellmalkursus bei Lisa Steinbrück. Meine ersten Ergebnisse sind hier im Heft gleich mal abgedruckt. Es ist mir zwar etwas peinlich, doch es gibt Schlimmeres!
Ja, für mich ist das Johanniter-Quartier insgesamt eine neue und schöne Welt. Definitiv klar ist mir nach meinem künstlerischen Wagnis aber auch: Ich werde nie ein Picasso, Michelangelo oder van Gogh werden! Aber es macht mir Freude, es bringt mir Spaß. Das Ganze wächst und gedeiht und ist ein weiterer, tiefer Einblick in eine facettenreiche Welt. So hoffe ich auf – selber noch grün hinter den Kunstohren – viele Nachahmerinnen und Nachahmer! Probieren Sie es aus. Sabine Lutz
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Barrierefreiheit von Kunsteinrichtungen am Beispiel des Brücke-Museums und Kunsthaus Dahlem
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ur Teilhabe an Kunst für Menschen mit Behinderung zählt auch der Besuch von Ausstellungen und Museen. Viele Ausstellungsräume haben ein Rollstuhl-Piktogramm (Rollizeichen) auf ihrer Internetseite und eine Rampe zur Ausstellungsfläche. Doch einen barrierefreien Museumsbesuch garantiert das noch lange nicht, wie WIR-Redakteurin Monika Holfeld im Brücke-Museum feststellen musste.
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Der Empfangstresen ist nicht unterfahrbar. Um eine Eintrittskarte zu erhalten, wäre es für Rollstuhlnutzende eine bessere Möglichkeit, den Kartenaufsteller vor dem Tresen einfach an einer anderen Stelle zu platzieren. So hätte man mit Besucherinnen und Besuchern im Rollstuhl direkten Blickkontakt. Den Empfangstresen mit einer Induktionsanlage auszustatten, ist nicht aufwendig, denn induktive Höranlagen als Kleinsystem sind kostengünstig nachrüstbar. Sie bestehen aus einer Drahtschleife mit Mikrofon. So könnten Menschen mit Hörbehinderung profitieren.
Das Zwei-Sinne-Prinzip ist ein wichtiges Prinzip der barrierefreien Gestaltung von Gebäuden, Einrichtungen und Informationssystemen. Nach diesem Prinzip müssen mindestens zwei der drei Sinne „Hören, Sehen und Tasten“ angesprochen werden.
Um die Ausstellungsfläche zu erreichen, gibt es drei Differenzstufen. Hier wurde zwar schon zusätzlich eine Rampe angebracht. Diese ist aber nur mit fremder Hilfe nutzbar, da sie das Gefälle von 6 % überschreitet. Neben den Stufen befindet sich zwar ein Geländer. Doch für Sehbehinderte sind die schwarzen Stufen nicht erkennbar. Hier wäre dringend zu empfehlen, wie auch in der DIN 18040-1 (Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen – Teil 1: Öffentlich zugängliche Gebäude) gefordert, Kontraststreifen an der Stufenkante 8 cm breit anzubringen.
Die Beschriftung ist nur unmittelbar vor dem Exponat lesbar.
flügeltür im Windfang erschwert zusätzlich den Eintritt. Empfehlenswert wäre es, die Türen mit automatischer Steuerung umzurüsten. So könnte man über eine Stele mit Taster ins Gebäude. Eine kontrastreiche Markierung in einer Höhe von 40-70 cm und 120-160 cm in den Glasfüllungen könnte Menschen mit Sehbehinderung Rechnung tragen.
Das Museum, entworfen vom Architekten Werner Düttmann und im September 1967 feierlich eröffnet, liegt naturnah am Rande des Grunewalds. Architektonisch bildet der Flachbau in Bauhaus-Tradition eher einen ästhetischen Kontrast zu dem ausladenden Ateliergebäude, dem Kunsthaus, das die Nationalsozialisten für den Bildhauer Arno Breker gebaut hatten. Sichtbeton, Eichenholz, das Gelb des Kokosteppichs und die schwarzen Ziegel des Eingangsbereiches prägen die Farbpalette der Architektur im Brücke-Museum.
Die Stufen sind mit einer Sehbehinderung fast nicht erkennbar.
Wie steht es um die Barrierefreiheit?
Um sich zu den Exponaten besser zu informieren, wäre es ratsam, diese mit Nummern (mind. 10 cm groß) zu versehen und jedem Besucher ein Faltblatt (14-PunktSchrift, fett gemäß DIN 32975: Gestaltung visueller Informationen im öffentlichen Raum zur barrierefreien Nutzung) zu überreichen. Eine optimale Lesehöhe ist bei Beschriftungen 120-160 cm. Eine blend- und schattenfreie Beleuchtung ist unbedingt erforderlich.
Der Eingang ist stufenlos erreichbar. Doch die Drehflügeltüren lassen sich schwer öffnen. Besucherinnen und Besucher mit Rollstuhl oder Rollator kommen ohne fremde Hilfe nicht ins Gebäude bzw. wieder heraus. Eine Dreh-
Denn derzeit ist die Beschriftung im Brücke-Museum so klein, dass selbst ohne Sehbehinderung die Besucherinnen und Besucher unmittelbar an das Exponat herantreten müssen, um sie erkennen bzw. lesen zu können.
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Informationen sollten in möglichst vielseitiger Form vorliegen, wie z. B. Audiodeskriptionen, Brailleschrift sowie in Leichter Sprache. Alle Informationen sind generell nach dem Zwei-Sinne-Prinzip zu gestalten.
Die Eingangstür lässt sich für ältere Menschen und mit Behinderungen schwer öffnen.
Ein barrierefreies WC für Rollstuhlnutzende gibt es im Museum nicht! Auf meine Nachfrage wurde ich an das naheliegende Kunsthaus verwiesen. Dort ist ein behindertengerechtes WC ausgewiesen. Doch dieses WC ist auf meine Nachfrage hin geschlossen und nur für das Personal vorgesehen, was nicht Zweck einer barrierefreien Toilette ist. Hier ist dringend eine Lösung notwendig!
Kunsthaus Dahlem Das Kunsthaus Dahlem ist im Sommer 2015 eröffnet worden. Errichtet wurde das Kunsthaus 1939 bis 1942 – also in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs – nach Entwürfen des Architekten Hans Freese als sogenanntes Staatsatelier des Bildhauers Arno Breker, der in großem Stil im Auftrag des NS-Systems arbeitete. Der Schwerpunkt des Kunsthauses sind Präsentationen der deutschen Nachkriegsmoderne, besonders im Bereich plastischer Kunst, ergänzt durch Malerei, grafische Arbeiten sowie Fotografie. Neben dem Ausstellungsbereich ist auch ein Café integriert. Ein Park mit Plastiken gehört ebenfalls zum Kunsthaus.
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Wie steht es mit der Barrierefreiheit? IIm Außenbereich ist ein Parkplatz für Menschen mit Behinderung ausgewiesen. Eine gepflasterte Rampe weist auf den Eingang. Leider ist die Eingangstür ohne fremde Hilfe nicht erreichbar. Der Wenderadius, um ins Gebäude zu gelangen, ist verkleinert, da auf der gegenüberliegenden Seite eine Stufe ist. Gleich im Vorraum befindet sich das barrierefreie WC, das jedoch, wie bereits beschrieben, verschlossen ist. Ein Piktogramm ist viel zu hoch angebracht. Auch gibt es keinen Taster zur Öffnung der Tür. Ein Anfahren ist so nicht möglich. Als nächstes gelangen Besucherinnen und Besucher ins Café. Der Nachhall ist extrem und eine Verständigung für Gäste mit Hörbehinderung daher schwer möglich. Hier würden Akustiksegel Abhilfe schaffen, was auch ohne Abstimmungen mit der Denkmalschutzbehörde möglich wäre.
