Programmheft »Faust«

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FAUST

Charles Gounod



INHALT

Die Handlung Synopsis in English Über dieses Programmbuch

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Fast ein halbes Leben  →  Bertrand de Billy 12 Wie Faust entstand  →  Ann-Christine Mecke 18

Das Schöne zu lieben ist nicht verwerflich →  Frank Castorf im Gespräch 24 Demo­kratie zu verkaufen  →  Kristin Ross 30 Faustische Etappen 33 Die vier Imperien Frankreichs  →  Jürgen Osterhammel 38 Der Kolonialismus ist ein System  → Jean-Paul Sartre 46 Das Paradies der Damen  → Émile Zola 54 Keine willenlos verführte Unschuld  →  Tina Hartmann 58 Wo bleibt denn da die Logik?  →  Hector Berlioz 67 Vielfalt der Besetzungsmöglichkeiten  →  Thomas Seedorf 78 Der Teufel isst auch gerne Schokolade  →  Andreas Láng 82 Verweigerung der Überein­stimmung  →  Ann-Christine Mecke 92


Zu mir die Vergnügungen, die jungen Geliebten! Zu mir ihre Zärtlichkeiten, zu mir ihr Begehren! Zu mir die Kraft mächtiger Triebe, und wildes Schwelgen für Herz und Sinne! A moi les plaisirs, Les jeunes maîtresses ! A moi leurs caresses, A moi leurs désirs ! A moi l’énergie Des instincts puissants Et la folle orgie Du cœur et des sens !


FAUST → Opéra in fünf Akten Musik Charles Gounod Text Jules Barbier & Michel Carré

Nach dem Drame fantastique Faust et Marguerite von Michel Carré, das auf Johann Wolfgang von Goethes Faust I beruht. Orchesterbesetzung 2 Flöten (2. auch Piccolo), 2 Oboen (2. auch Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Schlagzeug, 2 Harfen, Streicher Bühnenmusik Tamtam, Orgel

Spieldauer ca. 3 Stunden 15 Minuten inkl. einer Pause Autograph Bibliothèque nationale de France, Paris Uraufführung 19. März 1859, Théâtre-Lyrique, Paris Erstaufführung an der Wiener Hofoper 28. März 1870


Juan Diego Flórez als Faust und Adam Palka als Méphistophélès



DIE HANDLUNG 1. Teil Einsam, erschöpft und verbittert versucht der alte Faust, sich das Leben zu nehmen. Wütend über seine eigene Angst vor dem Tod ruft er den Teufel herbei. Méphistophélès erscheint und bietet ihm Reichtum und Ruhm, doch Faust möchte seine Jugend zurück, »den Schatz, der alles enthält«. Méphistophélès fordert im Gegenzug ewige Dienerschaft »dort unten«. Als Faust zögert, macht ihn Méphistophélès auf Marguerite aufmerksam. Fasziniert von ihr lässt sich Faust auf den Pakt ein und wird wieder zu einem jungen Mann. In einer Gruppe feiernder Soldaten betet Valentin für seine Schwester Marguerite und hofft, dass ihr Medaillon ihm Glück in der bevorstehenden Schlacht bringen möge. Als Wagner ein heiteres Lied anstimmt, drängt sich Méphistophélès in die Runde. Im Lied vom Goldenen Kalb besingt er die Macht des Geldes. Ungefragt sagt er Wagner dessen Tod in der Schlacht voraus. Auch Valentin und dem in Marguerite verliebten Siébel prophezeit er Unglück. Faust trifft auf Marguerite und spricht sie an. Dass sie ihn stehen lässt, steigert sein Interesse. Siébel pflückt Blumen für Marguerite und plant, ihr endlich seine Liebe zu gestehen. Méphistophélès führt Faust vor Marguerites Haus und geht wertvolle Geschenke für Marguerite besorgen. Faust kommen Skrupel, ob er seine Bemühungen weitertreiben soll, doch Méphistophélès hinterlegt die Präsente und versteckt sich mit Faust. Marguerite ist gegen ihren Willen von dem Mann beeindruckt, der sie angesprochen hat. Als sie die Geschenke findet, ist sie entzückt. Ihre Nachbarin Marthe bestärkt sie, den Schmuck anzunehmen. Faust und Méphistophélès verwickeln die Frauen in Gespräche. Während sich Marthe und Méphistophélès bald wieder trennen, kommen Faust und Marguerite einander näher. Fausts Liebesgeständnis beglückt Marguerite, sie lehnt aber seine Bitte ab, die Nacht bei ihr bleiben zu dürfen. Doch als Faust sich bereits entfernt, ruft sie ihn voller Liebe zurück.

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2. Teil Faust hat die schwangere Marguerite verlassen. Ausgegrenzt und verspottet sehnt sie sich nach ihm. Siébel tröstet Marguerite und will ihr fortan freundschaftlich zur Seite stehen. Die Soldaten kehren siegreich zurück; Wagner ist im Krieg gefallen. Auf Valentins Fragen nach Marguerite antwortet Siébel ausweichend. Faust möchte Marguerite wiedersehen und fürchtet zugleich die Wiederbegegnung. Méphistophélès provoziert Valentin mit einem Marguerite dargebrachten Ständchen, in dem er auf ihre Schwangerschaft anspielt. Valentin wirft empört das von Marguerite erhaltene Medaillon fort. Er fordert Faust zum Duell und wird erstochen. Vor den herbeigeeilten Bürgern verflucht der sterbende Valentin seine Schwester selbst für den Fall, dass Gott ihr vergeben werde. Marguerite bittet Gott um Vergebung, erhält aber nur Antwort von Méphistophélès, der ihre Schuldgefühle bestärkt. Ein Kirchenchor singt vom Tag des Jüngsten Gerichts. Faust und Méphistophélès sind in der Walpurgisnacht unter Irrlichtern und Hexen unterwegs. Während Méphistophélès sich sichtlich wohl fühlt, kann Faust sich auch mit einem Trinklied nicht von der Sehnsucht nach Marguerite ablenken. Faust lässt sich von Méphistophélès zu Marguerite, die das gemeinsame Kind getötet hat, in den Kerker führen. Sie erinnern sich an den Beginn ihrer Beziehung. Beide versichern einander ihre Liebe, doch Marguerite lehnt es ab, Faust zu folgen. Stimmen aus der Höhe erinnern an die Auferstehung Christi.

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SYNOPSIS Part 1 Lonely, exhausted, and bitter, old Faust tries to take his own life. Angry at his own fear of death, he calls out the devil. Méphistophélès appears and offers him wealth and fame, but Faust wants his youth back, »the treasure that contains everything«. In return, Méphistophélès demands eternal servitude »down there«. When Faust hesitates, Méphistophélès draws his attention to Marguerite. Fascinated by her, Faust accepts the pact and becomes a young man again. In a group of celebrating soldiers, Valentin prays for his sister Marguerite and hopes that her medallion will bring him luck in the upcoming battle. When Wagner starts a cheerful song, Méphistophélès forces his way into the group. In the song of the golden calf he sings about the power of money. Without even being asked, he predicts Wagner's death in battle. He also prophesizes misfortune for Valentin and Siébel, who is in love with Marguerite. Faust meets Marguerite and speaks to her. Although she walks off and leaves him standing alone, his interest only increases. Siébel picks flowers for Marguerite and plans to finally confess his love for her. Méphistophélès leads Faust to Marguerite’s house and goes to find valuable presents for Marguerite. Faust has scruples as to whether he should continue his efforts, but Méphistophélès leaves the presents at her door and hides with Faust. Against her will, Marguerite is impressed by the man who spoke to her. When she finds the presents, she is delighted. Her neighbor Marthe encourages her to accept the jewelry. Faust and Méphistophélès engage the women in conversation. While Marthe and Méphistophélès soon separate again, Faust and Marguerite grow closer. Faust’s confession of love makes Marguerite happy, but she refuses his request to be allowed to stay the night with her. But while Faust is already moving away, she calls him back full of love.

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Part 2 Faust has left the now pregnant Marguerite. Ostracized and mocked, she longs for him. Siébel comforts Marguerite and wants to be by her side from now on as a friend. The soldiers return victorious; Wagner has died in the war. Siébel responds evasively to Valentin’s questions about Marguerite. Faust wants to see Marguerite again but at the same time fears meeting her. Méphistophélès provokes Valentin with a serenade performed for Marguerite, in which he alludes to her pregnancy. An outraged Valentin throws away the medallion that he had received from Marguerite. He challenges Faust to a duel and is stabbed to death. In front of all the townsfolk rushing over, the dying Valentin curses his sister, even in the event that God should forgive her. Marguerite asks God for forgiveness, but only receives an answer from Méphistophélès, who reinforces her feelings of guilt. A church choir sings about Judgment Day. During Walpurgis Night, Faust and Méphistophélès are out among the will-o’-the-wisps, ghosts and witches. While Méphistophélès is visibly at ease, Faust cannot distract himself from his longing for Marguerite, even with a drinking song. Faust lets Méphistophélès lead him to Marguerite, who has killed their child, into the dungeon jail. They remember the beginning of their relationship. Both assure each other of their love, but Marguerite refuses to follow Faust. Voices from on high recall the resurrection of Christ.

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Paris ist ein Synonym für den Kosmos. Paris ist Athen, Rom, Sybaris, Jerusalem und Pantin. Alle Zivilisationen sind dort im Kleinen zu sehen, alle Barbareien auch. Paris wäre sehr wütend, wenn es keine Guillotine gäbe. Eine kleine Hinrichtungsstätte ist gut. Was wäre das ewige Feiern ohne diese Würze? Unsere Gesetze haben ­klugerweise dafür gesorgt, und so tropft das Blut des Fallbeils auf den Faschingsumzug. → Victor Hugo, Les Misérables


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

Frank Castorf lässt Gounods Faust-Oper dort spielen, wo sie entstand: in Paris, in der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« also, wie Walter Benjamin sie genannt hat. In der Inszenierung begegnen sich das Paris des Uraufführungsjahrs 1859 und das Paris der Zeit um 1960, als hier Konflikte eskalierten, die in der hochkapitalistischen und kolonialistischen Zeit Gounods ihren Ausgangspunkt hatten. Bei der Einordnung der historischen Hintergründe helfen die Zeittafel Faustische Etappen (S. 33), Jürgen Osterhammels Geschichte der vier Imperien Frankreichs (S. 38) sowie Jean-Paul Sartres historische Rede Der Kolonialismus ist ein System (S. 48). Einen scharfsinnigen Einblick in die Frühzeit des Warenhauskonsums bietet ein Ausschnitt aus Émile Zolas Roman Das Paradies der Damen aus dem Jahr 1884 (S. 54) Im Zentrum dieses Programmbuchs steht natürlich Gounods Oper: Der Dirigent Bertrand de Billy weist auf kompositorische Besonderheiten hin (ab S. 12), Ann-Christine Mecke beleuchtet die komplexe Entstehungsgeschichte (S. 18) und die Literaturwissenschaftlerin Tina Hartmann zeigt Unterschiede der Margareten-Figuren von Goethe und Gounod (S. 58). Stationen der Rezeption dieser Oper illustrieren die Uraufführungskritik von Hector Berlioz (S. 67), die Wiener Inszenierungsgeschichte von Andreas Láng (S. 82) sowie Thomas Seedorfs Analyse der sängerischen Anforderungen und Traditionen (S. 78). Gedanken zum Stoff, zur Entstehungszeit und zu seiner Inszenierung äußert Regisseur Frank Castorf ab S. 24. Die lange Entstehungszeit der Oper umfasst das Wirken zweier bedeutender französischer Lyriker ihrer jeweiligen Generation: Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud. Beide Dichter werden in der Aufführung zitiert, die vorgetragenen Gedichte finden Sie auf den Seiten 29, 37, 43 und 64. Ein in der Vorbereitung des Regisseurs wichtiger Text über zwei Gedichte von Arthur Rimbaud stammt von der Romanistin Kristin Ross (S. 30). Ann-Christine Mecke rekapituliert in ihrem Essay (ab S. 92) das bisherige Wirken Frank Castorfs im Musiktheater. 9

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Juan Diego Flórez als Faust und Nicole Car als Marguerite


Und ach, wie süß ist es, »à flaner«. Klingt nicht schon das Wort wie ein ­Zauberwort? Eigentlich sollten die Feen nur flanieren. »Flaner« bedeutet auf der Oberfläche dahin streifen. Die Flaneurs sind also höhere Wesen; sie berühren die staubige Erde nicht. »Flaner« gehört zu den flammenden, fließenden, flackernden, flüchtigen ­Worten, zu den englischen »flirts« und »Flibbertigibbets«. Es hat auch mit »fleur« zu tun, die Blumen sind ­Flaneurs, sie schweben durch ihren Stängel über der Erde. Das hübsche ­bezeichnende »effleurer« können wir auf Deutsch nicht wiedergeben, es heißt anstreifen, das ist: das Schönste, die Blüte nur mitnehmen. Dies tut der ­Flaneur, das Unangenehme lässt er ­liegen. → Ida Kohl, Paris und die Franzosen


Bertrand de Billy

FAST EIN HALBES LEBEN Kein namhafter deutscher Komponist des 19. Jahrhunderts hat es gewagt, Faust zu vertonen. Louis Spohr näherte sich diesem Mythos, aber ohne auf Goethe Bezug zu nehmen – aber den Faust ohne die philosophische Grundierung Goethes zu komponieren und nur als Liebesgeschichte herauszulösen: undenkbar! Das konnte nur jemand aus dem Ausland machen, und auch der nicht ungestraft, denn wenn wir die deutschsprachigen Rezensionen lesen, warf man Gounod bis weit ins 20. Jahrhundert vor, sich an dem »deutschen Meister« vergriffen zu haben. Gounod aber konnte nicht anders: Faust, das war sein Herzensprojekt, ein Traum. Schon als junger Träger des renommierten Prix de Rome saß er seinem eigenen Bericht zufolge auf Capri, blickte aufs Meer und erträumte sich die ersten Szenen der Oper. Das war 1840 – die Kompositionsgeschichte von Faust sollte dann – alles in allem – bis 1869 dauern. Fast ein halbes Leben. Als Dirigent steht man immer vor der Frage nach der »richtigen« Fassung. Das ist bei Faust – trotz allem – gar nicht so schwierig zu entscheiden wie bei anderen Werken. Die erste Version kam 1859 mit gesprochenen Dialogen heraus (das war am Uraufführungshaus, dem Théâtre Lyrique, so üblich). Es folgten Überarbeitungen, Einfügungen und Ergänzungen: Statt den Dialogen schrieb Gounod neue Rezitative (die ich in diesem Werk geBERT R A N D DE BILLY

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genüber den gesprochenen Texten bevorzuge, zumal sie vom Komponisten selbst stammen), Valentins Kavatine entstand für eine Londoner Aufführung und wurde fortan fester Bestandteil der Oper, was die Rolle enorm aufwertet; für die Pariser Opéra fügte der Komponist das damals dort verpflichtende Ballett in die Walpurgisnacht ein – für sich genommen ein brillantes Stück, das aber, wie die meisten in Opern nachträglich eingefügten Ballette, die Handlung zu einem späten Zeitpunkt des Stückverlaufs unnötig verzögert und heute kaum mehr gespielt wird. Gounod machte das alles mit, teilweise gegen seine ursprünglichen Intentionen. War er deswegen ein Opportunist? Vielleicht. Ist das schlimm? Nein. Er wollte aufgeführt werden, wie alle Komponisten es wollen, gerade mit seinem Wunschprojekt Faust. Daher akzeptierte er das weit von Goethe entfernt liegende und mitunter oberflächliche Libretto ebenso wie Eingriffe von Intendanten und Sängern. Dennoch: Es wurde ein Meisterwerk! Man findet keinen falschen oder unnötigen Takt in dieser Oper. Wie gerne würde ich Gounod aber trotzdem fragen, warum er sich dieses Libretto angetan hat? Ob ihm da nicht doch textliche Inhaltstiefe gefehlt hat? Vielleicht würde er antworten: »Was für eine Frage! Natürlich – aber das Drama finden Sie doch in der Musik ...!« Und so ist es ja auch: All das Dramatische und Tiefsinnige des Sujets liegt hier nicht im Text, sondern in der Komposition; Gounod beweist sich in Faust als ein Komponist, der die Seele von Goethes Opus Magnum nicht nur gekannt, sondern auch verstanden hat, und er schöpft, als Meister der Farb- und Stilmischung, seine Kraft aus – scheinbarer – stilistischer Widersprüchlichkeit. Nehmen wir nur als Beispiel den Gegensatz zwischen der Kirmes-Szene, bei der man denkt, dass Maurice Chevalier gleich aus der Gasse kommt, und der direkt folgenden Valentin-Arie: was für ein starker, belebender dramatischer Gegensatz! Denken wir an die großen Chöre, die uns in manchen Momenten an die typische Grand opéra erinnern und die einen ungemeinen Farbenreichtum anbieten, und dann wieder die kleinen Chor-Ensembles oder den schlichten, ergreifenden a-cappella-Gesang des Chores nach dem Tod Valentins. Dann wieder hören wir einen leichten Walzerrhythmus, mit dem Marguerite die Juwelen besingt, eine Arie, deren Wirkung auch dadurch verstärkt wird, dass sie unmittelbar zuvor das schlichte, historisch klingende, ihr offenbar zur routinierten Gewohnheit gewordene »Es war ein König in Thule«-Lied intoniert. Und schließlich die erlesene, schmerzliche Schönheit der Spinnrad-Musik, die von der Sängerin der Marguerite (die im 2. Akt noch ihre Koloraturbrillanz unter Beweis stellen muss) höchste Lied-Qualitäten abverlangt. Hier entdecken wir den genialen Dramaturgen Gounod: Es ist nämlich genau das in den Violinen in 32tel-Figuren schnurrende Spinnrad, das wir im ersten Akt bei Fausts Marguerite-Vision hören, dort allerdings mit einem Horn (das Méphistophélès-Instrument!) und der Harfe (als musikalisches Zeichen des verklärten Marguerite-Bildes) kombiniert: Im Rück 13

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blick verstehen wir dann auch, dass schon damals in der Vision, trotz des hellen E-Dur der Violinen, das tragische Ende mitschwang und die Geschichte gar nicht gut ausgehen kann. Eine besondere Herausforderung ist übrigens das Finale: Wenn sich Marguerites Partie höher und höher schraubt, wenn sie am Ende des Abends mit dramatischer Durchschlagskraft besticht, merkt man, wie sich diese Figur musikalisch – von der »alten Musik« des Thule-Liedes über die perlende Juwelenarie bis zum dramatischen, fast »wagnerisch« gesteigerten Finale – entwickelt. Das macht die Marguerite zu einer so außerordentlich herausfordernden Partie für jede Sängerin. Immer wieder erlebt man in Opern (wie zum Beispiel in La traviata), dass der Beginn musikalisch das Ende vorwegnimmt. Bei Faust ist es genau umgekehrt. In der Kerkerszene intoniert Marguerite eine Reminiszenz ihres ersten Treffens mit Faust, wobei sie nun beide Partien übernimmt. An dieser Stelle dünnt der Orchesterton immer stärker aus, das Klanggewebe wird filigran; und so wie Faust am Anfang alt war und dann jung wird, so erscheint mir Marguerite, die jung ist, an dieser Stelle plötzlich radikal gealtert, zerbrechlich, fast schon verklärt. Ein schönes Beispiel für die Überkreuzung von zwei Zuständen, hier Groteske und Lyrik, ist die Gartenszene, genau in der Mitte der Oper, mit den Paaren Marguerite und Faust sowie Marthe und Méphistophélès. Die beiden Paare singen textlich Unterschiedliches, aber die Musik in den Quartettpassagen vereint sie. Doch die schöne musikalische Harmonie währt nicht lange, da Marthe immer wieder stört. Gounod benützt diese Szene, um via Marthe eine besondere Farbe des Méphistophélès zu zeigen: eben die Groteske. Méphistophélès ist im Libretto kein dämonischer Nihilist, kein philosophischer Verführer, er hat keine Klasse, ist kein Arsène Lupin, sondern vielmehr: ein Taschenspieler, ein Teufel zweiter Kategorie – was übrigens in dieser Inszenierung sehr gut herausgearbeitet wird. Doch gemessen am Umfang und an der Herausforderung seiner Partie müsste die Oper eigentlich nach ihm benannt sein: Er ist dauernd auf der Bühne und hat die Gelegenheit, sehr unterschiedliche Facetten zu zeigen. Im 1. Akt beginnt er mit einem fast leichtfüßigen Duett mit Faust, dann – geradezu bombastisch und für den Sänger äußerst attraktiv – im 2. Akt das Rondo vom goldenen Kalb (diese Nummer erinnert wiederum mehr an die Grand opéra) und im dritten Akt besingt er traumhaft schön – aber zynisch! – die Nacht: Er darf lange, berückende Linien gestalten, eine Herausforderung, die nur jemand umsetzen kann, der auch den Liedgesang souverän beherrscht. In der Kirchenszene im 4. Akt erleben wir Bach’sche Musik im romantischen Gewand – auch hier treffen Schönheit und Zynismus aufeinander. Seine Serenade erinnert ein wenig an Don Giovanni – da kann der Sänger wieder brillieren, bevor er im 5. Akt in der Kerkerszene noch einmal eine dramatische Charakterstudie abliefern darf. Dass Méphistophélès nicht nur in der BERT R A N D DE BILLY

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Kirche auftreten darf, sondern Marguerite auch noch ihr Kind tötet, waren jene Handlungsaspekte, die eine Aufführung an der Pariser Opéra sicherlich nicht erleichtert haben! Bei der Charakterisierung der Hauptfiguren folgt Gounod einer eigenen Instrumentations-Dramaturgie: So wie das Horn Méphistophélès als »sein« Instrument beigestellt wird, gehört das Cello zu Siébel – die Arie wirkt fast wie ein Schubert-Lied. Faust wiederum wird bei seiner berühmten Kavatine im 3. Akt (»Salut! Demeure chaste et pure«) von der Solo-Violine begleitet, an anderer Stelle spielt die solistische Klarinette eine wesentliche Rolle: Diese konzertierenden Instrumente des Orchesters verleihen dem Werk immer wieder eine sehr reizvolle kammermusikalische Note. Als weiteres Stilelement in dieser Oper muss noch die Orgel genannt werden: Zu hören ist sie in der Kirchenszene und schließlich in der finalen Apotheose. Beide Szenen enden in C-Dur und diese Tonart, die aufgrund ihrer Vorzeichenlosigkeit gerne für das »Reine« oder auch das »Siegreiche« verwendet wird, zeigt sich hier mit zwei Gesichtern: in der Kirchenszene, nach dem Aufschrei Marguerites unglaublich schmerzhaft und dann am Ende der Oper befreiend und erlösend. Eine Tonart – zwei Ausdrucksformen. Eine oft diskutierte Frage ist, ob und in welchem Maße Faust am Beginn der Oper alt klingen soll – schließlich ist er ja im Stück ein Greis. Im Laufe der Arbeit sind wir draufgekommen, dass es weniger eine Frage der stimmlichen Farbe ist, sondern dass es besonders um den Ausdruck des Textes geht, unter anderem auch um eine besondere Betonung der Konsonanten. Faust verflucht anfangs alles: die Jugend, das Glück, die Hoffnung, immer und immer wieder verwendet er das Wort »maudit« (»verflucht«). Aus der verknöcherten Verbitterung des Fluches heraus muss sein Alter spürbar werden, nicht durch eine künstlich verstellte Stimme. Nach der Verjüngung ist er ein typischer französischer, lyrischer Tenor: Er hat eine Paradearie, in der er ein hohes C zeigen kann, im Verlauf der Oper muss aber auch er mehr und mehr dramatisches Potenzial entwickeln. Das finale Terzett, über das wir schon sprachen, ist auch für ihn eine enorme Herausforderung, und wie Marguerite ist Faust ein Charakter, der im Laufe des Abends eine erstaunliche musikalische Wandlung durchmacht und diese glaubhaft darstellen und singen muss. Dass die Oper letztlich Faust und nicht Méphistophélès oder Marguerite heißt, hat mit dem Mythos zu tun – Faust ist eben Faust! Im deutschen Sprachraum war die Sache ganz anders: Da lief die Oper bis weit ins 20. Jahrhundert hinein meist unter dem Titel Margarethe – um dem Goethe’schen Meisterwerk nicht in die Quere zu kommen. Warum wurde der Faust, trotz aller erwähnten Einschränkungen, in so kurzer Zeit so enorm erfolgreich in allen Opernhäusern der Welt? Einfach weil die Musik fantastisch ist! Man verlässt den Abend mit einem Dutzend 15

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Ohrwürmern. Gounod konnte alles bedienen. Schon die Kirmes-Szene am Beginn des zweiten Aktes zeigt, wie raffiniert er Verschiedenartiges zusammenfügen kann: Matronen, Studenten, Bürger, Soldaten, Junge und Alte, jeder im Publikum konnte sich wiederentdecken. Dazu später die Kirche, ein bisschen Teufelsspuk, Walpurgisnacht, martialische und romantische Szenen – das alles verbunden mit dem Namen eines anspruchsvollen Stoffs, der wiederum den Bildungsbürger locken sollte: nichts fehlt! Gounod selbst war, wie viele französische Komponisten seiner Zeit, vom Tiefsinn und der Abgründigkeit und Dunkelheit des Stoffes angezogen, eine Düsternis, die er als typisch »deutsch« empfand. Nicht viel anders erging es seinem Kollegen, Jules Massenet, der später mit dem Werther einem ebenso »dunklen« GoetheStoff musikalische Unsterblichkeit verleihen sollte. Gounod war wie ein guter Filmregisseur, der weiß, dass wenn man sich zu sklavisch an eine literarische Vorlage hält, zumeist kein guter Film daraus wird. Er verstand, was er der Opernbühne seiner Zeit schuldig war, um ein erfolgreiches Werk aus dem Stoff zu machen, der ihm so nahe war. Dass er mehr von der literarischen Vorlage verstand als viele seiner Zeitgenossen – auch und besonders im deutschsprachigen Raum – wahrhaben wollten, und wie viel er von den Tiefen und Abgründen von Goethes Meisterwerk wusste, kann man trotzdem in vielen Momenten der Musik heraushören.

