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Gedanken zum Bauen im Hochgebirge Nicola Baserga

GEDANKEN ZUM BAUEN IM HOCHGEBIRGE

Erschreckendes und Erhabenes

Das Thema Bauen im Hochgebirge ermöglicht einen historischen Blick auf die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Hierzu dienen einige wichtige Beiträge aus der Literatur wie beispielsweise der Aufsatz «Von den schrecklichen zu den schönen und erhabenen Bergen» der Historiker Ruth und Dieter Groh, aus dem ich die folgenden Denkanstösse ableite.

Der Aufsatz erlaubt es mir, einen speziellen Einblick in den durch einen positiven und lebensbejahenden Akzent gekennzeichneten Austausch zwischen Mensch und Natur zu gewinnen. Eine Sicht, die sich eindeutig vom Negativen und Schwarzmalerischen absetzt. Obgleich sich diese Beziehung seit tiefster Vergangenheit weitgehend zum Guten hin entwickelt hat, zum Beispiel im Zeitalter der Propheten oder während der Blütezeit der griechischen Antike, hat sie sich nachträglich doch immer mehr weniger günstigen Voraussetzungen beugen müssen. Im Hellenismus galt die philosophische und ästhetische Form der Naturbewunderung als Norm, während es für die Kirchenväter die Schöpfungstheorie war, welche den Menschen seiner natürlichen Umgebung näherbringen sollte, insofern, als sie selbst zum menschlichen Dasein, also zur Existenz, beitrug. Doch das war nicht immer so. In der Tat war die Beziehung zwischen Mensch und Natur vom Ende des Römischen Reiches bis hin zu den Toren des Mittelalters von Unannehmlichkeiten geprägt. Diese Tendenz, die auch während des ganzen Mittelalters deutlich anhielt, verschärfte sich im Laufe der Zeit so sehr, dass jegliche Neugier auf die wilde Natur in einen von Sünden behafteten Kontext fiel. Mit der Abfassung der Concupiscentia oculorum und dem daraus folgenden Beispiel der Vana Curiositas verbot der Heilige Augustinus im letzten Jahrzehnt des vierten Jahrhunderts nach Christus jegliches Interesse gegenüber unkultivierter Natur, sei es aus wissenschaftlichen Gründen oder aus sei es purem Hedonismus heraus.

Nicola Baserga dipl. Architekt ETH baserga mozzetti architetti 6600 Muralto

Zu diesem Szenario schenkt uns das Bild des Malers Jan van Eyck mit dem Titel Rolin-Madonna aus dem Jahre 1436 einen visionären Ausblick in die darauffolgende Zeit (1). Dieser Begriff der Entwicklung, der zunächst erst während der Aufklärung fassbar wurde, ist jedoch hauptsächlich später, in der Romantik, anzutreffen. Auf diesem Gemälde von religiös meditativem Charakter ist tatsächlich die Begegnung der Heiligen Jungfrau mit dem Kanzler Nicolas Rolin höchstpersönlich zu sehen. Kennzeichnend hier ist der architektonische Hintergrund, der durch einen Säulengang hindurch in die Ferne zieht und sich in eine wiederum in feinste Details ausgearbeiteten Landschaft wandelt, die sich in Stadtgärten und ländliche Hügel aufteilt, um sich am Horizont mit dem Hochgebirge zu verbinden. Die weit entfernt gelegene, unwegsame Landschaft deutet erneut auf eine idealistische und bejahende Wahrnehmung der Natur hin. Um jedoch zu dieser Entwicklungsform zu gelangen, muss man zuerst die protestantischen Reformen aus dem 16. Jahrhundert abwarten. Das Volk musste zunächst die Einwirkung Zwinglis, dann diejenige Bullingers erfahren. Mit ihren Theorien befürworteten diese eine Rückkehr zum prophetischen Glauben, welcher der Schöpfungsgeschichte einen positiven Wert zuschreibt, als Wirkung des göttlichen Willens und der göttlichen Macht.