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Die Freiflächen haben Wege mit teilweise fest verlegten Platten. Für Besucherinnen und Besucher sind auch Sitzbänke vorhanden.
Im Raum stehende Bauteile können leicht zu Verletzungen führen.
Fazit:
Der Handlauf führt nicht bis zur letzten Stufe, außerdem ist der Treppensockel noch eine weitere Gefahr, da er sich nicht kontrastreich vom Bodenbelag absetzt.
Der eigentliche Ausstellungsraum schließt sich an, wo eine Freitreppe zur Empore führt. Der Handlauf endet zu früh. Das ist keine Kleinigkeit. Denn sollte jemand mit Sehbehinderung den Weg dennoch wagen, würde dieser oder diese die Trittstufe verfehlen oder beim Abstieg die letzte Stufe nicht erkennen. Gemäß der oben bereits genannten DIN 18040-1 ist jede Stufe kontrastreich zu kennzeichnen! Ein Kontraststreifen an der ersten und letzten Stufe würde hier schon Abhilfe schaffen. So gibt es mehrere herausragende Bauteile im Raum, die sich farblich nicht abheben und eine Gefahrenquelle darstellen. Die übersehen selbst Besucher und Besucherinnen ohne Sehbehinderung schnell.
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Da die Gebäude unter Denkmalschutz stehen, ist es aus eigener Erfahrung etwas schwieriger, die Normen zu 100 % umzusetzen. Es läuft auf einen Kompromiss hinaus. Doch sollten öffentliche Gebäude grundsätzlich für alle zugängig sein, so auch für Menschen mit motorischen, sensorischen und kognitiven Beeinträchtigungen. Hierzu ist auch das Berliner Denkmalschutzgesetz deutlich: „Dennoch hat das Berliner Denkmalschutzgesetz bereits 1999 als erstes deutsches Denkmalschutzgesetz ergänzend in §11 Abs. 6 klargestellt, dass die Denkmalbehörden bei ihren Entscheidungen die Belange von Menschen mit Behinderungen künftig berücksichtigen.“ Ein Nachrüsten in puncto Barrierefreiheit wird erforderlich, um allen Menschen, mit und ohne Behinderung, die Möglichkeit zu geben, ohne fremde Hilfe diese beiden Kulturinstitutionen zu besuchen. Bei meiner Besichtigung bin ich nur auf einige Punkte eingegangen. Anders wäre der Umfang des Artikels leicht gesprengt worden. Was jedoch die sensorischen Beeinträchtigungen anbelangt, sind diese leicht und ohne die Notwendigkeit von Absprachen mit der Denkmalschutzbehörde zu beseitigen. Es ist zu empfehlen, dass sich die Museumsleitung mit diesen baulichen Veränderungen beschäftigt, nicht nur, um Unfälle zu vermeiden, sondern auch, um den Gedanken der Inklusion umzusetzen. Dipl. Ing. Monika Holfeld freischaffende Architektin – Barrierefreies Bauen www.architektur-und-farbgestaltung.com
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Barrierefrei zu Kunst und Kultur in Berlin Wer Lust auf Kunst und Kultur hat, ist in Berlin genau richtig. Die Hauptstadt hat – selbst in der Corona-Pandemie – eine vielfältige Kreativszene und bietet Kunstinteressierten alles, was das Herz begehrt. Von der großen Opernaufführung zum (freie) Off-Theater mit 50 Plätzen, von alten Meistern über moderne Kunst, von klassischer Musik von Weltrang bis hin zu Clubs.
Doch wie sieht es mit der Barrierefreiheit in den Kultureinrichtungen aus? WIR haben uns einmal umgeschaut und einige Tipps für unsere Leserinnen und Leser zusammengestellt. Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt noch mehr barrierefreie Kunst in Berlin zu entdecken!
M U S E E N I N B E R L I N U N D P OT S D A M
• Wer es etwas bunter mag, ist im Friedrichstadtpalast genau richtig! Das Theater ist rollstuhlgerecht, ermöglicht den Theaterbesuch mit einem Rehabilitationshund und verfügt über eine Induktionsschleife. • An Kinder und Jugendliche richtet sich das Theater an der Parkaue. Es bietet rollstuhlgerechte Plätze und Audiodeskriptionen für gehörlose Menschen.
• Die Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz auf der Museumsinsel und am Kulturforum mit ihren herausragenden Kunstwerken sind alle für Rollstuhlfahrende barrierefrei zugänglich. Teilweise gibt es zusätzliche Angebote für Menschen mit Hörbehinderungen oder blinde Menschen. • Das Deutsche Historische Museum Unter den Linden ist rollstuhlgerecht und hat ein breites Angebot in Gebärdensprache, für blinde Menschen sowie in Leichter Sprache. Sonderausstellungen werden regelmäßig inklusiv gestaltet. • Das Jüdische Museum Berlin in Kreuzberg ist ebenfalls rollstuhlgerecht und hat ein großes Angebot in Gebärdensprache, für blinde Menschen und in Leichter Sprache. • Auch eine Fahrt an den Wannsee lohnt sich für interessierte Menschen mit Behinderung. Die Gedenkstätte „Haus der Wannseekonferenz“ ist auf die Bedürfnisse von Menschen mit Körperbehinderung, blinde und gehörlose Menschen sowie auf Menschen mit kognitiven Einschränkungen eingestellt. • Die Berlinische Galerie in Kreuzberg ist nicht nur rollstuhlgerecht, sondern bietet auch ein taktiles Leitsystem, Tastführungen und Führungen in Gebärdensprache. • Das Museum Barberini in Potsdam ist barrierefrei für Rollstuhlnutzende zugänglich und bietet Führungen oder Einführungen für Gehörlose (mit Gebärdendolmetscher), für Blinde und Sehbehinderte, für Menschen mit Demenz und Führungen in Einfacher Sprache an. Neben der ständigen Sammlung von Hasso Plattner mit Schwerpunkt auf dem französischen Impressionismus bietet das Museum regelmäßig wechselnde Ausstellungen an.
T H E AT E R I N B E R L I N • Das Deutsche Theater ist nicht nur rollstuhlgerecht, sondern verfügt auch über eine Induktionsanlage sowie Audiodeskriptionen für ausgewählte Aufführungen. Das Berliner Ensemble hat einen rollstuhlgeeigneten Platz sowie ein Angebot an Audiodeskriptionen. Die Berliner Schaubühne hat keine Audiodeskriptionen, ist aber komplett rollstuhlgerecht und bietet für gehörlose Menschen mindestens einmal im Monat eine Aufführung mit Übertiteln an.
MUSIK IN BERLIN • Klassische Musik von Weltrang findet man bei den Berliner Philharmonikern am Kulturforum. Das Haus ist barrierefrei, bietet eine Induktionsschleife sowie Unterstützung auf dem Weg zum Platz. • Die Deutsche Oper in Charlottenburg ist rollstuhlgerecht und bietet für ausgewählte Aufführungen eine Audiodeskription. Die Staatsoper Unter den Linden ist ebenfalls rollstuhlgerecht und hat eine Induktionsschleife für Menschen mit einer Hörbehinderung. • Und wer es etwas lauter mag: Der Verein „Handiclapped“ organisiert regelmäßig inklusive Konzerterlebnisse für alle Menschen, ob mit oder ohne Behinderung. • Ein tolles Angebot über alle Genres hinweg bietet auch der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin, der regelmäßig barrierefreie Kulturveranstaltungen für blinde Menschen organisiert. Alle Informationen findet man auf der Webseite des Vereins: absv.de/kulturveranstaltungen Bei allen Kunst- und Kultureinrichtungen sollten Menschen mit Behinderung vor dem Besuch die Eintrittskonditionen überprüfen. In vielen Einrichtungen zahlen sie nach Vorlage ihres Behindertenausweises einen ermäßigten Eintrittspreis. Ist im Ausweis ein „B“ vermerkt, ist eine Begleitperson oftmals kostenfrei.
