Werkschau Text Band 9

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Schreibakademie GMÜND

Ist jetzt bald Neumond, weil der Mond wie ein C aussieht, oder heißt das, dass es Vollmond wird? Ich bin mir nicht sicher, aber ich nehme mir vor, Claire zu fragen. Vielleicht wissen es auch meine Eltern. Seit man Claire ihre Schwangerschaft ansieht, kommen sie öfter zu uns, besonders Mama. Sie sagt dann immer, dass Männer mit einer schwangeren Frau nicht umgehen können. Das stimmt aber nicht. Alles, was Claire sagt, tue ich auch. Gestern habe ich sogar das Geschirr abgewaschen, weil sie schlafen wollte. Wie Mama es mir gesagt hat, massiere ich Claires Schultern und Füße, wenn sie schmerzen. Wenn Papa das sieht, schimpft er mich ein rückgratloses Weichei. Ich frage mich, was er damit meint. Er selbst hat mir doch gesagt, dass ich meinen Eltern nie widersprechen soll, und jetzt will er auf einmal, dass ich es tue? Dass ich tue, was Claire mir sagt, tue ich nicht, weil sie wie Mama ist, sondern deshalb, weil ich sie liebe. Außerdem gehört auch sie zur Familie. Papa ist auch immer ganz zärtlich zu Mama. Er bringt ihr Geschenke mit, wenn er irgendwohin muss. Aber dafür habe ich das Geld nicht, also tue ich Claire einen Gefallen, wenn sie mich darum bittet. Früher hat Mama mich immer beschützt. Nie hat sie mich allein gelassen, damit sie mir immer helfen kann. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Die Kinder in der Schule haben mich ein Muttersöhnchen genannt. Damit haben sie Recht, sie selbst sind doch auch Söhne ihrer ­Mütter, oder? Bis heute weiß ich nicht, warum Mama mich umarmt und gesagt hat, dass ich ein naiver Dummkopf bin, bevor sie zu den Eltern meiner Klassenkameraden gegangen ist, als ich ihr davon erzählt habe. Papa war stets sehr streng zu mir. Er hat mich immer geschimpft, wenn ich einen Fehler gemacht habe. Weil Mama mich nur lobt, macht Papa nichts anderes, als mich zu ermahnen. Ich hoffe, dass Claire und ich auch so gute Eltern sein können. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffen kann, meinen Sohn auszuschimpfen. Beschützen kann ich ihn aber auch nicht, schließlich habe ich eine Arbeit. Und ich weiß nicht, wie ich die Kinder auf dem Spielplatz davon abhalten sollte, mit ihm zu spielen. Mama hat sie nie zu mir gelassen, weil sie gefürchtet hat, dass sie mir wehtun könnten. Wenn ich Claire von meiner Erziehung erzähle, werden ihre Augen groß und rund. Manchmal beginnt sie auch zu lachen. Aber wenn ich sie dann frage, warum sie gelacht hat, schaut sie mich ganz überrascht an. Manchmal glaube ich, dass Papa eifersüchtig auf mich war. Schließlich war ich viel öfter bei Mama als er. Sie hat mich immer in ihrem Bett schlafen lassen und war den ganzen Tag mit mir weg. Ich frage mich, wie ich durchhalten soll, wenn ich Claire monatelang nicht sehe, weil ich arbeiten muss.

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Nicole Schmid

Nachdem ich Claire meinen Abschiedskuss gegeben habe, setze ich mich hinter das Lenkrad. Im Weg­ fahren betrachte ich noch ein Mal mein kleines, weißes Häuschen in den Außen­bezirken der Stadt. Ich bin stolz darauf. Ich weiß noch, wie wir das Häuschen gefunden haben. Es war kurz nach unserer Hochzeit, und Claire begleitete mich auf einer Fahrt. Sie sah das Häuschen und verliebte sich sofort. Sie ist Grafikerin und werkt zu Hause. Wir beide arbeiteten hart, um genügend Geld zu bekommen. Wir wollten nämlich keinen Kredit aufnehmen, weil wir nicht wussten, ob wir ihn zurückzahlen können. Unsere Arbeit bringt nicht immer gleich viel ein. Es war ein Traum, als wir das Häuschen dann endlich kaufen konnten. Zwar ist es klein, aber trotzdem haben wir hart dafür gearbeitet. Zu Mittag kaufe ich mir bei einem Dönerstand etwas zu essen und fahre dann weiter. Als ich gegen drei müde werde, drehe ich das Radio auf. Der Sender gibt soeben die Nachrichten durch. Allein an diesem Tag gab es fünf Verkehrsunfallopfer. Ich bin froh, dass mir so etwas bis jetzt nicht passiert ist. Ich wüsste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Danach spielen sie „Highway to Hell“. Das Lied gefällt mir, ich singe mit. Schön langsam wird es dunkel. Ich bin glücklich darüber, dass ich es bald geschafft habe. Ich schätze, dass ich noch eine Stunde fahren muss. Durch tiefe Wälder fahre ich. Die Bäume werden immer größer und dunkler. Meine Gedanken wandern wieder zu Claire. Ob ich sie anrufen soll? Sie schimpft immer, wenn ich beim Fahren telefoniere. Ich mustere den Nachthimmel und suche den Mond. Zuerst finde ich ihn nicht, aber dann bemerke ich sein sanftes Licht hinter den Baumwipfeln hervorleuchten.


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