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vorwärts

VORWÄRTS.DE: DAS TAGESAKTUELLE DISKUSSIONSPORTAL

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D I E Z E I T U N G D E R D E U T S C H E N S O Z I A L D E M O K R AT I E

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ILLUSTRATION: HEIKO SAKURAI

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DIE SPD WIRD WIEDER FIT MITMACHEN! MEHR DEMOKRATIE WAGEN!

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INHALT 3

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TITEL PARTEIREFORM: DIE SPD WIRD WIEDER FIT

4 Parteireform: Die Pläne für mehr Mitbestimmung bringen frischen Wind.

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FOTOS: DIRK BLEICKER (2); PICTURE ALLIANCE/ABACA; KUNSTHALLE HAMBURG; HEIKE ROST

Porträt: Die Hamburgerin Aydan Özoguz kandidiert für den Parteivorstand.

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KOLUMNEN GLOBAL GEDACHT – Rafael Seligmann BERLINER TAGEBUCH – Uwe Knüpfer ZWISCHENRUF – Johannes Kandel DAS LETZTE – Martin Kaysh

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PARTEI LEBEN! BESUCH BEI LASSALLE – SPD-HERBST-TREFFEN PORTRÄT – AYDAN ÖZOGUZ PARTEITAG – TAGESORDNUNG, VORWÄRTS-AKTIONEN

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WIRTSCHAFT SCHULDEN: Das Geschäft mit der Not anderer MITTELSTAND: Gift fürs Geschäft GUT GEMACHT: Die Brot-Königin MEINE ARBEIT: Der Kfz-Mechatroniker

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KULTUR BUCHMESSE – Publikumsmagnet „vorwärts-Stand“ MODERNE KUNST – Ausstellung in Düsseldorf KAUFT KUNST! – vorwärts-Galerie

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HISTORIE 50 JAHRE BMZ – Erhard Eppler WER WAR’S? – Lothar Pollähne

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DOKUMENTATION ZUG UM ZUG – Helmut Schmidt und Peer Steinbrück

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NEWS LESERBRIEFE PARLAMENT MEINUNG IMPRESSUM HISTORISCHER COMIC RÄTSELSEITE SEITWÄRTS

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Redaktionsschluss 31. Oktober 2011

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DIESE AUSGABE ENTHÄLT EINE VERLAGS-SONDERVERÖFFENTLICHUNG ZUM THEMA »GESUNDHEIT«, HEFTMITTE

VORWÄRTS-REGIONAL NOVEMBER BERLIN: TEMPELHOF-SCHÖNEBERG

Es dreht sich was.

Wohlhabende bitten darum, dem Staat mehr Geld geben zu dürfen. Vereinzelt gestehen sogar schon Banker zu, dass es sinnvoll und gerecht sein könnte, internationale Finanzgeschäfte zu besteuern. An der Wall Street demonstrieren Bürger gegen den immensen Einfluss der selbsternannten „Herren der Welt“. In europäischen Hauptstädten wächst die Bereitschaft, Bankern und Brokern auf die Finger zu schlagen.

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LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER! Die Union erwärmt sich für den gesetzlichen Mindestlohn. Die FDP sogar fast auch. Und die „FAZ“ entdeckt die Vorzüge der guten alten Rente. „Widerstandsfähig gegenüber den ... Wirrnissen globalisierter Finanzmärkte“ sei das oft geschmähte Umlage-System. Da schau her!

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Empört Euch: Der Funke des Protests ist längst auf Deutschland übergesprungen.

Frauen-Kunst: Große Schau der 20er und 30er Jahre in Düsseldorf

DEM ERSCHRECKEN FOLGT DER AUFBRUCH WIR ENTSCHEIDEN! – Susanne Dohrn MITTENDRIN STATT NUR DABEI – Kai Doering KEINE HEIMAT IN DER FREMDE – Kai Doering WELTVERBESSERER AUF ZEIT – Carl-Friedrich Höck SCHLUSS MIT DEM THEATER – Sebastian Jabbusch »UNIFORM, KONFORM, CHLOROFORM« – Edith Niehuis OFFEN SEIN! – Erik Flügge

Den Marktradikalen galt der Staat als böse. Drei Jahrzehnte lang gaben sie den Ton an. Jetzt sind sie kleinlaut geworden. Doch nun droht eine neue Gefahr. Wenn der Staat erstarkt: Welche Form nimmt er an? Eine autoritäre wie in Russland oder China? Oder eine demokratische? Die Antwort wird in Brüssel gegeben. Nur auf EU-Ebene kann begonnen werden, die Finanzwelt zu bändigen. Wer erhält die Macht dazu? Entrückte Instanzen wie die anonyme „Troika“, die Griechenland einen Sparkurs diktiert? Dann würde sich Europas Antlitz zur Fratze verzerren. Höchste Zeit, sich Gedanken zu machen. Helmut Schmidt und Peer Steinbrück haben das auf ihre Weise schon mal beim Schachspiel getan. „Die Partie ist eröffnet“, titelte die „Zeit“. Wir sagen es so: Die Diskussion beginnt und ist für alle offen – um die Zukunft Europas, die Zukunft der Demokratie, die künftige Rolle der Sozialdemokratie. In diesem Sinne vorwärts und mit herzlichen Grüßen

Uwe Knüpfer Chefredakteur


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Oft verschwimmt hinter Verfahrensfragen, worum es eigentlich bei der Parteiarbeit geht. Mit der Parteireform soll das Sozialdemokratische wieder sichtbarer werden.

DEM ERSCHRECKEN FOLGT DER AUFBRUCH PARTEIREFORM

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olitik ist Organisation; das wissen gestandene Sozialdemokraten. Organisiert werden Wahlkämpfe, Versammlungen, Mehrheiten. Daran hat sich auch im Zeitalter des Internets nichts geändert. Oder doch? „Wie wird die SPD wieder sexy?“ hat der vorwärts vor einem Jahr gefragt. Es folgte eine muntere Debatte. Dabei zeigte sich: Traditionell organisierte Politik stößt viele Menschen ab, nicht nur jüngere. Die Redaktion erreichten viele Berichte von Neu-Mitgliedern, die sich nicht willkommen fühlten, gelangweilt waren von Verfahrensdebatten und Ritualen, die inhaltliche Debatten vermissten. Wie lange dauert es, bis aus einer Idee ein Wortbeitrag, daraus ein Antrag wird? Wie oft wird er geändert, zurück-

gestellt und womöglich verworfen? Oder verwässert, beschlossen, abgeheftet? Und die Genossen an der Spitze tun ohnehin, was sie wollen! So klagten nicht wenige. Um wie viel gerader, direkter wirkt, was im Internet geschieht! Quasi aus dem Nichts finden sich dort Tausende zusammen, um eine Petition zu schreiben oder sich zum Protest zu treffen. „Etwas Großes geht vor“, versprechen Organisatoren sozialer Netzwerke: „Die wahre Demokratie bahnt sich ihren Weg.“ Die besser, reiner, klarer sei als „der Medienzirkus unserer korrupten ,Wählt-alle-vier-Jahre-Demokratie‘“. Stimmt das? Bei der Berliner Wahl zum Abgeordnetenhaus gewannen die „Piraten“ fast neun Prozent der Stimmen – auch zu ihrer eigenen Überraschung. Inzwischen streiten sie, ganz altertümlich, über Ver-

fahrensfragen und Abstimmungsprozesse. Denn: Politik ist Organisation. Auch Internetaktivisten sammeln Geld, müssen Verantwortung zuordnen, Rechenschaft ablegen, Sprecher wählen. Und so spontan im Internet große Gruppen zusammenkommen, so rasch verlaufen sie sich. Doch oft verschwimmt hinter Verfahrensfragen, worum es eigentlich geht. Denn so richtig es ist, dass Politik organisiert werden muss, so wahr ist auch, dass Politik heißt, die Welt zu gestalten. Eigentlich: Schulen zu bauen oder zu schließen, Privilegien abzuschaffen oder zu schützen, Frieden zu stiften oder Kriege zu führen. Immer gibt es Alternativen. Das Eigentliche – das Sozialdemokratische – wieder sichtbarer, verständlicher zu machen und mehr Menschen einzuladen, sich an sozialdemokrati-

FOTO: DIRK BLEICKER

PARTEIREFORM Mehr Menschen sollen sozialdemokratische Politik mitbestimmen: Partei- und Nichtmitglieder. Gelingt das, verwandelt sich nicht nur die SPD, sondern mit ihr die Republik


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scher Politikgestaltung zu beteiligen: Das ist der Sinn der großen Parteireform, zu der Sigmar Gabriel und Andrea Nahles aufgerufen haben. Widerstand formierte sich, bevor das erste Wort gesprochen war. Medien, die gern zuspitzen, hatten berichtet, der Parteirat solle abgeschafft, Nichtmitgliedern Gehör bei Personalentscheidungen gegeben werden. So dargestellt, fand das nicht jeder Genosse gut. Eine organisationspolitische Kommission wurde berufen, diskutierte kontrovers – und einigte sich schließlich. Einstimmig. Der Parteivorsitzende und die Generalsekretärin reisten kreuz und quer

durchs Land, warben für neue Diskussionsformen und Entscheidungsprozesse. Schon das war angewandte Reform. Ihre Parteireform, versprachen Gabriel und Nahles, sei ein Prozess. Ein Trimmprogramm für die Partei. Die SPD soll schneller, fitter, vielfältiger werden. Und demokratischer. Dauerhaft. Gestandene Funktionäre glaubten, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen: Hier kam eine Führung, die zu Kritik einlud! Die diskutieren will und nicht nur inszenieren. Die es sich unbequem machen will. Die bereit ist, sich zweimal jährlich einem Konvent zu stellen! Einem Gremium, das, anders als der bisherige Partei-

WIR ENTSCHEIDEN! BETEILIGUNG Stell Dir vor, die Politiker laden ein und die Menschen kommen – Genossen und Nichtmitglieder. Die SPD in Schleswig-Holstein und Niedersachsen macht vor, wie das geht Von Susanne Dohrn

rat, verbindliche Beschlüsse fassen kann – also auch die Führung abmahnen. Die Mitglieder sollen mehr Rechte und mehr Aufmerksamkeit erhalten, die Unterbezirks- und Kreisvorsitzenden einmal im Jahr zusammenkommen, der Kommunalbeirat gestärkt, der Parteitag vergrößert werden. Neue „Themenforen“ sollen dort Antragsrecht erhalten. Alles satzungsrechtlich verankert. Die Anträge dazu haben in der letzten Ausgabe des vorwärts sieben dichtbedruckte Seiten gefüllt. Organisation ist Politik: Wird die Parteireform Wirklichkeit, verwandelt sich die SPD und mit ihr die Republik. ■ UK

Albig wurde Anfang 2011 bei einer Mitgliederbefragung zum Spitzenkandidaten gekürt. Der Landesparteitag Anfang Februar 2012, der die Landesliste aufstellt, wird diesem Wunsch entsprechen. Bei einer Urwahl hingegen sind die Mitglieder die erste und die einzige Instanz, die entscheidet. Diesen Weg will jetzt die SPD Niedersachsen bei der Wahl ihres Spitzenkandidaten für die Landtagswahl am 20. Januar 2013 gehen. Zwei Männer stehen zur Wahl: der Landesvorsitzende Olaf Lies und der Oberbürgermeister von Hannover Stephan Weil.

Leichter Einstieg für Interessierte

Von den Mitgliedern gekürt: Torsten Albig (Mitte) setzte sich gegen Ralf Stegner (r.) durch.

FOTO: CARSTEN REHDER/DPA

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eckerkiste, Zukunftskasten, eine Landkarte, in die man Wünsche einzeichnen konnte, Videobotschaften – die SPD in SchleswigHolstein machte es Mitgliedern und Bürgern leicht, am zukünftigen Regierungsprogramm mitzuarbeiten. Das kam an. 1500 Menschen besuchten die 15 Zukunftsgespräche in diesem Sommer, ein Viertel davon Nicht-Mitglieder. Die Internetseite demokratiesommer.de verzeichnete in den zehn Wochen 7000 Besucher. 140 Thesen und 630 Ideen wurden auf diese Weise gesammelt. Daraus ist unter der Leitung der Elmshorner Bürgermeisterin Brigitte Fronzek und des ehemaligen Landesministers Uwe Döring ein erstes Papier entstanden, das

nun in den Ortsvereinen, Kreisverbänden und Arbeitsgemeinschaften diskutiert wird. „Nach der Wahlniederlage 2009 haben uns die Mitglieder zwei zentrale Botschaften mit auf den Weg gegeben: Wir wollen mehr Beteiligung und eine Öffnung der Partei. Die gleiche Botschaft erreichte uns auch von den Menschen außerhalb der Partei“, sagt Torsten Albig, der SPD-Spitzenkandidat. Am 7. Mai 2012 ist Landtagswahl. Wenn die SPD gewinnt, und dafür stehen die Chancen gut, wird auch die Landesregierung näher an die Bürger heranrücken. Albig: „Wir werden auch immer wieder Kabinettssitzungen in den verschiedenen Landesteilen machen.“

Sie stellen sich auf sieben Regionalkonferenzen zwischen dem 1. und dem 17. November vor. Am 27. November dürfen dann alle, die bis zum 20. Oktober Mitglied der SPD in Niedersachsen geworden sind, zwischen 10 Uhr und 16 Uhr in einem festgelegten Wahllokal auf Ortsvereinsebene abstimmen. Wahlleiter Dieter Möhrmann erklärt das Verfahren: „Die Ortsvereine wählen im Vorfeld Wahlvorstände. Nach Schließung der Wahllokale werden die Stimmen in neun Zählstellen transportiert, dort ausgezählt und vom Wahlausschuss des Landesvorstands zusammengezählt. Am Sonntagabend wird es dann ein vorläufiges Wahlergebnis geben und wenn alles nach Plan läuft am Montag das endgültige.“ Dass die Bundes-SPD die Absicht hat, Mitglieder besser zu beteiligen, halten Albig und Möhrmann für richtig und notwendig, ebenso wie den Vorschlag, Nichtmitgliedern mehr Mitarbeit zu ermöglichen. Möhrmann: „Es muss möglich sein, dass Interessierte einen leichteren Einstieg finden und an Sachthemen mitarbeiten können.“ Beide sind allerdings überzeugt: Personalentscheidungen sollten allein den Mitgliedern vorbehalten sein. ■ Interview mit Torsten Albig und Dieter Möhrmann

vorwärts.de/albig vorwärts.de/moehrmann

LEITANTRAG

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Es geht darum, unsere Partei offener zu gestalten. Dazu gehören Bürgerparteitage, bei denen sich auch Bürger ohne Parteibuch engagieren können.

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Die Ortsvereine sind wahrnehmbar als Anlaufstation, Kümmerer, Bewirker und als Gemeinschaft Gleichgesinnter.

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Es ist uns wichtig, dass Mitglieder im Ausland weiterhin Kontakt mit der SPD halten und sich an unseren Diskussionen beteiligen.

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Zitate aus dem Leitantrag zur Parteireform


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DAS IST SOZIALDEMOKRTISCH

WOHIN GEHT DAS GELD?

»Wofür steht die SPD?«

Durchschnittlicher SPD-Mitgliedsbeitrag

„Was ist Sozialdemokratie?“ Fünf Monate lang konnte im Internet auf das-ist-sozialdemokratisch.de über diese Frage diskutiert und abgestimmt werden. „Die Seite ist eigentlich aus der Not entstanden“, sagt Mitbegründer Mathias Richel. Viele Menschen wüssten nicht mehr, wofür die SPD steht. „Deshalb haben wir gefragt, wofür die Sozialdemokratie aus ihrer Sicht stehen sollte.“

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Wohin fließen die Mitgliedsbeiträge? Beispiel eines Parteimitgliedes in NRW mit einem Jahresbeitrag von 180,00 Euro (monatlich 15,00 Euro)

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BÜRGERBETEILIGUNG Die SPD Ehrenfeld entwickelt den Kölner Stadtteil weiter – und setzt dabei auf die Wünsche der Anwohner Von Kai Doering

■ AUFBAU IN DEN OST-LANDESVERBÄNDEN ■ VORWÄRTS ■ PARTEIVORSTAND ■ LANDESVERBAND ■ UNTERBEZIRK ■ ORTSVEREIN

Wie finanziert sich der »vorwärts«?

31 %

32 %

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■ MITGLIEDSBEITRÄGE ■ ANZEIGENERLÖSE ■ KOSTENERSTATTUNG DER PARTEI, SPONSORING, VERTRIEBSERLÖSE, SONSTIGES

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Mecklenburg-Vorpommern QUELLEN: SPD-PARTEIVORSTAND 2011 BERLINER VORWÄRTS VERLAGSGESELLSCHAFT MBH

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ls das Wasser sprudelte, hatte die SPD wieder einen Wunsch erfüllt und den trockenen Maxund-Moritz-Brunnen im Kölner Stadtteil Ehrenfeld wieder zum Laufen gebracht. Das war einer von mehr als 250 Vorschlägen zur Stadtverschönerung, die eine Bürgerbefragung zu Tage gefördert hatten. 20 000 Postkarten hatten die Genossen verteilt, auf denen die Ehrenfelder ihre Wünsche formulieren konnten. „Ehrenfeld zu Liebe“ lautete der Titel der Kampagne. Sie ist das Ergebnis eines Prozesses, der bereits 2009 begann. Bei der Kommunalwahl im August hatten die Sozialdemokraten deutlich an Zustimmung verloren. Das Ergebnis bei der Bundestagswahl machte schließlich dem Letzten klar, dass sich etwas ändern muss. „Die SPD muss auch von außen wieder als Mitgliederpartei wahrgenommen werden, in der alle eingeladen sind, mitzumachen und mitzudiskutieren“, lautete das Fazit der Kölner Sozialdemokraten nach dem Superwahljahr. Um dies zu erreichen, begann die SPD Ehrenfeld im Oktober 2009, ihre eigene Arbeit kritisch unter die Lupe zu nehmen. Das Konzept „Moderner Ortsverein“ wurde entwickelt. Dessen Arbeit soll sich künftig an konkreten Projekten orientieren, interessierte Bürger sollen stärker einbezogen werden. „Politik darf sich nicht in Sitzungskultur erschöpfen“, war sich der Arbeitskreis sicher. „Vielmehr müssen gerade wir als Volkspartei nicht nur nah

Das privat initiierte Projekt hat prominente Unterstützer: Andrea Nahles und Sigmar Gabriel nahmen per Videobotschaft an der Umfrage teil. Seit dem 1. November werten die Initiatoren die Beiträge aus. Zum Bundesparteitag wollen sie die Ergebnisse dem SPD-Parteivorstand übergeben. ■ MS das-ist-sozialdemokratisch.de

BRANDENBURG 2030 bei den Menschen sein und zusehen, sondern mitmachen.“ Im September 2010 nahm eine Mitgliederversammlung das Konzept „Moderner Ortsverein“ einstimmig an. Seither bieten die Ehrenfelder SPD-Ratsmitglieder einmal im Monat eine Bürgersprechstunde an. Es wurden Genossen benannt, die den Kontakt zu Vereinen und Organisationen im Stadtteil halten. Und ein „Arbeitskreis Kommunales“ wurde ins Leben gerufen, in dem interessierte Parteimitglieder, Rats- und Bezirksvertreter zusammenkommen. Hier wurden im Frühsommer auch die Vorschläge gesichtet, die bei der Postkartenaktion von „Ehrenfeld zu Liebe“ zusammengekommen waren. Die Wiederbelebung des Max-und-Moritz-Brunnens war nur der erste Streich. 15 Anträge, die auf Ideen aus der Befragung zurückgehen, hat die SPD-Fraktion bereits in die Bezirksvertretung eingebracht. Den aktuellen Stand dokumentiert der Ortsverein auf seiner Internetseite. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Entwicklung des Geländes der ehemaligen „Helios-Elektricitäts AG“. Gemeinsam mit den Anwohnern soll geplant werden, was auf dem Areal im Herzen Ehrenfelds geschieht. Dafür hat der Ortsverein eine eigene Projektgruppe eingerichtet. Ende September lud er zu einer Diskussion über die Zukunft des Geländes ein. Rund 50 Ehrenfelder kamen – und das noch vor der ersten offiziellen Veranstaltung des Bezirks im Dezember. ■

»Wie wollen wir leben?« Sinkende Steuer-Einnahmen bei schrumpfender Bevölkerung – Brandenburg will sich auf diesen Wandel einstellen. Eine Zukunftskommission, bestehend aus SPD-Mitgliedern und Experten, hat Vorschläge zusammengetragen. Bis Mai 2012 können diese online bewertet werden. Ein Schwachpunkt von Online-Umfragen ist häufig die begrenzte Reichweite. Nicht jeder, der sich an politischen Debatten beteiligen möchte, besitzt einen Internetzugang. Auch daran haben die Initiatoren von „Brandenburg 2030“ gedacht: Bewertungsbögen liegen deshalb auch in den SPD-Geschäftsstellen aus. Das neue Leitbild will die Brandenburger SPD dann im Spätsommer 2012 auf ihrem Landesparteitag verabschieden. ■ MS brandenburg2030.de

NETZDEMOKRATIE

Mehr: vorwärts.de/vov vorwärts.de/richel

FOTO: PICTURE ALLIANCE, SPD EHRENFELD

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KEINE HEIMAT IN DER FREMDE SPD INTERNATIONAL Wer ins Ausland geht, kann seine Rechte als SPD-Mitglied nicht wahrnehmen. Das soll sich ändern Von Kai Doering

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ls Elina Weckert vor gut drei Jahren nach Paris zog, ahnte sie nicht, dass ihre Partei schon dort ist. „Ich hatte eigentlich vor, mich während meiner Zeit in Frankreich bei der Parti Socialiste (PS) zu engagieren“, erzählt die 32-Jährige, die in Paris ihre Doktorarbeit über deutsche und französische Gesundheitspolitik schreibt. Von den französischen Genossen erfuhr sie vom dortigen SPD-Freundeskreis. Seit 2009 gehört Weckert zu seinem Vorstand. „Wir arbeiten intensiv mit der PS zusammen“, sagt Elina Weckert. Dabei könne man viel über die politische Kultur im Nachbarland lernen. „Eine große Koalition zum Beispiel wäre hier undenkbar.“ Doch auch wenn der Pariser Freundeskreis mit seinen 120 Mitgliedern eine der größten der 13 Auslandsgruppen der SPD ist, kämpft er mit einem großen Problem: „Es gibt überhaupt keine hauptamtliche Unterstützung und schon gar kein Geld aus Deutschland.“