HILFREICHE LINKS Sie wollen sich über barrierefreie Angebote in Berlin informieren? Dann schauen Sie doch am besten hier vorbei: visitberlin.de/de/barrierefrei-berlin reisen-fuer-alle.de stadtfuehrungenberlin.de
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Was uns bewegt WAS UNS BEWEGT
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Diakonie als Dienst am Menschen Interview mit Dr. Ursula Schoen, der neuen Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz Leopold von Bredow, Geschäftsführer der Fürst Donnersmarck-Stiftung (FDST), rechts, und Christian Kägel, kaufmännischer Leiter und stellv. Geschäftsführer der FDST, links, heißen die neue Diakoniechefin Dr. Ursula Schoen in der Verwaltung der FDST herzlich willkommen.
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eit dem 1. September 2021 ist Dr. Ursula Schoen die neue Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Zuvor war die Rheinländerin Prodekanin im Evangelischen Stadtdekanat Frankfurt und Offenbach. Anlässlich ihres Antrittsbesuchs in der Fürst DonnersmarckStiftung gab sie dem WIR-Magazin ein ausführliches Interview über das Selbstverständnis der Diakonie, die Zukunft von Kirche und Diakonie in Berlin und Brandenburg sowie die Aufgaben der Diakonie beim Engagement für mehr Teilhabe und Inklusion. Das Gespräch führten wir im Februar 2022. Zu Beginn des Gesprächs möchten wir Sie bitten, sich unseren Leserinnen und Lesern kurz vorzustellen. Ich bin in den 1960er Jahren in Bonn geboren und groß geworden. Dort bin ich sehr früh mit der diakonischen Arbeit der Kirche in Kontakt gekommen, da meine Mutter in den 1970er Jahren als Ehrenamtliche die erste Sozialstation in Bonn mitbegründet hat und dort im Vorstand aktiv war. Die Station hat ganz neue Arbeitsformen und Modelle etabliert, um Menschen in schwierigen Lagen beizustehen. Dieses elterliche Vorbild, das auf einen sehr bewussten christlichen Glauben gründete, hat mich sehr beeindruckt und meinen ganzen Lebensweg begleitet. Meine Eltern haben sich aber auch gemeinsam mit anderen Bekannten früh für sogenannte russische Aussiedler engagiert und sie dabei unterstützt, in Deutschland anerkannte Berufsabschlüsse zu machen, sodass sie in eine für sie passende Berufstätigkeit kamen. Das war
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eine Arbeit, die Menschen einen Weg eröffnete, um in der neuen Heimat Westdeutschland Fuß zu fassen. Ich selbst wollte zunächst Medizin studieren und habe zunächst bei den Johannitern eine Ausbildung zur Schwesternhelferin absolviert. Während meiner Arbeit im Krankenhaus merkte ich, dass mich diese Arbeit nicht wirklich interessiert, und bin zur Theologie gewechselt. Die Entscheidung habe ich nie bereut und bin bis heute eine sehr glückliche Theologin und Pfarrerin. Doch die Frage, wie wir Menschen beistehen können, wie wir sie unterstützen und wie wir mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten trotzdem in der Gemeinschaft zusammenleben, beschäftigt mich bis heute. Das hat mich schließlich auch zur Diakonie geführt. Deswegen habe ich nach meinem Theologiestudium in Heidelberg noch ein Aufbaustudium in Diakoniewissenschaft absolviert und dort promoviert. Vor einem Jahr bin ich dann gefragt worden, ob ich nicht nach Berlin wechseln und das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz leiten möchte. Für mich war das eine gute Möglichkeit, in meinen letzten sieben Berufsjahren noch mal etwas ganz Neues machen zu können. Ich freue mich deswegen, an dieser Stelle noch einen guten Abschluss in meiner Berufslaufbahn machen zu können. Sie stehen ja einem großen Landesverband vor, der sowohl Berlin als Hauptstadt oder die Landeshaupt-
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stadt Potsdam als auch viele kleinere Orte im übrigen Gebiet des DWBO vertritt. Wie sehr prägt denn der Unterschied zwischen Stadt und Land? Natürlich konnte ich durch die Pandemie bisher noch nicht so viel reisen, wie ich das gerne gemacht hätte. Aber glücklicherweise gibt es die modernen Kommunikationsmittel, die den Austausch sehr erleichtern. Man kann auch mit Görlitz verbunden sein, obwohl man in Berlin in der Nähe des Botanischen Gartens sitzt. Das ist ein großes Glück. Für mich ist ein wichtiger Teil meiner Aufgaben auch die Kontaktpflege zu unseren Mitgliedseinrichtungen. Ich möchte wissen, was ihre Themen sind und was sie von uns brauchen. Deswegen nimmt das Reisen und die Besuche vor Ort sicherlich mindestens ein Drittel meine Arbeitszeit ein. Ich muss einen großen Verband leiten und mich um seine strategischen Eckpunkte kümmern. Ich muss aber auch im Austausch mit den Mitgliedern sein, wo es ja auch immer um konkrete Themen und strategische Überlegungen geht. Und das macht mir ungeheuer viel Spaß. Die Diakonie versteht sich als „Dienst am Menschen“. Wie verstehen Sie vor diesem Hintergrund Ihre Arbeit? Als Leitungskraft hat man ja immer etwas mehr Distanz zu der direkten Arbeit vor Ort. Ich bin natürlich nicht im praktisch tätigen Dienst für den Menschen aktiv. Aber ich diene den Menschen auf eine andere Weise. Mein Ziel ist es, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im DWBO zu begleiten und zu unterstützen, dass sie ihre Arbeit so gut wie möglich machen können. Damit schaffen wir eine Kaskade der Unterstützung, die am Ende bei den Menschen ankommen, die sie benötigen. Darüber hinaus habe ich natürlich auch Verantwortung für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Landesgeschäftsstelle – für manche direkt, für manche indirekt. Es ist eine ganz wichtige Aufgabe von Führungskräften, genau hinzuhören, Rat zu geben und zwischen den Interessen einer großen Organisation und des Einzelnen zu vermitteln. Das können ganz alltägliche Dinge sein, wenn jetzt zum Beispiel in der Pandemie die Kinder erkranken oder man als Elternteil in Quarantäne gehen muss. Dann ist es meine Aufgabe, mit den Mitarbeitenden zu klären, wie diese privaten Aufgaben gemeistert werden können und dennoch die Arbeit weitergehen kann. Die Diakonie und die diakonischen Einrichtungen haben seit ihrer Gründung ja eine große Entwicklung gemacht und sind zu Sozialunternehmen geworden, die auch nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten arbeiten. Wie schafft man es, trotzdem eine diakonische Identität zu erhalten? Mir ist es immer wichtig, zunächst deutlich zu sagen, dass wirtschaftliches Arbeiten nicht unbedingt gewinnorien-