Diesen Spuren folgend, würden wir heute wohl dem Pionier Conrad Gesner begegnen, der als einer der ersten und inbrünstigsten Forscher in entlegenen und unwegsamen Alpengebieten gilt. Mit seinen bahnbrechenden Expeditionen war er stets auf der Suche nach Werten, die eine der Natur zugeneigte Theologie aufzeigen. Die schriftlichen Zeitdokumente seiner ersten Forschungsreisen stellen in gewisser Weise erste Reiseführer für Exkursionen ins Hochgebirge dar. Sie liefern zudem wichtige wissenschaftliche Beschreibungen und bezeugen die wiedergefundenen hedonistischen Empfindungen. Die Verstärkung solcher Empfindungen in der Natur macht die Zeitepoche der Romantik geradezu aus. Dank meditativer Erfahrungen und persönlich empfundener Sinneswahrnehmungen, die mit der Natur und deren Offenbarungen in Verbindung stehen, war der Mensch in der Lage, seinen Geist in höhere Sphären zu versetzen.

Von den Anfängen bis zum heutigen Bauen im Hochgebirge

Im Hochgebirge zu bauen heisst, sich den aussergewöhnlichen Bedingungen des Berges und dessen Erscheinungen zu stellen. Das Negative, als Erinnerung an unsere Urängste; das Positive als Sich- Erheben des Geistes; die latenten Gefahren verbergen sich in den Falten des Erhabenen. Eine Berghütte zu planen bedeutet, bezüglich der Gegebenheiten der wilden Natur im Hochgebirge Stellung zu beziehen. Bloss die Schönheit suchen oder sich vor den Gefahren schützen? Oder ein Gleichgewicht zwischen den wundersamen und den feindlichen Elementen einer Natur finden, in der der Mensch nicht nur Gast, sondern auch Nutzniesser ist. Der Bau einer Berg- hütte im hochalpinen Raum entsteht aus dem Bedürfnis heraus, in einer potenziell gefährlichen und doch anziehenden und betörenden Umgebung Schutz zu finden. Die Geschichte des Bauens im Hochgebirge entwickelt sich aus der Dichotomie «schön» versus «hässlich» und ist zwischen Anziehung und Feindseligkeit anzusiedeln. Sie bietet uns den Übergang vom «Existenzminimum» der ersten Bergunterkünfte und lakonisch eingerichteten Lager zum Luxus des Extremen und der Täuschung der unberechenbaren Gefahr. Eine Berghütte zu planen heisst eben, den eigenen Standpunkt zu wählen, auf der Suche nach der Schönheit, mit dem Bewusstsein der Gefahr.

Der Ursprung der ersten alpinen Hütten liegt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bis unlängst waren sie noch durch eine klischeehafte Nachbildung einfacher Bautypologien charakterisiert, die sich im Laufe der Zeit mit leichten Veränderungen an örtliche Gegebenheiten anpassten. Gehaltvolle, einfach geschnittene Volumen in Naturstein mit Satteldach, dessen First sich parallel zum natürlichen Berghang neigt. Es handelt sich um eine wesentliche Bautypologie, die darauf angelegt ist, sowohl in ihrer horizontalen als auch in ihrer vertikalen Ausrichtung die grösstmögliche Anzahl an Schlafplätzen und ebenso viele Sitzplätze anzubieten, und in unmittelbarer Nähe zueinander gelegene Küchenräumlichkeiten und Räume für den Hüttenwart sowie gezielte Öffnungen zu schaffen. Letztere zielen darauf ab, viel Lichteinwirkung zuzulassen und gleichzeitig der Verletzlichkeit der Behausung im zweckbestimmten, gewissenhaften Austausch mit der Landschaft ge-

recht zu werden. Das Ergebnis deutet im Wesentlichen auf eine Kraftleistung hin und ist von einer Strenge geprägt, die sich nur an der Herrlichkeit der Alpen messen kann. Diese Faktoren sind es, die dem Bau im Hochgebirge sowohl seine Form gegeben als auch dessen kollektive Vorstellung geprägt haben. Baustruktur nach Baustruktur ist aus diesem Ansatz heraus entstanden, um einerseits auf Zweifel und andererseits auf Begeisterung zu stossen. Sicher aber bleibt, dass in erster Linie die Hüttenwarte, die mit viel Mühe und Verantwortung für den Unterhalt der Häuser im Hochgebirge einstehen, jede für die Behausung vorgesehene Anfertigung bisher mit Dank und tiefster Zuversicht angenommen haben.