Die Lücke schließen „Die Auslandsorganisation der SPD gleicht einem Flickenteppich“, klagt Martin Nissen, der Vorsitzende der SPD Paris. „Mehr als zwei Drittel unserer 3500 bis 5000 Mitglieder im Ausland sind von der demokratischen Mitwirkung innerhalb der Partei ausgeschlossen.“ Das liegt daran, dass die meisten Genossen in Deutschland Mitglied bleiben, wenn sie ins Ausland gehen, ihre Rechte in der Heimat aber wegen der Entfernung nicht wahrnehmen. Ein Ummelden ins Ausland ist nicht attraktiv, weil in den Auslandsfreundeskreisen der SPD die Mitgliedschaftsrechte massiv eingeschränkt sind. Die Auslandsgruppen fordern deshalb eine neue Organisationseinheit, die „SPD international“. In Telefonkonferenzen rund um den Globus haben sie ihre Anträge für den Bundesparteitag formuliert und Martin Nissen mit der Koordination beauftragt. „Wir wollen die Parteireform nutzen, um die Gruppen im Ausland auf ein vernünftiges Fundament zu stellen“, sagt er. So sollen sie künftig eigenes Geld bekommen und wirkliche Mitspracherechte:

„Alle Mitglieder, die außerhalb Deutschlands wohnen, werden künftig Mitglieder der SPD international“, erklärt Nissen. „Sie wählen einen globalen Vorstand und

drei Delegierte für den Bundesparteitag.“ Aus seiner Sicht würde die SPD auf diese Weise nicht nur eine Lücke im Vergleich zu ihren Schwesterparteien schließen – während die deutschen Sozialdemokraten gerade mal 13 Auslandsgruppen haben, sind es bei der französischen PS 100 – sondern auch den Bedürfnissen der Mitglieder gerecht. „Immer mehr Menschen gehen schließlich zum Arbeiten oder Studieren ins Ausland und wollen auch dort politisch aktiv sein.“ So wie Elina Weckert. Für die Doktorandin dürfte die Reform allerdings zu spät kommen. Nach vier Jahren in Frankreich plant sie, im Sommer kommenden Jahres nach Berlin zurückzukehren – dorthin, wo ihre Rechte als SPD-Mitglied die ganze Zeit lagen. ■

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rts.de vor wä neu! ch

WELTVERBESSERER AUF ZEIT JUNGSOZIALISTEN Mit Teil-Mitgliedschaften haben die Jusos gute Erfahrungen gemacht Von Carl-Friedrich Höck

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as wahrscheinlich kurzlebigste Schwimmbad der Geschichte stand im November 2010 vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Genauer gesagt: Es war eine SchwimmbadAttrappe aus Pappkartons. Kaum war sie aufgebaut, traten zwei junge Männer auf, die in schwarz-gelbes Absperrband eingewickelt waren. „Man fühlt sich als Schwarz-Gelb nicht gut“, klagte einer von ihnen noch. Dann tat er, was schwarzgelbe Regierungen gelegentlich zu tun pflegen: ein Schwimmbad abreißen. „Geh doch im Pool Deiner Eltern schwimmen“, riet ein Transparent den staunenden Passanten. Die Aktion war das erste Projekt des vor einem Jahr gegründeten Bündnisses „Änder das“. Entstanden ist es durch eine Initiative der Jusos. „Wir sind mit einer Bundesregierung konfrontiert, die nichts für junge Menschen tut“, sagt der JusoVorsitzende Sascha Vogt. „Deshalb haben wir andere Jugendorganisationen gefragt: Wollen wir eine gemeinsame Plattform gründen?“ Die Grüne Jugend, die Gewerkschaftsjugend, die Falken und viele andere Verbände schlossen sich den Jusos an. Zusammen organisieren sie

Provokant: „Geh doch im Pool Deiner Eltern schwimmen“ verkündeten die Aktivisten von „Änder das“ bei einer Aktion in Berlin und rissen symbolisch ein öffentliches Bad ein. Die Jusos haben das Aktionsbündnis initiiert.

nun regelmäßig spektakuläre Aktionen gegen Sozialabbau, den Klimawandel, die Benachteiligung von Frauen oder gegen Rassismus. Die Ergebnisse sind auf der Internetseite aenderdas.de zu sehen. Die Plattform beweist: Auch heute gibt es viele junge Menschen, die sich politisch engagieren wollen. Doch die SPD tut sich noch schwer damit, sie für sich zu gewinnen. Der Altersdurchschnitt der Partei liegt bei 58 Jahren. „Es ist keine neue Erkenntnis, dass das Engagement von jungen Menschen in Parteien generell abnimmt“, sagt Sascha Vogt. Darauf müsse die SPD reagieren, indem sie neue Formen der Mitarbeit anbietet. Vogt spricht aus eigener Erfahrung. „Wir Jusos bemühen uns seit Längerem darum, projektorientiertes Arbeiten zu ermöglichen“, berichtet er. Der JusoVorsitzende hat beobachtet: Junge Menschen wollen sich oft nur für ein konkretes Thema engagieren und ihre Mitarbeit zeitlich begrenzen. Die Jusos haben sich deshalb gegenüber Parteilosen geöffnet. Schon seit Jahren ist es möglich, Juso-Mitglied zu werden, ohne in die SPD einzutreten. Laut Sascha Vogt merken die „NurJusos“ meist schnell, dass Parteiarbeit spannender ist, als sie gedacht haben. Der überwiegende Teil von ihnen trete innerhalb der ersten zwei bis drei Jahre auch in die SPD ein. Deshalb freut sich Vogt, dass die reinen Juso-Mitgliedschaften mit der Parteireform aufgewertet werden sollen. Und er hofft, dass auch andere Arbeitsgemeinschaften der SPD dieses Prinzip jetzt übernehmen. Denn er ist überzeugt: „Die Öffnung der Partei funktioniert über Themen und Zielgruppenarbeit.“ ■

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»SCHLUSS MIT DEM DEMOKRATIE-THEATER!« PARTEIAUSTRITT Warum ich der SPD von der Fahne ging und mit den Piraten die Segel setzte Von Sebastian Jabbusch

FOTO:HENDRIK RAUCH

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ein. Den Piraten ging und geht es nicht um Netzpolitik. Was sie abhebt ist der Versuch, Politik über das Netz zu organisieren. Darf ich mich vorstellen? Sebastian Jabbusch, 28, Magister der Politikwissenschaft, Ex-SPD-Mitglied, Pirat. Wenn ich heute auf meine langjährige SPD-Mitgliedschaft angesprochen werde, lache ich verschmitzt und sage „eine Jugendsünde“. Dabei war ich sehr euphorisch. Das rot-grüne Projekt schien mir die Erlösung vom „ewigen“ Kanzler Kohl. Voller Hoffnung wurde ich Mitglied bei SPD und Jusos, beteiligte mich im Ortsverein und organisierte überparteiliche Demos gegen rechte Gewalt. Ich nahm auch als Delegierter an der Landeskonferenz der Jusos Schleswig-Holstein teil und bekam bald das Angebot, Juso-Ortsvorsitzender zu werden. Doch meine Begeisterung sank mit der Beobachtung der real existierenden „Machtpolitik“ dramatisch. Je mehr ich die SPD „verstand“, um so mehr wünschte ich ihr zu entkommen. In Parteien, lernte ich, geht es nur am Rande um Themen und primär um Posten. Veränderungen sind da nur ein Risiko für den persön-

Übergelaufen: Ex-Sozialdemokrat Jabbusch vor dem Willy-Brandt-Haus

lichen Aufstieg und die Struktur der Partei als Ganzes. Was ich im Kleinen beobachtete, galt für die weit entfernte Politik in Berlin umso mehr. Die Aufbruchstimmung war schnell verflogen. Richtig enttäuscht hat mich jedoch, wie das anfangs gut gemeinte „Reform“-Programm für eine verbesserte Arbeitsvermittlung in ein neoliberales Armutsprogramm umlobbyiert wurde. Statt der Lohnnebenkosten für Arbeitnehmer sanken die Spitzenund Unternehmenssteuern auf Niveaus,

PARTEIREFORM

die sich die CDU nie getraut hätte. Vermutlich hatten neoliberale Think-Tanks wie die Bertelsmann-Stiftung und die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ mehr Einfluss als die basisdemokratisch beschlossenen Stellungnahmen aller Juso-Landesverbände zusammen. Zu einer anderen Partei zu wechseln, war damals keine Alternative für mich, da dort dieselben hierarchischen Strukturen herrschen wie in der SPD. Den Lobbyisten ist doch egal, welche Partei unter ihnen das Demokratie-Theater spielt. Erst 2009 entdeckte ich nach der Europawahl die Piratenpartei. Nicht primär ihr Programm, sondern ihre Ansätze für echte innerparteiliche Demokratie begeisterten mich sofort. Wie im Internet sollte die gesamte Partei transparent, maschinenles- und somit nachvollziehbar sein. Entscheidungen sollten nicht von leicht korrumpierbaren Vorständen, sondern ausschließlich von den Mitgliedern getroffen werden. Die aus dem Internetlexikon Wikipedia bekannte kollaborative Schwarmintelligenz für Gesetze anzapfen. Offene Debatten, offene Konflikte. Liquid Democracy statt ParteienHierarchie. All das sind Träume der Linken seit der Räterepublik -– doch erst mit dem Internet ist es technologisch möglich, sie zu verwirklichen. Der Mut, dieses Experiment zu wagen, zeichnet die Piraten aus. Doch Ideen sind frei, Liquid Democracy darf gerne von der SPD „raubkopiert“ werden. Die Piraten sind nur ein ausgeklügelter Hack im „Betriebssystem“ BRD. Doch der Reboot der SPD kommt nicht von oben, da muss die SPD-Basis revoltieren. Wir Piraten helfen dann gerne bei der Installation. Ahoi und Glück auf! ■ ANZEIGE

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Inszenierung oder Debatte?: Medienrummel auf dem Parteitag zur vorgezogenen Bundestagswahl 2005

»UNIFORM, KONFORM, CHLOROFORM« DEMOKRATIE Wenn ein Parteitag zur Selbstinszenierung von Spitzenpolitikern gerät, degradiert das Delegierte – und verprellt Mitglieder. Wir brauchen echte Debatten statt schlechter Shows Von Edith Niehuis

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ie Parteireform strebt eine lebendigere Parteiarbeit vor Ort an. Wer den Leitantrag liest, gewinnt den Eindruck, es seien die Ortsvereine, die auf Grund ihrer veralteten Strukturen noch nicht in der modernen Gesellschaft angekommen sind. Mag sein, dass dieses hier und da der Fall ist. Dennoch gilt die Volksweisheit: Der Fisch stinkt immer vom Kopf her. Aber zu Verhaltensregeln für politische Führungen wird geschwiegen. Dabei sind sie es, die in der allgegenwärtigen Mediengesellschaft regelmäßig in jedem Wohnzimmer aufschlagen. Sie können deutschlandweit für ein Engagement in Parteien werben, die Parteien als ständige, lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen hervorheben oder auch Ressentiments gegenüber Parteien nähren. Politisch interessierte Menschen haben heute ein feines Gespür dafür, ob parteipolitisches Engagement Sinn macht oder nicht. Bundesparteitage sind Orte der abschließenden Willensbildung. Und sie haben sich erheblich gewandelt. Nicht mehr die Antragsbücher für Delegierte stehen im Vordergrund, sondern Regie-

bücher für Fernsehkameras. Zwar stellen untere Gliederungen im Sinne einer Willensbildung von unten nach oben noch immer ihre Anträge auf dem Parteitag zur Abstimmung, doch unterschätzen sie die Antragskommission, die alles einebnet und Konfliktträchtiges ohne Aussprache zur Weiterleitung an andere Gremien empfiehlt. Eine straffe Regie sorgt für einen „harmonischen Parteitag“, der Raum lässt für das scheinbar Wesentliche: die Selbstinszenierung der politischen Führung, umrahmt vom Dauerklatschen und stehender Ehrenbezeugung der Delegierten, auch für mittelmäßige Reden. Politisch mündige Menschen werden von so organisierten Parteien abgestoßen. Sie wollen ihr Hirn einsetzen, nicht ihre Armmuskulatur.

Streitkultur statt Personenkult In einer Demokratie stellt sich die Parteiführung der Diskussion und ringt mit den Parteitagsdelegierten öffentlich um den richtigen politischen Weg. Personenkult und Aufmärsche jubelnder Massen sind eher Zeichen einer Diktatur. Wenn politische Führungen sich vor innerparteilicher Diskussion ängstigen,

BETEILIGUNG

BUCH-TIPP Edith Niehuis DIE DEMOKRATIEKILLER FEHLENTWICKLUNGEN DER DEUTSCHEN POLITIK Lehmanns, Berlin 2011, 200 Seiten, 17,95 Euro, ISBN 978-3-86541-458-8

dann sind sie es, die den sozialen Wandel nicht verstanden haben und letztendlich die Volksparteien zerstören. „Es wird ein geistiges Sultanat errichtet, innerhalb dessen das Denken verödet. Die Sequenz ist unausweichlich: uniform, konform, chloroform“, meinte Heiner Geißler 2005 zu solch einer Entwicklung. Ohne muntere Streitkultur nimmt eine Partei nicht mehr kreativ am politischen Leben teil, und politische Begabungen bekommen keine Chance, sich als politische Talente zu beweisen. Eine autoritäre Parteiführung kann kritische Meinungen zwar unterdrücken, aber nicht eliminieren. Sie führt zu Frustrationen und verscheucht Mitglieder. Die Partei blutet aus. Leidtragende dieser Entwicklung sind zuerst die unteren Gliederungen der Partei. Ihnen fehlen dann die Parteimitglieder für die politische Arbeit in den Gemeinden und Städten. Es fehlen damit zugleich die Menschen, die vor Ort für die Parteiendemokratie werben und durch tägliche Kontakte für eine lebendige Verbindung zwischen Volk und Partei sorgen. Es sind die Regierungsparteien, die ihre Parteitage leicht zu Akklamationsparteitagen verkommen lassen. Wenn Wahlprogramme Wirklichkeit werden können, stehen die Parteimitglieder hintan. Der Hang der Medien, Politik zu personalisieren, verleitet Regierungsmitglieder dazu, sich selbst zu überschätzen und sich über ihre Partei zu erheben. Sie nutzen ihren exklusiven Medienzugang zur Vorfestlegung, indem sie programmatische Projekte vorab öffentlich verkünden. Sie setzen Kommissionen ein und lassen Fachleute aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft politische Lösungsvorschläge erarbeiten. Sie vergessen, dass sie keine Entscheidungsvollmacht für die Parlamentsmehrheit oder für die Parteitage haben. Parteien und Parlamente, die Verbindungen zwischen Volk und Staatsorganen, spielen zunehmend eine nachrangige Rolle. Es hat den Anschein, als ob der Staat von wenigen gemanagt wird wie in vordemokratischen Zeiten mit Hilfe privilegierter Eliten. Diese personalisierte Macht wird auch den Parteitagen übergestülpt. Die Parteien-, die Beteiligungsdemokratie gerät aus dem Blick und wird in eine Zuschauerdemokratie überführt. Das veranlasst nur noch wenige, sich in etablierten Parteien wie der SPD zu engagieren, und treibt sie in neue Bewegungen. Will die SPD in der modernen Gesellschaft ankommen, dann gehört auch das Verhalten der politischen Führung auf den Prüfstand. ■ Edith Niehuis war von 1987 bis 2002 für die SPD Mitglied des Deutsches Bundestages. An der FU Berlin hat sie sich wissenschaftlich mit Parlamentarismus und Demokratie beschäftigt.

FOTO: DIRK BLEICKER

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11/2011

TITEL 11

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MITGLIEDERENTWICKLUNG DER SPD MITGLIEDERENTWICKLUNG DER SPD 1.250.000 1.250.000

1.221.059 1.221.059

1.000.000 1.000.000

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1906

1912

1906 20111912 QUELLE: SPD-PARTEIVORSTAND

1921 1921

1925 1925

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1946 1946

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2006 2006

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QUELLE: SPD-PARTEIVORSTAND 2011

OFFEN SEIN!

PARTEIREFORM

VOLKSPARTEI Ganze Bevölkerungsgruppen werden von der SPD nicht mehr erreicht. Die Partei muss lernen, für neue Milieus aufgeschlossen zu sein Von Erik Flügge

A

uf die Piraten entfielen 8,9 Prozent der Stimmen bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus. Gewählt wurden sie vor allem von jungen Menschen und damit von einer Gruppe, die jahrzehntelang eng mit der SPD verbunden war. Eine Verbindung, die seit wenigen Jahren getrennt ist. Die SPD war seit den 1970er Jahren stets die stärkste Kraft im Wählersegment der 18- bis 25-Jährigen. Auch wenn die Jungwähler im Vergleich zu anderen Wählersegmenten für das endgültige Wahlergebnis nicht die wichtigste Rolle spielten, hatte die Bindung der Jungen an die SPD doch eine wichtige Funktion für den Aufbau einer längerfristigen Parteibindung. Eine Bindung, die auch ohne Parteibuch eine innere Zugehörigkeit zur Partei, ihren Werten, Themen und Personen erzeugt. Davon profitierte die SPD immer auch bei den folgenden Wahlen, da andere Parteien – insbesondere die Union – diese frühe Parteibindung an die SPD erst überwinden mussten, um Wähler zum Wechsel zu bewegen. Die vielen jungen Wähler brachten der SPD zugleich ein Image von Modernität und Zukunftsfähigkeit. Obwohl die Bundestagswahl 2002 Verluste für die SPD mit sich brachte, blieb die Partei im Segment der Jungwähler mit 38,1 Prozent unangefochten vor CDU und CSU (23,5 Prozent) und Grünen (10,2 Prozent). Nur sieben Jahre später bei der Bundestagswahl 2009 gaben nur noch 18,2 Prozent der Jungwähler ihre Stimme der SPD. Ein solcher Verlust bedeutet auch langfristig eine starke Reduktion des Wählerpotenzials der

Partei. Denn junge Menschen blicken, wenn sie sich für andere Parteien entscheiden, deutlich stärker auf die Defizite der Sozialdemokraten. Die SPD muss daher wieder lernen, junge skeptische Menschen, die andere Parteien favorisieren, für sich zu gewinnen. Mit der Parteireform hat die SPD nun begonnen, sich strategisch neu aufzustellen, um wieder – insbesondere für junge Menschen – attraktiver zu werden. Dabei sieht sie sich allerdings mit einem Dilemma konfrontiert: Diejenigen, die die Reform gestalten, sind bereits Teil der SPD. Es liegt auf der Hand, dass diejenigen, die sich aktiv in der SPD einbringen, sich auch mit der Organisation und Kultur der Partei identifizieren. Andernfalls würden sie nicht zu Entscheidungsträgern werden, sondern die Partei verlassen oder niemals eintreten. Dementsprechend bestimmen Organisation und Kultur einer Partei, welche Menschen mit welchen Lebensstilen, ästhetischen Präferenzen und Werten sich in ihr engagieren. Die heutige Organisation der SPD entstand in den 1950er Jahren. Sie wurde auf der Basis von Lebensstilen und Werten dieser Zeit geprägt. Eine deutliche Veränderung erfuhr die Partei durch massenhafte Eintritte junger Menschen in den 1970er Jahren. Sie prägten vor allem die Diskussionskultur innerhalb der Sozialdemokratie neu. Seither hat es keine radikalen Veränderungen von Parteiorganisation oder Parteikultur mehr gegeben. Auch weil es seit den 80er Jahren deutlich weniger Neueintritte in die Partei gab. Daraus folgt, dass in der heutigen SPD kaum Wertvorstellungen reprä-

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Junge Frauen und Männer sollen in unserer Partei Beteiligungsmöglichkeiten vorfinden, die ihren Ansprüchen gerecht werden.