tiertes Arbeiten heißen muss. Wirtschaftlich arbeiten heißt, die vorhandenen Ressourcen und Möglichkeiten so einzusetzen, dass sie den größtmöglichen Ertrag, die größte Wirkung bringen. Damit meine ich nicht nur den Blick auf das Geld, sondern auch auf die Menschen oder die Gebäude und Orte, die man hat. Man möchte nichts verschwenden, sondern Menschen ermutigen und entsprechende Rahmenbedingungen schaffen, dass etwas möglichst Gutes herauskommt. Gerade bei den ganz großen diakonischen Trägern beeindruckt mich sehr, wie viel Wert diese Organisationen auf eine gute interne diakonische Kultur legen. Dazu gehören Wertschätzung, die Förderung der Mitarbeitenden, Fortbildungen und vieles mehr. Das ist auch aufgrund des Fachkräftemangels wichtig. Wir können es uns überhaupt nicht mehr erlauben, Mitarbeitende nicht gut zu behandeln. Wir müssen für eine gute Unternehmenskultur aus christlichem Geist heraus einstehen, um Menschen für uns zu gewinnen und bei uns zu halten. Diakonische Einrichtungen müssen natürlich unternehmerisch denken, sie können aber ganz viel im Sinne der Diakonie leisten und haben oft eine sehr gute, diakonische Kultur. Diakonisch sein bedeutet ja auch, sich zu fragen, wie man den Menschen sieht. Sehe ich Menschen in jeder Lebensphase als bildungsfähig an? Gebe ich mich mit Ausgrenzung zufrieden oder lebe ich inklusiv? Das sind alles Themen, die auch zur Diakonie und zum diakonischen „Setting“ gehören. Aktuell habe ich aber das Gefühl, dass das Thema Inklusion von Menschen mit Behinderung etwas in den Hintergrund rückt und von anderen Themen überschattet wird. Die Frage nach dem Umgang mit Menschen mit Behinderung ist ein ganz brisantes Thema, bei dem sich gerade durch die Pränataldiagnostik noch mal der Druck auf die Gesellschaft und einzelne Personen erhöht hat. Dabei macht ja beispielsweise auch die Fürst DonnersmarckStiftung auf den wichtigen Umstand aufmerksam, dass der größte Teil der Einschränkungen im Leben erworben werden. Wir werden als Gesellschaft also immer mit Menschen mit Behinderung, mit starken und schwachen Menschen oder mit Menschen in belasteten oder unbelasteten Lebensphasen umgehen müssen. In Ihrem Einführungsgottesdienst haben Sie „Inklusion“ und „Teilhabe“ als zentrale Begriffe für Ihre diakonische Arbeit genannt. Welche Aufgaben sehen Sie da in Zukunft? Für mich ist die Grundlage immer ein Menschenbild, das davon ausgeht, dass wir alle Stärken und Schwächen haben. Ich meine das nicht sozialromantisch, sondern
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Direktorin Dr. Ursula Schoen im im Interview mit Anke Köhler in der Fürst DonnersmarckStiftung
als eine Tatsachenbeschreibung. Wir alle haben unsere Schwächen und wir alle können – aus welchen Gründen auch immer – in eine Gefährdung kommen und Phasen der Schwäche erleben. Das ist Teil unseres Lebens. Wir werden alle Situationen erleben, mit denen wir nicht fertig werden oder in denen wir uns nicht als handelnde Personen empfinden. Dieses Selbstverständnis ist die Grundlage unserer Arbeit. Macht und Ohnmacht, Selbstwirksamkeit und Passivität, Hilflosigkeit sind alles Dimensionen des Menschseins. Für mich bedeutet Inklusion, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der diese Dinge Raum haben. Das möchte ich auch nicht auf eine bestimmte Gruppe von Menschen beziehen, sondern diese Frage ist bei jedem und immer da, wenn auch jeden Tag anders. Viele Menschen versuchen ja, so gut wie möglich ihre Einschränkungen und Fehler zu verbergen, anstatt sie auf den Tisch zu legen und um Hilfe zu bitten. Das ist absolut so. Ich möchte Ihnen gerne ein Beispiel erzählen, von dem ich neulich gehört habe. Darin ging es um einen 17-Jährigen, der sich in der Schule nie besonders angestrengt hatte. Er wurde nun in einen Ruderclub aufgenommen, weil er diesen Sport so gut kann. Und die Menschen aus dem Verein kümmern sich jetzt darum, dass er auch in der Schule besser wird. Ich finde, das ist ein tolles Modell. Der Verein setzt an seinen Stärken als Ruderer an, unterstützt ihn aber auch bei seinen Schwächen. Das ist es, was ich sagen möchte. Wir brauchen eine fehlerfreundliche Gesellschaft, eine offene Gesellschaft, in der wir uns gegenseitig unterstützen und nicht nach den Defiziten bewerten. Ich denke, dass die gegenseitige Unterstützung in unserer Gesellschaft wieder stärker werden müsste. Gerade am Anfang der Pandemie haben sich die Menschen ja oft auch gegenseitig geholfen. Es ist auch eine Aufgabe von Einrichtungen wie der Fürst
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Donnersmarck-Stiftung oder unserem Verband, Menschen zu zeigen, dass sie sich engagieren können, um anderen zu helfen. Wir haben im letzten Jahr während der Pandemie auch festgestellt, dass sich mehr Menschen für den Freiwilligendienst interessiert haben als in den Jahren davor. Es gibt also schon das Gefühl, dass man irgendwo mithelfen möchte. Das betrifft nicht nur junge Menschen, sondern auch Ältere. Im letzten Jahr beschäftigte uns die Ermordung von vier Menschen mit Behinderung im Oberlinhaus in Potsdam sehr. Welche Rolle kann die Diakonie dabei spielen, Gewalt gegen Menschen mit Behinderung nicht entstehen zu lassen? Für mich ist das Geschehen im Oberlinhaus kein strukturelles Problem einer Einrichtung der Behindertenhilfe. Ich weiß, dass es dort eine lange Tradition gibt und man sich viel Mühe gibt, um Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Das ist für mich erst mal wichtig festzustellen. Aber leider müssen wir immer wieder erleben, dass es zu furchtbaren Gewalttaten kommt, weil Menschen einen inneren Hass haben – zuletzt ist das ja an der Universität in Heidelberg geschehen. Gleichzeitig ist es gut, dass wir das Thema Prävention von Gewalt in der Diakonie stärker betont und uns damit intensiv auseinandergesetzt haben. Denn das Thema betrifft ja nicht nur diese unvorstellbaren Taten, sondern auch die kleinen Formen des Miteinanders im Alltag. Es geht darum, die Grenzen anderer zu respektieren, ihren Privatraum zu respektieren und vieles mehr. Als Verband können wir hierbei Impulse geben. Das ist eine wichtige Aufgabe. Allerdings muss man, glaube ich, auch ganz ehrlich sein: Solche Ereignisse können auch wieder vorkommen. Wir müssen aber unser Bestes tun, um sie zu verhindern. Das Thema Gewaltprävention muss immer aktuell und präsent sein, damit das Risiko solcher Fälle möglichst gering ist.
Das ist völlig richtig. Es muss klar sein, dass Gewalt nicht geduldet wird und so gar nicht erst die Rahmenbedingungen für Gewalt geschaffen werden. Zudem ist es aber auch wichtig, dass wir als Führungskräfte die Verfassung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Blick behalten müssen, um Überforderungen zu vermeiden. Das kann beispielsweise die zeitgleiche Pflege der Angehörigen betreffen, was gerade bei älteren Mitarbeitenden immer wieder vorkommen kann. Dann habe ich als Vorgesetzte oft das Gespräch mit den betroffenen Personen gesucht und mit ihnen überlegt, wie wir die Arbeit organisieren können, bis diese belastende Situation vorbei ist. Das hat alles viel mit der Unternehmenskultur zu tun. Ein weiteres wichtiges Thema, auf das Sie bereits hingewiesen haben, ist die Sozialraumorientierung der sozialen Arbeit. Welche Rolle können diakonische Unternehmen in diesem Prozess spielen? Zunächst mal sind diakonische Einrichtungen in vielen Sozialräumen ganz wichtige Akteure. Wenn Sie sich zum Beispiel Lobetal bei Bernau ansehen: Diese Organisation spielt sowohl als Arbeitgeber als auch als Impulsgeber eine ganz herausgehobene Rolle in der Region. Als diakonische Einrichtungen definieren wir an diesen Orten die Räume, an denen das Leben stattfinden, wo Gemeinschaft erlebt wird und wo neue Projekte hinkommen. Diakonische Einrichtungen können also wirklich innovativ agieren. Und wie kann man sich das in einer Großstadt vorstellen, wo die einzelnen Bezirke sehr unterschiedlich sind und auch die Menschen, die dort leben, ganz unterschiedliche Bedürfnisse haben? Wir dürfen natürlich nicht sagen, dass für alle dasselbe gut ist. Sozialraumorientierung heißt hier, dass wir in unserer Arbeit danach fragen, welche Ressourcen, aber auch Bedürfnisse es im sozialen Raum gibt. An diese Bedürfnisse und auch Problemlagen müssen wir dann unsere Angebote anpassen.
