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Momentaufnahmen

Momentaufnahmen

Dustine West arbeitet hart, um seinen Traumjob zu bekommen. Kurz darauf macht ein Unfall auf dem Heimweg alles zunichte. Jetzt sind Papier und Stift seine neue Leidenschaft – und eine Art Flucht aus dem Alltag.

Fotos: Richie Hopson, privat

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Dustine kann seine Hände kaum bewegen, dennoch malt er großartige Kunstwerke.

„Ich weiß nur, dass ich in einem Krankenhausbett aufgewacht bin, ohne sprechen oder mich bewegen zu können.“

Nach elf Jahren im Sicherheitsdienst triΩt Dustine eine Entscheidung. Er will endlich den Beruf ausüben, von dem er schon immer geträumt hat. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich den Mut dazu hatte, meinen sicheren Job zu verlassen. Bei der Polizei anzufangen war eine ziemlich große Sache für mich“, sagt Dustine. „Ich bin so gerne in meine neue Arbeit gegangen. Selbst wenn ich früh aufstehen musste. Mein Team war großartig.“

Dustines Einsatz im neuen Job zahlt sich aus. Gleich im ersten Jahr erhält er zwei Auszeichnungen. „Mir wurde klar, dass man in diesem Job schnell lernen muss. Nichts bereitet einen auf das vor, womit man jeden Tag zu tun bekommt.“

DUSTINE WIRD ANGEFAHREN Dann kommt der 16. Jänner 2011. Es ist ein kühler Tag in Dustines Heimatstadt London. Seine Schicht ist zu Ende. Dustine trinkt noch eine Tasse KaΩee, bevor er sich auf sein Fahrrad schwingt, um nach Hause zu fahren. Er nimmt seine übliche Route. Die Straße ist schlecht beleuchtet. Plötzlich geht alles ganz schnell. Ein Auto erfasst ihn, er wird zu Boden geschleudert. Der Unfallverursacher lässt Dustine auf dem Asphalt zurück und begeht Fahrerflucht. Er wird später ausgeforscht und wegen Trunkenheit am Steuer angeklagt. „Ich erinnere mich an nichts mehr. Nur, dass ich in einem Krankenhausbett aufgewacht bin, ohne sprechen oder mich bewegen zu können“, sagt Dustine. „Das Gehirn hat die Angewohnheit, Traumata auszublenden. Deshalb bin ich in gewisser Weise dankbar, dass ich mich an die Einzelheiten dieses Tages nicht erinnern kann.“

Der 48Jährige erleidet schwere Verletzungen – unter anderem am Rückenmark. Er wird ins künstliche Koma versetzt. Als er aufwacht, sieht er seine Familie an seiner Seite. Kurze Zeit später kommt der Arzt mit der Diagnose: inkompletter Querschnitt. Dustine wird als Tetraplegiker eingestuft. Das bedeutet, dass sowohl seine Beine als auch seine Arme gelähmt sind. „Sie sagten mir, ich würde meine Beine nicht mehr spüren und nie wieder laufen können. Ich hatte so viele Fragen. Wo bin ich? Warum bin ich hier? Wie konnte das passieren? Ich hatte solche Angst“, erinnert er sich. Dustine war sein ganzes Leben lang sehr aktiv. Für ihn ist die neue Situation ein Schock. „Der Ernst der Lage war nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie schwer zu verkraften.“ Er wird in eine RehaEinrichtung gebracht, wo er die nächsten sieben Monate verbringt. Dustines Frau ist jeden Tag an seiner Seite. Sie gibt ihre Arbeit auf, um für ihren Partner da zu sein. „Ich hatte schlechte Tage und dann wieder bessere. Meine Frau war meine Rettung. Sie war immer da, um mich zu unterstützen. Die

Dustine liebte seine Arbeit bei der British Transport Police.

Dustine verbringt am liebsten Zeit mit seiner Familie. Er lebt gemeinsam mit seiner Frau in London.

Die Wände in Dustines Haus sind voll von seinen Kunstwerken. Er porträtiert gerne bekannte Persönlichkeiten.

„Ich würde alles tun, um mein altes Leben zurückzubekommen.“

An diesem Platz verbringt Dustine viele Stunden und malt.

Familie hat mich ermutigt, mich anzustrengen, vor allem bei der Physiotherapie – ich hatte großes Glück, dass sie für mich da waren.“

DER REALITÄT ENTFLIEHEN Eines Tages bekommt Dustine Besuch von einer Ergotherapeutin. Sie ermutigt ihn, sein altes Hobby, die Malerei, wieder aufzunehmen. Er soll am wöchentlichen Kunstkurs teilnehmen. „Wie soll ich zeichnen, wenn ich meine Hand nicht mehr gut bewegen kann?“, denkt Dustine. Er zögert, besucht den Kurs aber schließlich trotzdem – und seine Leidenschaft für Stift und Papier lebt wieder auf. „Ich habe Malen immer geliebt. Schon als kleiner Bub in der Schule oder als Erwachsener, wenn meine Freunde mich um Skizzen baten. Als ich bei der Polizei war, verlor ich den Bezug dazu, ich hatte ja kaum Freizeit.“

In dem Kurs entdeckt er das sogenannte „Stippling“, zu Deutsch Punktieren. Eine Zeichentechnik, bei der Licht- und Schattenbereiche nur mit Punkten erzeugt werden. Damit gelingt es ihm, trotz seiner eingeschränkten Beweglichkeit fantastische Zeichnungen zu erstellen.

Das neue Hobby hilft ihm außerdem mental in dunklen Zeiten: „Stippling hat mir in der Reha geholfen. Wenn ich allein war, fing ich an, über mein Leben und über das, was passiert ist, nachzudenken. Die Kunst half mir, damit umzugehen.“

EIN LEBEN IN HOFFNUNG Heute stehen ganze Kisten voll mit ausdrucksstarken Porträts in seinem Büro. Hier verbringt Dustine die meiste Zeit. Er hört Radio und malt von früh bis spät. Außerdem setzt er sich für Behinderte ein. „Ich möchte dazu beitragen, die Stigmatisierung von Menschen im Rollstuhl zu überwinden, und kämpfe für ihre Rechte.“ Er arbeitet mit einigen Wohltätigkeitsorganisationen zusammen. Seine Zeichnungen helfen dabei, neue Zielgruppen zu erreichen. „Ich möchte den Leuten zeigen, dass ich zwar im Rollstuhl sitze und meine Beine nicht richtig funktionieren, aber dass ich ein Hobby haben kann wie jeder andere Mensch auch.“

Seinen Blick richtet er nach vorne. „Bitte nicht falsch verstehen, in den letzten zehn Jahren habe ich mehr Zeit mit meiner Familie verbringen können. Ich habe Frustrationen erlebt, und es hat eine Weile gedauert, bis mir das klar wurde. Aber das Leben ist zu kurz. Man muss die positiven Seiten sehen“, so der Engländer. Wird er jedoch auf das Thema Heilung angesprochen, werden seine Augen groß: „Wo kann ich mich anmelden?! Meine Familie und ich waren vor dem Unfall so glücklich. Ich würde alles tun, um mein altes Leben zurückzubekommen.“

Viele einzelne Punkte ergeben atemberaubende Kunstwerke. Dustines Motiv: ein Formel-1-Helm.

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