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Leitantrag zur Parteireform

sentiert sind, die in den letzten 30 Jahren neu entstanden sind. Zu diesen neuen Wertvorstellungen gehört die so genannte postmoderne Werteorientierung. Sie umfasst ein entideologisiertes, aber nicht wertfreies Denken in Machbarkeitskategorien. Dieses Denken ist heute für rund 50 Prozent aller Jugendlichen und für 37 Prozent der Gesamtbevölkerung prägend. Es bedeutet also einen erheblichen Verlust an Zustimmung für die SPD, wenn Menschen mit postmodernen Werten keinen Weg in die Partei finden. Wenn ein so großer Teil der Gesamtbevölkerung in der SPD nicht vertreten ist, wird ihr Status als Volkspartei bedroht. Addiert man alle Milieus zusammen, die in der SPDMitgliedschaft vertreten sind, so kommt man auf nur rund 40 Prozent der Gesamtgesellschaft. Die Mehrheitsfähigkeit der Partei wird so unterminiert. Daraus folgt: Es reicht nicht aus, die eigenen Mitglieder zu befragen, um die SPD neu aufzustellen. Insbesondere diejenigen, die sich heute nicht mit der SPD identifizieren, obwohl sie deren Ziele teilen, müssen systematisch befragt und an der Reform beteiligt werden. Dafür reicht es nicht aus, die jungen Parteimitglieder stärker in die Reform einzubinden, denn diese teilen die heutige Kultur der Partei, ansonsten würden sie sich wohl kaum innerhalb der SPD engagieren. Die Jusos repräsentieren vielmehr eine verjüngte Version der alten Werteorientierungen. Nötig für einen echten Erneuerungsprozess ist nicht die Aufgabe der eigenen Grundwerte und Ziele. Nötig ist die Öffnung von Struktur, Kultur und Ästhetik der SPD für neue Milieus, vor allem für junge Menschen, die der Partei noch fern stehen. ■ Erik Flügge ist Politologe und Germanist. Er arbeitet als Wissenschaftler für das Politikund Sozialforschungsinstitut SINUS. Zusätzlich verbindet er als PR-Stratege Wissenschaft und praktische Kommunikation. ANZEIGE

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12 NEWS

vorwärts 11/2011

ANTI-CASTOR-CAMP

www.vorwärts.de NOKIA ZIEHT WEITER Der Aufschrei war groß. Im Sommer 2008 schloss der finnische HandyHersteller Nokia sein Werk in Bochum und verlagerte die Produktion ins rumänische Jucu. 2000 Beschäftigte wurden im Ruhrgebiet arbeitslos. Nun hat Nokia mitgeteilt, dass auch das Werk in Rumänien geschlossen werden soll. Ende des Jahres ist Schluss. Silviu Mihai war für vorwärts.de vor Ort. ■ KD vorwärts.de/nokia

SPE-TAGUNG Am 25. und 26. November findet die „Progressive Convention“ der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) in Brüssel statt. Neben politischen Debatten und Workshops stehen Ausstellungen und Konzerte auf dem Programm. Mehrere Tausend Sozialdemokraten aus ganz Europa werden erwartet. Für vorwärts.de ist Tanja Bergrath dabei und wird aus Brüssel berichten. ■ KD vorwärts.de/pes-convention

KLIMAKONFERENZ Es wird der nächste Versuch, die Welt zu retten. Vom 28. November bis 9. Dezember treffen sich Delegationen aus aller Welt zur 17. Weltklimakonferenz im südafrikanischen Durban. Die Delegierten wollen ein Nachfolgeabkommen für das Kyoto-Protokoll aushandeln, das im kommenden Jahr ausläuft. Eine verbindliche Begrenzung von CO2-Emissionen soll festgeschrieben, der Klimawandel begrenzt werden. Die Journalistin Marian Bichler wird die Verhandlungen für vorwärts.de vor Ort verfolgen. ■ KD

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH

Manfred Geßner ehem. MdB zum 80. Geburtstag Freimut Duve ehem. MdB, Horst Gobrecht Hamburger Finanzsenator a.D. zum 75. Geburtstag Klaus Kirschner ehem. MdB zum 70. Geburtstag Ingrid Becker-Inglau ehem. MdB, Hans-Günter Bruckmann ehem. MdB, Ingeborg Junge-Reyer Senatorin für Stadtentwicklung in Berlin, Peter Noetzel ehem. OB in Bottrop Karin Rehbock-Zureich ehem. MdB Wolf Weber ehem. Justizminister von Niedersachsen zum 65. Geburtstag

vorwärts.de/durban

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Die SPD Baden-Württemberg trauert um ihren früheren Landesgeschäftsführer

Hermann Polenz der im Alter von 89 Jahren in Sonnenbühl verstorben ist. Hermann Polenz war durch und durch Sozialdemokrat, der in jungen Jahren für seine politische Überzeugung sogar inhaftiert wurde. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Dr. Nils Schmid Landesvorsitzender

Sebastian Weigle Kreisvorsitzender

Frank Schröder Ortsverein Sonnenalb

Klaus Käppeler Landtagsabgeordneter

GLOBAL GEDACHT von Rafael Seligmann Allzu lange haben uns sogenannte Experten eingeredet, „der Nahost-Konflikt“ bestehe im Wesentlichen aus der israelischpalästinensischen Auseinandersetzung. Gelinge es, diesen Zwist beizulegen, dann werde Frieden in der Region einkehren. Diese Erklärung missbrauchen Diktatoren, Militärs und feudale Monarchen als Alibi für deren Gewaltherrschaft und die Verweigerung demokratischer Reformen. Denn, so ihre Begründung, alle Kräfte müssten für die Auseinandersetzung mit Israel gebündelt werden, da bleibe kein Platz für demokratische Debatten oder gar eine Opposition. Der Ausbruch der Freiheitsrevolution in den Ländern Arabiens und die gewaltsamen Versuche der Diktatoren, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, etwa in Syrien und Jemen, weisen auf die entscheidenden gesellschaftlichen Konfliktherde in dieser Weltgegend vor der Haustüre Europas hin. Der Kampf zwischen Freiheit, religiöser Reaktion und Repression wird Arabien und damit Europa noch lange in Atem halten. Die Gewaltausbrüche in der arabischen Welt dürfen freilich für Israel kein Vorwand sein, den Interessenkonflikt mit den Palästinensern einfrieren zu wollen. Dieser Versuch verschärft lediglich das Problem. Denn die nationalen Ambitionen der Palästinenser sind berechtigt. Sie verdienen einen eigenen Staat – ebenso wie die Israelis. Dies ist auch der Inhalt der UNO-Resolution vom 29. November 1947. Nun hat Palästinas Präsident Abbas erneut eine entsprechende Petition in den Vereinten Nationen eingebracht, sein Land als 194. Staat aufzunehmen. Das war – und bleibt! – für Israel eine goldene Gelegenheit, als erster Staat Palästina anzuerkennen. Damit würde Zion eine Vertrauensbasis schaffen – gegenüber den Palästinensern und der Weltgemeinschaft. Auf dieser Grundlage hat Israel Aussicht, seine legitimen Forderungen durchzusetzen: Ein jüdischer Staat zu bleiben, in anerkannten Grenzen ohne Siedlungen auf arabischem Boden zu existieren und eine Rückkehr von Millionen Nachkommen der Flüchtlinge zu vermeiden. Lässt Jerusalem diese Chance verstreichen, gerät Israel weiter in die Defensive. Bei den Palästinensern würden radikale Kräfte wie die Hamas vermehrt Auftrieb erhalten. Der israelisch-palästinensische Streit könnte außer Kontrolle geraten. ■

Voraussichtlich am letzten Novemberwochenende wird der nächste CastorTransport ins Zwischenlanger in Gorleben rollen. Ein breites Bündnis hat bereits Proteste und Demonstrationen angekündigt. Der SPD-Unterbezirk Uelzen/LüchowDannenberg wird sich mit einem ProtestCamp beteiligen. Unter dem Motto „Rotkäppchen gegen den Castor“ soll es Basis zum Treffen, Essen und Ausruhen sein – nicht nur für Sozialdemokraten. Ab dem 24. November wird das Camp auf einer Wiese bei Langendorf neben der Transportstrecke aufgeschlagen. Noch sammelt der Unterbezirk auch Geld- und Sachspenden. Besonders warme Decken werden Ende November gebraucht. ■ KD gorleben-soll-leben.de

SPD-KONFERENZ Wenn sich die SPD Anfang Dezember zum Parteitag trifft, werden auch viele Gäste aus dem Ausland dabei sein. Die Partei lädt deshalb am Vortag, dem 3. Dezember, zu einer internationalen Konferenz ins Willy-Brandt-Haus ein. Delegierte und Gäste des Parteitags sind eingeladen, über aktuelle weltpolitische Themen wie etwa Perspektiven für den Nahen Osten und die Zukunft Afghanistans zu disktutieren. Beginn der Konferenz ist um 14.30 Uhr. ■ KD

DANK UND PFLICHT Am 30. Oktober 1961 schlossen Deutschland und die Türkei ein „Anwerbeabkommen“ für türkische Arbeiter. „Die vielen Menschen, die in fünf Jahrzehnten aus der Türkei gekommen sind, haben auf unterschiedlichste Weise Deutschland verändert, bereichert und vorangebracht“, stellte das SPD-Präsidium zum 50. Jahrestag fest. Ihre Arbeit verdiene „Dank und Anerkennung“. Hier besteht allerdings noch Nachholbedarf. So versprach SPDChef Sigmar Gabriel bei einer Feier des Jubiläums, die doppelte Staatsbürgerschaft und das kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer auf die Tagesordnung zu setzen, sobald die SPD wieder die Regierung stellt. „Also in zwei Jahren!“ konkretisierte das Andrea Nahles. ■ KD


11/2011

NEWS 13

vorwärts

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FOTOS: DPA, CARO/KRUPPA, BERND HARTUNG, PICTURE ALLIANCE/DPA

DREI FRAGEN AN ULRICH NUSSBAUM SPD-Chef Sigmar Gabriel hat vorgeschlagen, Banken in Investmentund Geschäftsbanken aufzuteilen. Damit hat er in der Finanzwelt heftige Debatten ausgelöst. Was halten Sie von seinem Vorschlag? Eine Trennung der Banken hätte Vorund Nachteile. Die Geschäftsbanken würden sicherer werden, die Investmentbanken krisenanfälliger. Denn die Geschäftsbanken müssten dann nicht mehr die Risiken aus dem Investmentbanking tragen. Dafür könnten die Investmentbanken im Krisenfall nicht auf Einnahmen aus dem regulären Geschäft zurückgreifen. Ein Beispiel ist Goldman Sachs, das ist auch eine reine Investmentbank. Die steht gerade vor großen Problemen, weil die finanzielle Absicherung durch das Privatkundengeschäft fehlt. Eine Bankentrennung ist also kein Allheilmittel, aber ein Schritt in die richtige Richtung. Insgesamt würde das Finanzsystem dadurch stabiler werden. Eine Finanzkrise folgt der anderen. Legen Sie ihr eigenes Geld heute anders an als früher? Ich war immer vorsichtig und habe den Spruch meines Vaters beherzigt: Lege nicht alle Eier in einen Korb! Genau das würde ich auch jedem anderen raten: Legen Sie ihr Geld möglichst in zwei, drei unterschiedlichen Anlagearten an! Investieren Sie nicht alles nur in Gold, oder nur in Staatsanleihen. Und wenn Sie alles bar unters Kopfkissen legen, kann das Geld auch an Wert verlieren. Ich habe schon früh gelernt: Es gibt nichts absolut Sicheres auf dieser Welt. Von 2003 bis 2007 waren Sie für die SPD Finanzsenator in Bremen. Seit 2009 bekleiden Sie in Berlin das gleiche Amt – wieder für die SPD. Warum wollen Sie nicht in die SPD eintreten? Ich stehe der SPD inhaltlich und gedanklich sehr nahe. Ich glaube aber, als Parteiloser kann ich – über die SPD-Mitglieder hinaus – ganz andere gesellschaftliche Kreise für die SPD erschließen. Dadurch übernehme ich eine gewisse Brückenfunktion, und die nutze ich auch für die SPD. ■ CFH/LH

Wer glaubt, dass Männer in DAXVorständen freiwillig ihre Positionen räumen, der glaubt auch, mit Gänsen über Weihnachten diskutieren zu können.

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Sigmar Gabriel

zum Nutzen einer Frauenquote in der Wirtschaft

DER OKTOBER IN ZITATEN

Mit 17 war er in der PDS, als SPD-Landtagsabgeordneter nahm er mit dem von ihm erfundenen „Storch Heinar“ den Kampf gegen die NPD auf. Am 25. Oktober wurde Matthias Brodkorb von Ministerpräsident Erwin Sellering zum neuen Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern berufen. Große Erfahrung hat der 34-Jährige vor allem mit den Universitäten. Als hochschulpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion beeinflusste er deren Neuordnung in den vergangenen Jahren mit. Als Bildungsminister möchte er sich nun zunächst um die Lehrer im Nordosten kümmern, sie „begeistern, mitnehmen, ihnen zuhören“. Denn unter Druck machten sie einfach keinen guten Unterricht. ■ KD

SPITZEN-FRAUEN In Mecklenburg-Vorpommern ist eine Frauenquote überflüssig – zumindest im Landtagspräsidium. Die langjährige Präsidentin Sylvia Bretschneider (SPD) wird seit der konstituierenden Sitzung am 5. Oktober von Regine Lück (Linke), Silke Gajek (Grüne) und Beate Schlupp

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Ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen.

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Ronald Pofalla,

Kanzleramtschef, zu MdB Wolfgang Bosbach, der dem europäischen Rettungsschirm nicht zustimmte

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Man wünscht niemandem solch ein Ende, aber es ist eine klare Botschaft an die Diktatoren rund um den Erdball. Barack Obama,

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zum Tod Gaddafis

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Wir sind bis an die Grenze des Erträglichen gegangen.

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Klaus Wowereit Ulrich Nußbaum ist seit 2009 Finanzsenator von Berlin. Klaus Wowereit holte ihn als Nachfolger von Thilo Sarrazin in die Hauptstadt.

LINKER MINISTER

zum Scheitern der rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Berlin

(CDU) vertreten. Dieses rein weibliche Präsidium ist einmalig in Deutschland: In keinem der anderen 15 Landtage ist die Spitze ausschließlich mit Frauen besetzt. In den fünf Fraktionen besteht allerdings noch Nachholbedarf: Nur 20 der 71 Abgeordneten sind weiblich. Die jeweils fünf Fraktionschefs und Parlamentarischen Geschäftsführer sind allesamt Männer. ■ KD

KEIN GRÜNER Um ein Haar wäre Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit mal ein echter Grüner geworden. „Wenn das Familienrecht in den 50er Jahren ein anderes gewesen wäre, würde ich wohl heute den Namen meiner Mutter tragen“, sagte Wowereit bei einem Mitgliederforum der Berliner SPD. Hertha Grüner hatte ihren jüngsten Sohn am 1. Oktober 1953 in Berlin zur Welt gebracht. Kurz darauf verließ der Vater die Familie. Ihm verdankt Wowereit seinen ostpreußischen Namen. Übersetzt heißt er „Eichhörnchen“. ■ KD

BERLINER TAGEBUCH Notiert von Uwe Knüpfer Man kann der schwarz-gelben Regierungstruppe nicht vorwerfen, sie sei untätig. Im Oktober wollte Verkehrsminister Peter Ramsauer, CSU, eine Helmpflicht für Fahrradfahrer einführen. Dabei waren Koalitionspolitiker als Radfahrer bisher nicht aufgefallen, jedenfalls nicht im Berliner Straßenverkehr. Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner, auch CSU, machte kurzzeitig mit Kritik am Mindesthaltbarkeitsdatum (auf Lebensmitteln) von sich reden. Sehr kurzzeitig. Höheren Unterhaltungswert hatte der gemeinsame Auftritt von Kristina Schröder und Ursula von der Leyen, Bundesfamilienministerin die eine, Bundesüberministerin die andere, beide CDU. Es ging um Quoten und das letzte Wort. Über einen „Zickenkrieg statt Hahnenkampf“ schrieb die FAZ. „Raubkatze gegen Reh“ dichtete die Süddeutsche. Ein besonderer Clou im Kampf um Schlagzeilen gelang Philip Rösler, FDP und Wolfgang Schäuble, CDU. Die Steuern würden gesenkt, tatsächlich, jetzt doch, wirklich bald, versprachen der Wirtschafts- und der Finanzminister, dabei irgendwie an Jung-Siegfried und Hagen von Tronje erinnernd, den Schatz der Nibelungen suchend. Es fehlte Wagner'sche Musik. Leider fehlte auch die Zustimmung des dritten Koalitionspartners. Prompt meldete sich aus dem fernen München der bayerische Hunnenkönig Horst zu Wort. "Mit uns gibt es keine Einigung," stellte Seehofer, CSU, knarzig fest. Während die Regierungsfestspiele ihrem dramatischen Tiefpunkt entgegentaumelten, spitzte sich in der wirklichen Welt die Schuldenkrise dramatisch zu. Die Regie übernahm: der Bundestag. Aus einem EU-Gipfeltreffen wurde ein Vor-Gipfel, weil die Abgeordneten darauf bestanden, bei der erneuten Neugestaltung des Euro-Rettungsschirms den Kurs zu bestimmen! Angela Merkel durfte in einer Brüsseler Nachsitzung durchsetzen, was die SPD seit langem schon gefordert hat. Thomas Oppermann, SPD, prägte das Wort von der Parlaments-Demokratie. Die hat viel mit Norbert Lammert zu tun. Der Bundestagspräsident nimmt seine Aufgabe zur Überraschung seiner regierenden CDU-ParteifreundInnen dauerhaft ernst. Passend zu den Regierungsspielen tauchte sich Berlin des Abends in märchenhaftes Licht. Projektoren zauberten Sätze auf Wände. Auf der US-Botschaft war zu lesen: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren...“ Damit wäre doch eigentlich alles gesagt. ■


14 MEINUNG

vorwärts 11/2011

»ZWISCHENRUF«

JOHANNES KANDEL 40 Prozent der Muslime in Deutschland zeigen eine starke Distanz zur Demokratie. Die SPD ignoriert das. Und lässt so die Gegner der offenen Gesellschaft gewähren

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ozialdemokraten sind sich einig, dass Integration eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die „Migranten“ und „Einheimische“ gleichermaßen angeht. Es ist ferner Konsens, dass Integration alle Politikbereiche betrifft. Fragen wir aber nach den Defiziten von Integration und Integrationspolitik, beginnt der Dissens. Leider werden in der SPD Integrationsdefizite, die nicht auf „Diskriminierungen“ durch die Aufnahmegesellschaft zurückzuführen sind, weitgehend tabuisiert. Das ist bedenklich – und gefährlich. Denn es ist eine Tatsache: Bei bestimmten Migranten – vor allem bei Muslimen – gibt es ethnische und kulturelle Prägungen sowie religiöse Orientierungen, welche Integration behindern bzw. unmöglich machen. Dazu gehören patriarchalisch-autoritäre Familien- und Milieustrukturen, Clanbildung mit teilweise kriminellem Verhalten, Geschlechterapartheid, gepaart mit Zwangsheiraten und „Ehrverbrechen“ sowie religiös-politischer Fundamentalismus, vor allem in islamistischen Ausprägungen. Rund 40 Prozent der bei uns lebenden 4,3 Millionen Muslime folgen Einstellungen, die eine repräsentative Studie des Bundesinnenministeriums als „religiös-fundamental“ bezeichnet. Diese 1,7 Millionen „religiös-fundamental“ Orientierten sind sehr religiös, schlecht integriert, zeigen eine auffällige Aufwertung der eigenen und Abwertung anderer Religionen. Sie haben – und das muss für jeden Demokraten ein Alarmsignal sein! – eine starke Distanz zur Demokratie. Die Studie ermittelte darüber hinaus eine „Problemgruppe“ von 14 Prozent der Muslime in Deutschland. Bei diesen besteht entweder hohe Distanz zu Demokratie und Rechts-

staatlichkeit und/oder hohe Akzeptanz von politisch-religiös motivierter Gewalt. Fast jeder dritte muslimische Jugendliche gehört zu dieser „Problemgruppe“. Eine Mehrheit der Muslime hat keine Schwierigkeiten mit rechtsstaatlicher Demokratie und Pluralismus. Aber die integrationswidrige Radikalisierung einer bedeutenden, wachsenden Minderheit darf nicht länger ignoriert werden. Verschweigen ist keine Lösung! Sozialdemokraten sagen, „was ist“, so Ferdinand Lassalle. Sie beschönigen und verharmlosen nicht – auch keine Integrationsdefizite. Sie reichen allen Migranten die Hand, die zu unserer Demokratie stehen. Aber die Gegner der offenen Gesellschaft dürfen Sozialdemokraten nicht gewähren lassen. ■

Dr. Johannes Kandel ist Politikwissenschaftler. Der Sozialdemokrat arbeitet als Referatsleiter einer politischen Stiftung in Berlin. 2011 ist sein Buch „Islamismus in Deutschland“ im Herder-Verlag erschienen.

MITREDEN & BLOGGEN: vorwärts.de/zwischenruf-integration

BEST OF BLOGS

vorwärts.de/blogs

AUF DIE STÄDTE KOMMT ES AN 10/2011

Dass wir heute bei uns Städte haben, in denen „wir zu jeder Tages- und Nachtzeit umhergehen können“ ohne Gefahr für Leib und Leben, wie Professor Häussermann meint, ist ein Gerücht. Er wohnt wohl nicht in Berlin-Kreuzberg, Hamburg-Billbrock und Frankfurt-Gallus. Jürgen W. Fritz, Offenbach

DER PRIMAT DER FINANZINDUSTRIE YACINE GHOGGAL Was wäre, wenn Europa mal solidarisch wäre. Anstatt griechische Schulden abschreiben zu müssen, sollen die Eurostaaten zu einem Zinssatz, den ich hier gar nicht festsetzen möchte, den Griechen und Italienern Geld leihen. Dieser Zinssatz soll viel weiter unter demjenigen stehen, als der Zinssatz, den die Griechen und auch die Italiener derzeit zahlen. Jetzt fragt ihr euch, wie wir das denn anstellen sollen? An dieser Stelle kehrt der Primat der Politik zurück. War es bisher so, dass die Politik nach der Pfeife der Banken tanzte, die Banken die Politik indirekt erpressten, drehen wir den Spieß um. Dafür muss Europa nur solidarisch sein. vorwärts.de/blogs PISA-OHRFEIGE FÜR UNSERE POLITISCHE KLASSE DANIEL SCHNEIDER In einer Marktwirtschaft müsste eine Bank, die sich verzockt hat, Konkurs anmelden. Wird sie als systemrelevant für den allgemeinen Geldverkehr eingestuft, kann sie verstaatlicht werden. Das machte die schwedische Regierung, als das Land Anfang der neunziger Jahre von einer Finanzkrise heimgesucht wurde. Als die Banken von ihren toxischen Papieren befreit und rekapitalisiert waren, wurden sie wieder verkauft. Von dieser Art der Sanierung profitiert der Steuerzahler. Bei uns in der Euro-Zone müssen die Steuerzahler für immer größere und waghalsigere Rettungsschirme haften. Die Gewinne der Banken werden privatisiert, ihre Verluste sozialisiert. Was macht man, wenn wie in Frankreich viele Banken bereits verstaatlich sind? vorwärts.de/blogs

Besonders informativ fand ich das Interview mit Hartmut Häussermann, der ja mit Kritik an der SPD-Städtepolitik nicht spart. Ich wünsche mir solche Beiträge, die kritisch-konstruktiv sind und nicht nur die „Parteilinie“ wiedergeben und die SPD über den grünen Klee loben. André Förster, Berlin

Liebe Genossen, der neueste „vorwärts“ ist Euch gut gelungen, richtig bürgernah. Ilse Werder, Hanau

Das, was große Teile der SPD unter Dialog verstehen, ist genau das, was auf dem Titelbild abgebildet ist. Leider nur ist es kein „Bürgerdialog“, den man dort sieht, sondern ein „Parteimonolog“. Zwei Genossinnen und Genossen verschanzen sich hinter einem Infostand und der Genosse spricht zum mehr oder weniger geneigten Volk. ... Im wahren Leben habe ich schon sehr häufig erlebt, dass die Genossen sich miteinander hinter einem Infostand unterhalten. Mehr Wagenburg geht nicht. Kirsten Grote, Flensburg

»WIR VERDIENEN UNSER GELD UNTER TRÄNEN« 10/2011

Es ist tatsächlich so, dass man sich schämt, im Rentenalter unter der Armutsgrenze zu leben. Bei mir trifft es voll und ganz zu. Ich gehe auch arbeiten, nur um zu überleben. Als frühere Kosmetikerin habe ich mir in meiner Wohnung ein kleines Studio eingerichtet. Zusätzlich gehe ich putzen. Einmal die Woche hole ich mir abgelaufene Lebensmittel von der „Tafel“. Ich hoffe nur, lange genug gesund zu bleiben, um arbeiten zu können. Elisabeth Quentin, Schwentinental

Die Altersarmut ist eine Seuche, sie steigt an. Viele Rentner hätten aber mehr Rente, ... hätten sie früher Disziplin gezeigt. Da wurden keine Beiträge eingezahlt, nicht geklebt, auch langjährige Gefängnisstrafen gehören dazu. Einige solcher Fälle kenne ich selbst. Uta Fritzsche, Mönchengladbach

FOTO: PRIVAT

ALARMSIGNALE ERNST NEHMEN!