Und natürlich ist der Sozialraum immer schon ein gestalteter Raum, in dem Menschen mit ganz konkreten Vorstellungen und Ideen leben. Daran anschließend muss man sich fragen: Was verbindet uns hier? Was können unsere Aufgaben sein? Schauen Sie sich das Projekt „Stadtteilmütter“ in Kreuzberg an. Dort wird die Situation vor Ort ernst genommen und ein Angebot vor Ort gemacht. Sie haben sich ja bewusst dazu entschieden, an das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz zu gehen. Sie sind damit in eine Gegend gekommen, in der die Kirche im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands nicht mehr so präsent ist. Haben Sie dennoch den Eindruck, dass die Diakonie hier in Berlin und Brandenburg gehört wird? Ja, wir werden gehört. Wir werden als Diakonie wahrscheinlich sogar mehr gehört als die Kirche. Auf der anderen Seite ist die Kirche in Berlin ja immer noch flächendeckend präsent. Ganz Berlin ist in Kirchenkreise eingeteilt, hat überall Orte sowie Anlaufstellen und kann deswegen Projekte wie „Laib und Seele“ umsetzen, das auf diesem Netzwerk beruht. Damit haben die Kirche und die Diakonie immer noch eine große Bedeutung und Einfluss in der Gesellschaft. Allerdings müssen sich die katholische und evangelische Kirche beispielsweise die öffentliche Aufmerksamkeit inzwischen mit mehr Akteuren teilen. Früher war es selbstverständlicher, zu wichtigen Themen auch die Statements der Kirchen einzuholen. Trotzdem sind Diakonie und auch die Kirche – vielleicht in anderer Form als früher – ganz, ganz wichtige Sozialpartner für die Kommunen. Die Kommunen können überhaupt nicht anders, als auf die freien Träger – und dazu gehören auch die christlichen Träger – zurückzugreifen, um das soziale Sicherungssystem aufrechtzuerhalten und für die Menschen zu sorgen, die Hilfe benötigen.
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Die ehemalige Senatorin Elke Breitenbach sagte uns beiIhrem Abschied aus dem Amt, sie hätte die Kirchen und die Diakonie in der Corona-Pandemie ganz neu entdeckt, da wir in der Lage waren, sehr schnell neue Hilfsangebote zu entwickeln. Zum Beispiel hat die Telefonseelsorge, die in Berlin ökumenisch ist, in nur ganz wenigen Wochen eine Corona-Telefonhotline aufgebaut. Dazu gab es die Struktur, die ehrenamtlich tätigen Personen und die Kontakte. Es wäre also unklug, wenn die Verantwortlichen auf kommunaler Ebene nicht erkennen, welche Ressource für die Gesellschaft die Diakonie bietet.
schaft vollziehen kann. Sie mögen nicht mehr ganz so viele Kirchengebäude wie früher besitzen, aber sie können immer noch Türen öffnen, Menschen einladen und soziale Arbeit ermöglichen. Ich würde mir wünschen, dass diese besonderen Orte bleiben werden. Ich war beispielsweise in der Taborkirche im Norden Kreuzbergs. Das ist eine der vielen Kirchen in Berlin, die einmal in der Woche ein Nachtquartier anbietet. Das ist ein ganz besonderer Ort, wenn man dort ist und von den Menschen begrüßt wird. Unsere Orte mit ihrer langen Tradition sind auch ein großer Schatz.
Welche Rolle wird denn aus Ihrer Sicht der Diakonie und der Kirche in Zukunft zufallen? Ich glaube, dass die Kirchen nach wie vor eine wichtige Rolle spielen und spielen werden bei der Bewältigung religiöser Fragen in der Gesellschaft – und zwar nicht nur im christlichen Sinne. Sie ist beispielsweise auch ein wichtiger Dialogpartner für muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger und für jüdische Gläubige.
Ist das auch ein Schlüssel zur Sozialraumorientierung? Dass die Diakonie Infrastruktur und Koordination anbieten kann? Dass Sie Menschen – ob Ehrenamtliche oder andere Akteure – zusammenführt und in einem gemeinsamen Projekt zusammenbringt? Absolut. Das ist eine ganz zentrale Aufgabe. Es ist unser Auftrag, mit Menschen über Fragen der Existenz des Lebens und der Hoffnung im Gespräch zu bleiben. Das sehe ich immer so.
Die evangelische und die katholische Kirche haben darüber hinaus nach wie vor große Ressourcen von ehrenamtlichen Menschen, die sich für andere einsetzen. Auch das wird weiterhin in den Stadtteilen und Gemeinden eine Rolle spielen. Die Kirche hat das große Plus, dass sie Orte zur Verfügung stellen kann, an denen sich Gemein-
Vielen Dank für das Gespräch! Interview: Anke Köhler
Eine Rolligarage in Lichtenberg Was ist wichtig, was muss ich beachten? – Ein Erfahrungsbericht
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er in einem Mehrfamilienhaus wohnt und einen Elektrorollstuhl ab und an nutzt, braucht viel Platz in der Wohnung und einen Aufzug. Wer beides nicht hat, kann eine sogenannte Rollatorbox organisieren. Mit dieser kleinen Garage lässt sich auch ein Rollstuhl bequem und sicher draußen unterbringen. Doch es gibt eine Menge zu beachten, wie Andreas Reinert bei der Anschaffung seiner Rollibox feststellen musste.
Wer sich eine Rollibox anschaffen möchte, muss erst mal wissen, was er oder sie überhaupt will: eine kleine Box oder eine große Box für zwei Rollis, wo man sich mit einem Nachbarn oder einer Nachbarin die Kosten teilen kann? Oder man ist dick und braucht einfach Platz zum Umsetzen. Es ist ratsam, beim Platz nicht allzu sehr zu sparen, denn das kann sich ja auch ändern.
Eines Tages war es soweit, ich war für den Auszug aus Frohnau in meine Wohnung bereit. Aber nun hatte ich ein neues Problem. Wo parke ich meinen E-Rolli, den ich nun für den Alltag benötigte?
Die nächste Frage, die man sich vorab überlegen muss, betrifft das Material. Braucht man eine stabile Metallbox oder reicht eine Holzbox? Das Graffiti-Problem hat man überall. Da sollte man nicht auf eine Schönheitsbox setzen. Und dann sollte man sich überlegen, ob man
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Praktisch muss sie sein
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Eigentum möchte oder lieber eine Box mieten oder eine Kombination aus beidem. Ich habe eine Mietbox aus Holz – die lässt sich leichter entsorgen, wenn man sie nicht mehr braucht und sie ist nach einer bestimmten Laufzeit in mein Eigentum übergegangen.
nach Wohnlage durchaus zum Problem werden. Der Lieferservice kann die Box an dem Strom anschließen oder man spricht mit dem Hauselektriker. Wenn man wie in meinem Fall eine Box mietet, hat man den Vorteil, dass die Firma Ersatzteile liefert, wenn etwas kaputtgeht.