Mit dem wachsenden Interesse an der alpinen Landschaft und seinen hedonistischen Verlockungen ist die alpine Hütte immer mehr durch eine besondere Beziehung zur Umgebung charakterisiert. Es gilt, eine strategisch gute Lage zu finden und gleichzeitig der Landschaft bautechnisch gerecht zu werden.

In der Schweizer Bergwelt ist es vor allem der Architekt Hans Leuzinger, der als Erster einen der plastischen Umgebung und den spezifischen Landschaftsbildern angepassten Baustil vorgeschlagen hat. Die Planurahütte ist Teil eines avantgardistischen Projekts, das die Fähigkeit des Konstrukteurs aufzeigt, dem es gelingt, ein harmonisches Zusammenwirken zwischen natürlicher Form und Architektur zu finden. Er stellt diese zwei Paradigmen im Dialog einander gegenüber. Das konvexe Profil der Aussenflächen im Gegensatz zur konkaven Innenseite nimmt eine räumliche Beziehung zum auslaufenden Felssporn auf. Das Zusammenspiel auf Distanz ruft einen Hauch von Urbanität hervor, der sich auf dem Plateau zwischen der Senkrechten des Sporns und der auf der kleinen Stirn befindlichen Ausrichtung präsentiert (2). Es ist also verständlich, dass das Baumaterial und das effektive Wirken in diejenige Zeitepoche gelegt werden müssen, zu der verblüffenderweise auch das Bauwerk zählt: in die Dreissigerjahre. In der Folge entwickelte Leuzinger mit dem Projekt des Ortstockhauses erneut dasselbe Thema der leichten Biegung mit Blick auf die Landschaft, auch von den Seiten her. Er führte mit den sich wiederholenden Eternitplatten einen industriellen Ausdruck ein. Das Dach, leicht nach hinten gebeugt, zeigt die Absicht einer ersuchten Nüchternheit von moderner Referenz (3). Komplexer und organischer erweist sich der Baustil von Jakob Eschenmoser, der, auf der

stetigen Suche nach der maximalen Effizienz, sich mit der Exzentrizität der Räume in Verbindung mit der vertikalen Erschliessung beschäftigt. Seine Architektur zeigt aber auch eine Vielfältigkeit der Fronten und Flanken in Bezug auf die landschaftlichen Gegebenheiten. Aus diesem Modus operandi geht offenbar hervor, dass auch die neue Monte-Rosa-Hütte in erneuter Tonalität und nach brandneuer Forschungstechnik entsteht. Sie bleibt wohl an der Spitze einer Forschung, die dazu neigt, Referenzängste in Bezug auf die Paradigmen des Vorstellbaren im Hochgebirge zu überwinden.

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Drei alpine Hütten, Analogien und Abstufungen

Die Bautätigkeit im Hochgebirge führt immer wieder zu neuen Ansätzen, um durch Projekte und unter Einbezug jeder Spezifizität der Lage für den Bau einer Hütte am vorgesehenen Ort gezielt eine Lösung zu finden. Eindrücklich versteht es die Sprache dreier Hütten, auf moderne Art und Weise und frei von Sentimentalitäten sowohl die Bestandteile der örtlichen Baukunst als auch die vom Minimalismus her geprägten Linien miteinander zu verbinden, um gewissermassen eintönig auf das neue Prinzip der Baumodalität im Hochgebirge zu verweisen. Drei Projekte also, die essenzielle Themen aufgreifen, wie die Standhaftigkeit, das Fassungsvermögen, die Gebäudewartung und den Unterhalt der Gebäudehülle und aller Öffnungen. Diese Projekte erweisen einander ihre besondere Andersartigkeit, indem sie sich gleichzeitig an eine ähnliche, vorgegebene Grammatik halten. Insbesondere besteht jedoch Hans Leuzingers Bauwerken gegenüber eine überaus grosse Erkenntlichkeit. Aus ihnen gehen teilweise grundlegende Prinzipien des heutigen Bauens im Hochgebirge hervor.