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Martin Häßler als Wagner und Adam Palka als Méhistophélès, dahinter Kameramann Daniel Keller.


Ann-Christine Mecke

WIE FAUST ENTSTAND Wer Goethes Faust kennt und erstmals das Libretto von Gounods gleichnamiger Oper liest, dürfte irritiert sein: Faust will nicht »Mit seinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen«, sondern wünscht sich einfach nur die Jugend zurück. Einige Elemente der Handlung sind bis zur Unverständlichkeit verkürzt: Hat Marguerite wirklich ein Kind geboren und umgebracht? Wann haben sich Schwangerschaft und Geburt ereignet? Warum hat Faust Marguerite verlassen? Auch die gewitzt-philosophischen Gespräche zwischen Faust und Mephisto aus der Goethe’schen Vorlage sind verschwunden, stattdessen gibt es Gimmicks wie Blumen, die bei Berührung verwelken und Schwertgriffe als Kreuzsymbol, das den Teufel in die Flucht schlägt. So eindrucksvoll die einzelnen Szenen der Oper sind, so mitreißend und anrührend die Melodien, so gelungen ihre Instrumentation – ihre Montage mutet oft seltsam an: Das bedeutungsvolle Thema der Ouvertüre entpuppt sich als Melodie der Arie einer Nebenfigur, nur dass sich diese Arie kaum als »Motto« der Oper interpretieren lässt, wie es durch ihr Auftauchen in der Ouvertüre nahegelegt wird. Die Melodie, zu der sich Faust und Marguerite in die Arme sinken, erscheint in der Apotheose Marguerites erneut, und mitten im Stück verherrlicht ein donnernder Soldatenchor das Sterben fürs Vaterland. Fast scheint es, als hätte man es mit einem Pasticcio zu tun, also einer Oper, die aus verschiedenen Werken zusammengestellt wurde. Und so ähnlich verhält es sich auch: Die Entstehung dieser Oper zog sich über so lange Zeit hin, so viele Personen brachten ihre Einzelinteressen ein, dass man kaum von einem geschlossenen Werk sprechen kann. A N N- CHR IST IN E MECK E

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Faust auf dem Pariser Boulevard Goethes Faust war in den 1850er-Jahren in Paris ein ausgesprochen beliebter Stoff. 1827 war die französische Übersetzung von Gérard de Nerval erschienen und begeistert aufgenommen worden; 1829 hatte Hector Berlioz auf Basis dieser Übersetzung seine Schauspielmusik Huit scènes de Faust komponiert, aus der 1846 die »Légende-dramatique« La Damnation de Faust (Fausts Verdammnis) wurde. In den Boulevard-Theatern von Paris gab es diverse Versionen des Stoffes zu sehen, die allerdings stärker dem Publikumsgeschmack als Goethes Text verpflichtet waren. Das »Phantastische Drama« Faust von Adolphe d’Ennery etwa überrascht mit einer zusätzlichen weiblichen Teufelsgestalt namens Sulphurine, die Fausts Assistent Wagner mit alchemistischen Mitteln erschafft. Sulphurine sorgt zusammen mit dem anmaßenden Wagner und dessen strohdummem Begleiter Fridolin für einige unterhaltsame Szenen. Auch Méphistophélès setzt seine magischen Fähigkeiten sehr bühnenwirksam ein: Beispielsweise bringt er Faust, nachdem dieser Marguerite verlassen hat, ins sonnige Neapel. In der italienischen Wärme bilanziert Faust: »Marguerite, ein sanftes, ruhiges Kind, dessen Seele so kalt ist wie unser kaltes Deutschland.« Als ihn dennoch Schuldgefühle quälen, zaubert Méphistophélès ihn in die Vergangenheit, wo die beiden den VesuvAusbruch erleben, der die Stadt Herculaneum zerstörte. Kurz: Adolphe d’Ennery hat sich vor allem den Rat von Goethes Theaterdirektor zu Herzen genommen: »Drum schonet mir an diesem Tag Prospekte nicht und nicht Maschinen« Gegenüber dieser Version ist Michel Carrés Phantastisches Drama Faust et Marguerite, das 1850 uraufgeführt wurde und später zur Vorlage von Gounods Oper wurde, vergleichsweise unaufwändig. Aber auch Carré spart nicht mit Slapstick-Szenen und Humor, insbesondere in den vergeblichen Kämpfen Siébels gegen Méphistophélès. Siébel ist eine Erfindung Carrés. Eine Figur dieses Namens gibt es zwar schon in Goethes Faust I. Dort handelt es sich jedoch nur um einen Studenten, der in Auerbachs Keller mit Mephisto aneinandergerät und danach nicht wieder auftaucht. Bei Carré ist Siébel ein Student Fausts, der zum Konkurrenten um Marguerite wird. Auch die Rolle des Valentin wird in Carrés Theaterstück deutlich vergrößert. Dafür verzichtet Carré völlig auf das Motiv der Kindstötung; Marguerite wird allein wegen ihrer Affäre mit Faust von ihrem sterbenden Bruder verflucht, anschließend findet die Handlung schnell zur Auflösung und Apotheose Marguerites, während Faust und Méphistophélès zur Hölle fahren.

Lange geplant Gounod geriet früh in den Bann des Faust-Stoffes. Während seines RomAufenthalts um 1840 las er begeistert in Nervals Übersetzung. Etwa zur glei 19

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chen Zeit entstand das Klavierstück A la lune, das bereits eine Melodie aus dem Duett von Faust und Marguerite enthält. Ein Jahr später berichtet der Komponist seinem Bruder, dass er einzelne »Effekte« für Faust komponiert habe und hoffe, daraus eine Oper machen zu können. 1848 und 49 entstanden musikalische Skizzen für die Walpurgisnacht und die Kirchenszene – alles noch ohne Librettisten oder Uraufführungsgelegenheit. Konkreter wurden die Pläne erst weitere sieben Jahre später, als Gounod mit Michel Carré, Jules Barbier und dem mit ihnen verbundenen Léon Carvalho zusammentraf. Carvalho war Direktor des Théâtre-Lyrique geworden, einer Nachwuchsschmiede der Pariser Opernszene von bis dahin eher zweifelhaftem Ruf. Barbier sollte auf Basis des Theaterstücks von Carré ein Opernlibretto für Gounod entwerfen, das Carvalho dann auf die Bühne bringen würde. Als sich allerdings herausstellte, dass ein Konkurrenztheater ebenfalls ein Faust-Stück plante (es war das »Phantastische Drama« von Adolphe d’Ennery), drängte Carvalho auf einen anderen Stoff, und die Arbeit am Faust wurde unterbrochen. Erst als sich erwiesen hatte, dass d’Ennerys Faust trotz der eindrucksvollen Bühneneffekte wenig erfolgreich war, konnten die Autoren ihre Arbeit fortsetzen. Bei der Umarbeitung zum Opernlibretto näherte Jacques Barbier die Geschichte wieder Goethe an: Er ergänze Walpurgisnacht und Gefängnisszene und nutzte für viele Passagen nahezu wörtliche Übersetzungen des GoetheTextes. Auch die Kindstötung fand seinen Weg zurück ins Libretto. Gleichwohl blieben Elemente des Boulevardstücks erhalten: der Teufel als böser Magier, der nicht philosophiert, sondern mit pragmatischen Tricks beim Frauen-­ Erobern und Fechten hilft, komische Szenen zwischen Siébel, Marthe und Méphistophélès sowie manche Effekte aus der Theater-Trickkiste wie die verwelkenden Blumen. Die so konzipierte Faust-Oper war eine Opéra comique, d.h. die musikalischen Nummern waren durch Dialoge und Melodrame miteinander verbunden. Wichtige Teile der Handlung wurden in den Dialogen vermittelt, und insbesondere die Figuren Marthe, Siébel und Wagner werden dort wesentlich charakterisiert.

Die Probenphase Bei den ersten Durchlaufproben stellte sich heraus, dass das Stück erheblich zu lang war, und so gab es zahlreiche Kürzungen. Gounod riss die betreffenden Nummern aus den Noten, die meisten Manuskriptseiten verschwanden und wurden erst lange nach Gounods Tod wiederentdeckt. Einiges davon ist bis heute verschollen und muss als dauerhaft verloren oder nie komponiert gelten, anderes ist inzwischen wieder zugänglich. Zu den noch vor der Premiere gestrichenen Nummern gehören A N N- CHR IST IN E MECK E

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• ein Terzett zwischen Siébel, Faust und Wagner aus dem 1. Akt • ein Abschiedsduett zwischen Marguerite und Valentin aus dem 2. Akt • ein zweiter, Cabaletta-artiger Teil von Fausts Arie im 3. Akt • Couplets (ein Strophenlied) von Marguerites Freundin Lise und ein Chor junger Mädchen aus dem 4. Akt • Couplets »Versez vos chagrins« von Siébel aus dem 4. Akt • Couplets des zurückkehrenden Valentin aus dem 4. Akt • erhebliche Teile der Walpurgisnacht aus dem 5. Akt • eine mehrteilige Wahnsinns-Szene der eingekerkerten Marguerite im 5. Akt Méphistophélès’ Spottlied im 2. Akt bereitete Gounod offenbar erhebliche Anstrengung: Singt der Teufel in Goethes Faust ein Lied über den Floh, war für die Oper zunächst ein Lied über einen goldglänzenden Mistkäfer geplant, das kurz vor der Uraufführung durch das Rondo vom Goldenen Kalb ersetzt wurde. Zuvor soll es vier weitere Versionen gegeben haben, die vom Theaterdirektor abgelehnt wurden. Auch ein ganz neues Element kam während der Proben hinzu: Der Soldatenchor. Er ersetzte ein Lied Valentins, in dem dieser berichtet, wie er in den Strapazen des Krieges stets von seiner Schwester geschwärmt habe. Der Chor stammt aus einer anderen, unaufgeführten Oper Gounods: Ivan le terrible. Auch wenn die weitgehenden Änderungen der Oper grundsätzlich gutgetan haben – die erste Version soll nahezu fünf Stunden gedauert haben! –, haben sie gleichwohl zahlreiche Brüche und Inkonsistenzen erzeugt. So ist die besondere Beziehung, die Valentin mit seiner Schwester verbindet, ohne Duett und Couplets nahezu entfallen, Siébel und Wagner stolpern ohne das Terzett uneingeführt in die Handlung und die Walpurgisnachtszene wirkt fragmentarisch. Auch musikalische Verweise bleiben aufgrund von Streichungen in der Luft hängen, beispielsweise zitieren die Flöten das – nun nicht mehr vorhandene – Abschiedsduett der Geschwister, als Marguerite nach dem Lied vom König in Thule an Valentin denkt. Gounod hatte jedoch in der Probenphase nur noch begrenzten Einfluss und war den Launen und Ideen des Theaterdirektors Carvalho ausgeliefert, der den Komponisten nach Augenzeugenberichten mehrfach zum Weinen brachte. Zudem musste in den Schlussproben noch der Tenor ausgetauscht werden. Was schließlich am 19. März 1859 zur Uraufführung kam, stand stilistisch bereits zwischen Opéra comique und Grand opéra: Längere Dialogpassagen gab es nur in den mittleren drei Akten, der erste und der fünfte waren nahezu durchkomponiert und von den eher unterhaltsamen Nebenfiguren befreit.

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Veränderungen nach der Uraufführung Mit der Uraufführung gelangte die Genese der Oper keineswegs zu ihrem Abschluss. Erste Änderungen am Théâtre-Lyrique gab es 1861, als Faust wiederaufgenommen wurde. Da eine Aufführung mit gesprochenen Dialogen außerhalb Frankreichs kaum denkbar war, begann Gounod schon bald nach der Premiere mit der Komposition von Rezitativen, die die Dialoge und Melodrame ersetzen sollten. 1860 kamen sie in Straßburg erstmals zur Aufführung und verdrängten die Comique-Fassung bald ganz. Ohne die Dialoge jedoch werden vor allem Siébel, Marthe und Wagner erheblicher Charakteranteile beraubt. Da vor allem unterhaltsame Szenen entfielen, wirken die übriggebliebenen nun erst recht wie Fremdkörper. Am härtesten haben die Veränderungen Wagner getroffen: In der ursprünglich geplanten Fassung ist er ein praktisch veranlagter, lebensfroher Medizinstudent, ein loyaler Freund Valentins und Siébels, der sein Studium zugunsten den körperlichen Herausforderungen des Krieges an den Nagel hängt. Im vierten Akt kann der heimkehrende Valentin dem erschütterten Siébel nur noch berichten, dass ihr gemeinsamer Freund in einem »mörderischen Krieg« gefallen ist. In der heute üblicherweise gespielten Fassung erscheint Wagner hingegen erst im zweiten Akt als trinklustiger Soldat, dessen Name nicht weiter erwähnt wird. Er gerät in Konflikt mit Méphistophélès und verschwindet dann sang- und klanglos aus der Handlung, während die heimkehrenden Soldaten vom Krieg schwärmen. Die – ohnehin nur ausschnittweise erzählte – Geschichte des gemeinsamen Kindes von Faust und Marguerite wird in der Rezitativfassung weitgehend unverständlich. In der Dialogfassung erfährt man von Marguerite zu Beginn des 4. Aktes, dass das Kind bereits geboren wurde und Faust sie nach dessen Geburt verlassen hat. Später neckt Méphistophélès Faust damit, dass er wohl vor den »Vaterfreuden« geflohen sei. Ohne die Dialoge bleibt vom Kind nichts als eine einzige Bemerkung Fausts in der Kerkerszene übrig: »Ihr armes Kind, oh Gott, sie hat es getötet.« Die Regie ist mit der Frage alleingelassen, ob Valentin seine Schwester schwanger oder an einer Wiege vorfindet. Während die Probenphase und die ersten Aufführungen zu Kürzungen geführt hatten, erfuhr die Oper bei ihrem Siegeszug durch Europa Erweiterungen. Und während ihre Gestalt bisher vor allem von einem Theaterdirektor geformt worden war, wirkten sich nun Sängerwünsche und Publikumsgeschmack auf diese aus: 1863 schrieb Gounod für eine italienischsprachige Aufführung neue Couplets für Siébel – sie waren ein später Ersatz für die in der Uraufführung gestrichenen Couplets und wurden später ins Französische übersetzt. Ein Jahr später fand in London eine englischsprachige Aufführung statt, und diesmal bat der Sänger des Valentin um eine zusätzliche Arie. Gounod entwickelte sie kurzerhand aus dem Hauptthema der Ouvertüre. Der Komponist betrachtete sie als eine Gelegenheitskomposition und wollte A N N- CHR IST IN E MECK E

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sie außerhalb von England nicht aufgeführt wissen. Erneut aber hatte er kein Entscheidungsrecht mehr über das Werk: Weder Sänger noch Publikum wollten auf die schöne Melodie verzichten, und so geriet sie in französischer Übersetzung in die Partitur und gehört heute unstrittig zum Werk dazu. Die letzten Ergänzungen gab es zehn Jahre nach der Uraufführung: Für die Erstaufführung an der Pariser Opéra 1869 musste Gounod konventionsgemäß ein Ballett nachkomponieren. Er reicherte dafür die sehr knapp gefasste Walpurgisnacht-Szene durch ein siebenteiliges Tanz-Intermezzo an, außerdem entstanden für den Sänger des Méphistophélès weitere Couplets, in denen er sich als Gastgeber der Veranstaltung präsentiert. Beide Elemente geben der Walpurgisnacht mehr Gewicht, verstärken aber zugleich ihren disparaten Charakter. Eine wechselvolle Geschichte hat die Kirchenszene, die mitten im Akt einen erheblichen Umbau erfordert. Die Szene lag ursprünglich zwischen der Rückkehr der Soldaten und dem Tod Valentins. Dies machte es notwendig, dass Marguerite das Spinnrad nicht in ihrem Zimmer, sondern im Garten vor ihrem Haus aufgebaut hat – denn auf die klassische Szene »Gretchen am Spinnrad« wollte man natürlich nicht verzichten. Aus bühnenpraktischen Gründen wurde die Kirchenszene aber bereits in der Uraufführung auf das Ende des 4. Akts verschoben (wo sie auch in Goethes Faust positioniert ist). In späteren Aufführungen wanderte die Kirchenszene manchmal auch vor die Rückkehr Valentins, je nach den Möglichkeiten und Grenzen von Bühnenbild und Bühnentechnik.

Und nun? Wie soll man umgehen mit einer Überlieferungssituation, die erheblich von Entscheidungen geprägt ist, die nicht vom Komponisten getroffen wurden und oft sogar gegen seinen Willen? Mit einer Oper, deren »Urfassung« nicht vollständig zu rekonstruieren ist? Und ist der (vermutete) Wille des Komponisten überhaupt noch das Entscheidende, wenn die Rezeptionsgeschichte sich längst ein überaus erfolgreiches Werk »zurechtgeschliffen« hat? Dass dabei immer die wirksamste und nie die konsistenteste Lösung gewann, erscheint dabei nur passend für eine Oper, in der der sinnliche Genuss des Augenblicks im Zentrum steht. Gounods Faust ist eher ein Baukasten als ein geschlossenes Werk. Selbst wenn man sich (wie in dieser Aufführung) an der »üblichen« Werkgestalt orientiert, sind zahlreiche Varianten möglich und gut zu begründen. Der disparate und fragmentarische Charakter lässt sich jedoch nicht tilgen. In Frank Castorfs Regie erfährt er besondere Aufmerksamkeit – und sogar die Gattung Melodram hält mit Gedichten aus der Entstehungszeit wieder Einzug in die Oper. 23

W IE FAUST EN TSTA N D


DAS SCHÖNE ZU LIEBEN IST NICHT VERWERFLICH

Frank Castorf im Gespräch


Über Faust bei Goethe und Gounod

Wie viele Deutsche bin ich natürlich erstmal beleidigt, wenn ich höre und lese, was Gounod und seine Skripteure aus dem Werk des Großmeisters Goethe gemacht haben. Faust ist ein deutsches Ideendrama, der deutsche Mythos schlechthin. Es ist auch ein echtes Lebenswerk von Goethe, an dem er bis zu seinem Tod 1832 gearbeitet hat; der zweite Teil ist ein großer Versuch, Klassizismus und Romantik zu vereinen. Und dann kommt Gounod mit einer Musik, die mich beim ersten Hören an Offenbach erinnert hat. Aber dann fand ich daran etwas spezifisch Französisches interessant: Gounods Faust interessiert diese ganze Erkenntnis der Welterklärer Goethe, Zarathustra, Nietzsche überhaupt nicht. Er muss nicht wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält – er will jung sein, er will lieben, er will das Leben genießen. Wir finden hier gewissermaßen Balzac, den Bürger, den Bourgeois. Offenbach wird sich später lustig machen über diese Haltung, aber bei Gounod haben wir eigentlich ein Spiegelbild der Interessen dieser neuen mächtigen Klasse in der Zeit nach dem Putsch von Napoleon III. Alle deutsche Schwermut ist auch musikalisch wie weggepackt. Das Gaukelbild, das Faust anlockt, ist dann auch nicht die ideale Helena wie bei Goethe, sondern Marguerite am Spinnrad. Die sitzt da und ist ganz konkret beeinflussbar mit schönen Dingen, mit Attributen von Dolce bis Gabbana. Außerdem hat mich die singende Soldateska fasziniert, die sagt: Es ist wunderschön, Krieg zu führen. Da gibt es die Gewalttätigkeit des Krieges, und dann geht man in ein Café, trinkt Champagner und interessiert sich für all die Sachen, die uns auch heute noch lebenswert erscheinen. Die Soldaten tanzen sich mit den Mädchen, mit Studenten, mit Prostituierten in den Rausch und in den Walzer hinein, und eigentlich findet man: Die Welt ist schön, solange man die Macht hat.

Über den Teufel, Marguerite und den Luxus

Méphistophélès ist in dieser Oper nicht das Prinzip der dialektischen Negation, nicht ein Teil von jener Kraft, »die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Der Teufel ist hier ein archetypischer Provokateur und Zyniker vor dem Herrn – und derjenige, der einen guten Lebensstandard ermöglicht und ganz pragmatisch dabei hilft, eine Frau zu bekommen. In allen Balzac-Geschichten gibt es die dicke Brieftasche, mit der man sich für eine gewisse Zeit Grisetten oder auch verarmte Aristokratinnen kaufen kann. Und Marguerite ist – viel stärker als Goethes Gretchen – eine Frau, die den Luxus durchaus genießt, wenn sie das Kästchen sieht, den Schmuck und den Reichtum, den es verspricht. Das Schöne zu lieben ist nicht verwerflich. Sie ist jung und sie will leben mit einem Mann, der ihr gefällt. 25

FR A N K CASTOR F


Die ganze Luxusindustrie entstand zur selben Zeit in Paris wie diese Oper: Der Gebrauchswert der Ware tritt hinter dem Warenwert zurück, Produkte werden zur Begehrlichkeit. Sie sind nur ein Surrogat für tatsächliche, warme, wirkliche Gefühle, aber der Luxus ist etwas, das wir genießen können, in Paris wie in keiner anderen Stadt der Welt. Da treffen wir uns zu wunderbaren Festen und feiern alle zusammen und der Walzer ergreift uns alle. Einen Moment lang sind wir glücklich in den schönsten Städten, also in Wien, Paris oder Rio, und wir haben die Illusion zusammenzugehören. Es ist aber nur eine Illusion, denn nur wenn ich das Geld, wenn ich das Kästchen habe, dann besitze ich das Glück.

Über Paris, Frankreich und Algerien

Die Stadt Paris ist die erste Welthauptstadt im 19. Jahrhundert, und sie ist es bis heute, wenn sie denn belebt ist, wenn Menschen sich bewegen können, wenn sie die Freiheit haben. Kunst ist nirgendwo so frei wie in dieser Stadt, und nirgendwo ist die Lüge größer als dort. Paris ist in dieser Inszenierung auch das Sinnbild für den Kampf um die Demokratie. Das Neue, der Aufbruch ist das Entscheidende in dieser Zeit nach dem Staatsstreich von 1851, in der der Kapitalismus explodiert; die neuen Klassen entdecken ihn mit ihrem Reichtum. Aber wo alles möglich erscheint, gibt es auch die Gosse, gibt es die Ausgeschlossenen, gibt es den vierten Stand. Vor der Julirevolution entschieden 300.000 Menschen nach dem Wahlzensus darüber, was Demokratie ist, später waren es dann 10 Millionen von insgesamt 35 Millionen Bürgern. Die Ideale von 1789 wurden nie realisiert, man war vielleicht manchmal frei, aber selten brüderlich und nie gleich. Bald wird der Baron Haussmann etwas Neues machen und Paris abreißen und die Stadt durch Sichtachsen strategisch kontrollierbar machen. 1830 besetzt Frankreich Algerien und beginnt, den Arabern zu sagen, was sie zu tun haben. Bald darauf gibt es die ersten Kommentare, dass alles vernichtet werden muss, »was nicht wie Hunde vor unseren Füßen kriecht«. Hier zeigt sich, dass Demokratie alles und nichts bedeuten kann: Staatsrechtlich sind die Kolonien immer Ausland gewesen, das heißt, die Bewohner durften nie an Wahlen teilnehmen. Völkerrechtlich aber waren sie Inland. Das heißt, man kann sie ausbeuten. Es ist ein grausames Kolonialregime, das erst nach einem langen Unabhängigkeitskrieg 1962 endet. Und dabei kamen die Bomben nach dem versuchten Putsch der OAS [Organisation de l’armée secrete] auch nach Paris. Es ist für mich immer wieder verwunderlich, dass ein Land, dem unsere Sympathie gehört, nach der Befreiung Europas vom Krieg und vom deutschen Nationalsozialismus auch weiterhin seine Kolonialinteressen verfolgt, in einem grausamen, von beiden Seiten mit Terror geführtem Krieg. FR A N K CASTOR F

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Dieser Krieg ist für uns die Hintergrundfolie, vor der wir die Geschichte erzählen.