LESERBRIEFE


11/2011

MEINUNG 15

vorwärts

Bevölkerung deutsche Medien nutzen. Welche sind das denn und in welchem Umfang und zu welchem Zweck? Mir ist jedenfalls noch so gut wie niemand aus diesem Personenkreis mit einer deutschen Tageszeitung unter dem Arm entgegengekommen. Dieter Blumtritt, Helmstedt

EDITORIAL 10/2011

Kleiner Aprilscherz im Oktober. Von Ratzinger will ich eigentlich nicht lernen. Kenne auch keinen Sozialdemokraten, der das will. Bernd Roller, Mühlacker

50 JAHRE ANWERBEABKOMMEN MIT DER TÜRKEI 10/2011

Genosse Gabriel postuliert: „Wirtschaftlich und kulturell hat unser Land von dieser Einwanderung enorm profitiert.“ Ich weiß wirklich nicht, was man an diesem Satz mehr bewundern soll, Gabriels Chuz-

pe, mit der er dieses Urteil fällt oder seine hartnäckige Ignoranz der Realität? Seine Äußerung macht allerdings Sinn: Probleme, die man negiert, muss man auch nicht lösen! Rainer Jähnke, Bochum Die von Euch veröffentlichten Zahlen sind doch stark zu hinterfragen. So sollen 88,4 Prozent der türkeistämmigen

BERLIN-WAHL: WOWEREIT BLEIBT SPITZE 10/2011

MITRE

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r ts.de vor wä neu! ch … tägli

Die SPD bringt sich (mit der großen Koalition, die Red.) um die Mehrheit im Bundesrat, baut die CDU auf. Schon 2009 vergessen? Wie wollt ihr so das Steuerabkommen mit der Schweiz verhindern? Ulrich Bald, Hagen

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16 PARLAMENT

vorwärts 06/2011

IM BLICKPUNKT

FRAKTION WÄHLT NEUE SPRECHER Die SPD-Fraktion im Bundestag hat die Sprecherinnen und Sprecher ihrer Arbeitsgruppen neu gewählt. Dabei wurde Michael Hartmann zum neuen innenpolitischen Sprecher bestimmt. Der 48-jährige Mainzer tritt die Nachfolge von Dieter Wiefelspütz an, der nicht wieder kandidierte. Ein neues Gesicht unter den Obleuten der SPD-Fraktion ist auch Sören Bartol (37). Der Abgeordnete aus Marburg ist jetzt Sprecher für den Arbeitsbereich Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Das Amt übernimmt er von Uwe Beckmeyer. ■

Ansturm auf die Hochschulen: Das Ende der Wehrpflicht verschärft die Situation zusätzlich.

»EIN STUDIUM DARF KEIN PRIVILEG WERDEN« BILDUNG Die SPD fordert einen »Hochschulpakt Plus«. Denn die Universitäten sind dem Ansturm der Studenten nicht gewachsen.

D

er Ansturm auf die deutschen Hochschulen nimmt weiter zu. Seit Jahren entschließen sich immer mehr junge Menschen dazu, ein Studium zu beginnen. Verstärkt wird dieser Run auf die Universitäten und FHs jetzt noch durch doppelte Abiturjahrgänge und das Ende der Wehrpflicht. Die Hochschulen sind überlastet, weil ihnen Geld für neue Studienplätze fehlt. Die Folgen sind überfüllte Hörsäle und hohe Numerus-Clausus-Hürden.

Zwar haben Bund und Länder schon 2007 und 2009 mit zwei Hochschulpakten reagiert. Darin beschlossen sie, gemeinsam bis 2015 insgesamt fast 460 000 neue Studienplätze zu finanzieren. Doch die Gelder reichen nicht aus. Daran ändert auch nichts, dass die Mittel im März dieses Jahres noch einmal erhöht wurden. 59 000 Plätze wurden für diejenigen geschaffen, deren Wehrpflicht nun entfällt. „Zu Semesterbeginn wird deutlich, dass der Hoch-

schulpakt unzureichend finanziert ist“, sagt der hochschulpolitische Sprecher der SPD-Fraktion Swen Schulz. Laut Bundesbildungsbericht könnten bis 2015 sogar 200 000 Studienplätze fehlen. Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dagmar Ziegler fordert deshalb: „Damit ein Studium nicht zum Privileg für wenige wird, muss die Bundesregierung jetzt endlich die Augen öffnen und handeln.“ Die SPD-Bundestagsfraktion fordert nun einen „Hochschulpakt Plus“, um die Hochschulen für die Zukunft zu rüsten. Einen entsprechenden Antrag brachte sie im Oktober in den Bundestag ein. Mit dem neuen Pakt will die SPD den „Ausgabendeckel“ anheben. Dieser begrenzt die Zahl der Studienplätze, die der Bund mitfinanziert. Mindestens 50 000 weitere Studienplätze sollen so bereitgestellt werden. Damit die Hochschulen auch kostenintensive Studiengänge ausbauen, will die SPD Fachrichtungen wie Medizin oder Chemie mit einem Extra-Zuschlag fördern. Denn für einen Studienplatz in den „Labor-Wissenschaften“ benötigen die Hochschulen teure Ausrüstung und somit mehr Geld. Ein weiterer wichtiger Punkt: Während bisher viele neue Plätze für Bachelor-Studiengänge geschaffen wurden, ist die Zahl der Master-Plätze nahezu konstant geblieben. Die SPD-Fraktion will das ändern. „Wir wollen erreichen, dass für alle Interessierten ausreichend Master-Studienplätze geschaffen werden“, erklärt Swen Schulz. ■ CFH

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Die rot-grüne Renaissance beginnt doch gerade erst.

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Thomas Oppermann, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, zu den Bündnisperspektiven im Bund nach dem Scheitern von Rot-Grün in Berlin

TIPP 28. NOVEMBER Kongress Engagiert für und in Europa ab 13 Uhr monique.paech@ spdfraktion.de

Zeichen der Zeit nicht verstanden: Philipp Rösler und Angela Merkel

VERSCHLAFENE ZEITENWENDE Der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier warnt davor, dass die Finanzmarktkrise das Vertrauen der Menschen in die Politik zerstört. „Vor drei Jahren haben wir gesagt: Dies ist eine Zeitenwende. Konservative und Marktliberale wollten es nicht wahrhaben“, sagt Steinmeier. Er könne deshalb die Menschen verstehen, die nun weltweit dafür demonstrieren, die Finanzmärkte schärfer zu regulieren. Der schwarz-gelben Regierung wirft Steinmeier vor, die wirtschaftliche Krise mit ihrer chaotischen Politik verstärkt zu haben. „Das System Merkel, Entscheidungsbedarf im Euroraum zu leugnen …, nur um sich dann von den Märkten zu überstürzten, verspäteten und unzureichenden Schritten treiben zu lassen, ist gescheitert.“ ■ CFH

Dass Handeln besser sei als Reden, die Tat allemal nützlicher als der Gedanke, den Knoten durchzuschlagen ehrenvoller als ihn aufzulösen, das steckt tief im kollektiven Unterbewusstsein unseres Volkes. Diktaturen kommt diese Wertepräferenz naturgemäß entgegen. Wir kennen in Deutschland deren Praxis. Für das demokratisch verfasste Gemeinwesen hingegen gilt: Erst reden! Deshalb heißen die Parlamente so: Parler bedeutet Reden. Im Für und Wider der politischen Debatte bilden sich Meinungen und Mehrheiten – und damit die Legitimation für Entscheidungen etwa der Legislative. Diese umzusetzen, also „zu handeln“, ist dann Aufgabe der ausführenden Gewalt, die deshalb auch so heißt: Exekutive. Kein Abgeordneter baut selbst eine Straße oder pflanzt Sonnenkollektoren auf die Dächer. Aber er beschließt darüber, ob mit dem Geld der Steuerzahler gebaut oder gepflanzt wird. Und jeder Bürger, dem eine Mehrheitsentscheidung nicht zusagt, hat das Recht, weiter öffentlich dagegen an zu reden oder Gerichte anzurufen. ■ H.P. B Der Autor Hans-Peter Bartels ist seit 1998 Mitglied des Bundestages. Weitere Beispiele zum Buchstaben H auf vorwärts.de/woerterbuch

FOTOS: IMAGO/ZENTRIXX, SPD/GERRIT SIEVERT, GETTY IMAGES

Das Wörterbuch der Politikverdrossenheit »Handeln statt Reden«


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PA RTE I L E B E N ! INHALT BESUCH BEI LASSALLE

CHEFSACHE

FOTOS: DIRK BLEICKER, PRIVAT, KAI DOERING

ANDREA DIREKT! Machen die mit der Parteireform geplanten Themenforen die Arbeitsgemeinschaften überflüssig? Nein. Die Themenforen sind keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung zur Arbeit der Arbeitsgemeinschaften. Sie werden ja auch zeitlich befristet sein und sind ein niedrigschwelliges Angebot an Mitglieder und Interessierte, themenorientiert mitzudiskutieren. Angst braucht da niemand zu haben. Ich bin vielmehr gespannt, wie sich die Arbeit der Foren entwickelt. Warum ist die SPD-Führung bei den Mitbestimmungsrechten von Nichtmitgliedern zurückgerudert? Wir sind nicht zurückgerudert, sondern haben die Ohren gespitzt. Die Rückmeldungen von der Basis waren eindeutig: Das, was wir uns in punkto Mitbestimmung von Nichtmitgliedern überlegt hatten, wird so nicht akzeptiert. Deshalb pushen wir das auch nicht mehr von oben. Es bleibt aber dabei, dass Gliederungen freiwillig auch Nichtmitglieder an Entscheidungen beteiligen können. Dafür werden wir eine Richtlinie entwickeln. Schwächt es die SPD nicht, wenn künftig ständig Vorwahlen stattfinden? Diese Gefahr sehe ich nicht. Die Ebene vor Ort entscheidet, ob Vorwahlen stattfinden oder nicht. Wenn es etwa nur einen Kandidaten gibt, sind sie ja unsinnig. Im Moment ist das in den allermeisten Fällen so. Daran wird sich auch in Zukunft wenig ändern. Von andauernden Vorwahlen kann daher keine Rede sein. Dennoch denke ich, dass Vorwahlen, wenn sie stattfinden, die Basis mobilisieren werden. Wird die SPD ihren Kanzlerkandidaten für 2013 von den Mitgliedern wählen lassen? Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Ich glaube nicht, dass es mehr als einen Personalvorschlag geben wird. Deshalb wird eine Vorwahl überflüssig sein. ■ Fragen stellen: vorwärts.de/nahlesfrage

Auf Reisen mit der SPD in Wroclaw und Görlitz

PORTRÄT Aydan Özoguz, Hamburger Bundestagsabgeordnete

NACHRICHTEN Aktionen und Termine aus den Ortsvereinen

PARTEITAG Die Tagesordnung und was der „vorwärts“ plant

Preisträger: Daniel Barenboim und Laila Soliman mit SPD-Chef Sigmar Gabriel

»DARUM BIN ICH IN DER SPD…«

AUSGEZEICHNET WILLY-BRANDT-PREIS Erstmals wurde die Auszeichnung für internationale Verständigung vergeben Von Kai Doering

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JOACHIM BROSIG arbeitet im Vertrieb eines Automobilzulieferers und gehört dort dem Betriebsrat an. Er ist Mitglied der SPD in Solingen. „Ich bin der SPD beigetreten, weil ich zu einer sozialen und demokratischen Welt beitragen möchte – nicht nur in der Theorie. Der neue Kurs der Partei gefällt mir. Für die Zukunft wünsche ich mir mehr innerparteiliche Demokratie.“ ■ Warum seid Ihr gerade jetzt SPD-Mitglied geworden? Schreibt uns an parteileben@vorwaerts.de

aniel Barenboim hat schon viele Auszeichnungen bekommen. Der Preis, den er am 25. Oktober im Berliner Willy-Brandt-Haus in Empfang nimmt, ist aber ein besonderer. Er trägt den Namen Willy Brandts, und der argentinisch-israelische Dirigent ist der erste Träger. Brandts Mut sei ein Vorbild für viele, so Barenboim. Er sei „überzeugt, dass er heute den gleichen Mut im Bezug auf den Nahostkonflikt aufbringen würde“. Diesen zu lösen, liegt dem Musiker am Herzen. 1999 rief er deshalb mit dem palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said das „West-Eastern Divan Orchestra“ ins Leben. In ihm spielen junge Musiker aus Israel, Palästina und anderen arabischen Staaten zusammen. „Mit Ihren Reden und Ihrem Wirken schließen Sie die Kluft zwischen den Völkern“, lobt SPD-Chef Sigmar Gabriel den Dirigenten. Damit stehe Barenboim in der Tradition Willy Brandts, der sich auch von massiver Kritik nicht habe beirren lassen und schließlich von der Geschichte Recht bekommen habe. Brandts Warschauer

Kniefall vor 40 Jahren habe einen Prozess eingeleitet, der schließlich zum Fall des Eisernen Vorhangs geführt habe. „2011 hat es wieder solche Momente gegeben: als Präsident Ben Ali aus Tunesien geflohen ist und als der ägyptische Präsident Mubarak gestürzt worden ist, weil friedliche Demonstranten nicht weichen wollten“, schlägt Gabriel den Bogen in die Gegenwart. Eine, die nicht wich, ist die ägyptische Regisseurin Laila Soliman. Sie gibt der Revolution im Theater eine Stimme und wird dafür mit einem „Sonderpreis für besonderen politischen Mut“ ausgezeichnet. „Dass ich hier stehe, liegt wohl daran, dass ich Ihren Vorstellungen einer Revolutionärin entspreche; jung, unverschleiert, gebildet, nicht religiös“, sagt sie und mahnt mit Blick auf Ägypten: „Der Kopf ist gefallen, aber der Körper ist noch da und genest schnell.“ Der arabische Frühling sei vorbei. „Die Revolution geht weiter.“ ■ Die Reden im Wortlaut vorwärts.de/brandt-preis


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Frische Blumen zu allen Jahreszeiten: Auf dem „Plac Solny“ (Salzplatz) in Wroclaw wird seit dem Mittelalter Handel getrieben.

BESUCH BEI LASSALLE

SPD-HERBST-TREFFEN 250 Genossen und Freunde verbrachten eine Woche im Riesengebirge. Für einige war es eine Reise an den Ort ihrer Geburt

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as Grab hat die Nummer neun. Sie steht in geschwungener Schrift weiß auf schwarz auf dem welligen Lageplan des alten jüdischen Friedhofs im polnischen Wrocław, dem früheren Breslau. Hinter der Zahl steht der Beruf des Verstorbenen, „polityk“, und sein Name: Lassalle, Ferdinand. Er sei ein „Bonvivant“ gewesen, hatte Helga Grebing am Abend zuvor über den 1864 Verstorbenen gesagt. Die Historikerin meinte damit vor allem seinen Hang zu jungen Frauen, der ihm schließlich auch den Tod brachte: Am 31. August 1864 starb Lasalle im Alter von 39 Jahren an den Folgen eines Pistolenduells mit einem Nebenbuhler. „Eigentlich sollte er in Düsseldorf beerdigt werden, aber Lassalles Familie hat sich durchgesetzt“, erzählt Helga Grebing. Sie steht vor einem kleinen Zaun. Dahinter glänzt schwarz der Marmor eines übermannshohen Grabmals, rechts und links eine Säule. Grebing hat den Kragen ihres Mantels hochgeschlagen. Der Wind

Altehrwürdig: Der Barocksaal „Aula Leopoldina“ der Universität Wroclaw ist ein beliebter Anlaufpunkt für Touristen

weht kühl an diesem Herbstdonnerstag. Das Laub der Bäume und der Sträucher, die die Grabsteine überwuchern, ist gelb und rot. „Eigentlich wollte ihn seine Gönnerin, die Gräfin von Hatzfeldt, bei sich haben“, so Grebing weiter über Lassalle, „aber schließlich wurde er dann doch hier an seinem Geburtsort beerdigt.“ Die Männer und Frauen, die um sie herumstehen, nicken stumm. 250 sind aus ganz

Deutschland Richtung Osten gereist. In kleinen Gruppen pilgern sie zum Grab des Gründers des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“. Aus ihm wurde später ihre Partei, die SPD. Es ist der vierte Tag ihrer Reise, als sie am Grab Lasalles stehen. Am Dienstag wurden sie vom Bürgermeister der Stadt Jelenia Góra, die früher Hirschberg hieß, begrüßt. Am Mittwoch standen sie an der Quelle der Elbe. Das diesjährige SPDHerbsttreffen findet im Riesengebirge statt, im Dreiländereck zwischen Polen, Tschechien und Deutschland. „Drei Länder in sechs Tagen – das machen sonst nur japanische Touristen“, lacht Dieter Lasse. Er war früher persönlicher Referent von Willy Brandt. Jetzt, im Ruhestand, unterstützt er den SPD-ReiseService bei Touren wie dieser. Für Anita Fietz ist es eine Reise in die eigene Vergangenheit. Die 73-Jährige wurde in Wrocław geboren, als es noch Breslau hieß und zum Deutschen Reich gehörte. Als die Stadt wegen der nahen-

FOTOS: KAI DOERING

Von Kai Doering


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den Roten Armee 1944 von Hitler zur „Festung“ erklärt wurde, war Fietz mit ihrer Familie auf dem Land. „Aber als wir zurückkehrten, lag alles in Schutt und Asche“, erinnert sie sich. Lange hielt es die Familie in der nun polnischen Stadt nicht aus: 1946 ging es nach Emden in Friesland. Erst 1986 kehrte Anita Fietz mit ihren Eltern zurück – für einen Besuch. Dem folgten viele weitere. „Wir haben inzwischen einige gute Freunde in Polen“, erzählt sie. Fietz’ Heimat ist mittlerweile Hürth in Nordrhein-Westfalen, doch nach Wrocław kommt sie immer gerne. „Nach dem Ende der Sowjetunion und dem EU-Beitritt Polens hat sich hier eine Menge verändert“, erzählt Maria. Die blonde Polin steht in der Herbstsonne auf dem Markplatz in Wrocław. Um sie herum leuchten die Fassaden der Bürgerhäuser. Maria hat in Wrocław studiert. Jetzt begleitet sie hauptberuflich Reisegruppen durch das früher deutsche Schlesien. 90 Prozent kommen aus Deutschland. Jedoch habe sich die Motivation der Reisenden über die Jahre verändert. „Der Ansturm ehemaliger Schlesier hat stark nachgelassen. Früher kamen sie busseweise, um die alte Heimat zu sehen.“ Während sie das sagt, rollt Maria jedes R so, dass es klingt, als würde es unter ihrer Zunge klemmen und nicht herauswollen.

FOTO: KAI DOERING

Auf der Jagd nach Waschmittel Sie schafft es auch, in jeden dritten Satz ihrer Erklärungen die Anrede „liebe Gäste“ einzuflechten, während sie die Gruppe durch Wrocławs wiederauferstandene Altstadt führt. So geht es vorbei am Rathaus, in die Universität mit ihrer prachtvollen „Aula Leopoldina“ und schließlich auf die Dominsel mit dem erst 1992 vollständig wieder aufgebauten Gotteshaus, einem Wahrzeichen Wrocławs. „Das Fundament ist original, oben ist alles aus Stahlbeton“, erklärt Maria.

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„Auferstanden aus Ruinen“ ist auch das letzte Ziel der Herbst-Reise. Am folgenden Tag geht es in die Grenzstadt Görlitz, die von ihrem polnischen Pendant Zgorzelec nur durch die Neiße getrennt wird. „Früher mussten wir hier lange warten, ehe wir durchgelassen wurden“, erklärt Reiseführer Jan, als der Bus langsam von der polnischen auf die deutsche Seite fährt. Die Brücke, die er überquert, ist nach Papst Johannes Paul II. benannt. Ein kleiner Stein erinnert an den ersten polnischen Pontifex. Jan macht sich auf die Jagd, während seine Gruppe an der „Kaisertrutz“, einem mittelalterlichen Wehrturm, in dem ein Museum untergebracht ist, zur Stadtführung startet. „Waschmittel und Kaffee sind in Deutschland billiger als in Polen“, erklärt er. „Meine Schwiegermutter hat mir eine Liste mitgegeben.“

Schöne Stadt ohne Einwohner Unterdessen nimmt seine deutsche Kollegin die Gruppe mit durch eine Stadt, die zwar 1945 kampflos an die Rote Armee übergeben wurde, deren Bausubstanz in den folgenden DDR-Jahren aber deutlich gelitten hat. Erst nach der Wiedervereinigung wurde die Innenstadt restauriert und zu einem Kleinod für Touristen. „Leider fehlen uns aber mehr und mehr die Görlitzer“, klagt die Stadtführerin. „Seit 1990 haben wir ein Viertel unserer Einwohner verloren.“ Besser sieht es auf der anderen Seite der Neiße aus. In Zgorzelec ist die Einwohnerzahl nahezu konstant geblieben. Ein Grund mehr für gute deutsch-polnische Zusammenarbeit. „Viele Aufgaben erledigen wir gemeinsam.“ Im vergangenen Jahr wären Görlitz und Zgorzelec auch gerne zusammen „Kulturhauptstadt Europas“ geworden. „Doch obwohl Essen sich schließlich durchgesetzt hat, haben wir gewonnen“, sagt die Stadtführerin mit einem Lächeln unter ihrer schwarzen Wollmütze. „Oder haben Sie vorher schon derart viel über Görlitz gehört?“

Lassalles Grab im Rücken: Reisende auf dem Friedhof von Wroclaw

TERMINE 2012 8. Frühlingstreffen Barcelona und die Costa Brava 23. bis 30. April Zum 1. Mai ins „Rote Wien“ 28. April bis 2. Mai 4. Sommertreffen der AG 60plus Sternfahrt in den Harz 22. bis 27. Juli 3. SPD-Kultursommer Potsdamer Schlössernacht und Berlin 16. bis 19. August Informationen: 030/25 59 46 00 info@spd-reiseservice.de

Elfriede Weber gefällt die Stadt. Bis vor sieben Jahren ist sie mit ihrem Mann Walter im Wohnwagen durch Europa gereist. Doch nun schätzen die beiden Münchener den Service einer organisierten Busreise. „Letztes Jahr haben wir mit dem ReiseService eine Flusskreuzfahrt in Russland gemacht“, erzählt sie. „Und davor waren wir beim Frühlingstreffen auf Sizilien.“ Damals verlängerte sich die Reise für die 450 Teilnehmer unfreiwillig um drei Tage. Wegen der Aschewolke aus einem isländischen Vulkan war der Flugverkehr in Europa lahmgelegt. Die Gruppe musste per Fähre und Bus die Heimreise antreten. „Das war ein Abenteuer“, erinnert sich Dieter Lasse. Eines, das ihm diesmal erspart bleibt. Die Busse, die die Teilnehmer des Herbsttreffens zurück in die Heimat bringen, verlassen am Samstagmorgen pünktlich den Hotelparkplatz. Und am Abend sind die Reisenden wieder zuhause. ■ ANZEIGE

HILFE FÜR DIE ERDBEBENOPFER IN DER TÜRKEI

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Hunderte Tote und über Tausend Verletzte sind bereits jetzt beim schlimmsten Erdbeben seit Jahrzehnten im türkischen Osten zu beklagen. Viele Hundert Menschen werden noch unter den Trümmern vermutet.