Die Capanna Cristallina oder Cristallinahütte, die erste unserer drei Hütten, ist auf über 2500 Metern über Meer, auf dem Cristallinapass, entstanden, in einer den vorherrschenden Wetterbedingungen besonders ausgesetzten Lage. Gerade die zerstörerische Kraft der Lawinen hat dazu geführt, dass man die Hütte an der jetzigen Lage auf dem Pass gebaut hat, anstatt sie im verfänglichen Innern des Tals anzusiedeln, wo sie bisher stand. Und obschon bei der Projekt-

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ausschreibung die Möglichkeit vorgeschlagen wurde, den Bau auf die Hochebene des Gebirgspasses zu stellen, haben wir uns schliesslich für den Bauort am Pass selbst entschieden, um den freien Zugang ihrer kongenialen Bestimmung zuzulassen, als Durchgang für Winde und Menschen. Das Bauwerk liegt also auf einem nach Süden gerichteten, dem Pass direkt anliegenden Plateau, das sich auf den Basodinogletscher hin öffnet und von einem prachtvollen Ausblick auf die Alpenlandschaft umgeben ist. Ein Pfosten mit einem «Pulka-Schlitten», im Militär einst als kleines Rettungsfahrzeug eingesetzt, der klar und deutlich sichtbar zwischen den beiden Talebenen lag, hat uns bei der Bestimmung der Lage der Hütte unterstützt und diese zweckmässig bestimmt, um eben auch in rauer Umgebung Unterschlupf gewährleisten zu können. Die Hütte ist also gut in der Landschaft ersichtlich, erschliessbar und eingebettet.

In den architektonischen Entwurf sind mehrere Bilder und Referenzen eingeflossen, welche die Gestaltung beeinflusst haben. Ausgangslage ist in primis die rurale Architektur des Hochgebirges, analog zu derjenigen eines Kleinbaus, der von ortsgegebenen, autochthonen Ressourcen getragen wird. Es geht um den Stein, der aus dem Aushub entnommen und vor Ort verarbeitet wurde, um den Bau auf die Erde zu setzen, eine Horizontale zu bilden, auf welche die Holzteile gelegt werden. Diese in den Ecken verbundenen einheimischen Lärchenstämme werden mit Steinplatten bedeckt, welche das Bauwerk schützen und abschliessen (4). Ein Alpenstall – umgangssprachlich auch «Barchessa» genannt, wie später unser Projekt –, parallel zum Berghang konzipiert und länglich geformt, war ursprünglich zur alpwirtschaftlichen Nutzung vorgesehen. Ebenso wurde diese Einrichtung im Einklang mit ihrer Umgebung nicht nur als länglicher Körper errichtet, sondern zusätzlich auskragend, um den Zugang zu kennzeichnen (5). Die minimalistische Kunst von Richard Serra, reduziert auf den Ausdruck von aufeinander gestellten und verschobenen Würfeln. Ein Fotogramm von Werner Herzog mit Klaus Kinski und im Hintergrund ein Schiff, welches den Berg hochgezogen wird, als Metapher – eine Hütte im Berg ist wie ein Schiff im Ozean, solitär und schützend. Dazu kommt die Kraft des Aktes, im Hochgebirge zu bauen (und die Unerfahrenheit zweier junger Menschen) (6). In ihrer heutigen Form liegt die Capanna Cristallina direkt neben dem Passübergang auf einem Sockel aus Stein, der aus der Baugrube selbst stammt.