Über Baudelaire, Rimbaud und Verlaine

Bei Baudelaire durchdringen sich die Bilder des Todes und der Frau mit dem der Stadt Paris, schreibt Walter Benjamin. Baudelaire ist ein Flaneur wie Faust – ungefähr zeitgleich mit der Oper entsteht seine Gedichtsammlung Die Blumen des Bösen. Einige Jahre später, zur Zeit der Pariser Commune, lernen sich die Dichter Rimbaud und Verlaine kennen. In dieser Zeit des Aufruhrs und des ersten Blutbades der Demokratie schreibt der zwanzigjährige Rimbaud seine Gedichte und analysiert die Gesellschaft mit einer Klarheit, wie sie später erst wieder dem Surrealismus ansteht: Alles ist zu verkaufen, wir wollen nur im Genuss leben. Und wir tragen die Trommel in die Welt, in die anderen Länder, und erwarten, dass die anderen dort vor uns zu Kreuze kriechen. Damit entsteht eine völlig neuartige Literatur – man könnte sagen, dass sie auch Gounod feindlich angreift.

Über Live-Kameras

Was die Kameras in der Inszenierung tun, ist manchmal wie eine Vivisektion. Das ist sehr schmerzhaft, ohne Betäubung geht man in das Innere eines Menschen. Sie zeigen auch, dass das Arbeit ist, was Sängerinnen und Sänger tun: Man arbeitet, man schwitzt, die Schminke läuft. Und plötzlich sieht man, wie in dem Gesicht, das aus der Entfernung des 3. Ranges sehr sauber wirkt, etwas Neues entsteht und einen Eigenwert bekommt.

Über den Schluss

Wird Marguerite »gerichtet«? Am Schluss der Oper steht die Apotheose des Triebes. Marguerite will nicht die Vergebung der katholischen Kirche haben, sondern sie sagt: Das, was ich erlebt habe, darüber bin ich glücklich, jetzt kann ich – wohin auch immer – aufsteigen. Faust hingegen wird sagen: Mein Weg wird weitergehen, wohin, das weiß man nicht. Solidarität ist immer temporär und bricht irgendwann zusammen. Aber gleichzeitig sagt uns auch diese Oper bei all ihrer Oberflächlichkeit: Das Leben kann schöner sein, als wir es uns vorstellen.

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DAS SCHÖN E Z U LIEBEN IST N ICH T V ERW ER FLICH


Juan Diego Flórez als Faust


»Die Fahne marschiert in die unreine Landschaft, und unser Dialekt erstickt die exotische Trommel. In den Städten werden wir nähren die zynische Prostitution. Wir werden massakrieren die Aufstände, die zu erwarten sind. Los, in die gepfefferten und aufgeweichten Länder! – in der monströsesten militärischen oder industriellen Ausbeutungen Dienst. Auf Wiedersehen hier, irgendwo. Gutwillige Rekruten, wir werden die blutgeilste Philosophie haben; wir, zu dumm für die Wissenschaft, schlau genug für den Komfort; soll platzen die Welt, die vergeht. Das ist der wahre Marsch. Vorwärts, los!« → Arthur Rimbaud: Demokratie von Méphistophélès zu Beginn des 1. Akts gelesen


Kristin Ross

DEMO­ KRATIE ZU VERKAUFEN

Rimbauds Demokratie markiert genau den Moment, ab dem der Begriff »Demokratie« nicht mehr als Ausdruck für die Forderungen des »Volkes« in einem nationalen Klassenkampf verwendet wird, sondern zur Rechtfertigung der Kolonialpolitik der »zivilisierten Länder« in einem Kampf von internationalem Ausmaß zwischen den westlichen und den restlichen, den zivilisierten und den nichtzivilisierten Gesellschaften. Diese Geschichte erzählt Rimbaud in dem mit Schlechtes Blut (Mauvais Sang) überschriebenen Teil seiner Gedichtsammlung Eine Zeit der Hölle (Une Saison en enfer); in einem Gedicht namens Bewegung (Mouvement) zeichnet er darüber hinaus ein Porträt der Klasse der die Zivilisation verbreitenden Missionare: 30


Das sind die Eroberer der Welt, Sie, die das persönliche chemische Abenteuer suchen; Der Sport und die Bequemlichkeit reisen mit ihnen; Sie führen mit sich die Erziehung Der Völker, der Klassen und der Tiere, auf diesem Schiff Ruhe und Taumel In der Sintflut des Lichtes, An den schrecklichen Abenden der Forschung. Nachdem ausgerechnet die Gruppen, die sich zu Beginn des Jahrhunderts noch vor ihr gefürchtet hatten, an dessen Ende anfangen, sie sich zu eigen zu machen, klingt die Demokratie definitiv anders. Sie ist nicht nur verwässert, sondern auch voller fremder Inhalte. Wie in Rimbauds Gedicht wird die Demokratie für den zivilisierten und zivilisierenden Westen zu einem Banner, einer Parole, einem Beweis für die eigene Zivilisiertheit sowie zur entscheidenden ideellen Ergänzung, zum geistigen Feigenblatt. Der Staat eröffnet im Namen der repräsentativen Demokratie eine Ära des Klassenmassakers, innerhalb Europas mit der Kommune, aber auch außerhalb, in den Kolonialgebieten. Diese Gewalt hallt in der Sprache der Bedrohung und Verachtung wider, die anlässlich des Referendums 2008 gegenüber den Iren zum Einsatz kam. Der demokratische Westen kann zum moralischen Führer der Welt werden, weil seine Hegemonie die Grundlage des globalen Fortschritts bildet. Von jenen »Eroberern der Welt« bis zu Woodrow Wilsons Ausspruch »Die Welt muss sicher gemacht werden für die Demokratie« und Harry S. Trumans Recodierung des Demokratiebegriffs in die Sprache und das Projekt der Entwicklungsökonomie ist es wahrlich kein großer Schritt. Bevor wir uns jedoch von Rimbauds Vorwegnahme der Weltgeschichte wieder verabschieden, müssen wir uns im Kontext von Demokratie und Bewegung noch mit einem Gedicht befassen, das einiges über unseren gegenwärtigen historischen Augenblick verraten könnte; das Gedicht ist wie ein langer Werbesermon aufgebaut und trägt den Titel Ausverkauf (Solde). In einer Atmosphäre, die gleichermaßen moderne wie magische Elemente aufweist, zeigt es, wie der revolutionäre Aufruf und der Werbeslogan in einem Generalangriff von Konsumgütern und Dienstleistungen nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind: »Zu verkaufen die unbezahlbaren Körper, außerhalb jedes Volkes, jeder Welt, jedes Geschlechts, jeder Herkunft!« Sowohl Ausverkauf als auch Demokratie stellen einen Zusammenhang zwischen Veränderungen des Bewusstseins und der relativen Durchdringung des Alltags durch Marktbeziehungen her – ob in den überseeischen Kolonien oder im Herzen der europäischen Metropole. (Ein um diese Zeit entstandenes Sonett mit dem Titel Paris besteht ausschließlich aus Werbesprüchen von Pariser Ladenfronten.) Das prophetische Gespür beziehungsweise die außerordentliche Aktualität dieser Gedichte – zusammengenommen bilden sie die 31

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Grundlage für meinen Titel Demokratie zu verkaufen – haben etwas mit der in Rimbauds Zeit einsetzenden, immer stärker werdenden Gleichsetzung von Demokratie (in ihrer verkehrten Form) und Konsum im 20. Jahrhundert zu tun: Demokratie als das Recht zu kaufen. Die westlichen liberalen Demokratien von heute sind sich ihres Wohlbefindens umso sicherer, je perfekter ihre Entpolitisierung ist; sie leben in einem Ambiente, einem Milieu oder einer Existenzform, die sie fälschlich für zeitlos halten. Dies ist die Atmosphäre, die Rimbaud in Ausverkauf wiedergibt: der freie Austausch von Waren, Körpern, Kandidaten, Lebensstilen und möglichen Zukünften. »Zu verkaufen die Wohnstätten und die Wanderungen, Wettkämpfe, Zauberspiele und vollkommene Bequemlichkeiten, und das Geräusch, die Bewegung und die Zukunft, die sie gestalten!« Demokratie ist heute der Slogan nahezu aller Führer dieser Welt (und der Rest wird früher oder später mit Gewalt in den Schoß der Gemeinde geführt). Was unsere Zeit von jenem außergewöhnlichen Augenblick Rimbauds unterscheidet, ist der sogenannte Kalte Krieg und sein Ende. In Bezug auf die Entwicklung der Demokratie ist der enorme Gewinn, den die westlichen Regierungen daraus ziehen konnten, dass sie »Demokratie« als Gegenbegriff zum »Kommunismus« etablieren konnten, kaum zu überschätzen. Sie haben das Wort praktisch vollkommen für sich in Beschlag genommen und nichts von seinem früheren emanzipatorischen Beiklang übriggelassen. Demokratie ist zu einer Klassenideologie zur Rechtfertigung von Systemen geworden, die das Regieren einem kleinen Personenkreis überlassen – und sozusagen ohne das Volk regieren; diese Systeme scheinen jede andere Möglichkeit als die endlose Reproduktion ihres eigenen Funktionierens auszuschließen. Wenn man es schafft, eine ungehemmte und deregulierte freie Marktwirtschaft, einen rücksichtslosen, mit allen Mitteln geführten Kampf gegen den Kommunismus sowie das Recht, sich militärisch oder anderweitig in die inneren Angelegenheiten zahlloser souveräner Staaten einzumischen – wenn man es also schafft, dies alles »Demokratie« zu nennen, dann ist das schon ein echtes Kunststück. Es fertigzubringen, dass der Markt für eine offensichtliche Bedingung der Demokratie gehalten wird und die Demokratie für ein System, das unerbittlich nach dem Markt ruft, ist eine beachtliche Leistung.

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FAUSTISCHE ETAPPEN

1802 1827 1829

Goethe veröffentlicht Faust – Der Tragödie erster Teil.

1830 1831 1832 1836 1841

Gérard de Nerval veröffentlicht die erste französische Übersetzung des Goethe’schen Faust I. Hector Berlioz komponiert die Huites scènes de Faust. Ein französisches Expeditionskorps besetzt Algerien. Die Julirevolution bringt Louis-Philippe I. an die Macht. Seine Herrschaft wird später durch den Slogan »Enrichissez-vous« (Bereichert euch!) charakterisiert. Blutige Niederschlagung der Textilarbeiterrevolte in Lyon. Goethe stirbt; Faust – Der Tragödie zweiter Teil wird veröffentlicht. Napoleons Neffe Louis Bonaparte versucht einen ersten Staatsstreich. Das Pariser Seineufer wird erstmals elektrisch beleuchtet.

1846

Heinrich Heine veröffentlicht Der Doktor Faust – Ein Tanzpoem. Hector Berlioz bringt seine »dramatische Legende« La damnation de Faust zur Uraufführung.

1848

Mit dem Ende der Februarrevolution wird die Zweite Französische Republik ausgerufen, Louis Bonaparte wird ihr Präsident. Frankreich beschließt als erstes europäisches Land das allgemeine Wahlrecht für männliche Bürger.

1850 1851

Michel Carrés Faust et Marguerite wird am Théâtre du Gymnase-Dramatique uraufgeführt. Staatsstreich von Louis Bonaparte.

1852

Louis Bonaparte lässt sich zum Kaiser Napoléon III krönen. Alexandre Dumas’ d. J. Drama Die Kameliendame wird uraufgeführt. Das erste Warenhaus Le Bon Marché eröffnet in Paris. Die Jahresproduktion ­Champagner beträgt 20 Millionen Flaschen pro Jahr – 1800 waren es noch 300 000.

1853

Städteplaner und Präfekt Georges-Eugene Baron Haussmann beginnt mit der radikalen Umgestaltung des Pariser Stadtbildes.

1855

Erste Weltausstellung in Paris. Das Théâtre des Bouffes-Parisiens eröffnet mit Jacques Offenbachs Ba-Ta-Clan.

1856 – 60

Großbritannien und Frankreich befinden sich im 2. Opiumkrieg gegen China.

1857

Uraufführung von Franz Liszts Faust-Sinfonie in Weimar. Charles Baudelaire veröffentlicht seine Gedichtsammlung Les Fleurs du mal.

1859 1860

Im Théâtre-Lyrique wird Charles Gounods Oper Faust als Opéra comique mit gesprochenen Dialogen uraufgeführt.

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Erste Aufführung von Gounods Faust mit Rezitativen in Straßburg.

FAUST ISCHE ETA PPEN


1862

Wiener Erstaufführung von Gounods Faust im Kärntnertortheater. Victor Hugo veröffentlicht den Roman Les Misérables.

1864

Erste englischsprachige Aufführung in London, Gounod komponiert für diese Aufführung »Valentins Gebet«.

1869 1870 – 71 1871 1873 1900 1946

Aufführung der neuen Fassung von Gounods Faust in der Pariser Opéra, nun mit hinzukomponierter Ballettmusik.

1954

Die algerische Front de Libération Nationale verübt erste Bombenanschläge in Algier.

1958

Staatskrise der Vierten Französischen Republik. Nationalversammlung und gewählte Regierung werden entmachtet, Charles de Gaulle wird, unterstützt von General Raoul Salan, zum neuen Präsidenten gewählt. Er lässt eine neue Verfassung erarbeiten. Eine Volksabstimmung legitimiert den Staatsstreich nachträglich.

1961

Die Terrorgruppe Organisation de l’armée secrete (OAS) versucht den »Putsch der Generäle«. Unter den Generälen befindet sich auch Raoul Salan. Die Organisation mit dem Motto »L’Algérie est française et le restera« (Algerien ist französisch und wird es bleiben) verübt Anschläge in Algerien und Frankreich.

1962

Nach achtjährigem Krieg erklärt sich Algerien für unabhängig. Raoul Salan wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

2000

Ein Artikel in der Tageszeitung Le Monde deckt systematische Folterungen auf, die die französische Armee im Algerienkrieg beging.

2015

Zwei Franzosen, Söhne algerischer Einwanderer, verüben einen Terror­anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Zwölf Menschen werden erschossen.

2016

Die französische Polizei räumt ein improvisiertes Flüchtlingslager in der Metrostation Stalingrad.

2019

Ein Großbrand zerstört Teile der Kathedrale Notre-Dame de Paris.

Deutsch-Französischer Krieg. März bis Mai: Zeit der Pariser Kommune. Arthur Rimbaud veröffentlicht Une saison en enfer. Einweihung der Métro anlässlich der Weltausstellung in Paris. Die Metrostation Boulevard de la Villette erhält ihren neuen Namen Stalingrad.

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Daniel Keller (Kamera) und Nicole Car als Marguerite


Kate Lindsey als Siébel


Mein Kind, meine Schwester, stell’ dir das Glück vor, dorthin zu ziehen, um zusammenzuleben! Nach Herzenslust zu lieben, zu lieben und zu sterben im Land, das dir gleicht! Die feuchten Sonnen dieser verhangenen Himmel haben für meinen Geist den selben geheimnisvollen Zauber deiner verräterischen Augen, die unter Tränen strahlen. Dort herrscht nur Ordnung und Schönheit, Luxus, Ruhe und Wollust. → Charles Baudelaire, Einladung zur Reise gesprochen von Siébel im 3. Akt


Jürgen Osterhammel

DIE VIER IMPERIEN FRANKREICHS Jahrhundertelang rivalisierten das Haus Habsburg und Frankreich um den Vorrang auf dem europäischen Kontinent. Noch 1809 hatte Napoleon die österreichische Monarchie an den Rand des Zusammenbruchs getrieben und Wien militärisch besetzen lassen. Damals trafen zwei nahezu reine Kontinentalreiche aufeinander. Napoleons Imperium, wegen seiner Kurzlebigkeit in der Literatur meist nicht in einen Vergleich von Imperien einbezogen, war gleichwohl ein Imperium reinsten Wassers. Trotz des militärischen Primats, dem in den 16 Jahren Napoleons letztlich alle Politik unterlag und der sich vor allem in einer steten Suche nach Geld und Rekruten äußerte, sind systemische Konturen dieses Reiches erkennbar. Zwei für Imperien generell charakteristische Merkmale waren sogar besonders ausgeprägt. Erstens schuf Napoleon binnen kurzem eine genuin imperiale Herrschaftselite, die er auf Posten in ganz Europa verteilte und zwischen ihnen rotieren ließ. Ihren Kern bildeten die Familien Bonaparte und Beauharnais, diesen angeschlossen Napoleons vertrauteste Marschälle und eine Kaste professioneller Administratoren, die ebenfalls überall eingesetzt werden konnten. Das Empire Napoleons, des letzten und größten aufgeklärten Absolutisten, war ein extrem etatistisches Gebilde, in dem ein überall ähnlich aufgebauter Staatsapparat vorgab, im allgemeinen Interesse modernisierend zu wirken, den betroffenen Untertanen aber keine institutionalisierte Mitsprache und Mitwirkung einräumte. Wie jedes Imperium, so musste J Ü RGEN OST ER H A M MEL

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sich auch das Napoleonische auf die Kollaboration einheimischer Machthaber und Eliten stützen, ohne welche die Ressourcen der unterworfenen Gesellschaften nicht hätten mobilisiert werden können. Ihnen wurde aber nicht einmal ein Minimum an formalisierter Repräsentation – nach britischem Modell – zugebilligt. Keines der Reiche des 18. und 19. Jahrhunderts war stärker zentralisiert als das napoleonische. Ein Befehl oder ein Gesetz aus Paris galt sofort im gesamten Reich. Zweitens war das gesamte napoleonische Expansionsprojekt von einer scharfen kulturellen Arroganz durchdrungen, wie sie vor der Epoche des voll entwickelten Rassismus auch zwischen Europäern und Nichteuropäern selten zu finden war. Diese Arroganz, die auf der Überzeugung von der allseitigen zivilisatorischen Spitzenstellung eines postrevolutionären und säkularen Frankreichs beruhte, in dem die Aufklärung Realität geworden war, machte sich am wenigsten in den Kerngebieten des Imperiums bemerkbar: in Ostfrankreich, den Niederlanden, Oberitalien und den deutschen Rheinbundstaaten, umso mehr aber im »äußeren Imperium«, zu dem etwa Polen, Spanien und Italien südlich von Genua gehören. Dort benahmen sich die Franzosen als militärische Besatzungsmacht, die den »abergläubischen« und ineffizienten Einheimischen mit größter Verachtung entgegentrat und offene, koloniale Ausbeutungsverhältnisse gar nicht erst zu bemänteln versuchte. In seinem Willen zur kulturellen Vereinheitlichung ging das napoleonische Imperium weit über alle anderen Reiche hinaus. Napoleon war beeinflusst durch die Friedensutopien und Europaentwürfe der Aufklärung und behauptete zumindest in seinen Memoiren, von einem geeinten Europa geträumt zu haben, »überall geleitet von denselben Prinzipien, demselben System«. Die Eliten, sofern sie nicht schon französisch waren, sollten als erste frankisiert, die Volksmassen dann einer radikalen mission civilatrice unterzogen werden, die sie vom Joch der Religion und des Lokalismus befreien würde. Schon in Spanien stieß dieses Vorhaben ab 1808 an seine Grenzen. Im Oktober 1813 endete das napoleonische Reich auf den Schlachtfeldern bei Leipzig. Das französische Überseeimperium des 19. Jahrhunderts, das mit der Eroberung von Algier 1830, einem typischen Fall opportunistischer Ablenkung von innenpolitischen Schwierigkeiten, begründet wurde, war ein völliger Neuansatz. So wie oft von einem ersten und einem zweiten British Empire gesprochen wird, die durch die Unabhängigkeit der USA 1883 getrennt sind, könnte man (obwohl französische Historiker dies bisher nicht getan haben) vier französische Reiche unterscheiden: (1) das erste Reich des Ancien Régime, dessen Schwerpunkt in der Karibik lag und das spätestens mit der Unabhängigkeit Haitis 1804 endete: streng merkantilistisch geführt, nur schwach durch Immigration unterfüttert, ökonomisch weithin auf Sklavenarbeit aufgebaut; (2) das zweite Reich: Napoleons durch Blitzkriege eroberte France Europe; (3) das dritte Kolonialreich, das auf der schmalen Grundlage der 1814/15 an Frankreich zurückgegeben Kolonien (etwa Senegal) nach 1830 39

DIE V IER IMPER IEN FR A N K R EICHS


aufgebaut wurde und bis in die 1870er Jahre von Algerien dominiert wurde; (4) das vierte Reich, das erstmals, durch Erweiterung seines Vorgängers entstanden, ein multikontinentales Weltreich war und von den 1870er- bis zu den 1890er-Jahren mit Nordafrika, Westafrika und Indochina als seinen geografischen Schwerpunkten bestand. Von dieser vierfachen Reichsgeschichte sind heute ausgerechnet Relikte des ersten Imperiums übriggeblieben, vor allem die Überseedepartements Guadeloupe und Martinique, die voll integrierte Teile der Europäischen Union sind. Die postnapoleonischen Reiche waren von Anfang an und blieben bis zum Schluss Reaktionen auf das British Empire, aus dessen Schatten sie niemals heraustraten. Schon die Invasion Algeriens, die sich als Strafaktion gegen einen Schurkenstaat muslimischer Piraten und Kidnapper international gut verkaufen ließ, war der Versuch, in ein machtpolitisches Vakuum einzudringen, das Großbritannien noch nicht für sich entdeckt hatte. Die Briten kontrollierten zwar seit 1713 Gibraltar, hatten die napoleonische Flotte im Mittelmeer ausgeschaltet und besaßen seit 1814 (de facto schon seit 1802) die Insel Malta als Kronkolonie und Flottenstützpunkt, verfolgten aber sonst bis zur Okkupation Ägyptens 1882 keine kolonialen Interessen im mediterranen Raum. Die französische Kolonialgeschichte litt lange unter einem Trauma der Zweitrangigkeit. Nach anderen Maßstäben als denen der britischen Konkurrenz war die französische Kolonialexpansion jedoch sehr erfolgreich. Mit großem Abstand nach dem British Empire war das französische das zweitwichtigste der Übersee-Imperien des 19. Jahrhunderts. Das Flächenmaß (1913: British Empire 32,3 Millionen Quadratkilometer, Frankreich 9,7 Millionen) täuscht allerdings etwas, weil für Großbritannien die Dominions und für Frankreich die menschenleeren Weiten der von Algerien reklamierten Sahara mitgerechnet werden. Das British Empire war um 1913 auf allen Kontinenten mit wichtigen Besitzungen vertreten, Frankreich »nur« in Nordafrika (Algerien, Tunesien, Marokko), West- und Zentralafrika, auf Madagaskar, in Südostasien (ab 1887 in Indochina = Vietnam und Kambodscha; dazu ab 1896 Laos), in der Karibik (Guadeloupe, Martinique), in der Südsee (Tahiti, Bikini und andere) und in Südamerika (Guyana). Frankreichs Kolonialinteressen in Asien ging nicht wesentlich über Indochina hinaus. In Ost- und Südafrika war Frankreich ebenso wenig präsent wie in Nordamerika und Australien. Selbst in Afrika, wo sich die französischen Besitzungen konzentrierten, hatte Großbritannien den Vorteil, von Ägypten im Norden bis zum Kap der guten Hoffnung, an der West- wie an der Ostküste und auch auf der wichtigen Insel Mauritius im Indischen Ozean kolonial etabliert zu sein. Auch die späteren Eroberungen vermochten nie, Algerien vom ersten Platz unter den französischen Kolonien zu verdrängen. Chronologisch fügt sich Algerien in eine umfassende Periodisierung ein. Die ursprüngliche In-

