Einsichten 18: Das Magazin der Evangelischen Journalistenschule

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In diesem Ordner befindet sich Linkes gesamte Recherche. Bei den Kindsherztönen in der Krankenakte wurden damals Fragezeichen eingetragen.

erst ab der 22. Woche.“ Ausgesprochen habe das der Arzt, der bei ihr im Krankenhaus in Merseburg die Ultraschalluntersuchungen durchführte. Da sei Linke bereits in der 25. Schwangerschaftswoche gewesen. In der 33. Woche sei sie dann nach Halle ins St. Barbara-Krankenhaus überwiesen worden, wo die Geburt eingeleitet werden sollte. Statt weniger Tage, wie für eine Geburtseinleitung üblich, habe Linke dann aber drei Wochen dort verbracht. Ihre Erinnerungen an diese drei Wochen sind bruchstückhaft. „Ich habe nur geschlafen“, sagt Linke. Man habe ihr wohl viele Medikamente gegeben. Ein junger Arzt habe ihr dann in der 36. Woche gesagt, dass das Kind in ihrem Bauch tot sei. Sie müsse nun nach Merseburg zurück, denn dies sei ein christliches Krankenhaus. Totgeburten bekomme man hier nicht. So erzählt sie es heute. Dem Krankenhaus in Halle ist zum jetzigen Zeitpunkt keine Regelung bekannt, dass Frauen in der DDR wegen bevorstehender Totgeburten an andere, nicht-christliche Häuser überwiesen worden wären. Man habe lediglich keine Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Tritte im Bauch Damals, in der Klinik in Halle, kann Linke nicht glauben, dass ihr Kind tot ist. Sie habe die Tritte im Bauch gespürt – auch nachdem der Arzt das Kind für tot erklärt hatte. Linke hält jetzt vor dem Carl-von-Basedow-Klinikum in Merseburg, knapp 30 Kilometer von Leipzig entfernt. Säulenkrankenhaus wird es auch genannt wegen der vier massiven Pfeiler am Eingang. „Der Ort jagt mir keine Angst mehr ein“, sagt Linke. „Den Teil habe ich aufgearbeitet.“ Sie steigt aus dem Auto aus, geht an den Säulen vorbei durch die Eingangstür und verweilt

einen Moment im Flur. Dreizehn mit orangefarbenem Linoleum bedeckte Stufen geht es drinnen noch einmal hoch bis ins Foyer. „Ich kann mich noch erinnern, wie ich mich auf der Treppe mit dem Krankentransportfahrer, der meine Tasche tragen wollte, gestritten habe“, sagt sie. Sie sei gereizt gewesen wegen der kaltherzigen und kurz angebundenen Aussagen der Ärzte. Der Fahrer habe sie beruhigen wollen. Linke ist sich sicher, dass sie am 23. Mai 1985, einen Tag vor der Entbindung, nach Merseburg gebracht wurde. Aber in ihrer Krankenakte heißt es, sie sei schon zwei Tage früher eingeliefert worden. Es ist eine von vielen Unstimmigkeiten, die Linke misstrauisch machen. Linke sagt: Bei ihrer Ankunft in Merseburg habe sie einen Blasensprung gehabt. Am nächsten Morgen habe man sie in den Kreißsaal gebracht. Ihr Kind sei unter Vollnarkose auf natürlichem Weg geholt worden – trotz des angeblichen Wasserkopfs, trotz der Beckenendlage, von der die Rede gewesen sei. Als sie wieder wach wurde, sei nur eine Krankenschwester bei ihr gewesen. Sie habe ihr gesagt, das Kind sei wie erwartet tot gewesen. Linke habe es sehen wollen, aber die Schwester habe es nicht erlaubt. Als Linke weiter fragt, habe die Schwester ihr geraten, jetzt still zu sein. Wieder draußen, vor dem Krankenhaus, zeigt Linke auf ein Dachfenster. Dort sei sie nach der Geburt in ein Einzelzimmer gebracht worden. Sie erinnert sich, dass sie aus diesem Fenster auf die Straßenbahn geblickt habe. Nach drei Tagen, am 27. Mai 1985, wurde sie entlassen. So steht es auch in der Krankenakte. Ein paar Wochen später habe sie eine Postkarte vom Bestattungsinstitut in Merseburg erhalten, erzählt sie heute. Sie könne die Sterbeurkunde für ihr Kind vom Bestatter abholen. Linke


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