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Ausgabe 11/2011 Das SPD-Präsidium ruft zu Spenden für eine schnelle Hilfe vor Ort auf. Das DRK bittet um Spenden, um die Arbeit des Türkischen Roten Halbmonds zu unterstützen. Spendenkonto: 41 41 41, Bank für Sozialwirtschaft BLZ: 370 205 00 Stichwort: Türkei Online-Spende: www.drk.de/spenden SMS mit DRK an die 81190 senden und mit 5 Euro helfen. Auch die kirchlichen Hilfswerke Diakonie Katastrophenhilfe und Caritas international haben bislang zu Spenden aufgerufen. Online-Spende: www.diakonie-katastrophenhilfe.de

Fortschritt und Sozialdemokratie Sigmar Gabriel und Herfried Münkler im Gespräch Die Handlungsfähigkeit der Demokratie Thorsten Schäfer-Gümbel Neuen Fortschritt kommunal erproben Johano Strasser Der ökologische Umbau – ein linkes Projekt Björn Böhning Die digitale Gesellschaft sozialdemokratisch gestalten


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„Zusammen in Deutschland“: Die SPD feierte am 27. Oktober 50 Jahre deutsch-türkisches Miteinander im Berliner Ballhaus Rixdorf. Aydan Özoguz traf den Schriftsteller Yüksel Pazarkaya, dessen Stimme vielen türkischstämmigen Deutschen aus dem ersten WDR-Radioprogramm in türkischer Sprache vertraut ist.

SIE STÖSST TÜREN AUF AYDAN ÖZOGUZ Sie will keine Schlagzeilen – sie will Fortschritte. Diese Einstellung könnte die 44-jährige Hamburgerin bis in den SPD-Parteivorstand führen

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en Spruch „Wenn doch alle so wären wie Sie“ nimmt Aydan Özoguz lächelnd hin. Die Tochter türkischer Einwanderer gilt als ein Musterbeispiel für gelungene Integration. Das mag zum einen an ihrem erfolgreichen Werdegang liegen: Sie hat Sprachwissenschaften studiert, war Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und ist seit 2009 Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Sicher liegt es auch an der offenen Art, mit der sie auf Menschen zugeht. Mit ihrem Status als „Vorzeigemensch“ hat sie sich abgefunden. „Wenn ich das Gefühl habe, dass es was nützt und ich damit eine Tür aufstoßen kann, kann ich damit gut leben,“ sagt sie. Dinge tun, die nutzen, Türen aufstoßen, diesen nüchternen Ansatz verfolgt Aydan Özoguz auch in der Politik. „Wir müssen die Emotionen aus der Integrationsdebatte herausnehmen,“ sagt sie. Özoguz steht auf dem Podium einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Der gut gefüllte Saal zeigt, dass das Thema auch ein Jahr nach der Sarrazin-Debatte die Menschen bewegt.

PORTRÄT

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Es gab damals nicht viele von uns.

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Aydan Özoguz

Als Integrationsbeauftragte der SPDBundestagsfraktion spricht Özoguz oft auf solchen Veranstaltungen. Und immer tritt sie vor allem für eine Versachlichung der Debatte ein. Sie spricht dabei mit ruhiger, angenehmer Stimme. Ihre Sprache hat einen deutlichen Einschlag, der auf ihre hanseatische Herkunft verweist. Integrationspolitik bedeutet für Aydan Özoguz nicht, Politik für Menschen mit Migrationshintergrund zu machen. Am Ende ist es für sie immer Gesellschaftspolitik. „Wie bekomme ich eine Gesellschaft, in der jedes Mitglied eine echte Chance hat mitzumachen?“ Wenn es in Deutschland jedes Jahr tausende Schulabbrecher gebe, sei das ein Problem für die ganze Gesellschaft. Für Özoguz ist klar: Ob Migrationshintergrund oder nicht, den Jugendlichen muss ein entsprechendes Angebot zur Aus- und Weiterbildung gemacht werden. Überhaupt kann die Hamburgerin mit Begrifflichkeiten nicht viel anfangen. „Migrationshintergrund“ sei ja keine Diagnose, erklärt sie, der Begriff sage einem in Wirk-

lichkeit nichts. „Er wird in der Debatte aber gleichgesetzt mit ‚sozial schwach’ und ‚bildungsfern’.“ Die Politik muss weg vom Schubladendenken, fordert Özoguz, hin zu den konkreten Problemen. „Ich brauche keine Deutschförderung für Migrantenkinder, sondern ich brauche eine Deutschförderung für Kinder, die nicht richtig deutsch können.“ Dass es besonders bei Einwandererkindern Probleme mit Sprache und Bildung gibt, bestreitet sie nicht. Sie weist aber darauf hin, dass die meisten Gastarbeiter in den 1960er Jahren mit einer eher geringen Bildung in ein Land gekommen sind, das auf deren dauerhafte Aufnahme in keiner Weise vorbereitet war. „Dass sich daraus unter diesen Bedingungen nicht innerhalb von zwei Generationen nur Akademiker entwickeln, ist doch kein Wunder.“ Sie selbst ist Akademikerin, auch weil ihre Eltern einen anderen Hintergrund hatten. Die türkischen Kaufleute sind 1961 nach Hamburg übergesiedelt. Zusammen mit zwei älteren Brüdern wächst Aydan Özoguz im Hamburger Stadtteil Lokstedt auf. Ihre Brüder gehen

FOTOS: DOMINIK BUTZMANN

Von Gero Fischer


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Dokumentationen St it h ift Streitschriften E i i Ereignisse

Biografien

Ihre Geschichten, Gedanken, Meinungen und Erlebnisse wollen erzählt werden! Jubiläen bl Wir sorgen dafür, dass sie Ideen Id gelesen werden! Argumente A t Th Thesen Erinnerungen g M Memoiren i F t h ift Festschriften P ö li hk it Persönlichkeiten rotation ist ein Buch-Veröffentlichungs-Service des vorwärts buch Verlags.

FOTOS:DOMINIK BUTZMANN, ROBERT SCHLESINGER/DPA

Gruppenbild im Ballhaus Rixdorf: Aydan Özoguz umrahmt von Sigmar Gabriel, Renan Demirkan, Schriftstellerin, Shermin Langhoff, Künstlerische Leiterin Ballhaus Naunynstraße, und Peter Maffay (v.l.)

politisch einen anderen Weg als sie. Die Ingenieure betreiben ein Internetportal, das im niedersächsischen Verfassungsschutzbericht früher als „Integrationshemmnis” bezeichnet wurde. Als Kind türkischer Eltern ist Aydan Özoguz die Ausnahme. „Es gab damals nicht viele von uns“, sagt sie. Die Standardfrage war: „Woher kommst Du und wann gehst Du zurück?“ Die Absurdität der Frage fällt einem Kind nicht auf. Erst später fragt sie sich: „Wieso muss ich zurückgehen, ich bin doch gar nicht gekommen?“ Özoguz kann aus ihrer Jugend viele solcher Geschichten erzählen: Von der Visa-Problematik, die bei jeder Klassenfahrt ins Ausland auftritt; von der Arbeitserlaubnis für den Schülerjob, die sie im Gegensatz zu ihren Mitschülern beantragen muss; oder vom Stipendium für den USA-Aufenthalt, den sie nur deswegen nicht antreten kann, weil ihr der deutsche Pass fehlt. Es sind diese eigenen Erfahrungen, weshalb Özoguz heute vehement für die doppelte Staatsbürgerschaft eintritt. Die Situation von Einwandererkindern, die sich mit 18 Jahren für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen, vergleicht sie mit einem Seiltanz ohne Netz. Ohne Absicherung sollen sie ihre Herkunft ablegen und eine andere Staatsbürgerschaft übernehmen. „Das ist einfach absurd“, sagt sie. Man brauche die Möglichkeit, sich auf etwas einlassen zu können, ohne alles andere sofort aufgeben zu müssen.

Aydan Özoguz mit Parteichef Sigmar Gabriel und Kenan Kolat (r.), dem Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, im Oktober 2011 im Willy-Brandt-Haus

Mit dem Thema Integration beschäftigt sich Aydan Özoguz zunächst nur ehrenamtlich. In ihrem Studium spezialisiert sie sich auf den Bereich Computerlinguistik. Erst als Bekannte sie auf ein neues deutsch-türkisches Projekt bei der um internationale Verständigung bemühten Körber-Stiftung aufmerksam machen, bewirbt sie sich und wird genommen. Es sind diese vermeintlichen Zufälle, die auch ihren Weg in die Politik pflastern. Als Projektleiterin bei der Körber-Stiftung organisiert sie im Jahr 2000 eine Veranstaltung zum Thema „Islamische Theologie an deutschen Universitäten“. Anschließend fragt Olaf Scholz sie, ob sie nicht für die SPD in Hamburg kandidieren will. Özoguz lächelt, als sie diese Geschichte erzählt. Sie zeigt auch, wie langsam die Mühlen in der Politik mahlen. Elf Jahre später befasst sie sich immer noch mit dem Thema islamische Theologie an Universitäten, jetzt im Bundestag. Eine politische Karriere hat Aydan Özoguz nie angestrebt. Sie wolle keine bissige Politikerin sein, sagt sie. Auswirkungen auf ihr Privatleben hat die Politik trotzdem: In der Hamburgischen Bürgerschaft lernt sie ihren Ehemann kennen, den heutigen Hamburger Innensenator Michael Neumann. Inzwischen hat sie es bis in den Bundestag geschafft. Auf dem Bundesparteitag im Dezember wird sie als stellvertretende Parteivorsitzende kandidieren. Möglich macht es die Migrantenquote, die sich der Parteivorstand freiwillig auferlegt hat. Dabei hält Özoguz Quoten nicht für Allheilmittel. Aber in diesem Fall geht es für sie auch darum, die SPD wieder attraktiver für Migranten zu machen. „Wer hat denn irgendwelche Namen parat, wenn man SPD und Migranten sagt?“ fragt sie. Und wenn es das Ziel einer Migrantenquote sei, dass es irgendwann egal ist, ob man in der SPD Schmidt oder Özoguz heiße, dann sei das ein gutes Ziel. Wenn also Musterbeispiel für Integration, dann auch gerne für eine ganze Partei. ■

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TERMINE

CIŠINSKI-PREIS FÜR BENEDIKT DYRLICH

Mit einer ungewöhnlichen Aktion bedankten sich SPD-Kandidaten im vorpommerschen Barth bei den Bürgern für das gute Wahlergebnis. Im Wahlbereich 4 spendeten sie jeder Kita einen jungen Apfelbaum. „Wir wollen mit dieser Geste etwas Bleibendes schaffen und auf die

Die Stiftung für das sorbische Volk verlieh dem Dichter und SPD-Mitglied Benedikt Dyrlich am 15. Oktober den Cišinski-Preis 2011. Dyrlich habe „in und außerhalb der Lausitz, vor allem aber im slawischen Ausland“ für sorbische Lyrik geworben, begründet die Stiftung ihre Entscheidung. Der Cišinski-Preis wird alle zwei Jahre für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der sorbischen Kultur, Kunst und Wissenschaft verliehen. ■ CFH

9. November Ausstellungseröffnung „Fotografien von Mario Giacomelli (1925–2000)“, Berlin, Willy-Brandt-Haus (WBH), 19.30 Uhr, Ausstellung bis 22. Januar 2012 freundeskreis-wbh.de 18. November Podiumsdebatte „Philosophy meets politics XII. Die Gleichheit neu denken“, Berlin, WBH, 12 Uhr kulturforum@spd.de

Wichtigkeit natürlicher und gesunder Ernährung unserer Kinder hinweisen“, erklärte der Ortsvereinsvorsitzende Holger Friedrich (r.). Beim Pflanzen der Bäume legten er und sein Kollege Konrad Lanz (l.) selbst Hand an. „Die Kinder freuten sich sehr. Sie sangen uns Lieder von Apfelbäumen vor und ‚hexten’, damit das Bäumchen richtig anwächst.“ Erste Früchte können sie in zwei Jahren ernten. ■ MS

25.–27. November Tagung „Ökologisierung Deutschlands “, mit Erhard Eppler und Sigmar Gabriel, Bad Boll, Evangelische Akademie, Gebühr 90 Euro gabriele.barnhill@ev-akademie-boll.de 3. Dezember Internationale SPD-Konferenz Berlin, WBH, 14.30 Uhr spd.de

NACHTSCHICHT FÜR DEN MINDESTLOHN Rund eine Million Briefe werden jede Nacht im Mainzer Briefzentrum Post sortiert. „So eine Arbeit muss anständig bezahlt werden“, fordert Hendrik Hering, SPD-Landtagsfraktionschef in RheinlandPfalz. Zusammen mit Vertretern von Fraktion und Partei packte er eine Schicht lang mit an, als Zeichen gegen Dumpinglöhne. „Wenn wir über den Wert von Arbeit diskutieren, muss am Ende der gesetzliche Mindestlohn stehen“, so Hering. ■ MS

SOZIALISTENHUT FÜR »ROTE JOHANNA« Die bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Johanna Werner-Muggendorfer (r.) ist mit dem 27. Sozialistenhut geehrt worden. „Das war eine weise Entscheidung“, unterstrich der Bürgermeister von BerlinNeukölln und Vorjahres-Hutträger Heinz Buschkowsky (l.) in seiner Laudatio. Die „rote Johanna“ engagiere sich für kostenlose Bildung von der Kita bis zur Hochschule, weil die Gesellschaft allen das gleiche Rüstzeug mitgeben müsse. Seit 1985 vergibt der SPD-Kreisverband Lindau den legendären Hut an Menschen, „die ihrer Gesellschaft und Partei vorausgedacht haben“, wie es in den Richtlinien für die Verleihung heißt. Der schwarze, breitkrempige Hut erinnert an die Zeit der Sozialistengesetze 1878–1890. Damals war er geheimes Erkennungszeichen der bayerischen Sozialdemokraten. ■ CFH

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Titel

Bildung und Forschung

Lernen in der Kommune Exclusiv mit SGK-Regionalbeilage

Kostenloses Probeheft: Berliner vorwärts Verlagsges. mbH, Stresemannstraße 30, 10963 Berlin, Tel.: (0 30) 2 55 94-130, Fax: (0 30) 2 55 94-199, E-Mail: vertrieb@demo-online.de, www.demo-online.de

Lernen in der Kommune

Report Dienstleistungen vor Ort

SGK-Regionalbeilagen: Infos der SGK-Landesverbände

FOTOS: VOLKER STEPHAN, BARBARA WIEDEMANN

FRUCHTIGES DANKESCHÖN


Einberufung gemäß § 18 (1) und § 32 Organisationsstatut

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PA RT E I L E B E N !

ORDENTLICHER BUNDESPARTEITAG VOM 4. BIS 6. DEZEMBER 2011 IN BERLIN, IN DER STATION BERLIN, LUCKENWALDER STRASSE 4–6, 10963 BERLIN 10 Uhr

Begrüßung durch den Parteivorsitzenden

Im Anschluss

Rede Helmut Schmidt

Vorläufige Tagesordnung:

Sonntag, 4. Dezember 2011 Beginn 11 Uhr Eröffnung und Konstituierung – Wahl des Parteitagspräsidiums – Beschluss über die Geschäftsordnung – Beschluss über die Tagesordnung – Wahl der Mandatsprüfungs- und Zählkommission Jens Stoltenberg, Ministerpräsident von Norwegen Eröffnungsrede des Parteitages Antragsberatung Europa Antragsberatung Demokratie Antragsberatung Organisationspolitisches Grundsatzprogramm Satzungsändernde Anträge Beratung weiterer Anträge Ende 22 Uhr

Montag, 5. Dezember 2011 Beginn 8.30 Uhr Rechenschaftsberichte Aussprache Bericht der Kontrollkommission Bericht der Mandatsprüfungs- und Zählkommission Aussprache Rede des Parteivorsitzenden Aussprache Wahl der/des Parteivorsitzenden Wahlen der stellvertretenden Parteivorsitzenden Rede der Generalsekretärin Wahl der/des Generalsekretärin/Generalsekretärs Wahl der/des Schatzmeisterin/Schatzmeisters Wahl der/des Verantwortlichen für die Europäische Union Wahl der weiteren Mitglieder des Parteivorstandes

Konzentriertes Arbeiten: nicht nur für die Delegierten, auch für den „vorwärts“

DER »VORWÄRTS« AUF DEM PARTEITAG Aus Anlass des Bundesparteitags vom 4. bis 6. Dezember 2011 in Berlin werden sich Verlag und Redaktion des „vorwärts“ vielfältig und intensiv engagieren. Dazu gehören unter anderem: vorwärts-Presseabend am 3. Dezember 2011 ■ vorwärts-Sonderausgabe am 6. Dezember 2011 ■ tägliche vorwärts-App (Testlauf), 4. bis 6. Dezember 2011 ■ tägliche Berichterstattung auf vorwärts.de, 4. bis 6. Dezember 2011 ■ vorwärts-Presselounge, 4. bis 6. Dezember 2011 ■ Info über Redner im Plenum-TV, 4. bis 6. Dezember 2011 ■ vorwärts-Nachrichten am DDVG-Stand, 4. bis 6. Dezember 2011 ■

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Antragsberatung Kinder und Familie Antragsberatung Bildung und Integration Antragsberatung Arbeit und Alterssicherung 20.45 Uhr Unterbrechung des Parteitages 21 Uhr Parteiabend

Dienstag, 6. Dezember 2011 Beginn 9 Uhr

FOTO: DIRK BLEICKER

Wahl der Bundesschiedskommission und der Kontrollkommission Antragsberatung Wirtschaft und Finanzen Antragsberatung Bürgerversicherung Antragsberatung weiterer Antragsbereiche Verleihung des Wilhelm-Dröscher-Preises Abschlussrede der/des Parteivorsitzenden Ende ca. 16 Uhr

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24 MEINUNG

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Der Funke ist auf Deutschland übergesprungen: Demonstranten protestieren vor dem Reichstag gegen die Allmacht des globalen Kapitals und für die Rettung der Demokratie

PROTEST In seinem Buch »Indignez-vous!« rief Stéphane Hessel 2010 die französische Jugend zum Widerstand auf. Zwei Sozialdemokraten greifen diesen Ruf auf und antworten mit einer deutschen Replik Von Karl Ravens und Frank Bertsch

D

ie Gesellschaften Europas durchleben einen Sturm des Wandels. Der Aufruf Hessels erreicht uns inmitten der Krise. So wie Franzosen sich auf die Werte und das politische Vermächtnis des Résistance zu besinnen vermögen, haben wir Deutschen uns heute erneut auf unsere demokratischen Traditionen zu besinnen. Unsere Demokratie verbindet sich eng mit dem Sozialstaat. Soziale Sicherheit bildet die Grundlage, auf der Menschen in der Lage sind, sich Veränderungen zu stellen. Wer die soziale Sicherheit infrage stellt – und dies geschieht in den Jahren der Arbeitslosigkeit und angesichts der Staatsverschuldung immer öfter – , legt mutwillig die Axt an die Wurzeln der Demokratie. Wir rufen die junge Generation um ihrer eigenen Zukunft willen dazu auf, sich energisch in die Politik einzubringen, sich in der Zivilgesellschaft einzumischen und der Mitbestimmung in Unternehmen, dem Verbraucherschutz und der Ressourcenschonung Geltung zu verschaffen. Die Sicherung von Demokratie und Sozialstaat hängt heute mehr denn je auch von der Handlungsfähigkeit der Kommunen ab. Sie können heute vielfach den Herausforderungen nicht mehr genügen. In Großstädten entstehen neue soziale Unterschichten. Es gilt, die Kommunen rechtlich, organisatorisch und finanziell zeitgemäß auszustatten – etwa über eine andere Aufteilung des Steueraufkommens und eine breitere Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer.

Die Ungeduld wächst Die Deutschen sind gut beraten, die repräsentative Demokratie zu verteidigen und die Stellung ihrer gewählten Parlamente zu stärken. Dies schließt ei-

Karl Ravens (84) war von 1974 bis 1978 Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.