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vasion traf auf einen gut organisierten einheimischen Widerstand unter der Führung des Emirs Abd al-Qadir (1808-1883), dem zeitweise, um 1837 bis 1839, der Aufbau eines proto-nationalen algerischen Gegenstaates mit Gerichtswesen und eigener Steuererhebung gelang. Wie so oft in der Geschichte des europäischen Imperialismus (und der nordamerikanischen Frontier) setzten sich die Aggressoren nur wegen der Uneinigkeit der einheimischen Kräfte durch. Abd al-Qadir kapitulierte 1847 – und wurde nach vier Jahren in französischer Haft für den Rest seines Lebens als »edler Feind« von den Franzosen einigermaßen achtungsvoll behandelt, ein ähnliches Schicksal wie das des in vielem vergleichbaren muslimischen Widerstandsführers aus dem Kaukasus, Shamil. Schon während der Eroberungsphase wuchs die Zahl französischer und anderer (vor allem spanischer und italienischer) Einwanderer nach Algerien schnell an: von 37.000 im Jahr 1841 auf 131.000 zehn Jahre später. Die meisten von ihnen zogen in die Städte, nur wenige wurden agrarische Pioniere. Obwohl die Eroberung und Kolonisierung Algeriens bereits zu einem Zeitpunkt begonnen hatte, als Europäer sonst nur im tiefen Süden Afrikas saßen (auffällig ist die genaue Gleichzeitigkeit mit dem großen Treck der Buren), waren die für ganz Afrika so fatalen 1880er-Jahre auch für Algerien eine Wendezeit. Napoleon III., in Asien und Mexiko ein imperialistischer Abenteurer, hatte dem Machtstreben der Siedler niemals völlig nachgegeben und das Landeigentum der algerischen Stämme zumindest auf dem Papier anerkannt. Nach dem Ende des Zweiten Kaiserreiches 1870 fiel diese Schranke fort. Die Republik ließ den colons nun freie Hand beim Aufbau eines Siedlerstaates, ermöglichte ihnen also das, was die britische Kolonialmacht am Kap den Buren verweigert hatte. Die 1880er-Jahre wurden daher – 1871/72 war der letzte große Aufstand der Algerier mit einer Brutalität niedergeschlagen worden, die an die Unterdrückung der indischen »Mutiny« von 1857 erinnerte – zum Beginn einheimischer Landverluste größten Ausmaßes: durch strafweise Enteignung, Gesetzgebung oder gerichtlich gedeckten Betrug. Die Zahl der Europäer in Algerien stieg von 280.000 im Jahr 1872 auf 531.000 zwanzig Jahre später. Hatte das Zweite Kaiserreich auf Landerschließung durch Kapitalgesellschaften gesetzt, so propagierte die Dritte Republik das Leitbild des siedelnden Bauern auf eigenem Land. Ihr Ziel war eine Kopie des ländlichen Frankreichs im kolonialen Raum. Es gab keine »typische« europäische Kolonie. Auch Algerien war das nicht. Es spielte aber eine ganz besonders große Rolle im nationalen Emotionshaushalt des Mutterlandes und stand am Beginn einer neuerlichen scharfen Konfrontation zwischen Europa und der islamischen Welt. In kaum einer anderen Kolonie wurden die Interessen der Einheimischen so krass missachtet wie in Algerien. Im logistischen wie im historischen Sinne war Nordafrika von Europa aus nicht eigentlich »Übersee«. Es gehörte zur räumlichen Sphäre des Imperium Romanum, ein Umstand, den die koloniale Apologie später ausgiebig ausschlachten sollte. Der scharfe Kulturkonflikt mit 41

DIE V IER IMPER IEN FR A N K R EICHS


dem Islam, der in Algerien entstand, ist ein Paradox. Denn kein anderes europäisches Land hat in der Neuzeit (bis heute) engere und bessere Kontakte zur islamischen Welt besessen als Frankreich. Auch blieb die Konfrontation mit dem Islam im benachbarten Marokko aus, wonach 1912 der General Resident Marschall Hubert Lyautey eine sozial konservative Politik minimaler Eingriffe in die einheimische Gesellschaft betrieb und den Einfluss der (relativ wenigen) Siedler einzudämmen wusste. Ein zweites Paradox liegt in der Stellung der algerischen Siedler. Sie hatten eine starke lokale Position und wollten doch keine politische Selbständigkeit, folgten also nicht »normalen« Siedlerimpulsen. Anders als die britischen Kolonisten in Nordamerika, Australien und Neuseeland erstrebten sie keine Staatsbildung vom Dominion Typ. Warum nicht? Erstens blieben die Siedler wegen ihrer relativen demographischen Schwäche von Anfang bis Ende auf den Schutz der französischen Armee angewiesen. Kanada, Australien und Neuseeland hingegen verließen sich bereits seit ca. 1870 auf eigene, selbst rekrutierte Sicherheitskräfte. Zweitens war Algerien seit 1848 juristisch keine Kolonie, sondern ein Teil des französischen Staates. Der ausgeprägte Zentralismus Frankreich sah aber politische Autonomie jedweder Art, also auch Zwischenlösungen, nicht vor. Die Folge war eine eher tribale als nationale Bewusstseinsbildung unter den Algerienfranzosen, vergleichbar den protestantischen Engländern in Nordirland. Zudem wurde Algerien stärker als fast alle anderen europäischen Kolonien durch den heimischen Nationalismus vereinnahmt: Nach der schmählichen Niederlage gegen Deutschland 1870/71 sollte Algerien zu einer Arena nationaler Regeneration durch Kolonisierung werden. Drittens blieb die algerische Kolonialökonomie nach 1870 überwiegend kleinbetrieblich organisiert und ohne verlässliche Exportbasis außer Wein – während die Dominions Getreide, Wolle und Fleisch großbetrieblich produzierten und exportierten. Erstaunlich ist die politische Sterilität des französischen Imperialismus. Das Land der citoyens exportierte keine Demokratie. Die Kolonialregime waren meist ungewöhnlich autoritär. Später gelangt die Dekolonisation nur in Westafrika einigermaßen reibungsfrei. Auch die frühere französische Expansionsgeschichte war von viel zahlreicheren Fehlschlägen gekennzeichnet als die britische. Dass Großbritannien 1882 Ägypten den Franzosen wegschnappte, war eine besonders schlimme Schlappe. Der wichtigste kulturelle Effekt der französischen Expansion war die Verbreitung der französischen Sprache, besonders dauerhaft in Westafrika. Ansonsten stand der Weg zur assimilation nur wenigen Mitgliedern der entstehenden nichteuropäischen Bildungsschichten in den Kolonien offen. Er war mit der Erwartung eines radikalen kulturellen Seitenwechsels verbunden. Eine wirklich integrierende imperiale Kultur entstand auf diese Weise nicht. Daher hat sich das Französische Reich nach seinem Ende auch nicht in eine locker organisierte Solidargemeinschaft nach Art des britischen Commonwealth überführen lassen. J Ü RGEN OST ER H A M MEL

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Zu verkaufen, was die Juden nicht verkauft haben, was weder Adel noch Verbrechen schmeckten, was die verfluchte Liebe und die infernalische Redlichkeit der Massen nicht kennen: was Zeit und Wissenschaft nicht anerkennen müssen: Die wiederhergestellten STIMMEN; das brüderliche Erwachen aller Chor- und Orchesterenergien und ihre sofortigen Anwendungen; die einmalige Gelegenheit, unsere Sinne zu entfesseln! Zu verkaufen die LEIBER ohne Preis, zu keiner Rasse gehörig, aus aller Welt, jeden Geschlechts, jeder Abstammung! Reichtümer, aufschießend bei jedem Schritt! Unkontrollierter Diamantenausverkauf! Zu verkaufen die Anarchie für die Massen; die nicht unterdrückbare Befriedigung für hochgestellte Dilettanten; schrecklicher Tod für die Treuen und Liebenden! Zu verkaufen Wohnungen und Wanderungen, Sport, Märchen und perfekter Komfort, und der Lärm, die Bewegung und die Zukunft, die sie machen! Zu verkaufen die kalkulierten Anwendungen und die unerhörten Harmoniesprünge. Unvermutete Findungen und Wendungen, unverzüglicher Besitz. Unsinniger und unendlicher Schwung mit ungesehener Pracht, mit ungespürten Freuden, - und ihren verwirrenden Geheimnissen für jedes Laster – und ihrer erschreckenden Heiterkeit für die Menge. Zu verkaufen die LEIBER, die Stimmen, die ungeheure, unfragbare Fülle, die man niemals verkaufen wird. Die Verkäufer haben den Ausverkauf noch nicht beendet! Die Reisenden müssen ihre Vollmacht nicht so bald zurückgeben.

→ Arthur Rimbaud, Restposten ausschnittweise von Marthe im 4. Akt gesprochen.


Étienne Dupuis als Valentin


Während der Verhandlung vor dem Hohen ­Militärgericht hat Salan geschwiegen. Zu Beginn der Verhandlung gab er eine längere Erklärung ab, deren erste Sätze lauten: Je suis le chef de l’OAS. Ma respontabilité es donc entière. In der Erklärung verwahrt er sich dagegen, dass Zeugen, die er benannt hatte – darunter der Staatspräsident de Gaulle – nicht vernommen wurden, und dass man den Prozessstoff auf die Zeit von April 1961 (Offizierputsch in Algier) bis April 1962 (Verhaftung Salans) beschränkte, wodurch seine eigentlichen Motive verwischt und große geschichtliche Vorgänge isoliert, auf die Typen und Tatbestände eines normalen Strafgesetz­ buches reduziert und abgekapselt wurden. Die Gewalttaten der OAS bezeichnete er als bloße Erwiderung auf die hassenwerteste aller ­Gewalttaten, die darin besteht, Menschen, die ihre Nation nicht verlieren wollen, diese Nation zu entreißen. Die Erklärung schließt mit den Worten: »Ich schulde nur denen Rechenschaft, die dafür leiden und sterben, dass sie an ein gebrochenes Wort und an eine verratene Pflicht geglaubt haben. Von jetzt ab werde ich schweigen.« → Carl Schmitt, Theorie des Partisanen Die Erklärung von Raoul Salan wird von Marthe im 4. Akt vorgetragen.


Jean-Paul Sartre

DER KOLONIA­ LISMUS IST EIN SYSTEM

Ausschnitte aus einer Rede von 1956


Die Kolonialherrschaft ist weder ein Zusammenspiel von Zufällen noch das statistische Ergebnis tausender individueller Unternehmen. Sie ist ein System, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet wurde, gegen 1880 Früchte zu tragen begann, nach dem Ersten Weltkrieg in seine Verfallsphase geriet und sich heute gegen die kolonisierende Nation kehrt. Das ist es, was ich Ihnen am Beispiel Algeriens zeigen möchte, dem leider deutlichsten und augenfälligsten Beispiel des Kolonialsystems. Ich möchte Ihnen die Härte des Kolonialismus, die ihm innewohnende Zwangsläufigkeit zeigen, aufzeigen, wie er uns genau dahin führen musste, wo wir sind, und wie die reinste Absicht, wird sie in diesem Teufelskreis geboren, auf der Stelle faul wird. Denn es ist nicht wahr, dass es gute Kolonialherren gäbe und andere, die böse sind: Es gibt Kolonialherren (zu den Kolonialherren zähle ich nicht die kleinen Beamten und die europäischen Arbeiter, die zugleich Opfer wie schuldlose Nutznießer des Systems sind), das ist alles. Wenn wir das begriffen haben, werden wir verstehen, warum die Algerier recht haben, zunächst politisch den Kampf gegen dieses wirtschaftliche, soziale und politische System aufzunehmen, und warum ihre Befreiung und die Befreiung Frankreichs nur aus der Zerschlagung der Kolonialherrschaft hervorgehen kann. Das System hat sich nicht selbst errichtet. Die Julimonarchie und die Zweite Republik wussten eigentlich mit dem eroberten Algerien wenig anzufangen. Man hatte vor, es in eine Ansiedlungskolonie zu verwandeln. Bugeaud plante eine Kolonialherrschaft nach dem Vorbild der Römer. Die entlassenen Soldaten der Afrika-Armee sollten große Ländereien bekommen. Sein Versuch wurde nicht weitergeführt. Dann wollte man den Überschuss der europäischen Länder, die ärmsten Bauern Frankreichs und Spaniens nach Afrika ableiten; man errichtete für dieses »Gesindel« einige Dörfer rund um Algier, Constantine und Oran. Die Mehrzahl wurde durch Krankheiten dahingerafft. Nach dem Juni 1848 versuchte man, arbeitslose Arbeiter, deren Gegenwart die »Ordnungskräfte« beunruhigte, dort anzusiedeln – besser gesagt: hinzuzufügen. Von den 20.000 Arbeitern, die nach Algerien transportiert wurden, kamen die meisten durch Fieber und Cholera um; die Überlebenden setzten ihre Rückführung nach Frankreich durch. So stagnierte das koloniale Unternehmen: es nahm Gestalt an während des Zweiten Kaiserreichs, entsprechend der industriellen und wirtschaftlichen Expansion. Schlag auf Schlag entstehen die großen Gesellschaften: 1863 Societe de Crédit Foncier Colonial et de Banque; 1865 Société Marseillaise de Crédit; Compagnie des Minerais de fer de Mokta; Société Générale des Transports maritimes á vapeur. Diesmal ist es der Kapitalismus selbst, der zum Kolonialisten wird. Zum Theoretiker dieses neuen Kolonialismus wird Jules Ferry:

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DER KOLON I A LISMUS IST EIN SYST EM


»Für Frankreich, das stets von Kapital überfloss und es in beträchtlichen Mengen ins Ausland exportierte, ist es von Interesse, die koloniale Frage unter diesem Blickwinkel zu betrachten. Sie ist für Länder, die wie das unsere durch die Natur ihrer Industrie auf einen großen Export angewiesen sind, die eigentliche, die Frage der Absatzmärkte ... Dort, wo die politische Vorherrschaft besteht, dort besteht auch die Vorherrschaft der Produkte, die ökonomische Vorherrschaft.« Sie sehen, nicht Lenin ist es, der als erster den kolonialen Imperialismus definiert hat, sondern Jules Ferry, diese »große Gestalt« der Dritten Republik. Und worum geht es? Darum, Industrien in den unterworfenen Ländern zu schaffen? Keineswegs: Das Kapital, von dem Frankreich »überfließt«, wird nicht in unterentwickelten Ländern investiert; die Rentabilität wäre nicht gewährleistet, die Profite würden zu lange auf sich warten lassen; man müsste alles erst aufbauen, alles erst entwickeln. Und selbst wenn sich das machen ließe, wozu sollte es gut sein, eine Konkurrenz für die Produktion des Mutterlandes aus dem Boden zu stampfen? Ferry sagt es klipp und klar: das Kapital wird in Frankreich bleiben; es wird einfach in neue Industrien investiert, die ihre Fertigwaren dem kolonisierten Land verkaufen werden. Die unmittelbare Folge war die Zollunion von 1884. Diese Union besteht noch immer: Sie sichert einer auf dem internationalen Markt durch ihre überhöhten Preise gehandikapten französischen Industrie auf dem algerischen Markt eine Monopolstellung. Aber wem denn gedachte diese neue Industrie ihre Erzeugnisse zu verkaufen? Den Algeriern? Unmöglich: Woher hätten die das Geld dafür nehmen sollen? In Ergänzung zu diesem Kolonialimperialismus muss in den Kolonien Kaufkraft geschaffen werden. Und natürlich sind es die Kolonisatoren, die sämtliche Vorteile genießen werden und die man zu potenziellen Käufern machen wird. Der Siedler ist zunächst ein künstlicher Käufer, aus dem Boden gestampft von einem Kapitalismus auf der Suche nach neuen Absatzmärkten. Hier zeichnet sich in aller Schärfe die andere Seite des kolonialen Diptychons ab: um Käufer sein zu können, muss der Kolonisator Verkäufer sein. An wen wird er verkaufen? An die Franzosen im Mutterland. Und was kann er verkaufen, wenn es keine Industrie gibt? Nahrungsmittel und Rohstoffe. Und welches sind die »Opfer«, die der Staat dem Kolonisator bringt, diesem Liebling der Götter und Exporteure? Die Antwort ist einfach: Er opfert ihnen das Eigentum der Moslems. Denn es trifft sich in der Tat so, dass die Naturprodukte des kolonisierten Landes aus dem Boden wachsen und dass dieser Boden der »eingeborenen« Bevölkerung gehört. In manchen wenig bevölkerten Gebieten mit großen unbebauten Flächen ist der Raub weniger augenfällig: Was man sieht, ist die militärische Okkupation, die Zwangsarbeit. Aber in Algerien war bei der J EA N-PAU L SA RT R E 1956

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Ankunft der französischen Truppen aller fruchtbare Boden kultiviert. Die angebliche »Erschließung« beruhte also auf einer Beraubung der Einwohner, die ein Jahrhundert währte: Die Geschichte Algeriens ist die fortschreitende Konzentration des europäischen Grundbesitzes auf Kosten des algerischen Besitzes. Alle Mittel waren recht. Anfangs nutzt man den geringsten Ausbruch von Widerstand, um zu konfiszieren oder zu sequestrieren. Bugeaud pflegte zu sagen: Hauptsache, die Erde ist gut; wem sie gehört, ist gleichgültig. Die Revolte von 1871 war von großem Nutzen: Den Besiegten wurden Hunderttausende Hektar Land genommen. Doch musste man befürchten, damit nicht auszukommen. Da haben wir geruht, den Moslems ein schönes Geschenk zu machen: Wir haben ihnen unseren Code civil beschert. Und warum so viel Großzügigkeit? Weil das Stammeseigentum zumeist Kollektivbesitz war und man es zerstückeln wollte, um den Spekulanten Gelegenheit zu geben, es nach und nach aufzukaufen. Wenn wenigstens der anfängliche Raub keinen kolonialen Charakter gehabt hätte, so könnte man vielleicht hoffen, dass eine mechanisierte Agrarproduktion es den Algeriern selbst ermöglichen würde, die Erzeugnisse ihres Bodens zum niedrigstmöglichen Preis zu kaufen. Aber die Algerier sind nicht die Kunden der Kolonisatoren und können es nicht sein. Der Kolonisator muss exportieren, um seine Importe bezahlen zu können: Er produziert für den französischen Markt. Er wird durch die Logik des Systems dazu gebracht, die Bedürfnisse der Eingeborenen denen der Franzosen in Frankreich zu opfern. Zwischen 1927 und 1932 hat der Weinbau 173000 Hektar dazu gewonnen, wovon mehr als die Hälfte den Moslems weggenommen wurde. Die Moslems aber trinken keinen Wein. Auf den Feldern, die man ihnen stiehlt, haben sie Getreide für den algerischen Markt angebaut. Das Ergebnis ist eine fortwährende Verschlimmerung der Lage: Der Getreideanbau hat seit siebzig Jahren nicht zugenommen. Während dieser Zeit hat sich die algerische Bevölkerung verdreifacht. Und wer diesen Geburtenüberschuss zu den Wohltaten Frankreichs zählen möchte, sei daran erinnert, dass es die ärmsten Völker sind, die die höchste Geburtenziffer haben. Sollen wir von den Algeriern verlangen, dass sie unserem Land dafür danken, dass es ihren Kindern erlaubt hat, im Elend zur Welt zu kommen, als Sklaven zu leben und Hungers zu sterben? Für diejenigen, die Zweifel an dieser Darstellung haben sollten, hier einige amtliche Zahlen: Im Jahre 1871 verfügte jeder Einwohner über 5 Zentner Getreide; 1901 über 4 Zentner; 1940 über 2 ½ Zentner; 1945 über 2 Zentner. Das äußert sich in den Budgets der meisten Familien durch die Unmöglichkeit, die Ausgaben für die Ernährung zu begrenzen. Die Lebensmittel verschlingen all ihr Geld; es bleibt nichts für Kleidung und Wohnung, für den Kauf von Saatgut oder Geräten. Und der einzige Grund für diese fortschreitende Verelendung ist, dass die 49

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schöne koloniale Landwirtschaft sich wie ein Krebsgeschwür mitten im Land eingerichtet hat und alles zerfrisst. Die Konzentration der Besitzungen zieht die Mechanisierung der Landwirtschaft nach sich. Das Mutterland ist hocherfreut, seine Traktoren an die Kolonisatoren verkaufen zu können. Während die Produktivität der auf schlechten Boden abgedrängten Moslems sich um ein Fünftel verringert hat, wird die der Kolonisatoren mit jedem Tag größer, und zwar ausschließlich zu ihrem eigenen Nutzen. Nun verursacht die Mechanisierung die technologische Arbeitslosigkeit: Die Landarbeiter werden durch die Maschine ersetzt. Das hätte zwar auch beträchtliche, doch nur begrenzte Auswirkungen, wenn Algerien eine Industrie besäße. Aber das Kolonialsystem verbietet ihm das. Die Arbeitslosen strömen in die Städte, wo man sie für ein paar Tage bei Aufschließungsarbeiten beschäftigt, und dann bleiben sie dort, da sie nicht wissen, wohin sie gehen sollen: Dieses verzweifelte Subproletariat wächst von Jahr zu Jahr. Nichts zeigt besser die zunehmende Härte des Kolonialsystems: Zuerst wird das Land besetzt, dann eignet man sich den Grundbesitz an und beutet die ehemaligen Besitzer zu Hungerlöhnen aus. Und endlich wird mit der Mechanisierung auch diese billige Arbeitskraft noch zu teuer; man nimmt zuletzt dem Eingeborenen auch noch das Recht auf Arbeit. Dem Algerier bleibt nur noch, im eigenen Land, einem Land, das in voller Blüte steht, zu verhungern. Wissen denn die Franzosen, die darüber zu klagen wagen, dass Algerier Franzosen die Arbeitsplätze wegnehmen, wissen sie, dass 80 Prozent dieser Algerier die Hälfte ihres Lohns ihrer Familie schicken und dass anderthalb Millionen Menschen, die in den Duars geblieben sind, ausschließlich von dem Geld leben, das ihnen diese 400.000 freiwillig ins Exil Gegangenen schicken? Und auch das ist eine der harten Konsequenzen des Systems: Die Algerier sind gezwungen, in Frankreich die Arbeit zu suchen, die Frankreich ihnen in Algerien verweigert. Wir, die Franzosen des Mutterlandes, können aus diesen Tatsachen nur eine Lehre ziehen: Der Kolonialismus ist dabei, sich selbst zu zerstören. Aber er verpestet noch die Atmosphäre: Er ist unsere Schande, er spricht unseren Gesetzen Hohn oder macht sie zu Karikaturen ihrer selbst; er infiziert uns mit seinem Rassismus, wie es neulich die Episode von Montpellier gezeigt hat, er zwingt unsere jungen Leute, gegen ihren Willen zu sterben für die Naziprinzipien, die wir vor zehn Jahren bekämpften; er sucht sich zu verteidigen, indem er den Faschismus nach Frankreich hineinträgt. Unsere Rolle ist es, ihm beim Sterben zu helfen. Nicht nur in Algerien, sondern überall, wo er existiert. Jene Leute, die von Verzicht reden, sind schwachsinnig: wir können nicht auf etwas verzichten, was wir niemals besessen haben. Es handelt sich, ganz im Gegenteil, darum, mit den Algeriern neue Beziehungen zu schaffen zwischen einem freien Frankreich und einem beJ EA N-PAU L SA RT R E 1956

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freiten Algerien. Aber lassen wir uns vor allem nicht durch die reformistische Mystifikation von unserer Aufgabe abbringen. Der Neokolonialist ist ein Naivling, der noch glaubt, man könne das Kolonialsystem verbessern – oder ein Zyniker, der Reformen vorschlägt, weil er weiß, dass sie wirkungslos sind. Sie werden schon zur rechten Zeit kommen, diese Reformen: Das algerische Volk wird sie durchführen. Das einzige, was wir versuchen können und müssen – aber das ist jetzt das Wesentliche –, ist, an seiner Seite zu kämpfen, um die Algerier und zugleich die Franzosen von der kolonialen Tyrannei zu befreien.