Der Sockel bildet gleichermassen die Horizontale, auf der ein leicht auskragender Holzbau steht, der als zugangsweisender und schutzbietender Vorbau eine Beziehung zum Pass herstellt. Der Bau ist von beiden Tälern her sichtbar und liegt an der selben Stelle, wo auch einst der «Pulka-Schlitten» stand (7, 8). Die Vorderseite ist schlicht gezeichnet. Charakter verleihen ihr die waagrechten und zum Schutz gedachten, leicht übereinandergelegten Holzschichten. Immer wieder sind Luken eingebaut, deren Anlegung an den Prozess der Vorfertigung erinnert, der dazu neigt, identische Bauelemente wiederholend aneinanderzugliedern (9). Im Innern öffnet sich eine einzige Fensterform wiederholt auf die verschiedenartigen, sich im ständigen Wandel befindenden Landschaftsperspektiven (10). Der Grosszügigkeit des einzigen Gemeinschaftsraumes mit dazugehörender Kochmöglichkeit, der das wahre Herzstück des Hauses bildet, stehen einzelne, kleine Räume mit ihrer eigenen Privatsphäre gegenüber. Die gewählte Einrichtung huldigt Leuzingers Wirken, und zwar einerseits dem Stuhl von Horgenglarus, der von historischer Bedeutung ist, andererseits der unaufhörlich treibenden, von Ehrgeiz geprägten Leidenschaft zum Gesamtkunstwerk, dem auch wir an dieser Stelle unseren Tribut zollen.

Das Dach schliesslich, als fünfte Fassade gedacht, setzt mit der Umgebung eine reduzierte Geste metaphysischer Inspiration voraus, indem es die Steinbedeckung des kleinen ruralen Baus wieder aufgreift. Die linear gehaltene, aus Steinplatten gebildete horizontale Grundform mag Nostalgiker provozieren, bietet Eis und Wind aber die kleinstmögliche Angriffsfläche (11). Dicke Schneeschichten, die das alleinstehende Haus im Winter bedecken und umgeben, mahnen uns an dessen eigentlichen Zweck, dem Menschen in einer noch so herrlichen, ihm jedoch grundsätzlich feindlich gesinnten Natur und Umgebung gebührende Zuflucht zu geben (12).

Die Capanna Motterascio «Michela» erlaubt es uns wenige Jahre später in der Hochebene des Bleniotals, dasselbe Thema aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten – immer noch auf über 2000 Metern über Meer und doch in einer eher weniger alpinen Umgebung, unmittelbar hinter der wunderschönen Greinahochebene. Das auszubauende Gebäude zeigt nacheinander vorgenommene Erweiterungen des bereits vorhandenen Kerngebäudes, eines klei-

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nen Stalls. Die Anbauvorrichtungen sollen eher zu mehr Komfort verhelfen, als dass sie zur Ausdehnung des eigentlichen Wohnraumes beitragen würden.

Bereits aus der Distanz erkennt man das Wechselspiel von strukturellen Füllungen und den Holzelementen der Zwischenräume sowie die Horizontalität des Baus und des Sockels, auf dem das Gebäude steht. Das Projekt ist das Gegenüberstellen eines vertikalen Volumens zum horizontalen Bestand. Das grosse Eckfenster und das Photovoltaikelement stehen im Dialog zur Abfolge der Leere und Füllung des Vorgefundenen. Die Vertikalität des Neubaus erinnert an Turmanlagen als Verteidigung des Gebietes erdachte Bollwerke, aber auch an als strategisch äusserst günstig gelegene Ausschauorte, an gegebenen Referenzpunkte im Hochgebirge selbst (13). Die kleinen, in ihrer Form und Auslage repetitiv angeordneten Zimmeröffnungen gliedern sich fügig der Sektionsbauweise der an den Aussenseiten angemachten Kupferpanels an. Letztere lassen sich zu ihrer Patina passend in die Schattenseiten der topografischen Spalten integrieren und stellen sogar eine Beziehung zum dunkel gefärbten Gestein der Greina her. Empfang bietet hier von der Treppe aus vordergründig eine in der ersten Etage inmitten des bereits vorhandenen und des neuen Aufenthaltsraums gelegene Landschaft des hochalpinen Gebirges, das uns unmittelbar mit dem Blick in die Ferne zum prachtvollen Adulamassiv hin zieht. Der Aufenthaltsraum selbst schliesst eine offene Ecke mit Sicht auf den weiter unten liegenden Stausee ein, während zu den oberen Stockwerken kleine Treppenstufen die Mühe des Aufsteigens erleichtern (14, 15).