Frank Bertsch (74) ist Wirtschaftswissenschaftler und Publizist. Er arbeitete in diversen Bundesministerien.

ne Ergänzung um Volksbegehren und Volksentscheide nicht aus. Diese sollten die demokratische Mitwirkung und gesellschaftliche Teilhabe erweitern. Sie sollten nicht zu Vorteilen wählerstarker Schichten bzw. zu Nachteilen wählerschwacher Schichten führen. Volksentscheide dürfen auch nicht das Haushaltsrecht der Parlamente aushebeln. Staat und Wirtschaft haben noch nicht hinreichend verstanden, dass eine selbstbewusste Zivilgesellschaft entsteht, die mit zunehmender Ungeduld auf die Selbstbezogenheit von Behörden und Unternehmen reagiert. Von den Fähigkeiten der Zivilgesellschaft hängt im hohen Maße die Bewältigung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchs ab. Bürgerinnen und Bürger verlangen von staatlichen Organen Mitwirkung bei Entscheidungen, die ihre Lebensverhältnisse verändern. Private Haushalte und Familien werden als Wirtschaftssubjekte zunehmend marginalisiert, durch einseitig angebotsorientierte Marktauffassungen ebenso wie durch zögernden staatlichen Verbraucherschutz. Die enge Bindung von sozialer Marktwirtschaft und Demokratie droht sich aufzulösen. Das marktwirtschaftliche Versprechen, Arbeitsplätze zu schaffen und den Wohlstand des Volkes zu sichern, ist erschüttert. Haushalte und Familien erleben die Folgen der Globalisierung häufig als Schwächung ihrer sozialen Teilhabe. In unteren und mittleren gesellschaftlichen Schichten geht Zukunftsvertrauen verloren. Viele Unternehmen haben noch nicht verstanden, dass sich die Marktwirtschaft und mit ihr auch die Unternehmensziele weiterzuentwickeln und Inte-

Die Politik versagt Die Wohlfahrt eines Volkes ist von einer gerechten Verteilung des Wohlstandes nicht zu trennen. Nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland nimmt der Abstand zwischen Arm und Reich, die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung seit langem zu. Die Ungleichheit löst den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt auf. Sie erschüttert die Demokratie. Diese Fehlentwicklung wird von Eliten der Wirtschaft und der Politik tabuisiert. Die Politik lässt eine beispiellose Vermögenskonzentration zu. Die reale Entwicklung der Masseneinkommen verläuft unbefriedigend. Niedrigeinkommen breiten sich aus. Sie bilden besonders das Problem der jungen Generation. Später entsteht daraus Altersarmut. Die Politik sieht sich in Deutschland nicht in der Lage, flächendeckend faire Mindestlöhne durchzusetzen. Wirtschaftliche Armut und Bildungsarmut verletzen die Würde des Menschen und gefährden die Demokratie. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland sind instabil. Für viele junge Frauen und Männer sind die beruflichen Chancen unbefriedigend. Ihre Zukunftsperspektiven erweisen sich als unkalkulierbar. Ihr sozialer Aufstieg erscheint ungewiss. Unser Ruf geht an die jungen Generationen: Lasst Euch das nicht gefallen! Mischt Euch ein, engagiert Euch! Geht wählen und lasst Euch wählen! Und ändert überholte und ungerechte Lebensverhältnisse Eures Volkes! ■ Der ungekürzte Beitrag auf

vorwärts.de/empört-euch

FOTOS: LAIF/POLARIS/HERMANN BREDEHORST, PRIVAT

EMPÖRT EUCH!

ressen des Gemeinwohls aufzunehmen haben. Verbraucherschutz stützt sich auf das Rechtsstaats- und Sozialstaatskonzept. Der Schutz einer selbstbestimmten privaten Lebensführung, die Abwehr von Risiken und die Förderung von Chancen, verpflichtet nicht nur die staatliche Politik, sondern auch die Unternehmen. Die Politik lässt aber Marktungleichgewichte zu Lasten der Verbraucher vielfach zu.


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ngst vor neuer deutscher Macht in Europa“, so fasst die „Washington Post“ die Stimmung gegenüber Deutschland bei seinen Nachbarn zusammen. Ist Europa tatsächlich zu klein geworden für Deutschland und wächst das Land, wie es einige Beobachter behaupten, ökonomisch aus der EU heraus? Wahr ist, dass sich die deutsche Außenpolitik janusköpfig präsentiert. Auf der einen Seite hat Frau Merkel keine Skrupel, deutsche Macht einzusetzen, um der EU mit Schuldenbremsen, erhöhtem Renteneintrittsalter und einer rigiden Sparpolitik eine sehr deutsche Antwort auf die Krise aufzuzwingen. Auf der anderen Seite irritiert Deutschland mit einer widersprüchlichen und konzeptionslosen Diplomatie. Ein schrumpfender Verteidigungsetat und die Enthaltung in der Libyen-Frage wollen so gar nicht zu der neuen wirtschaftlichen Stärke des Landes passen. Ausgerechnet in einer Zeit dramatischer politischer Umbrüche zieht sich die deutsche Außenpolitik vom eigenen Gestaltungsanspruch zurück und wirft bei Freunden und Verbündeten Fragen nach ihrer grundsätzlichen Orientierung auf. Alle Bundeskanzler seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben deutsche Politik als europäische Politik definiert. Die Mischung aus ökonomischem Erfolg und einer Politik der europäischen Integration hat gerade bei den kleinen Nachbarn Vertrauen geschaffen, von dem Deutschland bis heute zehrt. Doch ausgerechnet jetzt, wo es in der Finanzkrise auf die deutsche Bereitschaft zur Solidarität ankommt, tritt die Diskrepanz zur bisherigen Politik besonders hervor. In Berlin scheint man vergessen zu haben, wie schnell Ressentiments gegenüber Deutschland wieder mobilisierbar sind.

Konzeptionelle Konfusion

FOTOS: PICTURE ALLIANCE/DPA, SPD

MEINUNG 25

vorwärts

Im Kanzleramt weiß man offensichtlich nicht, wie man mit der neuen deutschen Rolle umgehen soll, ja es fällt schwer, überhaupt eine Strategie auszumachen. Zu der Irritation über das bisweilen herrische Auftreten in Europa kommt das Gerede über „neue Machtkonstellationen“, mit dem Außenminister Westerwelle zusätzlich Ängste schürt, Deutschland könne sich bei den Schwellenländern nach neuen Verbündeten umsehen. Unter Diplomaten gilt „Enthaltung“ inzwischen als „German vote“. Die Abstimmung über Libyen ist zum Sinnbild der deutschen Politik geworden, die der Außenpolitik vor allem die Rolle zuweist, innenpolitische Konflikte zu vermeiden. Die SPD sollte die konzeptionelle Konfusion im Kanzleramt nutzen, um herauszustreichen, was Deutschland mit einer verlässlichen und solidarischen Politik in der jetzigen Situation leisten

DEUTSCHER HOCHMUT, DEUTSCHER KLEINMUT AUSSENPOLITIK Die Bundesregierung beschränkt sich in der internationalen Politik auf eine Zuschauerrolle – aus Angst vor innenpolitischen Konflikten. Das schadet unserem Land Von Niels Annen

Deutschlands Haltung zur UNO-Mitgliedschaft Palästinas weiter offen: Außenminister Guido Westerwelle (r.) mit dem deutschen UN-Botschafter Peter Wittig bei der 66. Generalversammlung der UNO im September 2011 in New York

könnte. Angesichts der Revolutionen in der arabischen Welt und dem Aufstieg von Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien kann sich Deutschland nicht auf eine Zuschauerrolle beschränken, sondern muss den Willen zur Gestaltung aufbringen, auch wenn dies – siehe Afghanistan – manchmal schmerzhafte Entscheidungen verlangt. Deutschland hat über die letzten Jahre besondere Fähigkeiten – beispielsweise beim Wiederaufbau und in der Konfliktprävention – entwickelt. Hinzu kommt, dass Deutschland noch immer hohes Ansehen in der Welt genießt. Die Amerikaner sprechen gerne von „Soft Power“. Das eröffnet politische Möglichkeiten zum Dialog auch mit schwierigen Kräften, die für eine kluge Diplomatie genutzt werden können. Sozialdemokraten wie Willy Brandt oder Olof Palme haben mit ihrer Friedens- und Entwicklungspolitik die internationale Agenda bestimmt und die Grundlagen für eine europäische Friedensordnung gelegt. Aufrüstung, Unterentwicklung und wirtschaftliche Un-

Niels Annen: Deutschland droht außenpolitisch die Isolation

gleichgewichte bedrohen heute diese Friedensordnung und damit die Grundlagen unseres Wohlstands. Im Alleingang wird Deutschland diese Aufgaben jedoch nicht bewältigen können. Dazu bedarf es des ganzen Gewichtes der Europäischen Union. Die Stärkung der EU muss daher die erste Priorität der deutschen Politik sein. Als Konrad Adenauer nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlagen für die Westintegration schuf, waren die härtesten Kritiker dieses Kurses die sozialdemokratische Partei und ihr Vorsitzender Kurt Schumacher, für den ein neutrales Deutschland kein Schreckgespenst war. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass heute die SPD das europapolitische Erbe Adenauers gegenüber einer CDU-geführten Bundesregierung verteidigen muss. ■

Niels Annen, 38, ist Mitglied des SPD-Parteivorstands. Der außenpolitische Experte war von 2005 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er arbeitet zur Zeit für das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung.


26 WIRTSCHAFT

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TEN D E B AT

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DAS GESCHÄFT MIT DER NOT ANDERER

sammenbrechen. In der Praxis kündigen die Banken zahlungsunfähigen Kunden zunächst die Kredite. Die meisten reagieren, indem sie anderswo nach einem neuen Kredit und nach frischem Geld suchen. Mit Erfolg: Eine gewaltige Umschuldungsindustrie bietet inzwischen Geld ohne die sonst übliche Schufa-Auskunft an. Die Kreditvermittler locken mit der Hoffnung auf einen Kredit. Der Haken daran: Dazu werden so genannte Zwischenverträge oder auch Finanzsanierungsverträge abgeschlossen. Das hört sich gut an – allerdings wird dafür eine Anzahlung vom Kreditnehmer fällig. Manche Anbieter verlangen auch vorab mehrere Provisionen. Egal wie die Zahlung genannt wird, irgendwann stellt sich in solchen Fällen immer heraus, dass es den ersehnten Kredit doch nicht gibt – und das zusätzlich gezahlte Geld ist futsch.

SCHULDEN Drei Millionen Deutsche sind überschuldet. Unseriöse Berater reiten Betroffene oft noch tiefer in die Misere Von Maicke Mackerodt

Internetverheißung: Mit einem Klick zu ganz viel Geld 400 000 Menschen pro Jahr beantragen einen unseriösen Kredit. Das hat im Auftrag der Schufa der Arbeitskreis „Geschäfte mit der Armut“ recherchiert. Der Arbeitskreis ist ein bundesweiter Zusammenschluss von Praktikern kommunaler und wohlfahrtlicher Schuldnerberatungen. Möglicherweise liegen die Zahlen überschuldeter Menschen sogar doppelt so hoch, vermutet der Sprecher des Arbeitskreises, Christian Maltry. Er berichtet: „Im Internet finden sie Hunderttausende von Seiten, die versprechen, dass die Kreditentscheidung schnell zu Ihren Gunsten ausfällt, auch bei schlechter Schufa.“ Maltry warnt: „Ohne Schufa bedeutet ohne Bonitätsprüfung – das heißt, konsequent gedacht: Der Bank ist es egal, ob sie ihren Kredit zurückzahlen. Diese Angebote sind mit extrem großer Vorsicht zu genießen.“

Manchmal braucht man es ganz dringend: Geld für Miete, Essen, Kleidung, Schulden abzahlen.

Die letzten Ersparnisse abgeschwatzt Heute kann Behrend es kaum fassen, wie schnell er dem privaten Schuldnerberater vertraut hat. Vor fünf Jahren beliefen sich seine Schulden auf 200 000 Euro. Doch der Berater versicherte Behrend, er könne die Gläubiger überzeugen, sich mit einer einzigen Zahlung von 7 500 Euro zufrieden zu geben. Gleichzeitig schwatzte er ihm die letzten Ersparnisse von 23 000 Euro ab, mit der Begründung, auf dem Konto des Beraters sei das Geld

sicher. Natürlich klingt das heute absurd. Damals war Dietmar Behrend aber so verzweifelt, dass er dem Berater glaubte.

GELDNOT

Im Schnitt fünf bis 15 Gläubiger Mehr als drei Millionen Menschen gelten in Deutschland mittlerweile als überschuldet. Das bedeutet, sie sind mittelfristig nicht mehr in der Lage, fällige Forderungen zu bedienen. Die Betroffenen haben sich durchschnittlich bei fünf bis 15 Gläubigern Geld geliehen, welches sie nicht mehr zurückzahlen können. Das Problem: Die meisten erkennen viel zu spät, dass sie sich in einer finanziellen Notlage befinden und die professionelle Hilfe einer kostenlosen und seriösen Schuldnerberatung brauchen.

Arbeitslosigkeit als häufigster Grund für Überschuldung Betroffen sind laut den Beratungsstellen vor allem alleinerziehende Mütter sowie Familien mit drei und mehr Kindern. Klassische Ursache für eine persönliche Finanzkrise ist eine Phase der Arbeitslosigkeit oder eine Trennung, die dazu führt, dass die Finanzpläne in sich zu-

»

AUSLÖSER VON ÜBERSCHULDUNG

Kredite ohne SchufaAuskunft sind mit extrem großer Vorsicht zu genießen. Christian Maltry,

«

Arbeitskreis „Geschäfte mit der Armut“

0,3% UNFALL

9,3% GESCHEITERTE SELBSTSTÄNDIGKEIT

9,4% SCHLECHTE HAUSHALTSFÜHRUNG

10,4% ERKRANKUNG, SUCHT

13,8% TRENNUNG, SCHEIDUNG, TOD

28,2% ARBEITSLOSIGKEIT 2008, QUELLE: STATISTISCHES BUNDESAMT

FOTO: BILDERBERG / ANGELIKA JACOB

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eil die Mieteinnahmen ausblieben, konnte ich meine Kredite nicht mehr bezahlen. Irgendwann habe ich nur noch den Briefkasten aufgemacht und die Post gleich ungeöffnet in eine Tüte gesteckt.“ Der 54-jährige Kölner schüttelt heute ungläubig den Kopf, wenn er an diese schwierige Zeit zurückdenkt. Als auf Empfehlung einer Bekannten ein privater Insolvenzverwalter vorbeikam, wirkte der so seriös, dass Dietmar Behrend – dieser Name ist ein Pseudonym – mit ihm vereinbarte, „dass er sich um die Sache kümmern darf“.


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WIRTSCHAFT 27

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PRIVATE VERSCHULDUNG IN DEUTSCHLAND VON 2001 BIS 2009 IN MILLIARDEN EURO

Strom und Miete zahlte er nur noch sporadisch in bar Der 54-Jährige fühlte sich zunehmend überfordert, sprach aber mit niemandem über seine Sorgen – und rutschte unaufhaltsam in die Schuldenfalle. Sein Girokonto wurde gekündigt, er zahlte Strom und Miete nur noch sporadisch in bar. Als ihm kurz vor Silvester der Strom

VERSCHULDUNG IN MILLIARDEN EURO

1 000

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2008

2009

750 500 250 0

2001

KONSUMENTEN-KREDITE

WOHNUNGSBAU-KREDITE

QUELLE: DEUTSCHE BUNDESBANK

ANZAHL DER PRIVATEN UND GEWERBLICHEN INSOLVENZEN JULI 2010 IN DEUTSCHLAND ANZAHL DER INSOLVENZEN

Behrends Desaster begann mit einem Kredit für ein Steuersparmodell. Als leitender Angestellter in der grafischen Industrie im Rheinland verdiente er gut. Auf Rat eines Anlageberaters kaufte er eine Eigentumswohnung, die allein über geschlossene Immobilienfonds und Aktienpakete finanziert werden sollte. Nach zehn Jahren fielen die sicher geglaubten Mieteinnahmen weg. Behrend konnte die Verpflichtungen von mehr als 2000 Euro monatlich nicht erfüllen. Der Wert der Wohnung lag inzwischen aber auch unter dem, was Behrend beim Kauf zahlen musste – und sie gehörte ihm nur zu einem Bruchteil, sodass Verkaufen keine Lösung war.

14 431

15 000 9 344

10 000 5 000 0

2 760 176 UNTERNEHMEN

1 893

258

NATÜRLICHE EHEMALS VERBRAUCHER PERSONEN SELBSTALS GESELL- STÄNDIG SCHAFTER TÄTIGE

NACHLÄSSE INSGESAMTE INSOLVENZEN

QUELLE: STATISTISCHES BUNDESAMT

GIFT FÜRS GESCHÄFT MITTELSTAND Trotz voller Auftragsbücher sieht der Mittelstand wegen der Eurokrise mit großer Sorge in die Zukunft Von Susanne Dohrn

FOTO: DAPD/VOLKER HARTMANN

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ie investieren, expandieren, stellen ein, lieben den Euro und schauen mit Sorge nach Berlin, Brüssel, Paris – wo immer sich europäische Spitzenpolitiker derzeit treffen. Die Lage der kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland ist schizophren. „Die Binnenkonjunktur scheint im Moment stabil zu sein. Aber selbstverständlich machen wir uns große Sorgen“, sagt Ludwig Veltmann, Hauptgeschäftsführer des Mittelstandsverbunds – ZGV, der vor allem Handel, Handwerk und Dienstleistungen vertritt. Die Eurokrise verursacht Unsicherheit, und die ist schlecht fürs Geschäft. Spekulanten mögen daraus ihre kurzfristigen Profite ziehen, für alle, die langfristig denken, ist sie Gift. Unternehmen brauchen feste Rahmenbedingungen, um zu investieren und Arbeitskräfte einzustellen. Veltmann: „Unsicherheit beeinflusst das Kauf- und das Investitionsverhalten. Daraus kann ganz schnell ein konjunktureller Abschwung entstehen, der sich wiederum verstärkend auf die öffentlichen Haushalte auswirkt.“ Ein Mittelständler, der sich verkalkuliert oder ein falsches Produkt auf den Markt bringt, spürt die Konsequenzen

sofort. Er muss für seine Verluste gerade stehen, notfalls mit Haus und Hof. Daraus folgt Unmut und Kopfschütteln über eine Politik, die das Schuldenmachen nicht lassen konnte. „Verwerflich“ nennt Veltmann das und fordert eine „neue Solidität“ der Staatshaushalte. So sieht es auch Marc Evers, Mittelstandsexperte beim Deutschen Industrieund Handelstag, der eher die gewerbliche Wirtschaft vertritt: „Ein Staat, der vereinbarte Grenzen beim Defizit überschreitet, muss sofort und ohne langwierige politische Diskussionen die negativen politischen Konsequenzen spüren.“ Von Diskussionen über Austritte aus dem Euro halten die Mittelstandsvertreter nichts. „Der Euroraum ist das Spielfeld des Mittelstandes“, sagt Evers. „In den acht Jahren vor der Euro-Einführung sind unsere Exporte in die Eurostaaten um durchschnittlich drei Prozent gewachsen, in den acht Jahren danach um sieben Prozent. Der Mittelstand profitiert von einem stabilen Euro, davon, dass es keine Zollschranken gibt und keine Unsicherheiten bei Wechselkursen.“ Länder wie Griechenland, aus der Eurozone auszuschließen, hält er für gefährlich, denn „die Konsequenzen wären unabsehbar“.

EUROKRISE

abgestellt wurde, sprang Behrend aus dem Fenster im 4. Stock. Er brach sich beide Beine, verletzte sich die Wirbelsäule und kann sich bis heute nur mit Rollator fortbewegen.

Aus Scham zeigen die wenigsten Opfer unseriöse Berater an Als eine kirchliche Schuldnerberatung den Fall von Dietmar Behrend übernahm, tauchte der unseriöse Anbieter ab. Zwar erstritt Behrend in einem Zivilprozess die Rückgabe der 23 000 Euro. Vollstreckungsversuche scheiterten jedoch. Inzwischen hat der Berater selbst Insolvenz angemeldet. Behrend hat jetzt Anzeige wegen Betrugs erstattet. Christian Maltry rät Betroffenen immer zur Anzeige. Er bedauert: „Wir haben leider bislang nur Anzeigenquoten im Promillebereich.“ Die Dunkelziffer bei Verschuldungen durch unseriöse Kredite und Anlageberatungen sei extrem groß. „Das hat sicher viel mit Scham der Opfer zu tun“, ist Maltry überzeugt. „Denn Geld ist in unserer Gesellschaft eines der letzten Tabuthemen.“ ■

Bankenrettungen sieht man im Mittelstand eher mit Sorge als mit Wut. „Ohne Geld ist alles nichts“, sagt Evers. Lasse man die „Geldlieferanten“ pleite gehen, gebe es keine Kredite mehr, um investieren zu können. Für mehr Regulierung sind die Mittelständler allerdings schon. Wo die größten Risiken sind, müsse das größte Eigenkapital vorgehalten werden, also z.B. im Handel mit Derivaten. Mittelständler hingegen seien solide Bankkunden. Für Mittelstandskredite sollten die Banken deshalb weniger Eigenkapital hinterlegen müssen. ■ Interview mit Dr. Ludwig Veltmann und Dr. Marc Evers

vorwärts.de/mittelstand

Der Mittelstand in Aktion: Einer der 70 Mitarbeiter der Firma Falke in Lippstadt an der Strickmaschine. Der Betrieb fertigt Damenstrümpfe.


28 WIRTSCHAFT FIRMENPORTRÄT MESTEMACHER

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GUT GEMACHT

GESCHÄFTSFELD Vollkorngroßbäckerei

DIE BROT-KÖNIGIN GLEICHSTELLUNG Pumpernickel sind das Kerngeschäft der Großbäckerei Mestemacher. Die Gleichberechtigung ist für den Betrieb eine Herzensangelegenheit

FIRMENSITZ Gütersloh GEGRÜNDET 1871 BESCHÄFTIGTE 118, davon 46 Frauen

Von Maicke Mackerodt

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er Ausspruch einer BWL-Studentin brachte alles ins Rollen: „Pumpernickel? Das Brot isst nur meine Oma“, hatte die junge Frau ihrer Wirtschaftsprofessorin Ulrike Detmers vorgehalten. Detmers war zu diesem Zeitpunkt bereits seit 25 Jahren mit dem Firmeninhaber der Vollkorngroßbäckerei Mestemacher verheiratet und wollte fortan als seine Beraterin das altbackene Schwarzbrot-Image loswerden. Als sie 1998 eine Studie zu weiblichen Führungskräften veröffentlichte, deren Ergebnis war, dass Frauen „herausragend führen können und dass es wirtschaftlicher Schwachsinn ist, sie nicht zu fördern“, war auch die Richtung vorgeANZEIGE

geben. Peu à peu krempelte sie das Image der 140 Jahre alten Backwarenfabrik um, ab dem Jahr 2000 auch als Mitglied der Geschäftsleitung. Die zweifache Mutter erfand zunächst die „Lifestyle-Bakery“. Dazu gehört, dass sich das Familienunternehmen auch jenseits von Backwaren engagiert. Für den Naturschutz etwa – und für die Gleichstellung von Frau und Mann. So übernimmt Mestemacher einen Teil der KitaGebühren für seine Beschäftigten und vergibt diverse Preise, die die Gleichberechtigung fördern sollen. „2001 haben wir den jährlichen Kita-Preis ins Leben gerufen. Grund waren zu wenig Krippenplätze, zu wenig qualifiziertes Personal.