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Der Staatsopernchor in der Walpurgisnachtsszene



Émile Zola

DAS PARADIES DER DAMEN

»Glauben Sie mir«, sagte Mouret, als er wieder zu Wort kam, »man kann alles verkaufen, was man will, wenn man nur zu verkaufen versteht! Das ist eben unsere Kunst.« Mit seinem südlichen Temperament setzte er dem Baron das Wesen des modernen Verkaufs auseinander. Da war vor allem die überwältigende Macht, die von einem riesigen, an einem Punkt konzentrierten Warenangebot ausging; niemals durfte es an etwas fehlen, jeder gewünschte Artikel musste stets zur Stelle sein, die Kundin wurde von Tisch zu Tisch gezogen, kaufte hier einen Stoff, dort die Zutaten und wieder an einem anderen Tisch einen Mantel, sie kleidete sich ein, stieß abermals auf etwas Unvorhergesehenes und gab dem Wunsch nach allerlei überflüssigen, aber hübschen Dingen nach. Dann pries er die Einrichtung, die Waren für jedermann ersichtlich auszuzeichnen. Heutzutage spiele sich der Konkurrenzkampf sozusagen unter den Augen des Publikums ab, ein Spaziergang vor den Auslagen könÉMILE ZOLA

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ne das künftige Preisniveau bestimmen. Man begnüge sich mit einem geringen Gewinn, Betrügereien gebe es nicht mehr; die Zeiten seien vorbei, da man sich an einem Artikel bereichert habe, indem man ihn um das Doppelte seines Werts verkaufte. Flotter Umsatz, ein angemessener Verdienst an allen Waren, geschickt veranstaltete Sonderverkäufe: Darin lag das Geheimnis des Erfolgs. War das keine verblüffende Neuerung? Sie hatte den ganzen Markt auf den Kopf gestellt, ganz Paris umgewandelt und entsprach doch der Natur der Frau. »Ich habe die Frau in meiner Gewalt – um den Rest brauche ich mich nicht zu kümmern!« sagte er in einem offenen Geständnis. Dieser Ausruf schien Baron Hartmann wankend zu machen. Sein Lächeln war nicht mehr spöttisch; er betrachtete den jungen Mann, der ihn durch seine Zuversicht allmählich gewann. »Still!« sagte er leise in väterlichem Ton, »man könnte Sie hören.« Doch die Damen sprachen jetzt alle auf einmal und waren dermaßen hingerissen von ihrem Thema, dass sie nicht einmal einander mehr zuhörten. Flüsternd, als wollte er ihm eines jener Geständnisse machen, wie sie unter Männern zuweilen vorkommen, führte Mouret seine Erklärungen zu Ende. Alles lief auf die Ausbeutung der Frauen hinaus. Die Warenhäuser machten sich die Frauen durch ihre gegenseitige Konkurrenz streitig, verwirrten sie durch ihre Auslagen, lockten sie in die Falle ihrer Gelegenheitskäufe. Sie weckten neue Wünsche in den Frauen, sie bildeten eine ungeheure Versuchung, der jede zum Opfer fiel, ob sie auch anfangs als gute Hausfrau nur billig einzukaufen gedachte: sie wurde unfehlbar durch ihre Koketterie fortgerissen und zum Schluss betört. Wenn in diesen Warenhäusern die Frau als die Königin dastand, angebetet und umschmeichelt in ihren Schwächen, umgeben von aller Zuvorkommenheit, so herrschte sie doch nur als eine Königin der Liebe, deren Untertanen mit ihr ein Spiel treiben und die jede ihrer Launen mit einem Tropfen ihres Blutes bezahlt. Und unter Mourets liebenswürdigem Wesen verbarg sich die Missachtung des Mannes der Frau gegenüber, die die Dummheit begangen hat, sich ihm hinzugeben. »Wer die Frauen in der Hand hat«, sagte er leise, mit einem überlegenen Lächeln zu Baron Hartmann, »der kann die ganze Welt verkaufen.« Jetzt begriff der Baron. Er zwinkerte verständnisinnig mit den Augen und betrachtete Mouret allmählich mit Bewunderung. Unbewusst gebrauchte er denselben Ausdruck wie Bourdoncle, ein Wort, das seine langjährige Erfahrung ihm eingab: »Sie werden sich an Ihnen rächen.« Doch Mouret zuckte in vernichtender Missachtung die Achseln. Alle gehörten sie ja ihm, meinte er, und er lieferte sich keiner aus. Wenn er sein Vermögen und sein Vergnügen aus ihnen herausgeholt hatte, würde er sie sämtlich abschütteln und denen überlassen, die dann noch auf ihre Rechnung kommen könnten. 55

DAS PA R A DIE S DER DA MEN


Damen des Staatsopernchors


Wenn man beim Gasschein in dem Freudentumult der Boulevards und e­ lysäischen Felder usw. herumspaziert, so bekommt man die ­Auflösung des wunderbaren Arbeitsknotens vom Tage. Es heißt: »Plaisir«. Das französische »Plaisir« ist das leichteste, leiseste, l­ustigste, loseste Wort von allen, die d ­ ieselbe Bedeutung haben. »Plaisir« ist der himmelblaue Schmetterling, der so häufig ist und sich so leicht fangen lässt. Die Arbeit ist das Mittel, und ­dahinter steckt irgendein Ziel. Bei der Grisette liegt dies gleich vor A ­ ugen und heißt: Tanz, Schauspiel und Lustbarkeit für den kommenden Abend, und bei höheren Seelen hat es einen anderen Namen. → Ida Kohl, Paris und die Franzosen


Tina Hartmann

KEINE WILLENLOS VERFÜHRTE UNSCHULD

Weiblichkeit bei Goethe und Gounod


Als komplexeste der weiblichen Figuren in Goethes Faust-Dichtung verhandelt Margarete/Gretchen Konzeptionen von Weiblichkeit, wie sie in der Zeit der historischen Faust-Handlung und bis in die späte Goethezeit real anzutreffen waren und sich teilweise gegenseitig unterlaufen. Wenn Faust sich bei der ersten Begegnung mit »Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, / Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?« – also entgegen der Rede ungefragt – bei Margarete einhängt, so ist das nicht nur nach moderner Lesart eine Übergriffigkeit mit klar sexueller Konnotation. Denn dass sie kein adeliges »Fräulein«, sondern ein Bürgermädchen ist, macht die Kleiderordnung offensichtlich. Margarete erkennt sofort, dass Faust hier wie in der gesamten Szene die Sprache der Verführung spricht, und sie flieht. Faust ist im Gegenzug von ihrer dem bürgerlichen Ehrenkodex folgenden, Blick und Berührung ausweichenden Reaktion angezogen. Auch in Margaretes Zimmer stacheln die Insignien bürgerlicher Tugenden wie Reinlichkeit, Ordnung und patriarchaler Sinn Fausts Begehren an. Die bereits in der Frühen Fassung enthaltenen Szenen demonstrieren nicht nur Fausts individuelle Abhängigkeit vom bürgerlich-patriarchalen Wertekanon, sondern formulieren darüber hinaus die grundsätzliche dialektische Bezogenheit des Libertins auf den Kodex bürgerlicher Sittsamkeit, indem dem Verführer die Verführung nur dann Genuss bereitet, wenn sie sich auf ein seiner eigenen Libertinage widersprechendes Objekt bezieht. Die weibliche Tugend ist der zentrale Fetisch und ihre Zerstörung zugleich Beweis der eigenen, überwiegend männlichen Überlegenheit. Doch ist Margarete nicht nur Gegenüber dieser Dialektik, sondern darüber hinaus aktive Partizipantin, die ihre Tugend performativ zur Schau stellt. Denn obgleich sie den libertinen Code und damit Fausts Absichten durchschaut, zeigt ihre kurze Vorrede in Abend – die Faust bezeichnender Weise nicht belauschen darf – die Differenz zwischen dem zur Schau gestellten Tugendcode und ihrer tatsächlichen Empfänglichkeit für Faust als attraktiven Mann, in dem Margarete überdies anhand seiner Kleidung und seines libertinen Betragens einen Adeligen zu erkennen glaubt, von dessen Aufmerksamkeit sie sich geschmeichelt fühlt. Dass sie sich über Letztere – anders als im Zusammentreffen ausgestellt – hier nicht wundert, zeigt überdies, dass sie sich ihrer Schönheit durchaus bewusst ist. Ihr Umgang mit dem Schmuckkästchen offenbart auch, dass sie sich aus ihrem Stand und seinen geschlechtlich definierten Zwängen heraussehnt, obgleich dieser ausdrücklich nicht von Armut geprägt ist: »Was hilft euch Schönheit, junges Blut? / Das ist wohl alles schön und gut, / Man lobt euch halb mit Erbarmen. / Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch Alles. Ach wir Armen!« Die Veredelung ihres Ausdrucks vom Knittelvers zum gereimten Madrigalvers, dem Grundmetrum des Faust, lässt sie dabei im Kleinen dieselbe metrische Entwicklung durchmachen wie zuvor den Titelhelden und weist sie als ebenbürtige Partnerin und potenzielle Tragödin aus.

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T INA H A RTM A N N


Die in den folgenden Szenen stattfindende Inversion des gegenseitigen Begehrens fußt auf diesem doppelten Spiel von bürgerlicher weiblicher Tugend und vermeintlich adeliger männlicher Libertinage: Während Faust das religiös konnotierte »reine« Tugendbild in der Verführung zögern lässt, wird Margarete zunehmend initiativ, indem sie sich Faust gegenüber in den Rollen der potenziellen Ehefrau präsentiert, wobei sich christliche und im Sinne der empfindsamen Literatur natürliche Tugenden verweben. Mit dem unaufgefordert gegebenen, 27 Verse ausführlichen Bericht über die verstorbene Schwester präsentiert sich Margarete gleich zu Beginn des Kennenlernens zugleich als religiös überstrahlte jungfräuliche Maria Lactans, demonstriert sehr praktisch mit der schwierigen muttermilchlosen Aufzucht (die zugleich ein zweifelhaftes Licht auf Gretchens Mutter und den zu dieser Zeit mutmaßlich noch im Haushalt lebenden Bruder wirft, denen am Überleben der zweiten Tochter offenbar nichts lag, sonst hätten sie für das Neugeborene eine Amme engagiert oder die die Mutterrolle übernehmende Schwester entlastet) ihr Geschick zur prospektiven Mutterrolle und signalisiert darüber hinaus ihre Fähigkeit zur bedingungslosen, liebenden Hingabe, die Faust in Kürze ausnutzen sollte. »Und so erzog ich’s ganz allein, / Mit Milch und Wasser; so ward’s mein. / Auf meinem Arm, in meinem Schoß / War’s freundlich, zappelte, ward groß.« Die Episode führt aus, was schließlich im Kerker Gretchens Wahnvorstellung vorbehalten ist: die Liebe zu dem getöteten gemeinsamen Kind, das sie – anders als damals die Mutter ihr Schwesterchen – selbst stillen will: untrügliches Zeichen dafür, dass sie ihr Kind vor dem Kindsmord bereits angenommen hatte, anders als die beiden hingerichteten Kindsmörderinnen Susanna Margaretha Brandt 1772 in Frankfurt und Johanna Catharina Höhn 1783 in Jena. Beide, von denen insbesondere der Fall von Margaretha Brandt wohl maßgeblich auf die Konzeption der Gretchenfigur der Frühen Fassung eingewirkt hat, waren Dienstmägde aus dem vierten Stand und damit nicht nur praktisch rechtund mittellos, sondern wurden auch als geistig schlicht beschrieben (was allerdings auch an den Strapazen der Kerkerhaft gelegen haben könnte). Ihre Kinder töteten sie direkt nach der Geburt. Im relativ gut dokumentierten Fall der Margaretha Brandt ist aus den Quellen klar ersichtlich, dass es sich um das Paradebeispiel einer nach heutigen Begriffen ›verdrängten Schwangerschaft‹ gehandelt hatte (zu Beginn hatte sie sogar einen Arzt aufgesucht, als ihre Periode ausblieb). Ob das Kind lebend zur Welt gekommen war, konnte gerichtlich nicht geklärt werden. Beide Frauen wurden zuvor missbraucht bzw. vergewaltigt. Die Situation von unehelichen Müttern war im 17. Jahrhundert ohne männlichen Beistand in jedem Fall aussichtslos; auch wenn die Strafen sich unterschieden, war von der vollständigen Ächtung der Mutter und ihres Kindes bei gleichzeitigem Verlust ihres Vermögens und Rechtsstatus auszugehen. Im städtischen Milieu galt dabei eine weitaus rigidere Einstellung zu unehelichen Geburten als auf dem Land, da T INA H A RTM A N N

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im Unterschied zum bäuerlichen Umfeld Kinder kaum als Arbeitskräfte einsetzbar waren, ihr Wert sich folglich ausschließlich nach der patriarchalen Stammesfolge bemaß, eine Logik, die auch erhellt, warum Margaretes Mutter schon am Überleben ihrer eigenen, noch ehelich geborenen Tochter kein Interesse zeigte. Mit der Unterstützung der Familie wäre ein uneheliches Kind für Margarete ein zu bewältigendes Problem gewesen. Doch nach dem Tod der Mutter und erst recht nach Valentins Veröffentlichung ihrer Schande bedeutete das Kind ein gemeinsames Leben im Elend, wie Gustchen im Hofmeister von Lenz es folgerichtig mit der blinden Bettlerin führt. Dass es so weit kommt, liegt nicht allein an Mephistos List, sondern auch in der bei genauem Hinsehen ebenfalls zweifelhaften Sozialität von Margaretes Familie. Der Soldatenstand von Margaretes Bruder Valentin ist dabei in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Auch wenn der Sold der Landsknechte im 16. und 17. Jahnhundert deutlich über dem eines Handwerksgesellen lag (worin sich Valentin mit den Hinweisen auf die Geldgier seiner Mutter deckt, die unter ostentativ zur Schau getragener Frömmigkeit Geld verleiht), rekrutierten sie sich aus »den im volkswirtschaftlichen Produktionsprozess entbehrlichen sozialen Gruppen« der Gesellschaft. Dass Valentin als einziger Sohn eines nicht unvermögenden Bürgers weder das Erbe noch das Handwerk (?) des Vaters angetreten hat, sondern Soldat wurde, deutet darauf, dass er sich etwas zuschulden kommen ließ, das seinen mindestens zeitweisen Austritt aus der Gesellschaft erforderte. Als Soldat darf und soll er von Berufswegen – zumindest unter dem Kriegsrecht der Realität des 16. und 17. Jahrhunderts – rauben, morden und vergewaltigen. Dennoch bzw. gerade damit handelt er in diesem ad extremum männlichen Rollenbild »brav«, also tapfer und »richtig« und maßt sich allein auf Grund seines Geschlechts die Deutungshoheit über seine Schwester an. Offenbar hat er zu ihr keinerlei emotionale Bindung, die ein Interesse an ihrem Fortleben oder gar Wohlergehen nach sich zöge. Ihre einzige Bedeutung liegt in der Erhöhung seiner (geschädigten?) Ehre. Damit verkörpert Valentin die patriarchale Logik in brutalstmöglicher Form, der zufolge die einzige Funktion von Frauen darin besteht, die Reinheit der patrilinearen Erbfolge zu sichern. Der Kindsmord als notwendige Folge der gesellschaftlichen und familiären Ächtung lediger Mütter ist eines der zentralen Themen der Sturm und Drang-Autoren, wenngleich dahinter weniger eine emanzipatorische als eine sexuallibertine Triebfeder zu sehen ist. So auch in Die Kindermörderin von Heinrich Leopold Wagner, dem Goethe unterstellte, er habe ihm das ›heiße‹ Thema des Kindsmordes gestohlen. Die Schuld für Gretchens Kindsmord wird neben der Gesellschaft Faust zugeschrieben, der – seiner Gefühle ungeachtet – als Verführer handelt, indem er die Geliebte nach der ersten gemeinsamen Nacht offenbar gleich für mehrere Wochen verlässt und sich auch nach dem Mord (überdies in Notwehr) an ihrem Bruder nicht um ihren Verbleib kümmert. Entsprechend 61

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sind Margaretes Verse »Geschwind! Geschwind! / Rette dein armes Kind. [...]« zu verstehen. Margaretes vorausgegangene jungfräuliche Mutterschaft, ihr Streben nach einer höheren Stellung im Leben, ihre Liebe und Bewunderung für Faust sowie ihr augenscheinlich hohes christliches Ethos – ausgesprochen in der Gretchenfrage – verschieben ihren Kindsmord zu einem erweiterten Selbstmord und beleuchten von dort aus, warum sie danach mit Faust nicht fliehen und weiterleben kann. Gleichwohl ist Margarete durchaus nicht die willenlos verführte Unschuld, als die die Rezeption sie bis ins 20. Jahrhundert vornehmlich verstanden hat. Die Szene am Brunnen zeigt sie – anders als Wendla in Wedekinds Frühlingserwachen – als über die möglichen biologischen und gesellschaftlichen Folgen einer vorehelichen Nacht mit dem Geliebten aufgeklärt. Die Entscheidung dafür reift in Gretchens Stube »Mein Busen drängt / Sich nach ihm hin« durch ihr eigenes sexuelles Begehren, das sich in der Frühen Fassung mit dem Wort »Schoß« noch klarer artikuliert und damit der verbreiteten Lesart Gretchens als ›Personifikation der Hingabe‹ zuwiderläuft. Auch die Form, mit der sich Margaretes Gesang vom noch in »Es war ein König in Thule« verwendeten Volkslied zur inhaltlich und formal ausgeprägten Arie wandelt, erhebt sie zum erotisch vollständig handlungsfähigen Subjekt. Es ist in dieser Situation, in der die Kurz- oder Koseform ›Gretchen‹ erstmals in der Sprecherangabe erscheint, sie gleichsam ihres formalen Namens entkleidet, wie in den späteren Szenen innerer Bedrängnis (Am Brunnen, Zwinger, Dom). Im Kerker erscheint die verurteilte Kindsmörderin wieder als juristische Person mit vollem Namen. Charles Gounod, Jules Barbier und Michel Carré stellen Margarete als tragische Heldin ins Zentrum ihrer Faust-Oper, reduzieren jedoch zugleich ihre dramatische Vielschichtigkeit: Steht Margarete bei Goethe im Kräftefeld zwischen der Gesellschaft, ihrer eigenen erotischen Sehnsucht und der Liebe zu Faust, wird letztere in der Oper zum handlungsbestimmenden Moment, dem die anderen Aspekte untergeordnet sind. Als Titelheldin ist Marguerite ganz Herz, die Zugkräfte ihres (wie Fausts) Unterleibs sind in einen satanischen Méphistophélès ausgelagert, der die ›reine‹ Liebe Marguerites in den Geschlechtsakt umlenkt. Weibliche Sexualität ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht länger die von Männern schlimmstenfalls nicht stillbare Lust, sondern der Geschlechtsakt wird im doppelten Wortsinn zum ›Liebesdienst‹ an den Bedürfnissen des Mannes umgedeutet. So wird die Frau zum männliche Leidenschaft zivilisierendem Korrektiv des beginnenden viktorianischen Zeitalters. Margaretes vielfältige Reflexionen über ihren gesellschaftlichen Status bündelt und kondensiert das Libretto in der ›Juwelenarie‹ angesichts des Schmuckkästchens, deren überschäumende Lebenslust ohne die gleichzeitige Klage »Ach wir Armen« auskommt. Damit weicht das Libretto jedoch nicht von Goethes Text ab, sondern lediglich von der (älteren) Gretchen-Rezeption. Durch die ›Verteufelung‹ der Sexualität T INA H A RTM A N N

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gelingt der Oper das Kunststück, Marguerite trotz ihres Fehltritts als im christlichen Sinne ›rein‹ zu definieren und mit musikalischen Anleihen an katholische Kirchenmusik weiter in Richtung einer Marienfigur zu verschieben. Wenngleich die Erlösung am Ende gelingt und – wie die Musik impliziert – Faust bereits einschließt, damit das Ende des Goethe’schen Faust II vorwegnehmend, wird das asexuelle Liebeskonzept zugleich durch den vom Saufkumpan zu Marguerites Verehrer gewandeltem Siébel unterlaufen, der als Hosenrolle in der Logik der Oper des 19. Jahrhunderts zugleich diese Unterleibslosigkeit realisiert und im Motiv der bei seiner Berührung verwelkenden Blumen ihre Impotenz demonstriert. Mit den gesellschaftlichen Kontexten treten auch die schuldhaften Verstrickungen Marguerites zurück, deren Mutter bereits bei Beginn der Oper tot ist. In dem fast beiläufig erwähnten Kindsmord, der vom Auslöser zum Symptom ihres durch das Verschwinden des Geliebten und Mephistos Verdammnis-Drohungen verursachten Wahnsinns wird (die im Libretto vorgesehene Wahnsinnsszene ist allerdings nicht erhalten und wurde möglicherweise nie komponiert) spiegelt sich das juristische Konzept der Schuldunfähigkeit und die mildere Bestrafung unehelicher Mütter bei Kindsmord zur Entstehungszeit der Oper. Indem für Margarete die Liebe zu Faust gleich zu Beginn in den Wusch mündet, für ihn zu sterben, gliedert sie sich als seine Erlöserin ein in die leidenden und sterbenden Frauenopfer der großen Oper des 19. Jahrhunderts.

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Delphine zu Hippolyta »Hippolyta, was sagst du, Herz, zu diesen Dingen? Begreifst du nun, wie sehr es gilt, dein Opferfest Der ersten Rosen nicht den Winden darzubringen, Deren zu stürmische Gewalt sie welken lässt? Die Küsse meines Munds sind zart wie Eintagsfliegen, Die sacht des Abends schwirren über Seen groß und klar; Indes die eines Bräutigams sich in dich pflügen Mit tiefen Furchen, als ob über dich ein Karren fahr; Sie werden dich wie ein beladenes Gespann zerdrücken, Das Ochsen, Pferde mit erbarmungslosen Hufen ziehn. Hippolyta, o Schwester, lass mich dein Gesicht erblicken, Du meine Seele, du mein Herz und meine Königin, Auf mich wend deine Augen, drin Azur und Sterne beben! Für diesen Götterbalsam, den dein Zauberblick gewährt, Will ich dir von verborgenerer Lust die Schleier heben Und dich in einen Traum einwiegen ohne Wiederkehr!«

→ Charles Baudelaire, Ausschnitt aus Femmes Damnées Die rosa Zeilen werden von Siébel im 3. Akt vorgetragen. Kate Lindsey als Siébel, Nicole Car als Marguerite →



Adam Palka als Méphistophélès und Juan Diego Flórez als Faust


WO BLEIBT DENN DA DIE LOGIK?

Hector Berlioz über die Uraufführung 1859


Heute kann ich mir die Inhaltsangabe des Stückes ersparen. Jedermann hat selbstverständlich das Gedicht von Goethe gelesen. → »Ja, ja, ja,« werden Sie mir sagen, »Faust und Margarete und Mephisto wissen wir aus dem Kopf und die Sabbatgeschichte und den Hexenzauber ...« → Und ich antworte Ihnen, meine Herrschaften: »Nein, nein, nein! Nichts wissen Sie aus dem Kopf, denn erstens ist es sehr die Frage, ob Sie überhaupt einen Kopf haben, und zweitens haben Sie Faust höchstwahrscheinlich niemals gelesen, oder sollten Sie ihn doch eines Abends gelesen haben, um besser einschlafen zu können, wie man einen Roman von Paul de Kock liest (bei dem Sie allerdings nicht schlafen), so kennen Sie Faust deshalb doch nicht. Aber einerlei, ich werde tun, als glaubte ich, jeder hätte darüber nachgegrübelt und dies wunderbare Gedicht verstanden und empfunden und werde mich über dies Thema ergehen, als seien wir alle in Jupiters Schoß großgeworden.« Diese Träumereien, dieses Sehnen, der Durst nach Lust und Freude, die naive Leidenschaft, Liebesglut und Hass, der Einblick in Himmel und Hölle, das alles hat in der Tat viele Musiker und Dramatiker gelockt und angespornt, von den Zeichnern und Malern gar nicht zu reden. Wie oft hat man nicht Goethe damit belästigt (der seinerseits wiederum Marlowe belästigt hatte), aus seinem Werke eine Oper machen zu wollen, eine Legende, ein Ballett! Ja ein Ballett! ... Diese Idee, Faust tanzen zu lassen, ist wahrlich die großartigste, die je in einem Kopf ohne Gehirn entstanden ist, bei einem von diesen Menschen, die sich an allem vergreifen, alles profanieren ohne böse Absicht, wie die Amseln und Spatzen, welche die Meisterwerke der Bildhauerkunst in den öffentlichen Gärten für Vogelbauer halten. Der Verfasser des Balletts Faust erscheint mir hundertmal erstaunlicher als Molières Marquis des Mascaville, der sich daran machte, die römische Geschichte in Madrigale zu setzen. Was die Musiker anbelangt, die sich daran versucht haben, die Person des großen Gedichtes singen zu lassen, so muss ihnen vergeben werden, denn sie haben viel geliebt und diese Persönlichkeiten gehören ja auch von Rechts wegen in die Welt der Träume, der Leidenschaft, zur Kunst des Unbestimmten, des Unendlichen ... in das allumfassende Reich der Töne. Außer dem Ballett Faust gibt es über dasselbe Thema eine deutsche Oper von Spohr, eine italienische Oper von Signora Bertin, Ouvertüren von Richard Wagner und Lindpaintner, eine Symphonie von Liszt und eine Unmasse von Illustrationen, Legenden, Balladen, Kantaten, Sonaten und Variationen für Klarinette und Fagott. Mit wie vielen Dedikationen ist Goethe – der Olympier – nicht gequält worden! Wieviel Musiker haben ihm nicht geschrieben: »O, Du!« oder nur ganz einfach: »O!« worauf er antwortete oder antworten musste: »Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, dass Sie es der Mühe wert fanden, mein Gedicht zu illustrieren, ohne Sie würde es nicht beachtet werden, usw ...« Er war ein großer Spötter, der Gott von Weimar, den irgendjemand falsch den »deutschen Voltaire« genannt hat. Nur einmal HECTOR BER LIOZ