Zum Schluss unserer hochalpinen Trilogie sei das Projekt des Anbaus der Cabane de Moiry mit direkter Aussicht auf den gleichnamigen Gletscher genannt, der einen letzten Blick sublimen Charakters auf eine immerhin leicht zugängliche Hochgebirgslandschaft zulässt. Dieselbe Landschaft hat sich durch die nahe Anlage eines Wasserkraftwerkes vielleicht zu rasch auch als «nützlich» erwiesen, was das direkt damit verbundene Schicksal der Gletscherschmelze aufzuzeigen scheint. Das bereits bestehende Gebäude erweist sich als Modell typologischer Stereotypie, von der bereits die Rede war – militärischen Ursprungs, jedoch von bedeutungsvoller und anerkannter Konnotation, wegen seiner Lapidardichte und nichtsdestoweniger wegen der Präzision, mit der

die einzelnen dachbildenden, geneigt angelegten Kupferplatten bearbeitet worden sind. Davor befindet sich eine zu labile und im Unterhalt aufwendige Terrasse. Sie lässt uns die Möglichkeit eines neuen Sockels aus Stein erahnen, zum Wohl der Gäste, als Terrasse und gleichsam als Tablett mit Panoramablick vor der Hütte, aus demselben Stein wie diese gebaut. Daneben scheint sich ein neues, horizontal konzipiertes Raumvolumen vom Erdboden her zu erheben, um sich an der Gletscherlinie zu spiegeln; Wagnis einer unverfrorenen Öffnung des Raumes, das sonst in Kupfer gekleidet, wie die Hülle der Behausung selbst, erscheinen würde (16). Die Materialreduktion für den Bau besteht in der Wahl von einfachem Gestein und Kupfer für die Aussenseite und hellem Tannenholz für das Innere. Wiederum wird auf die minimalistisch gehaltene, moderne Bauweise verwiesen. Die damit einhergehende Herausforderung, das Bestehende aufzuwerten, wird dadurch erfüllt. Dieses zuletzt vorgestellte Projekt drängt über das Beispielhafte der Hütte, die dem Schutz des Menschen dient, hinaus, um auf die Bedeutung des regelmässigen Tourismus für einen Bau der Hütte zu lenken, und eben nicht nur, um das Interesse einzelner Bergsteiger zu gewinnen. Der Innenraum steht offen und in direktem Bezug zur gegenüberliegenden Gletscherlandschaft, welcher sich nur die Primärstruktur überlagert (17, 18). Im Gegensatz zur minimalen Öffnung der Capanna Cristallina, und nach der Erfahrung des wortwörtlich herausragenden Capanna-Motterascio-Eckbaus, ist hier die moderne Struktur einer in der Natur und Landschaft offen liegenden Raumanlage spürbar. Im Spektrum zwischen verbindender Öffnung auf die Umgebung und Schutz gewährender Behausung finden sich den verschiedenen Projekten entsprechend auch unterschiedliche Positionen zur Beziehung zwischen Natur und Architektur, und weiter überhaupt zur Synergie Mensch–Natur sowie schliesslich auch zur Verehrung prachtvoller Hochgebirgslandschaften und zu der dabei gleichzeitig empfundenen Angst vor Gefahren.

Hochgebirgsarchitektur zu entwerfen bedeutet, hinsichtlich der Dichotomie des Erhabenen und des vom Berg brutal Vorgegebenen, klar und deutlich Stellung zu beziehen. Man mag zwar immer wieder auf unterschiedliche Art und Weise vorgegangen sein, hat das Wesentliche jedoch stets privilegiert. Nach diesen Erfahrungen schätze ich und erfreut es mich, über die Beziehung zwischen

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Mensch und Natur nachzudenken, von einem theoretischen und geschichtlichen Standpunkt aus.

Mein Exkurs endet an dieser Stelle mit der Beschreibung der zuletzt verbliebenen Abbildung eines Zimmer der Cabane de Moiry. Durch das schmale Fenster ist die Pracht der Natur zu erahnen und ich erblicke einen vertikalen Lichtstrahl, der sich in der Holzwand widerspiegelt. Erst jetzt wird mir eigentlich das Bedürfnis nach Schönheit und Licht wirklich bewusst, im Gegensatz dazu aber auch der unmittelbar gegebene Bedarf an Halbschatten und Schutz (19).

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Bild nächste Doppelseite: Morgenstimmung bei der Claridenhütte.

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