Setzt auf Gleichstellung von Frau und Mann: „Brot-Königin“ Ulrike Detmers vom Familienunternehmen Mestemacher Weitere Porträts der Serie: vorwärts.de/gutgemacht

Seit 2002 vergibt Mestemacher außerdem einen Preis für die „Managerin des Jahres“. Die Ökonomin Detmers hält es für Verschwendung, wenn hochqualifizierte Frauen nicht adäquat beschäftigt werden. „Die wahren Karrierehindernisse von Frauen sind die alten Seilschaften von Männern.“ Die Marketingchefin Detmers beschloss, sich für Frauenförderung stark zu machen. Mestemacher verknüpft die Gleichstellung von Frau und Mann eng mit der Unternehmenskultur. Das ostwestfälische Werk mit vier deutschen Standorten und einem in Polen vertreibt seine Produkte in 87 Ländern. Mitte der 80er Jahre betrug der Umsatz von Vollkornbrot, Tiefkühlkuchen, Müsli oder Dosenbrot 3,2 Millionen Euro. 2010 erwirtschaftete die Firmen-Gruppe mit mehr als 500 Mitarbeitern 112 Millionen Euro. Der Erfolg brachte Ulrike Detmers den Spitznamen „Queen of bread“, BrotKönigin ein, was sie amüsiert. Und bestärkt, weiterzumachen: Seit fünf Jahren ehrt die Großbäckerei auch den „Spitzenvater des Jahres“. Detmers: „Damit wollen wir Männer animieren, ein neues Vaterbild zu schaffen.“ Die „Brot-Königin“ möchte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nach skandinavischem Vorbild durchsetzen. Ihr Langzeit-Ziel: Norwegische Verhältnisse in der deutschen Wirtschaft, nämlich in Staatsunternehmen und großen Aktiengesellschaften 40 Prozent der Führungspositionen mit Frauen zu besetzen. Im eigenen Unternehmen hat sie die Quote schon erreicht. In der Branche werde gelästert: „Ach, die verrückte Ulrike Detmers“. Sie stört das nicht. ■

FOTOS:DPA, MESTEMACHEER

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Sparkassen-Finanzgruppe

Wann ist ein Geldinstitut gut für Deutschland? Wenn es Investitionen finanziert, von denen auch die Umwelt profitiert.

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Sparkassen fördern nachhaltiges Wirtschaften. Mit gezielten Finanzierungsangeboten und fachlicher Beratung leisten Sparkassen einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der Energieefßzienz und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Das ist gut für den Mittelstand und gut für die Umwelt. www.gut-fuer-deutschland.de

Sparkassen. Gut für Deutschland.


30 WIRTSCHAFT

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BLAUMANN SUCHT FEHLER

»Oft ist meine Arbeit in

der Autowerkstatt ganz schön knifflig.«

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n den ersten beiden Ausbildungsjahren habe ich immer zusammen mit einem Gesellen gearbeitet. Seit dem dritten Lehrjahr warte und repariere ich die Autos selbstständig. Morgens teilt der Meister uns unsere Aufgaben zu. Jeder bekommt dann ein Auto, an dem er arbeitet. Meistens sind wir mit Inspektionen beschäftigt. Dabei arbeiten wir einen Wartungsplan ab: Funktionieren die Bremsen, Scheibenwischer, Beleuchtung und Elektrik des Autos einwandfrei? In welchem Zustand sind Reifen, Motor und Abgasanlage? Meist wird dann noch Motoröl und bei Bedarf Bremsflüssigkeit gewechselt. Je nach Aufwand dauert das eine Dreiviertel-

KFZ-MECHATRONIKER FELIX SOMMER 20 Jahre, lebt in Frankfurt am Main Ausbildung Status Gehalt Arbeitszeit

3,5 Jahre zum Kfz-Mechatroniker Angestellter eines Autohauses mit Werkstatt 2150 Euro brutto (Tarifgehalt) 36 Wochenstunden

stunde bis eineinhalb Stunden. Neben den Inspektionen ist eine unserer Hauptaufgaben die Fehlersuche. Das läuft in der Regel so: Ein Kunde kommt zu uns, weil etwas nicht funktioniert.

Das Auto verliert vielleicht Kühlwasser oder im Display leuchtet ein Warnlicht. Die Ursache zu finden, ist manchmal ganz schön knifflig. Das macht aber auch am meisten Spaß. Bisher habe ich

noch jeden Fehler gefunden, notfalls mit Hilfe eines Kollegen. Die Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker ist sehr hart. Darin wurden ja zwei Lehrberufe, der Mechaniker und der Kfz-Elektriker, zusammengelegt. Als Mechatroniker braucht man sowohl gute handwerkliche Fähigkeiten als auch ein technisch-elektrisches Verständnis mit viel Theoriewissen. Mir hat die Praxis immer mehr Spaß gemacht. Meine Arbeitskleidung ist eine Art Blaumann – Latzhose und Jacke – was Sinn macht, da man sich ja ständig mit Öl und Schmutz dreckig macht. Jeder von uns rund 30 Werkstattmitarbeitern bekommt vom Arbeitgeber seine eigene Arbeitskleidung mit dem Namen darauf. Außerdem haben meine Kollegen und ich alle unsere eigene Werkzeugkiste mit Schraubenschlüssel, Zangen, Hammer und allem anderen, was man halt so braucht. Manche Leute stört , dass man in unserem Beruf meist schwarze Hände hat. Mir macht das aber gar nichts aus, sonst hätte ich nicht Mechatroniker werden dürfen. ■ Aufgezeichnet von Sabine Balk vorwärts.de/meinearbeit

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FOTO:SABINE BALK

MEINE ARBEIT


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KULTUR 31

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VOLL, VOLLER, VORWÄRTS

BUCHMESSE In Frankfurt war der »vorwärts-Stand« wieder ein Publikumsmagnet

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ehn Minuten bevor es losging, war kein Durchkommen mehr. Eine Buchpremiere ist eben etwas Besonderes. Und so drängten sich die Besucher am dritten Nachmittag der Buchmesse am vorwärts-Stand, um Klaus Wowereit zu sehen. Im Gespräch mit Hajo Schumacher stellte er sein Buch „Mut zur Integration“ vor. Voll wurde es auch am Samstag, als Sigmar Gabriel mit Ulrich Wickert über „Werte der demokratischen Gesellschaft“ sprach und Franz Müntefering mit Götz Aly darüber stritt, ob Sozialdemokraten zum Antisemitismus beigetragen haben. Bei 29 Veranstaltungen diskutierten in Frankfurt Politiker mit Autoren – ein neuer Rekord. Und es wurde richtig international. Der isländische Schriftsteller Andri Snaer Magnason sprach Englisch, Andrea Nahles Deutsch. Der Moderator übersetzte fürs Publikum. So einfach ist Völkerverständigung. ■ KD

1 1| Da kam niemand mehr durch: So gut besucht wie die Diskussion von Sigmar Gabriel und Ulrich Wickert am Samstagnachmittag waren viele der 29 Veranstaltungen, die auf der Frankfurter Buchmesse am vorwärts-Stand stattfanden.

Fotos und Berichte vorwärts.de/buchmesse2011

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PRESSESTIMMEN

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2| Gab fleißig Autogramme: Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney 3| Wie lässt sich der Kapitalismus in die Schranken weisen? Sigmar Gabriel diskutierte mit Ulrich Wickert. Die Journalistin Carolin Emcke (Mitte) moderierte.

„In Frankfurt am Main stellt sich Wowereit dem Publikum am Stand der vorwärts Verlagsgesellschaft, die sein Buch verlegt. Er verstehe es als Plädoyer für eine moderne, weltoffene und tolerante Gesellschaft, erklärt der Politiker im Interview mit dem Journalisten Hajo Schumacher.“ BERLINER ZEITUNG

FOTOS: KAI DOERING (6), MARISA STROBEL

„Aus dem Land, das als erstes eiskalt von der Finanzkrise erwischt worden ist, berichtete Andri Snaer Magnason. Der 1973 geborene Lyriker ist in Island einer der populärsten Aktivisten gegen den Ausverkauf des Landes. Mit ihm diskutierte am Stand des Vorwärts Verlages Andrea Nahles, die nach eigenem Bekunden weder an Elfen noch an Trolle glaubt.“

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4| „Mut zur Integration“: Klaus Wowereit stellte am vorwärts-Stand sein Buch im Gespräch mit dem Journalisten Hajo Schumacher vor. 5| „Der Hals der Giraffe“: Judith Schalansky (r.) las aus ihrem Buch und diskutierte mit SPD-Bundesgeschäftsführerin Astrid Klug (l.).

NEUES DEUTSCHLAND „Während vor der Europäischen Zentralbank die Demonstranten Reden schwangen, begab sich das gesetztere Publikum aus ähnlichen Beweggründen zum ,Vorwärts’-Magazin. Schließlich sind Ulrich Wickert und Sigmar Gabriel immer wieder für ein bisschen Systemkritik gut.“ FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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6| „Respekt“: Renan Demirkan sprach über ihren Essay. Er handelt von „Heimweh nach Menschlichkeit“. 7| „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“: Götz Aly gibt der SPD eine Mitschuld am Antisemitismus, Franz Müntefering widersprach deutlich.


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cht Künstlerinnen, acht Wegbereiterinnen der Moderne. Sie stehen im Zentrum der Ausstellung „Die andere Seite des Mondes“. An deren Anfang stand eine Frage: Wie kam es zum Verschwinden der weiblichen Moderne aus dem Kanon der Kunst? Die großen Sammlungen der klassischen Avantgarde sind dominiert von männlichen Künstlern. Namen wie Pablo Picasso oder George Grosz sind Publikumsmagneten, schon deshalb werden ihre Werke gerne und regelmäßig gezeigt. Künstlerinnen, die den Aufbruch der 1920er und 30er Jahre wesentlich mitprägten, sind dagegen in Vergessenheit geraten. Die Kunstsammlung Nordrhein Westfalen will mit ihrer Schau die weibliche Moderne sichtbar machen, will einen Blick auf „Die andere Seite des Mondes“ wagen. Das Verborgene zu beleuchten hieß für die Sammlung, zunächst über den eigenen Bestand und vor allem über dessen Lücken nachzudenken: Keines der 240 Exponate, die derzeit in Düsseldorf zu sehen sind, ist Teil der hauseigenen Sammlung.

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Claude Cahun, Autoportrait, 1927, Fotografie

KURZE ZEIT SCHIEN ALLES MÖGLICH

KÜNSTLERINNEN Die Kunstsammlung NordrheinWestfalen präsentiert acht Pionierinnen der modernen Kunst. Obwohl ihre Werke der 20er und 30er Jahre wegweisend waren, gerieten sie in Vergessenheit. Ganz und gar zu Unrecht Von Birgit Güll

Sophie Taeuber-Arp, Ombres pénétrant spectre de couleurs vives, 1939, Gouache auf Zeichenpapier

Sonia Delaunay, Hannah Höch, Sophie Taeuber-Arp, Dora Maar, Germaine Dulac, Katarzyna Kobro, Claude Cahun und Florence Henri – acht Pionierinnen hat die Schau ausgewählt. Die Bandbreite der präsentierten Stilrichtungen reicht vom Konstruktivismus über den Dadaismus bin hin zum Surrealismus. Unterschiedlich sind nicht nur die Spielformen der Avantgarde. Auch die künstlerischen Mittel sind breit gefächert: Malerei, Film, Fotografie, Collage, Skulptur. Auf vielfältige Weise haben die Frauen ästhetische Neuerungen vorangetrieben. Kuratorin Susanne Meyer-Büser hat sich wohl deshalb dafür entschieden, jeder Künstlerin einen eigenen Bereich in der Ausstellung zu widmen. So werden die Entwicklungen innerhalb eines Werkes sichtbar. Gleichzeitig eröffnen die großzügigen Räume Blickachsen auf die Kunst der anderen. Zusammenhänge werden deutlich, gegenseitige Beeinflussungen, die kein Zufall sind: Die acht Frauen – das war eines der Kriterien für die Auswahl – waren miteinander bekannt, manche enger, andere flüchtig oder nur indirekt. Doch sie alle waren Teil eines weit verzweigten Kunst-Netzwerkes. Die Zwischenkriegszeit eröffnete Frauen neue Möglichkeiten. Erstmals hatten sie in weiten Teilen Europas das Wahlrecht errungen. Der Erste Weltkrieg und die Abwesenheit der Männer hatten die Berufstätigkeit der Frau zur Normalität gemacht. Künstlerinnen, denen zuvor nur Kunstgewerbeschulen offen stan-

FOTO: JERSEY HERITAGE TRUST , VG BILD-KUNST, BONN 2011

Ein weit verzweigtes Kunst-Netzwerk


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den, konnten an Akademien studieren. Ein Zeitraum, geprägt von politischen Umbrüchen und wirtschaftlichen Turbulenzen, in dem für kurze Zeit alles möglich schien. Mit dem gesellschaftlichen Wandel ging ein künstlerischer Aufbruch einher, an dem Frauen wesentlichen Anteil hatten. Sie, die lange Zeit nur an den Rändern des Kunstbetriebes standen, gelangten über ihre Netzwerke und die neu gewonnene Mobilität ins Zentrum der Avantgarde. Es entstanden wegweisende Arbeiten wie Germaine Dulacs „La coquille et le clergyman“ („Die Muschel und der Geistliche“), der erste surrealistische Film, der Traumwelten und das Unbewusste mit kinematographischen Mitteln sichtbar macht. Dulacs Arbeit entstand 1928 – ein Jahr vor „Un chien andalou“ („Ein andalusischer Hund“), der ungleich bekannteren Gemeinschafsproduktion von Luis Buñuel und Salvador Dalí, die so häufig als erster surrealistischer Film bezeichnet wird. Dulacs filmisches Juwel ist Teil der Schau und des umfangreichen Begleitprogramms.

Aufbruchstimmung und Experimentierfreude FOTO: VG BILD-KUNST, BONN 2011, A. BURGER, JERSEY HERITAGE TRUST, L&M SERVICES B.V. THE HAGUE 20110604

KULTUR 33

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Eine Entdeckung ist auch das radikale Werk von Claude Cahun. Die Künstlerin präsentiert sich in ihren fotografischen Selbstbildnissen als geschlechtsloses Wesen. Geschminkt oder maskiert stellt sie Rollenbilder in Frage, arbeitet sich an der eigenen, weiblichen Identität ab. Die Frage nach der individuellen Position ist zentral für die Künstlerinnen. Ihre Stellung ist keineswegs gefestigt, die Wege in die etablierten, von Männern dominierten Kunstzirkel sind vielfältig und oft schwierig. Doch es gibt eine Aufbruchsstimmung. Hannah Höch, die einzige Frau im Kreis der Berliner Dadaisten, macht diese in ihrer Fotomontage „Siebenmeilenstiefel“ sichtbar. Beine in Schnürstiefeln, ohne Oberkörper, sind gerade dabei, einen riesigen Satz zu machen. Zwischen den Beinen, an Stelle des Geschlechts, ein Schneckenhaus: Die Befreiung von Geschlechterrollen, Energie, Mobilität – all das symbolisiert die Fotomontage von 1934.

Die Werke der acht Frauen sind geprägt von großer Experimentierfreude. Medien werden gewechselt – Sonia Delaunay entwickelte ihre von Farbexperimenten geprägte Malerei im Bereich des Modedesigns weiter. Sie entwarf begehrte Stoffe für ein Amsterdamer Luxuskaufhaus. Ihre Freundin, die Schweizer Künstlerin Sophie Taeuber-Arp übertrug ihre Arbeit von der Leinwand auf die Gestaltung von Innenräumen.

Dialog über Grenzen hinaus Bei aller Unterschiedlichkeit, die Werke der Frauen stehen im Dialog miteinander – über Ländergrenzen hinweg. Exemplarisch für die Öffnung zur russischen Avantgarde, die in der Schau reichlich kurz kommt, steht die nahezu unbekannte Katarzyna Kobro. In den 20ern waren die Arbeiten der Bildhauerin wegweisend für den Konstruktivismus. Skulpturen, deren Formen nichts Gegenständliches mehr erkennen lassen. Betrachtet man in der Schau ihre „Raum-Skulptur“ (1928) und hebt den Kopf, blickt man auf Taeuber-Arps Holz-Relief „Coquilles et fleurs“ („Muscheln und Blumen“): Abstrakte Formen, die mit den titelgebenden Objekten kaum noch etwas zu tun haben. Wie Kobros Arbeiten haben sie sich von den Gegenständen befreit. Parallelen wie diese macht die Ausstellung sichtbar. Ähnliche Fragestellungen, wiederkehrende Motive wie Muscheln, Masken oder Spiegel, vor allem aber ästhetische Neuerungen, ohne die die moderne Kunst nicht denkbar ist, holt sie ins Licht. Den gesellschaftlichen Aufbruch haben der Zweite Weltkrieg und die Shoah auf einen Nullpunkt zurückgeworfen. Fast 70 Jahre später haben sich die Machtverhältnisse – nicht nur im Kulturbetrieb – nicht genug verändert. ■

Hannah Höch, Von oben, 1926–27, Collage und Fotomontage

Sophie Taeuber-Arp, Bar Aubette (Rekonstruktion), 1926–28/1998

Sonia Delaunay, Flamencosänger (genannt Kleiner Flamenco), 1916

Claude Cahun, Autoportrait, 1933

DIE ANDERE SEITE DES MONDES bis 15. Januar 2012 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Grabbeplatz 5 Der Katalog zur Ausstellung ist im DuMont Verlag erschienen und kostet 34 Euro. kunstsammlung.de

VORWÄRTS-IMPRESSUM Die Sozialdemokratische Zeitung gegründet 1876 von W. Hasenclever und W. Liebknecht Herausgeberin: Andrea Nahles Redaktionsadresse: Berliner vorwärts Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 610322, 10925 Berlin; Tel. 030/25594-320, Fax 030/25594-390, E-Mail: redaktion@vorwaerts.de Chefredakteur: Uwe Knüpfer (V.i.S.d.P.) Redaktion: Lars Haferkamp (Textchef); Dagmar Günther (CvD); Hendrik Rauch (Bildred.); Kai Doering, Yvonne Holl, Vera Rosigkeit und Karsten Wenzlaff (Redaktion); Monika Koepp (Lektorat); Dr. Susanne Dohrn, Birgit Güll, Werner Loewe (redaktionelle Mitarbeit); Carl-Friedrich Höck, Marisa Strobel (Volontäre) Art Director und Fotografie: Dirk Bleicker Korrespondenten: Jörg Hafkemeyer (Berlin), Renate Faerber-Husemann (Bonn), Lutz Hermann (Paris) Geschäftsführung: Guido Schmitz Anzeigen: Nicole Stelzner (Leitung strategische Unternehmensentwicklung und Verkauf); Michael Blum (Leitung strategische Unternehmenskooperation und Key Account Anzeigen); Nele Herrmann Valente, Marcus Hochheimer, Manfred Köhn, Carlo Schöll und Ralph Zachrau (Verkauf) Gültige Anzeigenpreisliste: Nr. 34 vom 1.1.2011 Verlags-Sonderseiten: verantw. Guido Schmitz Vertrieb: Stefanie Martin, Tel. 030/25594-130, Fax 030/25594-199 Herstellung: metagate Berlin GmbH Druck: Frankenpost Verlag GmbH, Poststraße 9/11, 95028 Hof Abonnement: IPS Datenservice GmbH, Postfach 1331, 53335 Meckenheim; Tel. 02225/7085-366, Fax -399; bei Bestellung Inland: Jahresabopreis 22,– Euro; für Schüler/Studenten 18,– Euro; alle Preise inkl. Versandkosten und 7 Prozent MwSt.; Ausland: Jahresabopreis 22,– Euro zzgl. Versandkosten. Das Abo verlängert sich um ein Jahr, wenn nicht spätestens drei Monate vor Ablauf schriftlich gekündigt wird. Für SPD-Mitglieder ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten (bei Änderungen bitte an den SPD-UB wenden). Bankverbindung: SEB Berlin, BLZ 100 101 11, Konto-Nummer 174 813 69 00 Bei Nichterscheinen der Zeitung oder Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages im Falle höherer Gewalt besteht kein Anspruch auf Leistung, Schadensersatz oder Minderung des Bezugspreises. Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Zeichnungen wird keine Haftung übernommen. .