Hat man sich alles genau überlegt, weil man nicht einen oder eine hat, der oder die pfiffig und motiviert ist und sich ständig um etwas Neues kümmert, und man dann weiß, was man will, kommt der nächste Schritt: Viele wohnen zur Miete und müssen erst beim Vermieter oder der Vermieterin schriftlich anfragen, wo man die Box aufstellen könnte. Hat man die Genehmigung, muss man den Untergrund für die spätere Box stabil machen lassen. Bei mir haben Gehwegplatten im Kiesweg völlig ausgereicht. Auch sollte man diesen Punkt nicht übertreiben, schließlich müssen Angehörige (oder wer auch immer) alles wieder zurückbauen, wenn der Mietvertrag endet. Der Vermieter oder die Vermieterin bestimmt auch den Elektriker oder die Elektrikerin, der oder die den Anschluss zum Aufladen verlegt. Sofern sich ein eigener Stromzähler im Hauskeller befindet, wird der Anschluss dorthin verlegt. Da kommen vierstellige Summen schnell zusammen. Zum Glück haben zwei Stiftungen diese Kosten bezahlt, denn ich habe keine „reiche Verwandtschaft“. Die späteren Ladekosten trägt man natürlich selber. Ein Kippschalter am Zähler zum An- und Abschalten ist auch ganz sinnvoll, damit niemand unbefugt Strom ableiten kann, wenn man selber zum Beispiel in Urlaub ist.
Ein wichtiger Tipp: Niemals das Ladegerät (wenn nicht gerade geladen werden muss) in der Rollibox stecken lassen. Das wäre das Gleiche, als wenn man seinen Autoschlüssel Tag und Nacht im Zündschloss stecken ließe, weil man ihn sonst verliert. Außerdem: Je länger der Akku ohne Unterbrechung in der Steckdose hängt, desto schneller geht er kaputt. Oder es besteht Brandgefahr, weil er zu heiß wird. Das ist ähnlich wie bei einem Handyakku. Zwei weitere Tipps: Besorgt euch ein Fahrradschloss. Auch E-Rollis werden gerne gestohlen. Meldet das Rollihäuschen der Hausratsversicherung und schaut auch regelmäßig nach dem Rollihäuschen. Wenn man das alles beachtet, ist die Rollibox sehr praktisch. Für mich hat sich der Aufwand gelohnt.
Und wenn alles vorbereitet ist und die Box endlich geliefert wird, kann eine freie Anfahrt bis zum Standort je
Fazit Ich hätte nicht gedacht, welche Überlegungen notwendig sind und wie viel Zeit alles braucht. Ich kann nur jeder Person raten, fangt mit diesem Thema so früh wie möglich an. Bei mir vergingen von der Genehmigung bis zur funktionierenden Steckdose drei, vier Monate. Aber das Suchen vorher nach der geeigneten Rollibox war mein größtes Problem. Andreas Reinert
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Ein Tacho aus Italien Oder ist der TÜV in Gefahr?
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ährend meiner Ausbildung zur Bürokauffrau war ich froh, dass ich meinen Führerschein machen konnte. Möglich war dies, weil ich einen Kostenträger dafür hatte. Warum Kostenträger? Ich bin gehbehindert und benötige ein Auto mit behinderungsbedingten Umbauten. Im November 2021 war es mal wieder so weit. TÜV und ASU für mein Auto waren fällig. Mein Auto, ein kleiner blauer Flitzer, hat mir 17 Jahre lang und rund 145.000 km immer gute Dienste geleistet. Auch wenn mein kleiner Flitzer schon so alt ist, ist er für mich unentbehrlich. Ein bisschen Zeit hatte ich noch, aber wie schnell vergeht die Zeit und „schwups“ steht der TÜV/ASU-Termin vor der Tür. Anfang September bemerkte ich, dass mein Tacho im Auto anfing zu flackern. Manchmal zeigte das Display auch gar nichts mehr an. Meine Hoffnung war, dass sich das mit der Zeit wieder geben würde. Doch leider wurde ich eines Besseren belehrt. Irgendwann tat sich auf dem Display nämlich gar nichts mehr. Also ab in die Werkstatt. Hier wurde mir schnell klar, dass es nicht mal eben eine Reparatur oder einen Austausch des Tachos geben würde. Zum einen war nicht sicher, ob sich der Tacho überhaupt noch reparieren ließe, eine Reparatur war auch mit erheblichen Kosten verbunden. Beim Autohändler riet man mir, nach einem gebrauchten im Internet zu suchen. Der Einbau eines nagelneuen Tachos incl. Montage hätte mal eben ca. 1.000,00 Euro gekostet. Mit meiner eher doch bescheidenen Erwerbsminderungsrente ein großes Problem. Oh je, war mein erster Gedanke. So viel Geld hatte ich nicht auf der hohen Kante, wie es immer so schön heißt. Seit 2011 bin ich in Erwerbsminderungsrente, da mich eine Krebs-
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erkrankung in die Knie zwang und ich meiner Arbeit nicht mehr nachgehen konnte. Ich ließ mir einen Kostenvoranschlag ausfertigen, zeitgleich annoncierte ich in etlichen Verkaufsforen im Internet nach einem Tacho mit der richtigen Seriennummer. Ich rief dutzende Schrotthändler in Berlin an – leider erfolglos. Mit dem Kostenvoranschlag bemühte ich mich um einen Zuschuss der Eingliederungshilfe, der leider abgelehnt wurde. Die Eingliederungshilfe sei für Menschen, die am Arbeitsleben teilhaben. Als Frührentnerin falle ich da hinten runter. Die Krankenkasse erklärte mir, sie sei nicht zuständig, verwies mich an den Rententräger, der mir wiederum mitteilte, dass das Bezirksamt am Wohnort zuständig sei. Auch meine verschiedenen Ehrenämter, bei deren Ausübung ich auf das Auto angewiesen bin, zählten als Argument nicht. Was mich ärgert, ist die Tatsache, dass die Arbeit als Ehrenamtliche hier keine Beachtung findet. Ich unterstütze und berate Menschen in meiner ehrenamtlichen Tätigkeit. Versuche damit, mich in die Gesellschaft einzubringen. Mit einem Auto bin ich selbstbestimmt und weitgehendst unabhängig. Auf meine Tacho-Suche im Internet hin meldeten sich einige, jedoch stimmten die Teilenummern mit der auf meinem kaputten Tacho nicht überein. Bei meiner Suche im Internet stieß ich dann auf eine Firma, welche Tachos repariert. Ich schilderte mein Problem, doch leider waren es eher Tachos von großen Automarken, die man hier üblicherweise reparierte. Kurze Zeit später bekam ich einen Anruf einer kleinen Firma, die ich bereits kontaktiert hatte. Eigent-
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lich reparierte man dort keine Tachos meiner Automarke. Doch der nette Herr am Telefon wollte es dennoch versuchen, meinen Tacho wieder in Gang zu bringen. Leider war eine Reparatur nicht möglich, aber man half mir, einen evtl. kompatiblen Tacho zu besorgen. Nach zwei Versuchen zeigte sich jedoch, dass alles nichts nützte. Mein Termin zum TÜV/ASU rückte inzwischen immer näher und bald stellte sich heraus, dass ich es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde. Denn ohne Tacho im Auto darf man zum einen das Auto nicht fahren und zum anderen wäre der TÜV dann auch nicht erteilt worden. So verging die Zeit und es war bereits Dezember, als mich die Firma erneut anrief, die bereits mit zwei evtl. kompatiblen Tachos gescheitert war. In einer Anzeige wurde ein Tacho annonciert, der „wie die Faust aufs Auge“ zu meinem kleinen Flitzer passte. Jetzt hieß es Daumen drücken und hoffen. Einen kleinen Haken hatte die Sache allerdings: Er war nicht ganz billig und er kam aus Italien.
