Wien Museum Ausstellungskatalog „Experiment Metropole - 1873: Wien und die Weltausstellung“

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Nach Mitternacht fiel die Stadt – von Orten wie den Bahnhöfen abgesehen, wo weiterhin Züge verkehrten – in tiefe Dunkelheit. Die Schaufenster in den Geschäftsstraßen blieben, bis auf wenige Ausnahmen,41 ebenfalls dunkel und verschlossen. Hier sollte sich erst ab den 1880er-Jahren eine neue, auf Helligkeit und Transparenz setzende Kultur der Warenpräsentation durchsetzen.42 Das Nachtleben war bescheiden. Nach zehn Uhr abends, wenn die Hausmeister die Tore sperrten, waren die Straßen beinahe menschenleer. Wiens Ruf, eine verschlafene Stadt zu sein, passte so gar nicht zum erstrebten Image einer Weltausstellungsmetropole. Ein heftiger Diskurs über die Rückständigkeit in dieser Frage entbrannte, doch es sollte noch einige Jahre dauern, bis sich die Betriebsamkeit der großen Stadt,43 ermöglicht durch den forcierten Ausbau der öffentlichen Beleuchtung, auch in Wien bis weit in die Nacht hinein erstreckte. Noch waren die gewohnten Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen ausgeprägt. Die Transformationszeit der Jahre um 1870 ließ allerdings deutlich spüren, dass es nun immer darum ging, sich an die Erfordernisse einer modernen Metropole anzupassen. 1 Adalbert Stifter: Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes, in: ders.: Aus dem alten Wien. Zwölf Erzählungen, Frankfurt a. M. 1986, S. 11. 2 Julius Rodenberg: Wiener Sommertage, Leipzig 1875, S. 112. Zur Biografie des Autors und dessen Werk vgl. Julius Rodenberg: Wiener Sommertage. Hg. und mit einem Nachwort von Peter Payer, Wien 2009. 3 Friedrich Tietz: Wien bei Tag und Nacht. Culturbilder, Berlin 1873, S. 10. 4 Vgl. Günther Chaloupek, Peter Eigner, Michael Wagner: Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740–1938. Teil 2: Dienstleistungen, Wien 1991, S. 800. 5 Vgl. dazu Hans Bobek, Elisabeth Lichtenberger: Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Graz/Köln 1966. 6 August Silberstein: Die Kaiserstadt am Donaustrand. Wien und die Wiener in Tag- und Nachtbildern. Mit Berücksichtigung der Weltausstellung und weiterer Ausflüge nach Semmering, Graz, Salzburg, Ischl, Prag, Pest-Ofen, Wien 1873, S. 55, S. 59. Silberstein gibt auch eine ausführliche Schilderung des akustischen Tagesgangs von Wien (S. 52-64). 7 Vgl. Chaloupek, Eigner, Wagner, Wirtschaftsgeschichte, Teil 1: Industrie, S. 333. 8 Vgl. ebd., Teil 2: Dienstleistungen, S. 865. 9 Einen Anhaltspunkt zur Häufigkeit der Fahrzeuge gibt Wiens erste systematische Verkehrszählung aus dem Jahr 1871. Daraus geht hervor, dass beispielsweise auf der inneren Währinger Straße im Durchschnitt rund 2.400 Fahrzeuge pro Werktag unterwegs waren. Vgl. Sándor Békési: Die befahrbare Stadt. Über Mobilität, Verkehr und Stadtentwicklung in Wien 1850–2000, in: Pro Civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsforschung in Österreich NF (2004) 9, S. 31. 10 Vgl. Elisabeth Golzar: Bilder führen durch den Klang der Stadt, in: Wolfgang Kos (Hg.): Wiener Typen. Klischees und Wirklichkeit (Ausstellungskatalog Wien Museum), Wien 2013, S. 32-39. 11 Franz F. Masaidek: Wien und die Wiener aus der Spottvogelperspektive. Wien’s Sehens-, Merk- und Nichtswürdigkeiten, Wien 1873, S. 73. 12 Vgl. Alain Corbin: Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1995.