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fand er seinen Meister in einem Musiker. Denn das erscheint jetzt erwiesen, die musikalische Kunst wirkt nicht so verblödend, wie die Herren von der Feder dies während langer Zeit haben glauben machen wollen. Seit einem Jahrhundert gibt es ungefähr ebenso viel geistreiche Musiker als einfältige Schriftsteller. Also Goethe war nach Wien gekommen, um dort einige Wochen zu verbringen. Er war viel mit Beethoven zusammen, welcher gerade seine herrliche Musik zu Egmont vollendet hatte. Als er eines Tages mit dem melancholischen Titanen durch den Prater wandelte, verbeugten die Passanten sich ehrerbietig vor den beiden Spaziergängern, doch nur Goethe gab den Gruß zurück. Aber schließlich wurde er ungeduldig, weil er so oft den Hut lüften musste: »Die guten Leute sind langweilig mit ihrer ewigen Dienerei,« sagte er. »Nichts für ungut, Exzellenz,« erwiderte Beethoven sanft, »vielleicht gilt der Gruß mir.« ... Erstaunlich ist es nicht, dass dies phantastische Drama eine so große Anzahl beabsichtigter, allerdings nicht ausgeführter Attentate erfahren hat. Ich bin im Gegenteil eher erstaunt, dass nicht schon vor zwanzig Jahren für unser größtes lyrisches Theater die größte Oper über dies große Thema Faust geschrieben wurde. Aber nein! Ein kleines Theater, ohne Subvention hat sich dieser edlen Aufgabe gewidmet. Es hat große Anstrengungen gemacht, sich Opfer auferlegt, und spart weder mit Talent noch Zeit und Geld, was ihm ein Anrecht gibt auf unsere lebhaftesten Sympathien und wärmsten Ermunterungen. Umgeben, wie wir es sind in der Kunstwelt, von Leuten, deren einzige Sorge es ist, das Erhabene in den Staub zu ziehen, ist es unsere Pflicht, zu loben und anzuspornen, wo ein rühmliches Bestreben sich zeigt. Dennoch finden viele das Faust-Thema unvereinbar mit den Anforderungen der Musik; andern ist es nicht dramatisch genug, langweilig und traurig. Man musste nur im Korridor im Théâtre-Lyrique dies Gewirr von all den sonderbaren und widersprechendsten Meinungen hören: → Naja, das ist heute ein Erfolg! ... → Ja, aber ich finde es wenig amüsant. → Amüsant! Nun mein Lieber, der Ausdruck passt wohl nicht ganz hierher, man sieht sich doch nicht Faust an, um sich zu amüsieren. → Sie sind sonderbar! Meinen Sie vielleicht, ich ginge ins Theater, um eine philosophische Abhandlung zu hören? Ich behaupte ... → ... ach das Quartett im Garten ist entzückend! Wie frisch, wie rührend! Welch keusche Leidenschaft und welche Zärtlichkeit! → Naja, da haben wir wieder das Wort »keusch!«, einer der unanständigsten Ausdrücke, die man sich denken kann. Eure keusche Margarete ist eine ganz leichtsinnige Person, die den Fluch ihres Bruders vollauf verdient; vom ersten Liebeswort, das ein Fremder ihr zuraunt, lässt sie sich umgarnen und bei der zweiten Zusammenkunft empfängt ihn die »keusche« Jungfrau in ihrem Gemach. Rührende Unschuld! ... → Ach seien Sie still ... → Liederliches Frauenzimmer, sie 69 69

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kriegt ein ... → Ich bitte Sie, schweigen Sie! → ... und dann ertränkt sie es. → Sie rauben einem die ganze Poesie ... → Ja, hab ich etwa nicht recht? Kindesmord, das ist das richtige Wort! Keusch? Zum Kuckuck, eine schöne Keuschheit das! ... → ... Sie ergreifen ihre Degen, und vor diesem Scheinbild des Kreuzes erzittert Mephisto und flieht. → Diese glorreiche Idee hattest du nicht, Goethe! → Schade nur, die schöne Kirchenszene erscheint durch diese Idee absurd, denn Mephisto, der vor den Säbelgriffen in Kreuzesform zurückwich, dringt nun ohne Furcht bis in das Allerheiligste und erschrickt weder vor den wahren Kreuzen, noch vor den Altären, vor den geheiligten Bannern und frommen Gesängen. Wo bleibt da die Logik? → Darin mögen Sie wohl recht haben, aber einerlei, die Oper tritt doch aus dem gewöhnlichen, langweiligen Rahmen heraus. → ... die Gartenszene ist ganz verfehlt ... . → Ich finde im Gegenteil dies Duett im Garten ganz bezaubernd. → Es ist kein Duett, sondern ein Quartett. → Es sind wunderbare Stellen darin. → Ja, es ist ganz harmoniös, aber das ist auch alles, und übrigens ist es kein Quartett, sondern es sind vielmehr zwei alternierende Duette. → Nennen Sie es wie Sie wollen, das ist mir gleichgültig, wenn mich der Autor ergreift, bin ich zufrieden. Und er hat mich ergriffen. Dieser Monolog von Margarete am Fenster ist wundervoll! Ist das nicht eine ideale Schilderung wachsender Leidenschaft? ... → Aber was sollen die Schallbecken und die große Trommel während Margaretens Monolog? Was hat das für einen Zweck? → Sie kommen ein bisschen zu spät mit Ihrer Bemerkung, meine Liebe, denn das hat man sich schon in den Zwischenakten gefragt, aber niemand wusste eine vernünftige Erklärung dafür. → Ich werde den Autor fragen, das muss ich wissen, das interessiert mich. → Der Volkschor nach Valentins Tod ist ein Meisterwerk! → Ich bin ganz Ihrer Meinung, aber ich meine das Rezitativ, welches der sterbende Valentin singt, ist noch bedeutender. Diese Szene hat eine Kraft ... → Alles in allem, man kann es sich nicht verhehlen, das ist heute ein Erfolg. → Ganz entschieden! und ein großer Erfolg. → Allerdings. → Ja, hatten Sie auf einen Durchfall gehofft?→ Ich leugne nicht, das hätte mir Spaß gemacht. → Was Sie sagen! Können Sie Gounod nicht leiden? → Absolut nicht! → Ja und warum? → Der Mensch trägt einen langen Bart! ... → Hat man je einen so bärtigen Musiker gesehen? Tragen Rossini, Halévy, Meyerbeer und Auber etwa Bärte? Was sind das für Zigeunermanieren! Wir sind doch nicht in Russland! ... → Da haben Sie recht! Das ist wahr! Oja, gegen so triftige Gründe lässt sich nichts sagen ... . In der Tat, ein so bärtiger Musiker kann kein Talent haben. Nun verstehe ich Ihre Abneigung gegen Gounod vollkommen. Aber irgendein Dichter sagt einmal: »Du côté de la barbe est toujours la puissance.« Übrigens tragen Félicien, David und Verdi auch einen Bart, HECTOR BER LIOZ

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und die scheinen Ihnen doch nicht zu missfallen ... . → Ach das ist eine ganz andere Rasse von Künstlern und deren Bart ist auch nicht so lang. → Richtig, sehr richtig! Aber da beginnt der vierte Akt gerade, lassen Sie uns wieder in unsere Loge gehen ... . Solches und Ähnliches erzählt man sich bei den Premieren im Foyer und in den Gängen im Theater bei allen Werken, die einigen Wert haben. Bei der Premiere von den Hugenotten sagte ein geistreicher Dichter ein Wort, welches man lange wiederholt hat: »Das ist wirklich eine schöne Oper, schade, dass man sie nicht in Musik gesetzt hat.« Also man grübelt, erfindet, arbeitet hart, setzt Schlaf und Gesundheit an die schwere Aufgabe der Komposition einer dramatischen Partitur, um den Launen einer unwissenden Menge als Fangball zu dienen – von den einen verhöhnt, von den andern verhimmelt, von allen missverstanden ... Famae sacra fames! (Verfluchter Hunger nach Ruhm) Bevor ich die zahlreichen Schönheiten erwähne, welche ich in der Partitur Faust fand, nachdem ich sie zweimal gehört habe, will ich noch vorausschicken, dass die Oper einen großen, berechtigten Erfolg erzielte. In der instrumentalen Introduktion, die anstelle der Ouvertüre tritt, verrät sich der geschickte Harmonist. Dieses Stück hat den Charakter einer traurigen Träumerei, von welcher sich die bald darauffolgenden ländlichen Gesänge frisch abheben. Sie vertreten hier die Goetheʼschen Ostergesänge und erwecken in Faust die Erinnerung an die reinen Gefühle seiner Jugend; der Giftbecher entfällt seinen Händen. Warum dies so arrangiert ist, wird mir nicht ganz klar; mir scheint, das feierliche Läuten der Glocken und die frommen Gesänge, die aus der nahen Kirche in Fausts Arbeitszimmer dringen, sind unendlich viel ergreifender als die Lieder der Bauern, und seien sie noch so schön. Nun erscheint Mephisto, und der Prolog endet mit einem Duett, dessen Stil mir nicht genügend ausgearbeitet scheint. Im Übrigen ist es zu stark instrumentiert. Die Violinen bewegen sich unaufhörlich in den höchsten Höhen. Der erste [richtig: zweite] Akt wird durch einen außerordentlich munteren Volkschor eingeleitet, dessen Thema zuerst von den Tenören gebracht wird; dann übernimmt es der Sopran und allmählich geht es in alle verschiedenen Gesangsstimmen über mit einer überraschenden Leichtigkeit und Verve. Im Ensemble sangen die Frauen im Chor viel zu hoch; schon in den ländlichen Gesängen hatte man unter diesem unerträglichen Fehler zu leiden. In der Szene am Weinbrunnen hört man einen schönen Männerchor von hervorragender Energie, dessen Thema sich mit Geschick und zu angebrachter Zeit in die Form eines Chorales kleidet. Die religiöse Färbung dieses Gesangs ist durchaus gerechtfertigt, durch die Absicht des Volkes den bösen Geist zu beschwören. 71

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Nichts Reizvolleres und Natürlicheres kann man sich denken als den ersten Satz der Margarete, welchen Madame Carvalho so anmutsvoll sprach: »Bin weder Fräulein weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehen.« Von Siébels Lied, der in Margaretens Garten Blumen pflückt, ist mir weder die Form noch die Weise im Gedächtnis geblieben. Dagegen hat mich die darauffolgende Faust-Arie »Sei mir gegrüßt du heilige Stätte« sehr ergriffen. Darin liegt unendlich viel echtes und tiefes Gefühl. Aber das Solo, welches den Gesang des Tenors begleitet, schadet viel eher, als dass es dem Ganzen dienlich sei, und ich glaube, [der Tenor Gilbert] Duprez hatte recht, der eines Tages, als ein Instrumentensolo im Orchester ihn bei einer Romanze begleitete, sagte: »Dies Teufelsinstrument mit seinen Läufen und Variationen irritiert mich wie eine Fliege, die mir um den Kopf surrt und sich auf meine Nase setzen will.« In diesem Falle führt das Solo allerdings keine Variationen aus, es ist im Gegenteil mit großer Diskretion angewandt. Wie dem auch sei, ich kann nur wiederholen, die Melodie ist entzückend. Man hat wohl applaudiert, aber nicht genug, die Arie verdiente den hundertfachen Beifall. Ich weiß nichts, was so entmutigend wirkt für einen Komponisten als diese Lauheit des französischen Publikums für musikalische Schönheiten dieser Art. Sie achten kaum darauf, die Melodie können sie nicht erfassen, der Rhythmus ist ihnen so langsam, die Färbung zu fein, der Ton viel zu innig, als dass sie ihn verstünden. Sie sagen: »Hm, es ist nicht schlecht« und deuten nicht weiter daran. Kaviar für das Volk! Aber ich bleibe dabei, es ist wundervoll, und Barbot hat die Arie sehr gut gesungen. Alle, die das nicht fühlen, haben Pech gehabt. Der Gesang vom König von Thule ist in der Manier der Volkslieder geschrieben, was ihm einen sehr passenden, gotischen Charakter verleiht, aber er wird durch ein kurzes Rezitativ unterbrochen und das scheint mir nicht genügend motiviert. Nach meinem Empfinden müsste Margarete ihr altes Lied ohne Unterbrechung zu Ende singen. Eine Bemerkung, die ich vorhin inmitten der Unterhaltung im Foyer auffing, scheint mir nicht ganz ungerechtfertigt: Margarete singt ein sanftes anmutiges Lied, nachdem sie den Schmuck angelegt hat, den sie in dem Kästchen gefunden. Gleichzeitig hört man die dumpfen Schläge der Schallbecken und der großen Trommel. Warum das? Sicher hat der Komponist hier eine Absicht gehabt, aber ich verstehe sie nicht. Das Quartett von Mephisto, der alten Marthe, Margarete und Faust ist außerordentlich frisch und wahr und warm empfunden. Der Verfasser des Librettos hätte diese Szene vielleicht besser für die Musik einrichten können; So wie sie ist, hat der Komponist sie in hervorragender Weise wiedergegeben. Ich wüsste nicht zu sagen, was schöner ist, die süße Harmonie des Gesangs oder die verschleierte Orchestration der Begleitung. Dieser poetische Dämmerton, dieser musikalische Mondschein, welcher den Zuhörer umHECTOR BER LIOZ

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schmeichelt, ihn nach und nach berückt und bezaubert und ganz erfüllt von seiner Erregung, die sich bis zum Schluss stets steigert, ist bewunderungswürdig. Und diese prachtvolle Seite wird noch gekrönt durch Margaretens Monolog am Fenster. Die Leidenschaft des Mädchens bricht hier zum Schlusse mit ungestümer Macht und packender Beredsamkeit hervor. Und dies glaube ich, ist das Meisterstück der Partitur. Aber warum lässt man durch einen Mechanismus unter Margaretens Füßen die Sängerin emporsteigen, in dem Maße wie sich ihr Gesang erhebt? Der Zuschauer macht sich keine Illusionen darüber; er weiß sehr gut, dass Margarete kein reiner Geist ist, der sich allmählich in die Lüfte schwingt. Man hat wieder einmal das Bessere des Guten gewollt und ist über das Ziel hinausgeschossen. Es wäre weise, hinfort auf diesen Himmelfahrtseffekt zu verzichten. An dieser Stelle, wo geistreiche enharmonische Verflechtungen so wunderbare Modulationen herbeiführen, ist der Klang der Hörner mit Glück und Geschick angewandt. An einer der vorher gehenden Passagen hingegen, bei den Worten »himmlische Seligkeit« scheinen mir die Posaunen nicht angebracht zu sein. Der dritte [richtig: vierte] Akt beginnt mit der Romanze der verlassenen Margarete. Sie sitzt am Spinnrad und spinnt. Um was handelt es sich? Um den Schmerz des armen Kindes, um seine verachtete Liebe, seine Herzensangst und Qual. Und nur dies zu schildern, daran soll der Musiker einzig und allein denken. Warum also in die Begleitung dieser Art ein Rumrum bringen, welches das Geräusch des Spinnenrades nachahmen soll? Bei Schubert war dies vielleicht zu entschuldigen, in einem Gesangsstücke, welches nicht für das Theater bestimmt ist, einem den Gedanken an das Spinnrad geben zu wollen, weil man es nicht sieht (wenn hier das Spinnrad überhaupt eine Rolle spielen soll), aber in der Oper sieht man es: Margarete spinnt wirklich. Wozu also diese überflüssige Nachahmung in der Begleitung? Der Chor, den die Gefährten des Valentin singen: »Legt die Waffen nieder« ist sehr hübsch. Dem Marschmotiv, welches außerordentlich reich instrumentiert ist, fehlt es an Vornehmheit und Deutlichkeit. Durch die Klapphörner im Bass wird im Mittelsatz eine wunderbare Wirkung erzielt. Das Crescendo hingegen, welches das Motiv von neuem aufnimmt, müsste nach meinem Sinn etwas länger sein, um die Explosion des Finale noch mehr vorzubereiten und heraustreten zu lassen. Dieser Marsch wurde mit viel Geschrei Da capo verlangt, aber die wundervolle Faust-Arie im zweiten [dritten] Akt wurde nur wenig applaudiert!!! – Pudding für das Volk! – Die Serenade von Mephisto ist nicht hervorragend. Im Ensemble der Sterbeszene von Valentin sind einige Passagen von außerordentlich dramatischer Wirkung. 73

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Höre mich jetzt an, Margarete, ich sag dir es, Weil bald ich vor den ewigen Richter trete, wird von düsteren Harmonien begleitet, dann ertönt der Schreckensruf der Posaunen und mit dem Ensemble der Volksstimmen wird diese Stelle in ganz hervorragender Weise zu Ende geführt. Das ist von erhabener Wirkung. Ebenso musikalisch bedeutend ist die Kirchenszene, wo sich der Klang der Orgel und der frommen Gesänge mit Mephistos Fluch und den herzergreifenden Tönen der bereuenden Margarete vermischt. Der Hexensabbat auf dem Blocksberg erscheint verkürzt, ich weiß allerdings nicht recht, ob es möglich gewesen wäre, diese Szene auf einem kleinen Theater vollständiger darzustellen. Nun sehen wir eine antike Erscheinung: Kleopatra, umgeben von ihrem wollüstigen Hof; die ägyptische Königin, Iras und Charmian liegen nachlässig hingestreckt auf purpurnen Ruhebetten und trinken. Man hört schmachtenden Bacchantengesang, der durch den Charakter der Szene gerechtfertigt ist. Der fünfte Akt [gemeint ist: Die Kerkerszene] wird durch ein zu langes Vorspiel eingeleitet. Wenn der Komponist uns noch eine Viertelstunde vor Mitternacht so schauerliche Dinge zu sagen hat, so soll er sich nicht damit amüsieren, Klarinettensoli spielen zu lassen. Dieser Akt ist allerdings nur ganz kurz. Er besteht beinahe allein aus der berühmten Gefängnisszene. Hier war die Aufgabe des Musikers außerordentlich schwer. Diese furchtbare Verzweiflung des wahnsinnigen Mädchens, die auf dem Stroh kauert, ihr wildes Angstgeschrei, Fausts vergebliches Flehen, das alles ist zu gespannt, zu gewaltsam, zu psychisch schmerzlich für die Musik. Dann kommt Mephisto hinzu und ruft: »Auf! Rettet ihr Leben, der Tag naht heran.« Hier ist eine solche Hast der Einwürfe geboten, ein so kurzer herrischer drängender Akzent, wenn ich mich so ausdrücken darf, dass man nicht weiß, wie man das von den Sängern erreichen soll, besonders hier in Frankreich, wo sie die Töne im Rezitativ bis in alle Ewigkeit ausziehen, wenn sie nur zu sagen haben: Ja – Nein – du lügst. Nach vier Stunden Musik empfindet man immer eine große Erschlaffung. Folglich habe ich auch von diesem Akt, um die Wahrheit zu gestehen, nur eine sehr konfuse Idee, ich muss ihn erneut hören, um darüber urteilen zu können. Der Schlusschor während Margaretens Apotheose wird entschieden viel zu laut gesungen. Es ist merkwürdig, welche Abneigung unsere lyrischen Theater gegen leise Chöre haben und welche unerklärliche Unwissenheit bei unseren Chordirektoren herrscht, welche die Wirkung nicht zu kennen scheinen, die eine sanfte Stimmung im Gesang unmittelbar auf alle Welt ausübt! Madame Carvalho sang wie immer schön und hat die Rolle der Margarete mit Verständnis kreiert. Ihre Haltung, ihre Bewegungen sind außerordentlich weich und anmutsvoll, ihr Gewand sehr reizend. In der GartenHECTOR BER LIOZ

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szene, in den bleichen Strahlen des Mondes, war ihre Gestalt unendlich poetisch. Barbot hat sich seiner schwierigen Aufgabe als Faust mit viel Glück entledigt, oft sogar mit echtem Talent. Balanqué ist ein vorzüglicher Mephisto. Er hat die richtige Erscheinung dafür, das scharfe Profil, den diabolischen Blick, die spöttische Miene und die gewaltige Stimme. Ein junger Debütant namens Reynal mit einer guten, nicht tremolierenden Stimme, hat die Partie des wackeren Soldaten Valentin sehr anständig wiedergegeben. Das Orchester, welches unter der geschickten Leitung von Deloffre stand, verdient unsere vollste Anerkennung und den Dank des Komponisten. Ich denke es ist unnötig, hinzuzufügen, dass die Oper mit außerordentlicher Sorgfalt inszeniert und ausgestattet war. Man weiß hinlänglich, dass Carvalho, sobald es sich um das Schicksal großer Werke handelt, in deren Zukunft er Vertrauen hat, keine Kosten scheut und mit wahrhaft kühner Intelligenz große Summen opfert. Ich habe kürzlich anlässlich der Aufführung von La Fée Carabosse gesagt: dies kann vielleicht der Erfolg des Tages werden. Faust ist sicherlich der Erfolg der Zukunft.

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Nicole Car als Marguerite und Kate Lindsey als Siébel



Thomas Seedorf

VIELFALT DER BESETZUNGS­ MÖGLICH­KEITEN

Faust-Stimmen


Charles Gounods Faust-Oper gehört zu den Erfolgswerken des Musiktheaters. In den über anderthalb Jahrhunderten, die seit der umjubelten Uraufführung am 19. März 1859 vergangen sind, haben unzählige Sängerinnen und Sänger das Werk in der ganzen Welt gesungen und populär gemacht, unter ihnen viele Stars ihrer jeweiligen Epoche wie die spanische Koloratursopranistin Adelina Patti in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Marguerite, der russische Bassist Fjodor Schaljapin im frühen 20. Jahrhundert als Méphistophélès oder der schwedische Tenor Nicolai Gedda in den 1950er- und 60er-Jahren als Faust. Marguerite war vor allem in den ersten Jahrzehnten der Aufführungsgeschichte die Domäne leichter Soprane wie Nellie Melba oder Selma Kurz, die Partie ist aber auch von koloraturgewandten lyrischen oder jugendlichdramatischen Stimmen wie Geraldine Farrar oder Mary Garden gesungen worden. In den Aufführungen der Wiener Staatsoper ab den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts repräsentierten Wilma Lipp oder Hilde Güden den ersten Typus, Gabriela Beňačková oder Sonya Yoncheva den zweiten. Ähnlich verhält es sich mit den beiden anderen Hauptrollen. Faust ist eine Paradepartie sowohl für lyrische Tenöre wie für Sänger, die auch in dramatischeren Aufgaben erfolgreich sind. Unter den französischen Tenören der Jahrhundertwende überwogen Vertreter des dramatischen Typs wie Jean de Reszke oder Paul Franz, die beide auch als Wagner-Sänger überzeugten. Schon im 19. Jahrhundert wurde Faust auch zu einer Repertoirepartie italienischer Tenöre, die diese Rolle, wie damals üblich, auf Italienisch sangen. Der Gounod’sche Faust gehörte zu den ersten Rollen des jungen Enrico Caruso, der die Partie erst in Aufführungen an der Metropolitan Opera in New York in der Originalsprache sang. In Wien waren ab den 1960er-Jahren Waldemar Kmentt oder Francisco Araiza ebenso zu erleben wie Franco Bonisolli oder Plácido Domingo. Und im Falle des Méphistophélès schwankt die Besetzung zwischen schweren Bässen mit sicherer Höhe, dunkeltimbrierten Baritonen und Bassbuffos mit üppiger Stimme. In den ersten Jahrzehnten der Aufführungsgeschichte des Faust reichte das Spektrum vom Bariton Victor Maurel, Verdis erstem Jago und Falstaff, über den geschmeidig-virtuosen Bassbariton Pol Plançon bis zum klangmächtigen Bassisten Alexander Kipnis. Im Wien der Nachkriegsjahrzehnte waren u. a. Cesare Siepi, George London und Ruggero Raimondi in diese Rolle zu erleben. Diese Vielfalt der Besetzungsmöglichkeiten ist in der Konzeption der Oper und ihrer Werkgeschichte angelegt. Die 1859 uraufgeführte erste Fassung des Faust ist noch ganz den Gattungsgesetzen der Opéra comique verpflichtet: Die geschlossenen Musiknummern werden durch gesprochene Dialoge, teils auch durch Melodramen miteinander verbunden. Die Auswahl der Sänger der Uraufführung entsprach den Usancen dieses Genres. Caroline Miolan-Carvalho, die erste Marguerite, war eine »chanteuse à roulades«, eine Koloratursopranistin mit heller, leichter Stimme, die mit 79