WIEDER ATMEN LERNEN Fachbereich Unterstützung bei der Entwöhnung von Beatmung (UEvB) im P.A.N. Ambulant
Das hieß, so kurz vor Weihnachten noch mal das Ersparte prüfen und eine etwas längere Wartezeit in Kauf nehmen. Zehn Tage später war es dann endlich so weit: Der Tacho ist angekommen, hieß es am Telefon. Und tatsächlich funktionierte er, wie er sollte. Mir war ein Stein vom Herzen gefallen; denn bis zu diesem Zeitpunkt war nicht klar, ob ich je einen passenden Tacho gefunden hätte. Nach längerer Suche nach einem passenden Tacho brachte ich das Auto in die Werkstatt. Leider fielen hier noch ein paar weitere kleine Reparaturen an. Das Wichtigste jedoch war, dass ich erst einmal für zwei Jahre TÜV habe. Ich hoffe, dass mein kleiner blauer Flitzer noch ein paar Jährchen mein Begleiter bleibt. Für ein neues Auto habe ich keinen Kostenträger mehr. Denn neben den Kosten für ein Auto kämen welche für die behinderungsbedingten Umbauten hinzu. Durch den gebrauchten italienischen Tacho habe ich im Gegensatz zu einem neuen Tacho ca. 650,00 Euro gespart. Und wie ich ja schon schrieb, es war kurz vor Weihnachten und im Januar hatte ich Geburtstag. So entschied sich meine Familie, mir den Tacho als Geschenk zu machen, worüber ich mich sehr gefreut habe.
Das UEvB ist ein Angebot der außerklinischen Intensivpflege. Es richtet sich an Menschen mit einer Trachealkanüle und/oder einer invasiven Beatmung. Durch systematische Unterstützung und aktivierende Pflege begleiten wir die Betroffenen auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben ohne Kanüle und/oder Beatmung.
Weitere Informationen unter: Wildkanzelweg 28 13465 Berlin-Frohnau Tel. (030) 40606-140 /-141 Fax (030) 40606-142 www.wieder-atmen-lernen.de
Kirsten Heil
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WIR empfehlen
und schon machte sie sich auf die Suche nach Büchern, die in Frage kommen könnten. Kirsten entschied sich für das Kinderbuch mit dem Titel Emmi und Einschwein – Lesen macht Spaß .
Ein „Bücherwurm“ kommt selten allein... Berlin hat den Vorlese-Weltrekord geknackt
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urch die Presse erfuhren wir vom VorleseMarathon 2022 in Berlin. Gesucht wurden über 1000 Vorleserinnen und Vorleser, die an mehr als 19 Tagen am Marathon teilnehmen, um den bisherigen Rekord zu knacken. Start war der Internationale Kinderbuchtag am 2. April 2022. Bis zum Welttag des Buches am 23. April 2022 wurde an sieben verschiedenen Standorten in Berlin vorgelesen. Jeweils von 12 Uhr eines Tages bis 12 Uhr des nächsten Tages lasen Menschen im 30-minütigen Takt, oder auch länger, Geschichten vor. Den Anfang machte die Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey, am Sonnabend, 2. April 2022, um exakt 12 Uhr mittags im Studio 14, der RBB Dachlounge. Um einen für uns gut zu erreichenden Standort zu finden, entschieden wir uns für EDEKA Iden in Wittenau. Über ein Anmeldeportal buchte sich Michael eine Vorlese-
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zeit für 2 x 30 Minuten und Kirsten wollte es mit 1 x 30 Minuten versuchen.
Was lesen wir vor? Um ein geeignetes Buch zu finden, mussten wir uns eines aussuchen, welches u.a. von vorgeschriebenen Verlagen herausgegeben werden. Die einzige Bedingung: Es musste sich auch um eine Vorlesegeschichte handeln. Der Wechsel zwischen den einzelnen Vorleserinnen und Vorlesern durfte 30 Sekunden nicht überschreiten. Wenn ein Buch begonnen wurde, musste es vom Vorlesenden oder seinem Nachfolger bzw. seiner Nachfolgerin zu Ende gelesen werden. Michael entschied sich für das Buch Esra. Kirsten ging in die nahegelegene Bücherei, um sich dort nach einem geeigneten Buch zu erkundigen. Der netten Mitarbeiterin vor Ort zeigte Kirsten das entsprechende Regelwerk
Nachdem entsprechende Bücher gefunden waren, teilten wir dem LeseLounge e. V. unsere Lesewünsche schriftlich mit. Wir beide übten das Vorlesen, indem wir einander unsere ausgesuchten Bücher vorlasen und dabei die Zeit stoppten. Am 7. April 2022 machten wir uns auf den Weg zu EDEKA. Vor Ort angekommen, begrüßten uns die Mitarbeitenden des Organisationsteams. Man erklärte uns kurz die wichtigsten Regeln. Wir lauschten unseren Vorvorleserinnen. Ihre Stimmen mischten sich mit den alltäglichen Geräuschen einer EDEKA-Filiale. Kurz vorm Wechsel nahmen wir jeweils mit dem Buch in der Hand unseren Platz vor der Webcam ein. Der gesamte Vorleseweltrekord wurde von dieser Webcam aufgezeichnet, ununterbrochen. Nachdem Michaels Vorleser seinen Part beenden hatte, begann er mit dem Vorlesen. Kirsten musste sich noch mit dem Vorlesen gedulden, da jemand anderes vor ihr dran war. Dann war es endlich soweit und sie konnte das Buch vorlesen. Nachdem wir beide unseren Part erledigt hatten bekamen wir als Dankeschön für unsere Teilnahme eine Urkunde. 21 Tage lang und 504 Stunden am Stück haben über 600 Berlinerinnen und Berliner ununterbrochen vorgelesen. Der bisherige Weltrekord konnte so geknackt werden. Kirsten Heil, Michael Grothe
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WIR EMPFEHLEN
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Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung Rezension zu Tobin Siebers: Zerbrochene Schönheit
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enschen mit Behinderung sind nicht nur passive Konsumentinnen und Konsumenten künstlerischer Werke oder aktive Künstlerinnen und Künstler. Menschen mit Behinderung sind immer wieder auch Gegenstand von Kunstwerken. Künstlerinnen und Künstler wie zum Beispiel Otto Dix, Pablo Picasso oder der Literat Wolfgang Borchert und viele andere haben auf ganz unterschiedliche Art und Weise das Thema Behinderung künstlerisch verarbeitet und in Szene gesetzt.
WA S S I N D D I E DISABILITY STUDIES? Disability Studies ist ein Forschungsfeld, das sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema „Behinderung“ auseinandersetzt. Im Mittelpunkt der Forschung steht die Frage, welche Bedeutung Behinderung in einer Gesellschaft hat und wie die Gesellschaft Barrieren erzeugt, die erst zu Behinderungen führen (soziokulturelles Modell von Behinderung). Die Disability Studies gelten als der „wissenschaftliche Zweig“ der politischen Behindertenbewegung.