13 Rodenberg, Sommertage, S. 118. 14 Ebd., S. 127. 15 Ebd., S. 189. 16 Vgl. Emil Winkler (Hg.): Technischer Führer durch Wien, Wien 1874, S. 8. Die Diskussion über die Asphaltpflasterung sollte sich in den 1870er-Jahren noch deutlich intensivieren. Vgl. Alfred Hölder: Die Pflasterungsfrage in Wien, Wien 1877. 17 Vgl. Peter Payer: „Großstadtwirbel“. Über den Beginn des Lärmzeitalters, Wien 1850–1914, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (2004) 2, S. 85-103; ders.: Der Klang von Wien. Zur akustischen Neuordnung des öffentlichen Raumes, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (2004) 4, S. 105-131. 18 Alfred Freiherr von Berger: Buch der Heimat, Bd. 2, Berlin 1910, S. 64. 19 Vgl. Hans-Christian Heintschel: Naturgerüche, in: ders., Peter Payer, Werner Michael Schwarz: Der Duft der Stadt. Beiträge zu einer Geruchsgeschichte von Wien, in: Wiener Geschichtsblätter (1996) 1, S. 8. 20 Vgl. Peter Payer: Der Gestank von Wien. Über Kanalgase, Totendünste und andere üble Geruchskulissen, Wien 1997. 21 Richard Müller: Zur Strassenreinigung. Ein Wort an die Bewohner Wiens, Wien 1872, S. 6f. 22 Elim Henri D’Avigdor: Das Wohlsein der Menschen in Grossstädten. Mit besonderer Rücksicht auf Wien, Wien 1874, S. 9. 23 Masaidek, Wien und die Wiener, S. 42. 24 D’Avigdor, Wohlsein der Menschen, S. 38, S. 142. 25 Ders.: Der Wienfluß und die Wohnungsnot. Ein Vorschlag, Wien 1873, S. 14. 26 Masaidek, Wien und die Wiener, S. 34. 27 Winkler, Technischer Führer, S. 2. 28 Das medicinische Wien. Braumüller’s Wegweiser für Aerzte und Naturforscher, Wien 1863, S. 6. Welch konsequent schlechtes Geruchsimage der Wienfluss hatte, zeigte sich auch bei der 1872 erneuerten Tegetthoffbrücke, die von Kritikern als „zu nobel […] für den stinkendsten aller Flüsse“ bezeichnet wurde. Vgl. August Köstlin: Die Brigittenbrücke, Sophienbrücke und Tegetthoffbrücke in Wien, in: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereins (1874) 26, S. 33. 29 Vgl. Jahresbericht des Wiener Stadtphysikates über seine Amtsthätigkeit im Jahre 1874, Wien 1875, S. 13. 30 Zur weiteren Entwicklung vgl. Sándor Békési: Die Metamorphosen des Wienflusses. Zur Geschichte der Vergesellschaftung von Natur am Beispiel eines städtischen Gewässers, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 66 (2010), S. 37-61. 31 Vgl. Peter Payer: Unentbehrliche Requisiten der Großstadt. Eine Kulturgeschichte der öffentlichen Bedürfnisanstalten von Wien, Wien 2000, S. 46-57. 32 Vgl. Ergebnisse der Enquete für die Ringstraßen-Alleen in Wien, Wien 1872, S. 12. 33 Vgl. Die Gemeinde-Verwaltung der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien in den Jahren 1871–1873. Bericht des Bürgermeisters Dr. Cajetan Felder, Wien 1874, S. 572. 34 Vgl. Meyers Reisebücher. Wien. Führer durch die Kaiserstadt und auf den besuchtesten Routen durch Österreich-Ungarn unter besonderer Berücksichtigung der Welt-Ausstellung, Hildburghausen 1873, S. 134. Vgl. auch Karl Weiss, Bruno Bucher: Wiener Baedeker. Wanderungen durch Wien und Umgebungen, Wien 1870, S. 20. 35 Vgl. Gemeinderatssitzungsprotokolle vom 1. April 1873, 31. Oktober 1873, 30. Jänner 1874. 36 Vgl. Wien’s sanitäre Verhältnisse und Einrichtungen, Wien 1881, S. 58. 37 Vgl. Raffael Hellbach: Bädeker in Wien. Ein schneller Führer für Fremde und Einheimische in Stadt und Umgebung, Wien 1873, S. 28. 38 Rodenberg, Sommertage, S. 159. 39 Helmut Ruck, Christian Fell: Gas. Energie für Wien im Wandel der Zeit, Bd. II, Wien 2009, S. 630. Vgl. auch Rudolf Schlauer: Im milden Schein des Gaslichts, Wien 1989. 40 Silberstein, Kaiserstadt, S. 60f. 41 Als Pionier der Schaufensterbeleuchtung gilt der Josefstädter Apotheker und Chemiker Josef Moser. Mit selbst erzeugtem Gas installierte er 1816 erstmals in Wien eine viel bestaunte Auslagenbeleuchtung in seiner Apotheke Zum Goldenen Löwen. 42 Vgl. Beleuchtung der Schaufenster, in: Neue Freie Presse, 17. September 1880, S. 5. Vgl. dazu auch Susanne Breuss: Window Shopping. Eine Fotogeschichte des Schaufensters, Wien 2010. 43 Vgl. Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840–1930, München 1991.

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