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Mozart- und Rossini-Partien bekannt geworden war. Einige der dramatischen Momente hat Gounod für sie modifiziert, um die Partie für sie singbar zu machen. Der Tenor Joseph Barbot übernahm die Titelrolle, nachdem ein anderer Sänger wegen chronischer Heiserkeit ausfiel. Barbot sang die Titelpartie als für die Opéra comique typischer »ténor léger« mit einer schlanken Stimme, die sich in der Kavatine »Salut! Demeure chaste et pure« ohne heroische Kraftentfaltung auf das hohe C schwingen konnte. Auch Mathieu Emile Balanqué kam aus der Welt der Opéra comique. Hochgewachsen, schlank und von kräftiger Statur hatte er die passende »physique du rôle« für die Partie des Méphistophélès, die er als gattungsgemäßer »basse chantante« sang. Gounod hatte von Anfang an geplant, Faust zu einer durchkomponierten »Opéra« mit Rezitativen weiterzuentwickeln, um dem Werk eine internationale Verbreitung zu ermöglichen. Während das Werk an seiner Uraufführungsstätte, dem Pariser Théâtre-Lyrique, noch bis 1868 in der ursprünglichen Form mit gesprochenen Dialogen gegeben wurde, spielte man Faust außerhalb von Paris bereits seit 1860 vielfach mit von Gounod nachkomponierten Rezitativen. Nachdem das Théâtre-Lyrique 1868 wegen Insolvenz geschlossen worden war, wurde die Pariser Opéra ab 1869 zum neuen zentralen Aufführungsort des Werks. Mit dem Umzug ins neue Haus wurde Faust endgültig zu einer vollständig gesungenen »Opéra«, die nun auch von Sängerinnen und Sängern in ihr Repertoire aufgenommen wurde, die sich in der hierarchisierten Theaterwelt des 19. Jahrhunderts für eine Opéra comique zu schade gewesen wären. Nichts veranschaulicht die für Gounods Faust so charakteristische Stellung zwischen den französischen Operngenres drastischer als eine Kontroverse, die sich 1861 um die Besetzung des Werks anlässlich seiner Erstaufführung am Brüsseler Théâtre de la Monnaie ergab. Dieses Theater verfügte über zwei eigenständige Ensembles, von denen das eine nur in Opéras comiques auftrat, das andere ausschließlich in durchkomponierten großen Opéras. Als der Direktor des Hauses ankündigte, die Rezitativfassung des Faust geben zu wollen, aber mit den Opéra-comique-Sängern, protestierten die Mitglieder des Opéra-Ensembles. Der Streit hatte zur Folge, dass das Brüsseler Publikum Faust in zwei unterschiedlichen Fassungen und Besetzungen erleben konnte: in der einen Spielzeit mit gesprochenen Dialogen und in der nächsten als durchkomponierte Oper. Neben den drei Hauptrollen Marguerite, Faust und Méphistophélès bietet Gounods Oper mit Valentin noch eine weitere Partie ersten Rangs, in der in Wien große Sänger wie Eberhard Waechter, Thomas Stewart oder Sherrill Milnes zu hören waren. Valentins Kavatine »Avant de quitter ces lieux« zählt zu den Perlen der Bariton-Literatur und die Szene, in der der sterbende Valentin seine Schwester Marguerite verflucht, ist einer der eindrucks­ vollsten Momente der Oper. Zu einem zwischen Sentimentalität und TraT HOM AS SEEDOR F

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gik changierenden Charakter wurde Valentin aber erst im Laufe der Werkund Aufführungsgeschichte. Für die Uraufführung der Erstfassung strich Gounod die zunächst mit mehreren genretypischen Couplets musikalisch reich bedachte Partie so stark zusammen, dass sie zur Nebenrolle wurde. Die Kavatine komponierte Gounod erst 1864 auf Wunsch des britischen Bariton Charles Santley für Aufführungen in London nach. Er betrachtete dieses Stück aber als Fremdkörper in seiner Partitur und sprach sich sowohl gegen dessen Einbeziehung bei französischen Aufführungen der Oper wie auch gegen die Integration in französische Ausgaben des Klavierauszugs aus. Den Siegeszug dieser Arie konnte er aber nicht verhindern. Eine Aufführung von Faust ohne »Valentins Gebet« ist heute beinahe undenkbar. Und schließlich gibt es noch eine fünfte wichtige Rolle, deren Bedeutung im Lauf der Werk- und Aufführungsgeschichte besonders großen Schwankungen unterworfen war. In der Erstfassung des Faust ist der in Marguerite verliebte junge Siébel eine wichtige Gegenfigur zu Faust und Méphistophélès. Bereits für die Uraufführung hat Gounod Siébels Musik reduziert, in der Bühnenpraxis schrumpfte die Partie noch weiter, bis von ihr mancherorts kaum mehr als ein Stichwortgeber übrigblieb. Von allen genannten Rollen ist die Siébels am stärksten der Tradition der Opéra comique verpflichtet, denn die Rolle repräsentiert eine Variante des »Dugazon«, eines für dieses Genre typischen Stimmfachs. Der Ausdruck geht zurück auf Louise-Rosalie Dugazon, eine Sängerin, die ab 1776 an der Opéra-Comique in Paris wirkte, zunächst als Darstellerin junger Frauen, später als Spezialistin für Mütterfiguren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verwandelte »Dugazon« sich zu einer Bezeichnung für Darstellerinnen, die junge Männer spielen. Zu dieser spezifisch französischen Variante der Hosenrolle gehört auch die Partie des Stéphano in Gounods Roméo et Juliétte. Am deutlichsten verweist die Rolle der Nachbarin »Dame Marthe« auf den Opéra-comique-Ursprung des Faust. In der Dialogfassung der Oper ist ihr deutlich mehr Raum gegeben als in der Opernversion, in der sie dennoch in der Gartenszene im Liebesgeplänkel mit Méphistophélès die schmachtende Sentimentalität von Marguerite und Faust komisch kontrapunktiert.

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FAUST-ST IM MEN


Andreas Láng

DER TEUFEL ISST AUCH GERNE SCHOKOLADE

Ein Streifzug durch die Wiener Inszenierungsgeschichte des »Faust«


Flaniert man durch die Wiener Staatsoper, um Architektur und Ausstattung etwas genauer in Augenschein zu nehmen, dürfte der Aufenthalt im sogenannten Schwindfoyer im 1. Rang etwas länger ausfallen. Denn hier wird dem interessierten Besucher mit einem Mal klar, welchem ideellen Wandel das in seiner Zusammensetzung gern als unveränderbar angenommene Kernrepertoire im Laufe der Zeit unterworfen war beziehungsweise ist. Geradezu programmatisch wurden im Schwindfoyer nämlich jene Komponisten und deren als zentral erachteten Werke bildhauerisch und malerisch festgehalten, die man anno 1869, im Jahr der Eröffnung des Hauses, für maßgeblich für den Spielplan hielt. Als Vertreter französischer Opern verewigte man beispielsweise Boieldieu, Meyerbeer sowie Rossini mit dessen Guillaume Tell, Werke und Komponisten, die – von Rossini abgesehen – eher weiße Flecken auf der Opernlandkarte heutiger Besucherinnen und Besucher darstellen. Die Uraufführung mancher späterer französischer Dauerbrenner wie Carmen, Manon, Werther oder Les Contes d’Hoffmann standen damals noch aus und so wären deren Schöpfer noch gar nicht in Frage gekommen, in das Hofopernpantheon aufgenommen zu werden. Aber wo bleibt Charles Gounod? Kaum ein anderer französischer Opernkomponist war im Wien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts derart populär wie dieser große Romantiker, der sogar für die hiesige Karlskirche einige Werke geschaffen hat. Nur drei Jahre nach der Uraufführung war sein Faust am Kärntnertortheater herausgekommen, dem kleineren Vorgängerbau der Staatsoper, um sich augenblicklich als umjubelter Dauerbrenner im Spielplan einzunisten (Premiere: 8. Februar 1862) – sehr zum Missfallen einiger National-Puristen und vor allem der Kritiker, die einem Komponisten »romanischen Stammes« die intellektuelle Fähigkeit absprachen, Verständnis für die »tiefsinnigen kelto-germanischen« Schöpfungen aufzubringen (Copyright: Wiener Zeitung). Der »Kunst-Verbrecher« war aber gemäß der Auffassung dieser selbsternannten Stil-Polizisten weniger der ihrer Meinung nach an der Sache vorbeikomponierende Gounod, sondern der OpernDirektor persönlich, der es gewagt hatte, das Werk überhaupt anzusetzen, im Weiteren dann die Künstler, die es auf der Bühne verwirklichten, und natürlich das böse Publikum, das sich keinen Deut um Philistereien scherte und für zahllose ausverkaufte Vorstellungen sorgte. Die einzige Verbeugung vor Goethe, die bekanntlich an allen deutschsprachigen Bühnen zur Tradition wurde, bestand – um der nötigen Trennschärfe willen – in der Umbenennung der Oper in Margarethe (interessanter Weise nicht in Méphistophélès, dessen Rolle jene der Marguerite an Umfang deutlich übertrifft). War diese Voreingenommenheit der Grund, warum heute keine Gounod-Büste im Schwindfoyer zu sehen ist? Oder traute man dem raschen Ruhm nicht? Auf jeden Fall fanden in nur knapp acht Jahren geradezu unfassbare 110 Aufführungen des Faust im Kärntnertortheater statt, die das Stück in den Rang der meistgespielten Opern hievten – und das, obwohl der berühmte 83

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»Schlager«, die von Gounod nachgereichte Valentin-Arie, damals noch gar nicht existierte. Aber es gab auch etwas fürs Auge: Die farbenfrohen Bühnenbilder changierten zwischen Frühgotik und einer Art romantischer Neugotik à la Caspar David Friedrich – je nachdem, ob die Dekorationen vom polnisch-österreichischen Theodor Jachimovicz (1., 2. und 4. Akt) oder vom italienisch-österreichischen Carlo Brioschi (3. und 5. Akt) stammten. Dass die Kirchenszene zu einer schaurigen, nächtlichen Friedhofsszene umfunktioniert wurde (mit erleuchtetem Dom im Hintergrund), hatte vor allem praktische Gründe: Man ersparte sich allzu lange Umbauzeiten und umging zugleich das »theologische« Problem, dass ein Teufel in der Kirche sein Unwesen treiben darf. Von einer Regie im heutigen Sinne war man damals meilenweit entfernt. In der Saison 1869/70 besaßen die Wiener den Luxus, zwei Hofopernhäuser in direkter Nachbarschaft zu besitzen: Das Kärntnertortheater und wenige Meter entfernt das große Haus am Ring. Der Grund: Es gab zunächst nicht genügend Dekorationen, um die neue Bühne durchgehend zu bespielen, also wurde abgewechselt: Bestehende Produktionen gab man im noch existierenden alten Haus, adaptierte Übernahmen oder Premieren im heutigen Staatsoperngebäude. Gounods Roméo et Juliette kam etwa schon am 30. Mai 1869 als zweite Novität am Ring heraus, Faust respektive Margarethe musste noch ein Weilchen am alten Standort ausharren. Allerdings nicht lange, denn das Publikum erwartete den »Umzug«. Und so folgte am 28. März 1870 die zweite Wiener Faust-Inszenierung (wobei hier wiederum eher von einer pompösen Bebilderung mit arrangierten Auf- und Abtritten die Rede sein muss). Dass der altgewordene Doktor in dieser Produktion vom böhmischen Theatermaler Johann Kautsky eine Studierstube erhielt, deren Ausmaße eher an den größeren Saal eines adeligen Schlosses erinnerte, überraschte so manchen Besucher: In einem derart fürstlichen Ambiente konnte Faust allerdings Mephistos monetären Verlockungen nur wenig abgewinnen! Andere Szenen, wie das Gartenbild, wurden hingegen offen kritisiert – von »unwahrscheinlichen Blumen und allerlei Gerümpel« war in der Neuen Freien Presse die Rede und, noch schlimmer, von einem Rückschritt im Vergleich zur früheren Produktion. Das Neue durfte unmöglich besser sein als das Gewohnte. Und weil man nicht zufrieden war, hielt sich die Produktion gleich vier Jahrzehnte oder 342 Vorstellungen lang im Spielplan – ein Wiener Schicksal halt. In puncto Besetzung konnte das Publikum in dieser Zeit auf der Bühne und am Dirigentenpult so ziemlich alles erleben, was Rang und Namen hatte – nicht zuletzt einen Gustav Mahler, der sich des Werkes einige Male mit großem Eifer annahm. Und es gab von Anfang an so manche Überraschung: Etwa die Entdeckung der Sängerin Ernestine Gindele, die anstelle des erkrankten Publikumslieblings Bertha Ehnn die Marguerite in der (um vier Tage verschobenen) Premiere gab und damit zugleich ihre Karriere als vielseitige und erfolgreiche Ensemblesängerin antrat. Die A N DR EAS LÁ NG

Fausts großzügiges Studierzimmer in der Inszenierung von 1870, Entwurf von Johann Kautsky →

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Staatsopern-Chronik verzeichnet aber auch ein weiteres Kuriosum: Dreimal hieß das Werk in dieser Zeit weder Faust noch Margarethe, sondern Margherita: Offenbar scheute sich selbst eine eingeladene italienische Gastspieltruppe, das Werk unter dem Goethe’schen Titel zu spielen. Auf jeden Fall erlebten die Wiener auf diese Weise ein »dramma lirico« von Gounod – als vermutlich willkommene Abwechslung zu den üblichen deutschsprachigen Vorstellungen. Die erste französischsprachige Aufführung fand 1928 im Zuge einer Tournee der Opéra Comique statt, und dann erst wieder – dafür dauerhaft – ab 1963. Nicht alles, was Felix von Weingartner, der vielgescholtene Nachfolger Gustav Mahlers als Direktor der Hofoper, zuwege brachte, bot Anlass zur Kritik. Die von Weingartner am 6. November 1909 persönlich geleitete Faust-Neuproduktion (immer noch als Margarethe) beispielweise galt als Meilenstein in der Wiener Rezeption dieses Werkes. Mit Wilhelm Wymetal stand ein kundiger Regisseur zur Verfügung, der dem Publikum mit dieser Inszenierung ein echtes, detailreiches und lebendiges Theatererlebnis bescherte und keine konzertante Aufführung in Kostümen. Wymetal ließ plastische Charaktere entstehen und versuchte deren Handlungen durch feine, psychologisch fundierte Personenführungen zu beglaubigen. Dass ihm bei der Premiere mit Lucie Marcel (der ersten Wiener Elektra – und späteren Ehefrau des Direktors) eine schauspielerisch überaus talentierte Darstellerin zur Seite stand, trug sicher zum Erfolg bei. Auch diese Produktion hielt sich über viele Jahre (ob Sänger wie Leo Slezak als Faust in späteren Auf 85

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führungen auf jede Inszenierungs-Nuance achteten?) und wurde erst 1939 durch den nationalsozialistischen Terror mit anderen Werken französischer Autoren aus dem Repertoire verbannt. Mit der Rückkehr der Demokratie kam (im Ausweichquartier Volksoperngebäude) auch Faust alias Margarethe wieder, ebenso wie die Zustimmung des Publikums und die bereits bekannten Einwände einiger Kritiker. »Gewiss ist der limonadesingende Faust Gounods … nur noch eine Travestie ursprünglicher Geistesgröße. Keine Oper für regieliche Experimente, dazu fehlt ihrer Musik die psychologische Hintergründigkeit«, las man etwa im Wiener Kurier nach der Premiere vom 20. Juni 1948. Vielleicht fehlte es aber Regisseur Kálmán Nádasdy einfach nur an Inspiration? Oder an Glauben an das Stück? Eine übergeordnete Inszenierungsidee war jedenfalls nicht zu erkennen, die einzelnen Bilder standen wie unzusammenhängende Fremdkörper im gotischen Ambiente nebeneinander. Das Publikum konnte sich mit immer wieder grandiosen Besetzungen trösten: Mit Otto Edelmann und George London als Méphistophélès etwa, mit Eberhard Waechter und Josef Metternich als Valentin, mit Helge Roswaenge als Faust oder Eszther Réthy als Marguerite. Einen szenischen Gegenentwurf erlebten die Zuschauer 1963 mit der nächsten Premiere (nun wieder an der eigentlichen Wiener Staatsoper aber, obwohl französisch gesungen, immer noch als Margarethe). Diese Produktion lebte weniger von der soliden Regie Paul Hagers, als von den ungemein kreativen Raumgestaltungen des späteren Inszenierungsgroßmeisters JeanPierre Ponnelle, der damals in Wien noch ausschließlich als Bühnen- und Kostümbildner in Erscheinung trat. Ponnelle hatte geradezu ein Füllhorn an Ideen ausgeschüttet und in jeder Szene zu Lösungen gefunden, die schon für sich genommen zu einem Besuch der Vorstellung einluden. (Erst Aleksandar Denić sollte viele Jahrzehnte später mit der aktuellen Produktion eine wenn auch ganz anders geartete Bühnenbildkomposition auf diesem Niveau gelingen.) Ponnelles Studierstube erinnerte an eine sonderbare Wunderkammer, die von allerlei fantastischem Gerät bevölkert war: Zahnräder, Gerippe, mathematische Studien, sonderbare Maschinen, Musikinstrumente hingen in einem merkwürdig geordneten mystischen Durcheinander von den Dachbalken. Dass in so einem Ambiente der Leibhaftige auftaucht, verwundert eigentlich nicht weiter, im Gegenteil: Sein Erscheinen wird von der Ausstattung nachgerade erzwungen. Die übrigen Szenen lebten von einer bezaubernden Mixtur architektonischer Elemente, die atmosphärisch gleichermaßen ins Märchenhafte wie ins Reale reichten. Hinsichtlich der Besetzung stand man damals vor der Qual der Wahl: Sollte lieber Hilde Güden oder Wilma Lippe bei der Premiere die Marguerite singen, Giuseppe Zampieri oder Waldemar Kmentt den Faust, Hermann Uhde oder Nicolai Ghiaurov den Méphistophélès, Kostas Paskalis oder Eberhard Waechter den Valentin? Man entschied sich kurzerhand für alle Aufgezählten A N DR EAS LÁ NG

Fausts Studierzimmer im Bühnenbild von Jean-Pierre ­Ponnelle 1963 →

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und bot gleich zwei Premieren an (bis zuletzt wurde im Detail hin und hergeschoben, Wilma Lipp beispielsweise von Termin zwei auf Termin eins – verständlicherweise sehr zum Missfallen Güdens.) Nur am Pult gab es keinerlei Variationen: Hier leitete niemand Geringerer als Georges Prêtre beide Abende und damit seine erste Staatsopernneuproduktion. Direktor Egon Seefehlner, der auch als Werke-Programmierer ein Feinschmecker war und sich gerne Stücke und Besetzungen gönnte, die ihm persönlich Freude bereiteten, brachte 1985, gegen Ende seiner zweiten Amtszeit einen weiteren Faust (mit Francisco Araiza in der Titelpartie) heraus – und landete einen Skandal, der rückblickend gesehen eigentlich kaum verständlich ist. Dass Regisseur Ken Russell Marguerite (Gabriela Beňaćková) in ein Nonnengewand steckte, Méphistophélès (Ruggero Raimondi) ein Schokoladenkreuz verspeisen ließ, die Szene zusätzlich mit zwei gehörlosen Kindern anreicherte und weitere ähnlich »schockierende« Details ersann, konnte kaum darüber hinwegtäuschen, dass hier altmodisch »hübsch arrangiert« (Kurier) wurde. Genau genommen erreichte der Premierenabend seinen szenischen Höhepunkt in dem Moment, als Ken Russell am Ende der Vorstellung vor den Vorhang trat und dem erbost buhenden Publikum seinen Allerwertesten zeigte. Dass der vorgesehene Dirigent Alain Lombard ausfiel und mit dem Einspringer Erich Binder »nur« ein ehemaliger Konzertmeister der Philharmoniker die musikalische Leitung übernahm, kann als Theaterpech verbucht werden. Nach einem für dieses Werk ungewöhnlich langen Interregnum von 18 Faust-losen Jahren sollte Nicolas Joel am 11. Oktober 2008 für eine neue Deutung sorgen. Seine hervorragende Daphne ein paar Jahre zuvor bot An 87

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lass zu großer Hoffnung auf eine kluge, zeitgemäße Inszenierung. Leider erkrankte er noch vor Probenbeginn schwer und konnte sein Werk nicht mehr selber ausführen. Zudem verstarb der Bühnen- und Kostümbildner Andreas Reinhardt vorzeitig und hinterließ lediglich zahlreiche Entwürfe – kein Wunder, dass während der Probenzeit darüber diskutiert wurde, die Aufführungen der ersten Serie konzertant zu geben. Letztlich kam es aber doch zur Realisation, bei der Stéphane Roche und Kristina Siegel als Nachlassverwalter versuchten, den Entwürfen und Ideen einigermaßen gerecht zu werden und Leben einzuhauchen. Auch auf musikalischer Seite gab es kurz vor der Premiere eine atmosphärische Eintrübung hinter den Kulissen: Bertrand de Billy, der schon damals die Neuproduktion leitete, hatte eine Version erarbeitet, in der manche Passage zum ersten Mal an der Wiener Staatsoper zu Gehör gebracht werden sollte. Aber Angela Gheorghiu weigerte sich erfolgreich, die SpinnradArie der Marguerite zu singen. Ein entsprechender Hinweis im damaligen Programmheft zeugt von den Eskapaden der Primadonna. (Mit den späteren Interpretinnen konnte diese Lücke zwar geschlossen werden, dafür wurden dem fünften Akt von Serie zu Serie immer weitere Passagen amputiert.) Nichtsdestotrotz gab es am Ende zumindest für den Dirigenten und die Sängerbesetzung verdienten Jubel (neben Gheorghiu konnte man unter anderem Roberto Alagna als Faust, Kwangchul Youn als Méphistophélès und Adrian Eröd als Valentin erleben). Und auch in den nächsten zehn Jahren begeisterten weitere große Sängerpersönlichkeiten in diesem kargen Umfeld, zum Beispiel Jonas Kaufmann und Piotr Beczała in der Titelrolle, Soile Isokoski und Sonya Yoncheva als Marguerite oder Erwin Schrott als Méphistophélès. Die Premiere der heute gezeigten Produktion in der Inszenierung Frank Castorfs (der damit sein spätes Hausdebüt am Ring gab) ging am 29. April 2021 unter der Leitung Bertrand de Billys über die Bühne: Corona-bedingt vor leerem Zuschauerraum – immerhin konnte das Publikum die Vorstellung live via Stream und einige Tage später in einer ORF-Übertragung miterleben.

DER T EU FEL IS ST AUCH GER N E SCHOKOLA DE

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Monika Bohinec als Marthe



Please allow me to introduce myself I’m a man of wealth and taste I’ve been around for a long, long years Stole million man’s soul and faith Pleased to meet you Hope you guess my name But what’s puzzling you Is the nature of my game → Mick Jagger, Sympathy for the devil

← Adam Palka als Mann des Reichtums und des Stils.


Ann-Christine Mecke

VERWEIGE­ RUNG DER ÜBER­EIN­STIMMUNG

Frank Castorf als Musiktheater-Regisseur


Frank Castorf darf als der einflussreichste Regisseur der letzten Dekaden bezeichnet werden. Nicht nur sein Umgang mit Texten, die Spiel- und Sprechweisen seiner Schauspielerinnen und Schauspieler sowie die überbordenden Strukturen seiner Inszenierungen haben das Theater weltweit verändert, sondern auch die ebenso monumentale wie sperrige Ästhetik der Bühnenräume und Kostüme, die besonders stilprägend von Bert Neumann († 2015) gestaltet wurden. Auch über die Inszenierungen hinaus war die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz unter der Leitung von Frank Castorf und Bert Neumann ein herausforderndes Vorbild für Theaterinstitutionen: Sie war ein kulturelles Zentrum ohne Genregrenzen, das auch als Nachtclub, Notunterkunft für Obdachlose oder politisches Diskussionszentrum dienen konnte. Castorf begann 1978 als Regisseur an verschiedenen DDR-Stadttheatern. 1988 inszenierte er zum ersten Mal an der Volksbühne, ab 1989 auch an westdeutschen Theatern. 1992 wurde er Intendant der Volksbühne – und blieb bis 2016. Seitdem arbeitet Castorf wieder als freier Regisseur an verschiedenen Institutionen, wie er es immer auch parallel zu seiner Volksbühnenintendanz getan hat. Insgesamt hat er weit über 100 Inszenierungen geschaffen. Eine Aussage zieht sich durch alle Interviews und alle künstlerischen Arbeiten Castorfs: Übereinstimmung ist ihm verhasst. Damit ist einerseits der falsche gesellschaftliche Konsens gemeint – das Negieren von unterschiedlichen Interessen und Machtgefällen zugunsten einer verlogenen Harmonie. Immer wieder provoziert Castorf den gesellschaftlichen Konsens nicht nur durch seine Kunst, sondern auch durch Äußerungen und Haltungen in Interviews. Anderseits ist Castorfs Übereinstimmungsvermeidung auch ein Kennzeichen seiner Kunst: »Es ist mir wichtig, eine These zu setzen und sie vehement zu negieren, ohne danach sofort zur Synthese durchzudrücken, sondern sie eher offenzulassen. Ich bin für die Irritation, das mephistophelische Prinzip der Verneinung, ohne zu sagen für wen, warum und wieso, ich möchte diesen Schwebezustand zwischen ja und nein, nicht wissend, wohin sich in diesem Augenblick etwas mit einer Antwort entwickelt.« Brüche, Aus-der-Rolle-fallen, Kommentare über den gesprochenen Text, Kalauer, Ironie und Distanz zum Gespielten sind Mittel, die Übereinstimmung auf der Bühne zu verweigern. Castorfs Aufführungen haben oft einen collagenhaften Charakter: Verschiedene Elemente wie Text, Gestik, Musik, Video, Bühne und Kostüm ergänzen sich in teils widersprüchlicher Weise und fordern die Interpretation immer wieder neu heraus. Technische Medien, insbesondere Video, spielen in Castorfs Kunst schon seit den 80er-Jahren eine wichtige Rolle. Sie stellen Bezüge zur mediengefilterten Gegenwartserfahrung her, konterkarieren das Bühnengeschehen oder assoziieren Bildwelten. Die Verwendung von Live-Video wurde ab 1999 zu einem charakteristischen Element 93

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vieler Castorf-Inszenierungen. Angeregt wurde diese Entwicklung ebenfalls von Bert Neumann, der erstmals geschlossene Räume als Bühnenräume entwarf, die nur mit Hilfe von Videokameras einsehbar waren. Die Kameraleute sind dabei in der Regel nicht versteckt, sondern sichtbare künstlerische Partner auf der Bühne. Allen technischen Mitteln zum Trotz lebt Castorfs Theater vor allem von den Darstellerinnen und Darstellern, die körperlich aufs Äußerste gefordert und oftmals zur Improvisation aufgefordert sind. Elemente ihrer »privaten« Persönlichkeit, »natürliche« Reaktionen wie Erschöpfung, Schmerz, Überraschung und Überforderung werden zum Bestandteil der Aufführung. Wie lässt sich ein solches Theater auf die Oper übertragen? Lassen sich körperliche Extremzustände mit Sängerinnen und Sängern realisieren, wenn im Operngesang Perfektion und feinste musikalische Kontrolle gefordert ist, und die Notentexte wenig Gelegenheit für Improvisation bieten? Wie kann die Gleichzeitigkeit einer These und ihrer Negation im Gesang umgesetzt werden, obwohl die klassische Gesangsästhetik kein »ironisches« Singen vorsieht?