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Welche Bedeutung die Darstellung von Menschen mit Behinderung in der Kunst aus der Perspektive der Disability Studies haben kann, hat der im Jahr 2015 verstorbene Tobin Siebers in seinem Essayband Zerbrochene Schönheit untersucht. Tobin Siebers war Professor für englische Sprache und Literatur, Kunst und Design an der University of Michigan, Ann Arbor (USA), und hatte sich intensiv mit der Beziehung von Behinderung und Kunst beschäftigt. Grundlegend für den Aufbau seiner Essays ist die These, dass die gesellschaftliche Vorstellung von Behinderung „ein integraler Bestandteil ästhetischer Vorstellungen von Schönheit“ (S. 11) ist und deswegen einen großen Einfluss auf die Kunst gehabt hat – der bis heute weiter ansteigt. Er zeigt dabei, dass der künstlerische Umgang mit Behinderung zwei Seiten hat: Einerseits wird Behinderung oft als das Gegenteil von makelloser Schönheit verstanden. Im Hintergrund wirkt sie so immer als negativer Bezugspunkt für die idealen, ästhetischen Körper, die in den Kunstwerken präsentiert werden. Diese ästhetische Ablehnung behinderter Körper hat in den Augen von Tobin Siebers Auswirkungen bis in den Alltag. Beispielsweise führt er die häufige Kritik an der Optik barrierefreier Architektur als Widerstand gegen die „symbolische Anwesenheit von Behinderung im
öffentlichen Raum“ (S. 18) zurück. Gesellschaftliche Vorurteile drücken sich auf diese Weise in ästhetischen Urteilen über Menschen mit Behinderung, aber auch andere Minderheiten wie Menschen mit Migrationshintergrund oder aus der LGBTQ-Community aus. Auf der anderen Seite weist Tobin Siebers auch darauf hin, dass Menschen mit Behinderung und behinderte Körper in der modernen Kunst zunehmend positiv dargestellt werden. Selbst viele klassische Kunstwerke, die ja auch erst in der Moderne wiederentdeckt worden sind, wie beispielsweise die Nike im Pariser Museum Louvre haben aufgrund ihrer Unvollkommenheit, ihrer Verwundung und Verletzlichkeit eine ganz besondere Ästhetik. Kunst wertet in diesen Fällen Behinderung ästhetisch auf. In seinem Fazit hebt Tobin Siebers hervor, dass seit dem 20. Jahrhundert Menschen mit Behinderung als aktive Künstlerinnen und Künstler, aber eben auch als Objekte in Kunstwerken an Bedeutung gewonnen haben und damit auch zu Veränderungen unseres Schönheitsideals beigetragen haben. Er endet schließlich mit dem optimistischen Ausblick, dass Behinderung „mittlerweile ein eigenständiger ästhetischer Wert“ geworden ist und das „auch in Zukunft bleiben“ wird. (S. 93) Im Anhang befinden sich zahlreiche Abbildungen von Menschen mit Behinderung in der Kunst, die Tobin Siebers Ausführungen verdeutlichen. Die Essays sind spannend zu lesen, allerdings in einer schwierigen, schwer zugänglichen Art und Weise geschrieben. Wer dennoch mal einen Blick in den Band werfen möchte, kann das ohne Probleme tun. Er ist auf der Webseite des TranscriptVerlages kostenfrei herunterzuladen. Sebastian Weinert transcript-verlag.de/978-3-8376-1132-8/ zerbrochene-schoenheit/
IRRTURM – nach 33 Jahren: Ende dieser bundesweit einmaligen Publikation
I
m Februar 2022 erreichte mich eine erschütternde Mail der Initiative zur Sozialen Rehabilitation e.V. (IZSR e.V.) und des FOKUS, Zentrum für Bildung und Teilhabe der Initiative zur sozialen Rehabilitation e.V.: „Wir als Geschäftsführung der IZSR e.V. und Leitung von FOKUS wollen den IRRTURM in der bisherigen Form nicht weiter fortführen.“ Nicht absehbar sei, wie eine niedrigschwellige Redaktionsarbeit in der nächsten Zeit weiterlaufen könne. Inzwischen sei pandemiebedingt nur noch eine kleine Redaktionsgruppe übriggeblieben. Gerade Menschen mit Krisenund Psychiatrie-Erfahrung treffen die Folgen der Kontaktbeschränkungen in den letzten zwei Jahren hart. Denn Gruppenangebote und die Bereitstellung von Begegnungsräumen wurden und werden an vielen Orten eingeschränkt. Anfang 2022 nun auch hier: Die Redaktionsarbeit wird künftig nicht mehr stattfinden. Die Zeitschrift war für die Redakteurinnen und Redakteure sehr wertvoll. Vor 33 Jahren wurde „uns“ Betroffenen noch weniger zugehört als heute. Es war eine ungeheuerliche Neuerung, gehört, gesehen und gelesen zu werden. Die Redaktionssitzungen verliefen einigermaßen turbulent. Es war eine feste, aber offene Runde. Oft gab es ein erfreutes: „Oh, lange nicht gesehen! Wie geht es dir?“ Die Texte wurden entweder per Post eingeschickt oder von den anwesenden Redakteurinnen und Redakteuren vorgelesen. Auch Bilder konnten eingereicht werden. Jede und jeder äußerte das eigene Empfinden dazu. Mit einfacher Mehrheit wurde entschieden, ob ein Text angenommen wurde. Als ich im Jahr 2008 im IRRTURM zu veröffentlichen begann, bin ich sogar aus Berlin angereist, um die Ansicht der Redaktionsmitglieder zu hören! Dieses Abstimmungsverfahren wurde wäh-
rend Corona eher absurd, da immer weniger Schreibende kamen. Noch während Corona kam sogar eine über 80-jährige Mitredakteurin zu den Sitzungen mit Rollator aus Verden angereist. Für mich als Studierte war es zudem wichtig, meine Wortwahl als „einfach“ und gut verständlich überprüfen zu lassen. Das Einstellen der Redaktionsarbeit ist ein harter Schlag. Leider wurden wir auch nicht gefragt. Die Entscheidung fiel von oben – in Zeiten von UN-Behindertenrechtskonvention ein eigentlich nicht mehr angesagtes Verhalten. Es werde neue und andere Möglichkeiten geben, sich bei der IZSR e.V. schreibend einzubringen, denn: Nach wie vor sei es wichtig, „den Selbstausdruck von Psychiatrie- und Krisenerfahrenen zu ermöglichen und zu fördern: Den selbstbestimmten Blick auf die Gestaltung des eigenen Lebens mit psychischen Gesundheitsproblemen, die (psychiatrie-)politische Meinungsäußerung, das Ausdrücken von subjektiven Sichtweisen und das Schreiben gegen Stigmatisierung und Aufklärung von Betroffenen für Betroffene,“ heißt es dort weiter. Das alles soll weiterhin Raum bekommen in der Arbeit der IZSR e. V. und dem FOKUS. Welche Räume hierfür bei gesunkenen Inzidenzen geöffnet und welche Angebote gemacht werden können, bleibt abzuwarten. Zwar soll der Name IRRTURM erhalten bleiben. Doch wöchentliche Treffen werde es nicht mehr geben. Bis die weitere Klärung erfolgt ist, müssen wir andere Publikationsorte finden, wie das Bremer Zwielicht oder den Bremerhavener Andersdenker. Oder wir müssen uns bundesweit politisch engagierte Publikationsorte suchen, die literarische Beiträge aufnehmen. Heike Oldenburg
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IMPRESSUM WIR – Magazin der Fürst Donnersmarck-Stiftung zu Berlin Herausgeber Fürst Donnersmarck-Stiftung zu Berlin Redaktionsleitung Ursula Rebenstorf /Sebastian Weinert Fürst Donnersmarck-Stiftung Dalandweg 19, 12167 Berlin Tel.: 030 769 700-27; Fax: -30 E-Mail: wir@fdst.de; Internet: fdst.de Gestaltung bleifrei Texte + Grafik Titel Ursula Rebenstorf Druck Nordbahn gGmbH, Werkstatt für Behinderte Erscheinungsweise zweimal im Jahr Redaktionsschluss dieser Ausgabe 25. April 2022 Fotos Ursula Rebenstorf, Sebastian Weinert, Nico Stockheim, Dominik Erdmann, Michael Grothe Monika Holfeld, Kirsten Heil, Christine Busch, Sean Bussenius, Helga Hofinger, Sabine Lutz, Daniel Schleher, Heike Oldenburg, Archiv der Fürst Donnersmarck-Stiftung, KHo235, CC0, via Wikimedia Commons Mit freundlicher Genehmigung des Transcriptverlags, Anna Henckel von Donnersmarck, Moritz von Oswald, Diakonie Berlin-Brandenburg/ Hoffotografen, Monika Rittershaus
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