Leseprobe: Sabine Scholl - Die im Schatten, die im Licht

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dem mechanischen Ratschen, als er die Kurbel dreht, um den Film einzuziehen. Drückt so lange auf den silbernen Auslöser, bis der Einser im kleinen Sichtfenster erscheint. Schussbereit. Aus der Lade hinter den gebügelten Taschentuchquadraten holt er seine Armbinde, die er ab nun nicht mehr verstecken muss, und legt sie an. Von seinem Fenster aus überblickt er den Platz. Die Autos nähern sich. Eine neue Epoche bricht an. --- Gretel fingert an ihrem Halstuch, rückt die Lederhandtasche zurecht, obwohl sie sich inmitten der Wartenden befindet, nicht in vorderster Reihe. Als die Wagen endlich auftauchen, geht ein Murmeln durch die Menge. Gretel hört die weiter vorn Stehenden rufen: Jetzt, jetzt, jetzt! Da biegt die erste Schnauze eines dunklen Automobils mit runden Radflügeln um die Kurve. Kommt kaum vorwärts. Links und rechts der Hauptstraße beginnen immer mehr Leute begeistert zu schreien. Gretel kichert, blickt um sich, hüpft hoch, versucht über die Schultern der größeren Männer zu sehen. Da packt die Welle sie, die Rufe, das Lachen, so schön, alle zusammen, Gänsehaut kriecht ihr über den Rücken, den Hals hinauf, überzieht ihre Brust, und sie ergibt sich dem Gefühl, kreischt auch. Endlich deutsch sein, sogar wir, hier in Grieskirchen, ohne was dafür zu tun. --- Hinter der Kavalkade aus pechschwarzen Fahrzeugen erkennt Gretel nun einige Lehrer, die aus dem Gasthaus geströmt sind. An den rechten Armen ihrer Jacken leuchtet das Rot der Stoffbinden mit dem weißen Kreis, heimlich genäht von ihren Ehefrauen. Sogar der Herr Pfarrer ist gekommen und hält seinen Arm ausgestreckt in den Himmel, sichtbar für alle. Hinter den Autos knattern die Motorräder der einfacheren Soldaten und hinterlassen eine Geruchsspur von Auspuffgasen. Gretel atmet tief ein, wird in die Mitte des Platzes gedrängt, steigt auf den Vorsprung des Brunnens, um besser zu sehen. Hält sich am Steinrand fest, will die Gesichter der uniformierten Männer erkennen und hofft, dass sie für einige Zeit bleiben. --- Inzwischen ist die Nacht eingefallen. In den Turnhallen der Hauptschule stehen Feldbetten bereit. Sogar in der Schwesternschule werden Soldaten untergebracht. Jeder verfügbare Raum wird gebraucht. Die Klosterschwestern dürfen die Deutschen bedienen, weil sie die Bräute Jesu sind. In den Fremdenzimmern der Wirtshäuser kommen die höheren Ränge unter. Die Nudelsuppen brodeln, Fleisch brutzelt im Rohr, duftet herrlich wie an einem Sonntag. Obwohl Freitag ist. Andererseits könnte

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