Von Johann Strauß bis Wolfgang Rihm Vielleicht hat es mit diesen besonderen Herausforderungen zu tun, dass Frank Castorf erst relativ spät zum Musiktheater fand. Und die erste Musiktheaterproduktion – Johann Strauß’ Die Fledermaus am Hamburger Schauspielhaus 1997 – war bezeichnenderweise ganz den Techniken seiner Schauspielinszenierungen verschrieben. Ein auf zwei Klaviere und eine Trompete reduzierter Orchesterpart machte es möglich, die Musik an das szenische Spiel anzupassen und in Proben und Aufführungen spontaner zu reagieren, als dies mit einem Orchester möglich ist. Die Darstellerinnen und Darsteller unterbrachen den Dialogtext und die Musik mit Kommentaren, fielen aus der Rolle und verausgabten sich in Szenen der Albernheit und Demütigung, bis die Katerstimmung der letzten Szenen und die Erschöpfung von Mitwirkenden und Publikum sich aufs Schönste spiegelten. Die Stimmen durften zittern, brechen und sich überschlagen im dekadenten Irrsinn und Zynismus der Bühnenhandlung. »Die Fledermaus wurde so eher zu einem Stück für Leute, die sich vor Operette fürchten« schrieb ein Kritiker – aber das Gegenteil ist richtig: Die Aufführung legte offen, warum man sich vor dieser Operette fürchten muss. Die erste durchkomponierte Oper inszenierte Frank Castorf wenig später in Basel: Giuseppe Verdis Otello. Castorf entschied sich gemeinsam mit der Dirigentin für eine Aufführung unter Beibehaltung der Form von Verdi, also ohne Umstellungen, Zäsuren oder zusätzliche Sprechtexte. Die für Castorf so wichtige Konfrontation einer These mit ihrer Negation erlaubte die – erneut A N N- CHR IST IN E MECK E

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von Bert Neumann geschaffene – Grundsituation einer Bühne auf der Bühne. Hier präsentierte sich Otello im Renaissance-Kostüm dem modern gewandeten Chor, der ihm von einer Tribüne aus zusah. Die Konfrontation zwischen der vom Chor verkörperten Masse und dem Einzelnen wurde zum zentralen Thema des Abends: Otello macht sich vor den zusehenden Höflingen zusehends unmöglich, gebärdet sich wie ein hilfloses Kind oder wie der Wilde, für den er gehalten wird. Im Finale verendet Otello zurückgezogen im Halbdunkel, während seine Zuschauer längst das Interesse an ihm verloren und sich einem Gewaltfilm zugewandt haben – der einzige Videoeinsatz in dieser Produktion. Auch wenn Castorf später selbstironisch (und inklusive These und Antithese) feststellte: »Das war vor zehn Jahren, da kam ich mir vor wie ein Arrangeur, es war wie eine Vorbereitung aufs Altenteil. Das war aber durchaus interessant. Jedoch muss ich das nicht immer wieder so haben,« zeigten sich die Kritiker begeistert und überrascht von der genauen Analyse der Beziehungen zwischen den Figuren und insbesondere von der Darstellung der Hauptfigur. »Hinterher wird die Geschichte nicht mehr das sein können, was sie zuvor war, immer wieder wird zukünftig dieser tollpatschige, quäkende Kerl sich vor die konventionellen Macho-Otellos drängen und sie als aufgeblasene Pappkameraden denunzieren«, schrieb Jörg Königsdorf im Tagesspiegel. Nach dieser ersten Oper dauerte es ganze zehn Jahre, bis Castorf sich erneut einer musikalisch unbearbeiteten Oper zuwandte. Das bedeutet aber nicht, dass er sich nicht mit Oper auseinandersetze: 2006 entstand für das Grand Théâtre de Luxembourg eine Meistersinger-Aufführung in Bühnenbild und Kostümen von Jonathan Meese, die Wagners Werk mit Ernst Tollers Drama Masse Mensch verschränkte. Die Bearbeitung reduzierte das Orchester auf zwei Klaviere und ein Bläserquintett und die Aufführungszeit auf 2 ½ Stunden. Neben den Solistinnen und Solisten sang der »Chor der werktätigen Volksbühne«, ein Chor aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller Theaterabteilungen. Die Produktion wurde später an verschiedenen Bühnen in ganz Europa gezeigt. Außerdem beschäftigte sich Castorf an der Volksbühne mit dem Musiktheater Bertolt Brechts und brachte Der Jasager/Der Neinsager (Brecht/Weill, 2007) und Das Badener Lehrstück vom Einverständnis (Brecht/ Hindemith, 2010) zur Aufführung. Erst 2008 inszenierte Castorf auf Einladung der Wiener Festwochen wieder eine durchkomponierte Oper: Wolfgang Rihms Jakob Lenz. Erstmals unterbrach Castorf die eigentlich durchkomponierte Oper mit Sprechtexten, wobei er auf Georg Büchner zurückgriff (dessen Lenz-Novelle eine der Grundlagen des Opernlibrettos ist), offenbar im Bemühen, dem Libretto die sprachliche Komplexität Büchners zurückzuerobern. Die zweimal zwanzigminütigen Textpassagen, die von einer Schauspielerin und einem Schauspieler vorgetragen wurden, wurden von der Kritik jedoch als unprodukti 95

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ver Fremdkörper empfunden. Die Castorf-typische Antithesen kamen hier maßgeblich durch die Ausstattung zustande (Bühnenbild: Hartmut Meyer, Kostüme: Jana Findenklee und Joki Tewes): Mit Bezügen zum bösen Kasperltheater und zur Commedia dell’arte bildeten sie ein Gegengewicht zur emotional angespannten und radikal die Innensicht des Protagonisten vertretenden Musik Rihms. Erstmals setzte Castorf in der Oper eine Live-Kamera ein, die das Leiden des psychisch kranken Lenz vergrößert und voyeuristisch verfolgt.

Der Ring Drei Jahre später gaben die Bayreuther Festspiele die Sensation bekannt: Den Ring des Nibelungen im Jahr des 200. Geburtstags von Richard Wagner sollte Frank Castorf inszenieren. Eine von beiden Seiten mutige Entscheidung, wenn man die geringe Opernerfahrung des Regisseurs, die schwierigen Produktionsbedingungen in Bayreuth sowie die enormen Erwartungen an ein solches Vorhaben berücksichtigt. Auch war die Vorbereitungszeit ausgesprochen kurz – Frank Castorf wurde erst nach Absage von Wim Wenders angefragt. Umso erstaunlicher ist das Ergebnis. Für diese Produktion fand sich das Team zusammen, das auch alle folgenden Opernprojekte (und auch die eine oder andere Schauspielinszenierung) gemeinsam realisierte: Neben dem Regisseur Aleksandar Denić als Bühnenbildner (beide hatten bereits 2013 zusammengearbeitet) und Adriana Braga Peretzki als Kostümbildnerin, die seit 2007 regelmäßig mit Frank Castorf gearbeitet hatte. Bei jüngeren Arbeiten ist außerdem oft Lothar Baumgarte als Lichtdesigner beteiligt. Bei der Arbeit an Wagners Opernzyklus etablierte dieses Team einen Grundaufbau, der nicht nur für die vier Ring-Teile funktionierte, sondern sich als flexibel genug für andere Werke erwies und die von Castorf stets gesuchte Collagenform und inneren Widersprüche bereits in sich enthielt: Auf einer Drehbühne erlaubt ein monumentales, assoziations- und detailreiches Bühnenbild wechselnde Schauplätze ohne Umbauten. Aleksandar Denić, der lange als Set Designer für Film und Fernsehen gearbeitet hat, kombiniert dafür realistische Elemente verschiedener Herkunft zu surrealistischen Welten. Zwei Kameraleute auf der Bühne fangen Bilder an nicht einsehbaren Orten des Bühnenbilds sowie Nahaufnahmen der Sängerinnen und Sänger ein, die live abgemischt und mit vorproduziertem Videomaterial ergänzt werden. Das Video ist auf ein oder zwei im Bühnenbild integrierten Projektionsflächen zu sehen und erzählt die Bühnenhandlung weiter, denkt voraus oder setzt ihr etwas entgegen. Die opulenten, mit Elementen verschiedener Kulturen und Zeiten spielenden Kostüme Braga Peretzkis evozieren weitere Assoziationsräume. A N N- CHR IST IN E MECK E

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Als Hintergrund, vor dem die Geschichte des Ring des Nibelungen erzählt wird, fungierte die Geschichte des Erdöls, wobei das Rheingold keineswegs einfach mit dem »schwarzen Gold« gleichgesetzt wird, auch wenn beide ähnliche Wirkungen wie Gier, Machtkonzentration, Betrug und eine Gefährdung der Welt auslösen. Stationen der Erdölgeschichte dienen vielmehr als Rahmen für die verschiedenen Episoden von Wagners Geschichte und öffnen gleichzeitig einen Blick auf die Zeit seit der Komposition. Patric Seibert, Dramaturg der Produktion, erläutert: »Die Erzählung [nimmt] in den USA zur Zeit der großen Hollywood-Technicolorfilme – der scheinbar unbegrenzten Konsummöglichkeiten – ihren Anfang, springt dann nach Baku, wo in den 1880er-Jahren ein Ölboom aufkam, in den Nobel und Rothschild als Unternehmer investierten und der für den jungen Josef W. Dschugaschwili (den späteren Stalin) zum Katalysator auf seinem Weg zum radikalen Revolutionär wurde. Aus der ideologischen Steinzeit geht es rasch in den sozialistischen Realismus, wo man das Fürchten lernen kann. In einer Welt, in der alles aus Plastik gemacht ist, vergisst man schnell, woraus ›Plaste und Elaste‹ hergestellt sind. Die großen Ölkonferenzen der RGW [Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe]-Staaten in den 50er-Jahren ließen das sowjetische Rohöl in die DDR fließen, von wo aus die Sekundärprodukte nicht nur in den Ländern der Warschauer Vertragsorganisation weitergehandelt wurden. Die Industriegebiete bei Leuna und Bitterfeld, die schon synthetischen Treibstoff für die Wehrmacht des Deutschen Reiches hergestellt hatten, spielten wieder eine große Rolle. Der Weg führt von Baku über die IG Farben zu Buna ... endet er an der New Yorker Börse?« Entgegen der Annahme seiner Kritiker verzichtete Castorf erneut auf musikalische Veränderungen und ergänzende Sprechtexte. Die für ihn typischen Elemente der Verunsicherung und der Ironie entstehen vor allem durch das filmische Zusatzmaterial, durch Neben- und Gegenhandlungen, die vor allem im Video sichtbar sind, sowie dadurch, dass Castorf zahlreiche Erwartungen an einen Ring-Regisseur unterläuft, etwa, indem er von Wagner als dramaturgisch-musikalische Höhepunkte gestaltete Szenen eher beiläufig inszeniert. Der Dramaturg Patric Seibert erscheint in allen vier Teilen in verschiedenen stummen Rollen und verkörpert eine Art Narrenfigur. Während Das Rheingold vorwiegend positiv angenommen wurde, waren die Reaktionen auf die anderen Teile durchwachsen bis ablehnend. Legendär wurden die – nicht weiter erklärten – Krokodile, die während des Schlussduetts in Siegfried (»Leuchtende Liebe, lachender Tod«) auf den von Aleksandar Denić nachgebauten Alexanderplatz liefen und in SlapstickManier den Waldvogel auffraßen (den Siegfried zuvor in der anrührendsten Szene des ganzen Zyklus kennengelernt hatte). Für einige Zuschauer war das ein ersehnter »Comic Relief« gegen das überbordende Pathos des Duetts, manche entdeckten darin ein überraschendes Theaterzeichen mit Be 97

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zügen zu Dostojewski, anderen galt es als Inbegriff szenischer Willkür. Insgesamt wurde an Castorfs Ring-Inszenierung kritisiert, dass der Regisseur sich jenseits offensichtlicher Kapitalismuskritik einer Interpretation verweigere. Doch sahen viele Fans gerade darin die Stärke dieser Arbeit, und der Regisseur erklärte: »Ich glaube [...] nicht, dass Theater etwas sagen sollte, was man ernst meint oder politisch-philosophisch in den Raum stellen kann. Es ist tatsächlich das Flirrende, was mich interessiert am Schluss, das Vage [...].«

Gounod, Verdi, Janaček, Braunfels – und ein Pasticcio Castorfs gesamte Ring-Inszenierung war bis 2017, Die Walküre bis 2018 zu sehen. Noch während ihrer Laufzeit folgte Charles Gounods Faust für die Staatsoper Stuttgart – die Inszenierung, die heute an der Wiener Staatsoper zu erleben ist. Das Bayreuther Regie-Team arbeitete auch hier zusammen, wechselte allerdings die Videomannschaft, die für eine noch reichere und komplexere Videoebene sorgte. Seit dieser insgesamt begeistert aufgenommenen Arbeit inszenierte Frank Castorf mit seinem festen Ausstattungsteam (aber wechselnden Videoteams) fast im Jahresabstand an verschiedenen Opernhäusern: 2018 Aus einem Totenhaus von Leoš Janáček an der Bayerischen Staatsoper, 2019 Verdis La forza del destino an der Deutschen Oper Berlin, 2020 das Pasticcio molto agitato an der Hamburgischen Staatsoper (ein Ersatzprojekt für den der Pandemie zum Opfer gefallenen Boris Godunow) sowie Die Vögel von Walter Braunfels erneut an der Bayerischen Staatsoper. Fjodor Dostojewski gehört zu den Autoren, mit denen sich Frank Castorf im Schauspiel am intensivsten beschäftigt hat. Er brachte Dämonen (1999), Die Erniedrigten und die Beleidigten (2001), Der Idiot (2002), Schuld und Sühne (2005), Der Spieler (2011), Die Wirtin (2012), Die Brüder Karamasow (2015), Das schwache Herz (2017), Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett (2017) sowie Der grüne Junge (2018) zur Aufführung. Nun wandte er sich der Oper zu, die auf Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus beruht, einer Darstellung des kollektiven, von Gewalt und Ohnmacht geprägten Lebens in einem sibirischen Straflager, inspiriert von eigenen Erfahrungen des Schriftstellers. Castorfs Inszenierung der düsteren Janáček-Oper arbeitet mit Assoziationen und Bildern von Gefängnissen, Gulags und Konzentrationslagern verschiedener Epochen, findet bei aller Grausamkeit des Stoffes aber auch zu vereinzelten Bildern der Hoffnung und Freiheit. Auch La forza del destino ist ein düsteres Werk: In der sich über mehrere Jahre und Orte erstreckenden Handlung verstricken sich die Hauptfiguren in Krieg, Schuld und religiösen Normen. Das Kriegsgeschehen des Librettos (die Österreichischen ErbfolA N N- CHR IST IN E MECK E

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gekriege) bringt Castorfs Regie in Verbindung mit dem spanischen Bürgerkrieg und dem Ende des 2. Weltkrieges in Neapel. Mit rezitierten Texten von Heiner Müller (»Ich bin der Engel der Verzweiflung« aus Der Auftrag) und des italienischen Autors Curzio Malaparte thematisierte der Regisseur auf poetische Weise verschiedene Aspekte von Krieg und Kolonialismus – was zu Tumulten im Publikum bei der Premiere führte. molto agitato, ein Notprojekt, mit dem die Hamburgische Staatsoper im September 2020 nach langer Schließzeit wiedereröffnete, war deutlich durch die Infektionsschutzvorgaben geprägt: Statt einen opulenten Mikrokosmos drehte die Drehbühne »nur« das Orchester im weitgehend leeren, mit einzelnen Requisiten ausgestatteten Bühnenraum. Doch der Infektionsschutz ermöglichte auch ein Experiment, dass an einem großen Opernhaus sonst kaum zur Aufführung gelangt wäre: Ein instrumental und darstellerisch klein besetztes Pasticcio aus musikalischen Werken unterschiedlicher Zeiten, das szenisch mit den langen Wegen von der Brandmauer zur Rampe spielt und sich stumm ausgefochtene Kampfszenen, nachgespielte Filmszenen und Konzert-Elemente gestattet. Inspiriert von einer Szene der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2012 in London, in der James Bond die englische Königin ins Stadion begleitete, begann molto agitato mit Georg Friedrich Händels »Ankunft der Königin von Saba«. Darüber hinaus erklangen György Ligetis Nouvelles Aventures, Johannes Brahms’ Vier Gesänge, Ausschnitte aus Händels Serenata Aci, Galatea e Polifemo, Kurt Weills »Ballett mit Gesang« Die sieben Todsünden sowie Dialoge aus Quentin Tarantinos Reservoire Dogs. Der Zusammenhang der Musiknummern erschloss sich dabei nicht ganz und so war auch der produktive Konflikt zwischen Werk und Inszenierung nur momentweise spürbar; nicht zufällig bewerteten viele Kritiker das längste geschlossene Werk Die sieben Todsünden als Höhepunkt des Abends. Die disperaten Musikund Theaterstile verleihen dem Abend jedoch eine attraktive Revuehaftigkeit. Form und Inhalt verweigern sich dabei – natürlich! – der Übereinstimmung, denn es ist keine Revue der Unterhaltung, sondern eine von »Sex and Lies«, wie es eine Spielerin auf ein Banner schreibt, von Folter, Gewalt und Zynismus. Weniger eingeschränkt in der szenischen Gestaltung, aber leider nur für sehr wenige Zuschauer, gelangte Walter Braunfels Die Vögel im November 2020 zur Aufführung, eine 1920 auf Grundlage einer Komödie von Aristophanes entstandene Oper. Die Videodokumente der Produktion deuten eine gewohnt anspielungsreiche, aber doch im Vergleich zu den vorangegangenen, eher düsteren Opernarbeiten ungewöhnlich helle Inszenierung an, die in flirrenden Dialog mit der farbigen Musik Braunfels’ tritt. Es wäre zu wünschen, dass sie bald für ein großes Live-Publikum zu erleben ist.

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Mit unseren Liedern und mit unserem Schreien feiern wir Paris! Liebhaber und Maitressen, die sich lachend lieben! Schwüre und Versprechungen, die der Wind mit sich fortträgt! Plappernde Chansons, empfangene und erwiderte Küsse! Perlende Flacons: heraus mit den edlen Tropfen! Und piff und piff und piff und paff! Ja, das ist das Pariser Leben, Vergnügen, das keine Zeit zum Luftholen lässt, ja, das ist das Pariser Leben! → Henri Meilhac, Ludovic Halévy, Pariser Leben


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Impressum Charles Gounod FAUST Saison 2020/2021 HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Ann-Christine Mecke, Sergio Morabito Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Annette Sonnewend & Gabi AdébisiSchuster (WerkstattWienBerlin) Hersteller: Print Alliance HAV Produktions GmbH TEXTNACHWEISE – ORIGINALBEITRÄGE Sergio Morabito: Die Handlung (englische Übersetzung von Steven Scheschareg), Ann-Christine Mecke: Über dieses Programmbuch, Protokoll Das Schöne zu lieben ist nicht verwerflich, Faustische Etappen, Verweigerung der Übereinstimmung – Bertrand de Billy: Fast ein halbes Leben – Frank Castorf: Das Schöne zu lieben ist nicht verwerflich – Thomas Seedorf: Vielfalt der Besetzungsmöglichkeiten – Andreas Láng: Der Teufel isst auch gerne Schokolade ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Ida Kohl: Paris und die Franzosen. Skizzen, Dresden und Leipzig 1845 – Victor Hugo: Le Misérables, Troisième Parte: Marius, Paris 1862 (übersetzt von Ann-Christine Mecke) – Kristin Ross: Demokratie zu verkaufen, in: Giorgio Agamben u.a. (Hrsg.), Demokratie? Eine Debatte, Berlin 2012, S. 96–115 – Charles Baudelaire: L’Invitation au voyage (übersetzt von Sergio Morabito), in: ders.: Les Fleurs du mal, Paris 1857 – Jürgen Osterhammel: Die vier Imperien Frankreichs, in: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 627–633 – Arthur Rimbaud: Restposten, in: ders.: Illuminations. Leuchtende Bilder, übertragen von Reinhards Kiefer und Ulrich Prill, Aachen 2005, S. 81 – Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 68 – Jean-Paul Sarte: Der Kolonialismus ist ein System, in: ders.: Wir sind alle Mörder. Artikel, Reden, Interviews 1947 – 1967, Frankfurt 1988 – Émile Zola: Das Paradies der Damen (übersetzt von Armin Schwarz), Budapest 1894 – Tina Hartmann: Keine willenlos verführte Unschuld, in: Programmheft der Oper Stuttgart zu »Faust«, Stuttgart 2016, S. 40–45 – Charles Baudelaire: Verfemte Frauen, in: ders.: Les Fleurs du mal / Die Blumen des Bösen (übersetzt von Simon Werle), Reinbek 2017 – Hector Berlioz: Faust (26. März 1859), in: ders.: Die Musiker und die Musik, ins Deutsche übertragen von Gertrud Savić, Leipzig 1903 – Henri Meilhac, Ludivoc Halévy: La Vie parisienne, Paris 1866 (übersetzt von Sergio Morabito)

Die Premiere von Faust wird unterstützt von

BILDNACHWEISE Alle Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Coverbild: Akrobat Karl Carsony balanciert auf einer Champagnerflasche 1950 – Carsony Brothers - unpub. (Photo by Charles Hewitt/Picture Post/Hulton Archive/ Getty Images) Bühnenbildentwurf von Johann Kautsky: Theatermuseum Wien. Foto des Bühnenbilds von Jean-Pierre Ponnelle: Archiv der Wiener Staatsoper Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen sind nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. — DIE AUTORINNEN UND AUTOREN – Der Komponist HECTOR BERLIOZ (1803 – 1869) verdiente seinen Lebensunterhalt hauptsächlich als kompetenter und meinungsstarker Musikkritiker. – BERTRAND DE BILLY ist der Premierendirigent dieser Produktion. – TINA HARTMANN ist Germanistin, Professorin an der Universität Bayreuth und Opernlibrettistin. – IDA KOHL (1814 – 1888) war eine deutsche Schriftstellerin. Ihr dreibändiges Werk Paris und die Franzosen entstand 1845 nach langen Aufenthalten in Paris. – ANDREAS LÁNG ist Dramaturg, ANN-CHRISTINE MECKE Dramaturgin der Wiener Staatsoper. – JÜRGEN OSTERHAMMEL ist Historiker und emeritierter Professor der Universität Konstanz. Sein Buch Die ­Ver­wandlung der Welt ist eine Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts. – KRISTIN ROSS ist Romanistin und emeritierte Professorin der New York University. – JEAN-PAUL SARTRE (1905 – 1980) war ein französischer Philosoph und Autor und einer der wichtigsten Denker des Existenzialismus. Er positionierte sich ab 1955 gegen den Algerienkrieg. – ÉMILE ZOLA (1840 – 1902) war ein französischer Schriftsteller; der Roman Nana gilt als sein Hauptwerk. Der genau recherierte Roman Das Paradies der Damen (1884) beschreibt den Aufstieg eines modernen Kaufhauses in Paris.


→ wiener-staatsoper.at


Generalsponsoren der Wiener Staatsoper


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