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Von Birgit Güll

DOCH, DA WAR MAL WAS Deutscher Buchpreis für DDR-Familiengeschichte Von Uwe Knüpfer

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ar da was? Hat es die DDR jemals gegeben? Von der Mauer durch Berlin sind nur museale Reste geblieben, die SED-Nachfolgepartei will das Erbe Willy Brandts kapern, Souvenirshops bieten Ampelmännchen feil. Nur dann und wann wird noch ein IM der Stasi enttarnt. Dass da einst Hoffnungen blühten, von einer neuen, sozialistischen Gesellschaft, frei und friedlich und gerecht, Hoffnungen, an deren Stelle Betonbauten traten und ebenso graue Funktionärsgesichter, Stacheldraht und Abhörwanzen – das ließe sich leicht vergessen. Doch zum Glück hat Eugen Ruge einen Roman geschrieben und dafür zu Recht den Deutschen Buchpreis 2011 erhalten: „In Zeiten des abnehmenden Lichts.“ Der Roman basiert auf Ruges Familiengeschichte. Alexander Umnitzer bricht mit der DDR, in der er, obwohl privilegiert,

nie zurechtgekommen ist. Sein Vater Kurt war ein einflussreicher DDR-Funktionär, Großvater Wilhelm ein hochdekorierter Veteran und Antifaschist. Ausgerechnet 1989 lässt Ruge ihn seinen 90. Geburtstag feiern. Um dieses gespenstisch-komische Ereignis kreist tänzelnd der Roman. Dabei erzählt er deutsche Nachkriegsgeschichte aus ungewohnter Perspektive, vor und zurück springend, mal nach Russland, mal nach Mexiko ausgreifend. Am Ende ist Kurt debil, die DDR ausgelöscht, Oberstes ist nach unten gesunken, und Alexander stellt am Pazifikstrand fest, dass Schildkröten dort nicht mehr abgeschlachtet, sondern geschützt werden. So verstörend war der Lauf der Welt. ■ Eugen Ruge IN ZEITEN DES ABNEHMENDEN LICHTS Rowohlt, Hamburg 2011, Hardcover, 432 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-498-05786-2

EPOCHENBRUCH NÖTIG Der sozialen Demokratie gehört die Zukunft Von Klaus-Jürgen Scherer, Geschäftsführer des Kulturforums der Sozialdemokratie

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er deutsche Ausstieg aus der Atomenergie ist ein Erfolg rotgrüner Kulturveränderung. Doch die eigentliche Aufgabe des „neuen Fortschritts“ liegt noch vor uns. Wie kommen wir zur Ökonomie des Vermeidens, zur massiven Reduktion des Energie- und Ressourcenverbrauchs, so dass die Wirtschaft dauerhaft innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Natur bleibt? Michael Müller und Johano Strasser entfalten auf der Basis sozialökologischer Debatten seit den 70er Jahren ein Programm des notwendigen „Epochenbruchs“, die Skizze einer sozialdemokratischen Erzählung auf der Höhe der Zeit,

wie sie so häufig angemahnt wurde. Sie zeigen einmal mehr die Dramatik der Situation. Die Zeit zum Umstieg wird immer knapper. Die Grenzen des bisherigen Wachstums sind, auch angesichts bald neun Milliarden Menschen, erreicht. Auch die effizienteste Technik konnte bisher angesichts des Nachfrage- und Produktionswachstums der Weltwirtschaft (1980 bis 2002: 82 Prozent) den Trend der Naturzerstörung nicht umdrehen. Bis zur Mitte des Jahrhunderts muss der Strom emissionsfrei sein, sonst werden sich Klima-Katastrophenszenarien oder Rohstoffkriege kaum vermeiden lassen. Zweitens schildern die Autoren die

115 600 Gräber gibt es auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee. 1880 gegründet ist er heute der größte noch genutzte jüdische Friedhof Europas. Jede seiner Grabstellen erzählt eine Geschichte. Prächtige Mausoleen künden von Reichtum, kleine Steine auf dem Grab – eine alte jüdische Tradition – zeigen an, dass es noch besucht wird. Manch ein Angehöriger kommt von weit her – vertrieben von der Shoah, die das reiche jüdische Leben Berlins ausgelöscht hat. Geblieben sind der Friedhof und seine Geschichten. Bettina Wauer und ihr Kameramann Kaspar Köpke haben sie sich für ihren schönen, wundersam vergnügten Film „Der Himmel, unter der Erde“ erzählen lassen. Sie haben einen lebendigen Ort entdeckt. Vibrierend von Erinnerungen, etwa an das Lachen jüdischer Kinder, die hier während der NS-Diktatur spielten. ■ Britta Wauer IM HIMMEL, UNTER DER ERDE DVD, 90 Minuten, Edition Salzgeber, Berlin 2011, 19,90 Euro, EAN 4040592004327

Größe der Aufgabe. Es geht nach Industriekapitalismus und Sozialstaat um nicht weniger als eine dritte Transformation. Jetzt muss der kurzfristige, finanzmarktgetriebene Wachstumszwang überwunden werden. Durch Politik und Rahmensetzungen, die dafür sorgen, dass wächst, was natur- und sozialverträglich ist, und schrumpft, was schädlich ist. Es geht um die Naturverträglichkeit von Produkten und Konsumweisen, die Etablierung einer Kreislaufwirtschaft und den Umstieg in die Solarwirtschaft. Drittens zeigen sie, dass der sozialökologische Umbau von Kultur und Politik ein Thema linker Gesellschaftspolitik ist. Die Antwort auf die kapitalistische Globalisierung ist die soziale Demokratie. Die Ökologiefrage ist nicht zu trennen von der Gerechtigkeitsfrage und der Humanisierung der Arbeit, von der Demokratisierung, von der Stärkung kollektiver Güter, von postfossiler Mobilität und weniger Konsum: hin zu anderen „Glücksmöglichkeiten“, zu „mehr Gleichheit, Freundschaft und Liebe, Muße und Meditation“. ■

vorwärts.de Rezensionen DIE FAVORITEN MIT DEN MEISTEN »KLICKS« Wolfgang Hetzer

FINANZMAFIA Wieso Banker und Banditen ohne Strafe davonkommen

Westend Verlag, Frankfurt/Main 2011, 336 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-938060-70-4

Erhard Eppler

EINE SOLIDARISCHE LEISTUNGSGESELLSCHAFT Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2011, 144 Seiten, 15,90 Euro ISBN 978-3801204228

Rolf Lamprecht

ICH GEHE BIS NACH KARLSRUHE Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichtes

DVA, München 2011, 352 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-421-04515-7

Dambisa Moyo

DEAD AID Aus dem Englischen von Hendrik Lorenzen, Haffmans & Tolkemitt, Hamburg 2011, 226 Seiten, 14,95 Euro, ISBN 978-3-942989-01-5

Jörg Armbruster

DER ARABISCHE FRÜHLING Als die islamische Jugend begann, die Welt zu verändern

Westend Verlag, Frankfurt/Main 2001, 239 Seiten, 16,99 Euro, ISBN 978-3-938060-44-5

Sigmar Gabriel (Hg.)

EUROPÄISCHE MODERNE UND SOZIALE DEMOKRATIE Ein politisches Lesebuch

vorwärts|buch Verlag, Berlin 2011, 256 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-86602-274-4

Jordi Soler

DAS BÄRENFEST Aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Knaus Verlag, München 2011, 224 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-8135-0387-6 Ulrich Wickert

REDET GELD, SCHWEIGT DIE WELT Was uns Werte wert sein müssen

Michael Müller und Johano Strasser TRANSFORMATION 3.0 Raus aus der Wachstumsfalle vorwärts|buch Verlag, Berlin 2011, 130 Seiten, 10,00 Euro, ISBN 978-3-86602-534-9

Hoffmann und Campe, Hamburg 2011, 205 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-455-50224-4

FOTOS: DIRK BLEICKER

AUF DEM FRIEDHOF


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DIE EDITION 40 Exemplare nummeriert und signiert, Blattgröße: 32,9 x 48,3 cm Preis incl. MW-Steuer und Versand: 150,00 Euro

KAUFT KUNST!

VORWÄRTS GALERIE

FOTOS: THIES RÄTZKE, PRIVAT; MARTIN ZITZLAFF

von Björn Engholm In dem kleinen häuslichen Büro, in dem ich mir Gedanken über die „vorwärts Galerie“ mache, hängen Bilder. Links hinter meinem Schreibtisch ein Strawalde (aus der Vor-Wendezeit), rechts ein kleiner Jörg Immendorff, an der Bücherwand ein Computer-Kopf des Österreichers Peter Kogler, vor der Tür eine Verwischung von Vostell und ein frühes Blatt von Emil Schumacher. Bilder hängen im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, in der Küche, im Bad und auf dem Flur, und Bilder hingen in allen meinen Büros. Die Liebe zur Kunst hat eine positive Kehrseite: Sie nährt die Künste. So ist die Geschichte der Kunst nicht nur eine der kreativen Schöpfungen, sondern zugleich eine der Mäzene, Sammler und Sponsoren. Wo stünden wir heute ohne die bedeutenden Mäzene? Vergils Aeneis gäbe es nicht, wenn nicht der reiche Römer Maecenas der Kultur hold gewesen wäre. Karl V. förderte Tizian, der Vatikan Raffael. Später sind es die bürgerlichen Förderer. Und nicht zu vergessen Galerien und Kunsthändler. Sie alle, Künstler, Galerien und Kunsthandel leben von uns – den Sammlern! Nun gibt es Sammler wie Sand am Meer. Sie horten Fingerhüte, Blechdosen, historische Nachttöpfe, Militaria und Schnupftabaksdosen. Und dann gibt es eine kleine Anzahl, die Kunst horten – die meisten von ihnen sind besessen. Sammeln, das ist erotische Lust und Sisyphos in einem. Ein endloser Weg. Die Lust am Sammeln bewirkt, dass jeder Euro, der über ist, sich auf wundersame Weise in ein Objekt der Begierde verwandelt. Ein Traum: Wenn alle, die am Monatsende etwas über haben, nur einen Bruchteil in Kunst investierten: Welch eine Lust könnten sie erfahren und welche künstlerische Blüte das Land! Der Lohn des Sammelns ist hoch. Man lüftet seine müden Sinne, lernt wieder neugierig zu sehen, gewinnt ästhetische Maßstäbe, wird immunisiert gegen mediale Bilderfluten. Und schlägt der totalen Dominanz der Ökonomie ein schönes Schnippchen. Dahin zu gelangen mag SisyphosArbeit sein. Aber wer sagt uns, dass Sisyphos unglücklich war – hatte er doch ein Ziel vor Augen. ■ Björn Engholm, SPD-Parteivorsitzender von 1991 bis 1993, war Bundesbildungsminister und Ministerpräsident von Schleswig-Holstein

FOTOGRAF THIES RÄTZKE Geboren 1977 in Kiel, Studium an der MuthesiusKunsthochschule in der Fotoklasse von Professor Dirk Reinartz

»DEUTSCHLAND FALTENFREI« JUNGE ZEITGENÖSSISCHE KUNST exklusiv für die vorwärts-Leser empfohlen von Björn Engholm

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unst entsteht im Auge des Betrachters – das sozialdemokratische Auge erkennt bei dieser Arbeit sofort den Symbolgehalt: In dieser Republik muss einiges ausgebügelt werden. 2010 rief die Fotografenvereinigung FreeLens ihre Mitglieder auf, unter dem Titel „Ein Tag in Deutschland“ am 7. Mai einen Querschnitt durch den deutschen Alltag zu fotografieren. Der Foto-Künstler Thies Rätzke nahm das Motto wörtlich und fotografierte bei der Firma FahnenFleck Deutschlandfahnen aus allen Perspektiven. Als eine Näherin eine große Deutschlandflagge mit dem Handbügeleisen zu bügeln begann, hatte er sein symbolträchtiges Motiv. Das Foto wurde später für den Titel des veröffentlichten Bildbandes ausgewählt. Die „vorwärts Galerie“ will den Einstieg in die Gegenwartskunst erleichtern. In jeder Ausgabe wird künftig eine junge

zeitgenössische Arbeit angeboten, in jeder zweiten eine neu vorgestellt. Nicht mehr als 40 Exemplare je Arbeit, nummeriert und signiert, Originale also, in einer Preisspanne von 100 bis etwa 400 Euro. ■

2003 Diplomarbeit „Kontrollbereich“ über den innersten Sicherheitsbereich des Kernkraftwerks Brokdorf Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland, u.a. im Museum Afrika, Johannesburg, und im Musée des Beaux Arts de Brest, Frankreich 2009 Kunstförderung des Landes Schleswig-Holstein sowie ein Stipendium der VG Bild-Kunst für das Projekt „Ciudad Valdeluz“ über eine Geisterstadt bei Madrid lebt und arbeitet in Hamburg

JA, ICH KAUFE KUNST Hiermit bestelle ich: Exemplare der Fotografie von Thies Rätzke à 150,00 Euro (incl. Mehrwertsteuer und Versand) Name

PLZ, Ort, Straße

Datum, Unterschrift

Art-Consulting Essen, Silke Nelius Telefon/Fax 0201/40 61 45 E-Mail: info@silkenelius.de oder unter www.silkenelius.de


36 HISTORIE

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Vereidigung 1961: Walter Scheel (FDP), der erste Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit

KONTINUITÄT – BIS NIEBEL KAM VOR 50 JAHREN Am 14. November 1961 wird das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gegründet

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m Herbst 1961 zwang der 85-jährige Bundeskanzler Konrad Adenauer die FDP in eine Koalition, welche die Liberalen vor der Wahl ausgeschlossen hatten. Dafür musste er einiges bieten, auch ein Ministerium für Walter Scheel, der sich im Europäischen Parlament mit Entwicklungshilfe befasst hatte. So entstand das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). An einem richtigen, arbeitsfähigen Ministerium war Adenauer nicht gelegen. Erst der Kanzler Ludwig Erhard sprach dem BMZ wenigstens die Federführung für technische Hilfe durch Entsendung von Experten zu. Das war etwa ein Viertel des Entwicklungsetats. Aber auch über diese Projekte wurde in interministeriellen Referentenausschüssen (IRA) entschieden. Erst 1973, zu Beginn der zweiten Regierung Brandt/Scheel, wurde aus dem BMZ ein handlungsfähiges Ministerium. Walter Scheel fand für das, was er – ohne im Einzelnen entscheiden zu können – öffentlich zu verantworten hatte, die richtige Formel: „Hilfe zur Selbsthilfe“. Alle seine Nachfolger haben sie übernommen. Es ging darum, Menschen im Süden des Globus dabei zu helfen, Hunger, Analphabetismus, Arbeitslosigkeit zu überwinden, junge Leute an moderne Technik heranzuführen, solide Verwaltungen aufzubauen. Natürliche setzte jeder Minister – auch die beiden Ministerinnen – eigene Akzente. Frauenförderung oder gar eine Energieversorgung durch Erneuerbare Energien waren in den Sechzigerjahren

kein Thema, wohl aber um die Jahrtausendwende. Fragile Staaten vor dem Zerfall zu bewahren, war in den Siebzigerjahren noch nicht nötig, heute ist es eine der wichtigsten Aufgaben. Sieht man vom ersten Minister, Walter Scheel, ab, so haben bis 2009 nur die SPD und die bayerische CSU die Minister gestellt, die SPD ziemlich genau für die Hälfte der 50 Jahre. Auch wenn jeder Minister seine eigene Sprache und seine eigenen Schwerpunkte hatte, setzten alle auf Kontinuität. Keiner kritisierte die Vorgänger, weder öffentlich noch intern. Alle wussten, dass auch ein wohldurchdachtes Projekt scheitern kann. Im Ministerium waren alle bemüht, das Geld der deutschen Steuerzahler so einzusetzen, dass für das betroffene Entwicklungsland optimaler Nutzen entsteht. Wie dies möglich wird, war Gegenstand einer nie abreißenden Diskussion. Gegen diese Kontinuität hat erst 2009 Dirk Niebel verstoßen, nicht nur durch unbedarfte Kritik an seiner Vorgängerin, sondern schließlich durch die erstaunliche Behauptung, das Ministerium, das er ursprünglich abschaffen wollte, gebe es gar nicht mehr. Sollte es wirklich ein ganz neues, anderes Ministerium geben, so ist dies keine 50 Jahre, bestenfalls 50 Wochen alt. Es wird auch keine 50 Jahre alt werden. Aber die Arbeit des BMZ ist noch lange nicht getan. ■ Erhard Eppler war von 1968 bis 1974 der vierte Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

FOTO: BUNDESBILDSTELLE

Von Erhard Eppler


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RÄTSELSEITE 37

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KREUZWORTRÄTSEL

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Die Fragen und das Kreuzworträtsel darunter ergeben die Lösung. Der promovierte... Philologe entstammt einer schwäbischen Lehrerfamilie und unterrichtete selbst viele Jahre an Gymnasien, bevor er sich endgültig für die Politik entschied und nach einigen Stationen unter den Kanzlern Brandt und Schmidt als Bundesminister wirkte. Sein Nachname?

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Weltweit bekannt... ist die Stadt an einem europäischen Strom unter anderem durch einen klugen Sperling, einen fliegenden Schneider, ein universelles Genie, einen hohen Kirchturm, eine gestaltende Hochschule, ein schiefes Haus und schwimmende Schachteln und stechende Fischer.

Der Gesuchte auf dem SPD-Parteitag in Kiel 1927: links neben ihm der SPDVorsitzende Otto Wels und Rudolf Breitscheid, der Reichstagsfraktionsvorsitzende

WER WAR’S?

Er forderte den »unermüdlichen Klassenkampf« und warnte vor falschen Kompromissen

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FOTO: ULLSTEINBILD

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Unter allen Einsendern verlosen wir eine vorwärts-Tasche. Bitte schicken Sie das Lösungswort mit dem Stichwort „Wer war’s“ bis 24. November 2011 per Post oder per E-Mail an: redaktion@vorwaerts.de

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HISTORISCHES BILDER-RÄTSEL Die Lösung des Bilder-Rätsels aus der vergangenen Ausgabe lautet: HOLGER BÖRNER Die vorwärts-Tasche hat gewonnen: Friedhelm Schneider, 56338 Braubach

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ES GIBT ZWEI WEGE, DAS PREISRÄTSEL ZU LÖSEN: Ratefüchse beantworten zuerst die beiden Fragen. Der erste, vierte und fünfte Buchstabe des ersten Lösungswortes sowie der zweite Buchstabe des zweiten Lösungswortes ergeben in der richtigen Reihenfolge die Lösung. Es geht aber auch einfacher: Die grauen Felder im Kreuzworträtsel ergeben in der richtigen Reihenfolge das Lösungswort. Gesucht wird eine uralte Maßeinheit, an der sich so mancher Politiker messen lassen muss.

Von Lothar Pollähne rasser hätte er seine Verachtung für die Sozialdemokratie kaum äußern können als Ende 1919 während eines USPD-Parteitags in Leipzig: „Eine Einigung zwischen der Partei der Noske-Sozialisten und dem klassenbewussten Proletariat ist unmöglich.“ Zwei Jahre später postuliert er unumwunden: „Wir kennen kein Vaterland, das Deutschland heißt. Unser Vaterland ist die Erde, das Proletariat“. Damit es auch alle klassenbewussten Menschen merken, veröffentlicht er im selben Jahr seine „Glossen eines vaterlandslosen Gesellen“. Schreiben ist sein Beruf. 1904 wird der gelernte Theatermaler Redakteur der „Volkszeitung“ in Königsberg. Von 1906 bis 1912 wird er nach Danzig berufen und zum Parteisekretär der SPD für Westpreußen ernannt. Sein Protest gegen die „Burgfriedenpolitik“ der SPD kostet ihn im November 1914 seinen Posten bei der „Schwäbischen Tagwacht“ in Württemberg. Er wechselt 1917 zur USPD und wird nach der Novemberrevolution 1918 für einige Monate Innenminister. 1920 wird er Reichstagsabgeordneter und bleibt es bis zur „Machtergreifung“ der Nazis. Auf dem Vereinigungsparteitag von SPD und USPD in Nürnberg erklärt er am 24. September 1922, die SPD müsse „durch eine Politik der Aktivität, durch unermüdlichen Klassenkampf, die Massen zum Siege führen“. Von 1922 bis 1933 ist er einer der zwei bzw. drei SPD-Vorsitzenden. Nach dem Reichstagsbrand flieht er in die Schweiz, wo er am 29. November 1946 in Bern stirbt. Statt Kränzen und Blumen auf dem nach seinem Willen schlichten Sarg wünscht er sich Spenden für Lebensmittelpakete nach Deutschland. In seinem letzten Brief an seine Töchter bittet er, nicht zu trauern, „denn der Fortgang aus dieser Zeitlichkeit ist nur der naturbestimmte Ablauf allen Seins in dieser Welt“. ■

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Die Lösung des jüngsten Preisrätsels lautete MAUER. Gesucht wurden außerdem: PEER und HAMBURG. Jeweils ein Buch gewannen: Rolf Kessler, 21079 Hamburg Helga Meßmer, 78056 VS-Schwenningen Karl Hewera, 42119 Wuppertal Gisela Engelken, 27619 Schiffdorf Werner Breunig, 67146 Deidesheim Marianne Ludwig, 50374 Erftstadt Dieter Jöllenbeck, 35037 Marburg Norbert Maulbetsch, 76461 Muggensturm Lucie Nothmann, 86956 Schongau Heidelore Krüger, 15748 Märkisch-Buchholz

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KÖNIG TRIFFT TURM

Helmut Schmidt und Peer Steinbrück spielen Schach und unterhalten sich – über Bonner Zeiten, die Westberliner Justiz, Erich Honecker und Willy Brandt, über die SPD, Europa und die Welt. Daraus wurde ein Buch: »Zug um Zug«. Der »vorwärts« zitiert aus ausgewählten Kapiteln

SCHMIDT: Wann sind wir uns eigentlich das erste Mal begegnet, Peer? STEINBRÜCK: Das muss im September 1979 gewesen sein, Helmut, als ich kleiner Mitarbeiter im Kanzleramt war. Sie flogen zu einer Rede bei der Max-Planck-Gesellschaft, irgendwo in Süddeutschland, und hatten anschließend die sogenannte Entsorgungsrunde mit den Ministerpräsidenten über Gorleben. Ich wurde hinten ins Flugzeug gepackt mit der Direktive: Auf dem Rückweg will der Bundeskanzler von Ihnen vorbereitet werden auf die Bund-Länder-Konferenz, insbesondere auf das Gespräch mit dem niedersächsi-

schen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht; es ging um die eventuelle Endlagerstätte für nuklearen Abfall in Gorleben. Und dann wurde ich auf dem Rückflug nach Bonn zum Bundeskanzler gerufen. Ich habe mich hingesetzt, und Sie haben erst mal nur gelesen. Dann haben Sie mir zwei Fragen gestellt, und dann haben Sie lange wieder nichts gesagt. Ich wollte aufstehen und wieder gehen, weil ich dachte, die Audienz ist beendet. Da haben Sie gefragt: Wer hat Ihnen denn gesagt, dass Sie aufstehen sollen? Und mich mit so einer Handbewegung angewiesen, dass ich mich wieder setze. Dann wollten Sie wissen, wo ich herkomme, weil Ihnen offenbar auffiel, dass ich so ähnlich Hamburgisch sprach wie Sie. Schließlich sind wir die Entsorgungsproblematik durchgegangen.

Das war die erste Begegnung zwischen uns, 1979. Volker Hauff war dabei als zuständiger Minister.

*** SCHMIDT: Stolpe ist ein Stichwort, und Honecker ist ein anderes, das mich darauf bringt, dass wir eigentlich ein paar Worte wechseln sollten über die Art und Weise, wie gut oder wie schlecht die geistige und psychische Integration der beiden Teile der deutschen Nation nach 1989/90 bewältigt wurde. Ich habe zum Beispiel mit großer innerer Missbilligung gesehen – und manchmal habe ich das auch laut gesagt –, dass sich alle auf die ehemaligen SED-Leute gestürzt haben; die Blockflöten blieben völlig unbehelligt und waren in manchen Fällen die schlimmeren Opportunisten.

FOTOS: INGRID KRUSE

POLITIK ALS BERUF


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Heute stürzen sie sich ausschließlich auf Leute, die irgendwann der Stasi irgendwas zugetragen haben, als ob diese kleinen Beamten die eigentlichen Übeltäter gewesen wären. Ich will in dem Zusammenhang bekennen, dass ich sogar ein bisschen Mitgefühl empfunden habe für den Erich Honecker. Aus zwei Gründen. Zum einen, weil er ein ganz »armes Schwein« war. Er wusste nie, was Moskau letzten Endes beschließen wird, und solange Moskau nichts beschlossen hatte, wusste er nicht, ob er dieses darf oder jenes muss. Er war absolut abhängig und hatte keinen Durchguck. Noch 1989 hat er sich eingebildet, was da in Russland stattfindet, ist nur ein Tapetenwechsel, die Wände bleiben alle stehen. Er hat sich auch eingebildet, die DDR sei unter den Industriestaaten der Welt die Nummer 7. Er ist völlig irregeführt worden von Günter Mittag, der war für ihn eine Autorität. Das Zweite, was mich für ihn eingenommen hat, war, dass er seinen kommunistischen Jugendidealen in all den Jahren der Nazizeit im Gefängnis treu geblieben ist. Ansonsten ein ganz mittelmäßiger Mensch ohne Urteilskraft und eigentlich unbedeutend. Trotzdem kann ich mich nicht beteiligen an der allgemeinen Verächtlichmachung dieses Menschen. STEINBRÜCK: Über den Umgang der SPD mit SEDMitgliedern einschließlich der kleinen Lichter, die auch als Stasizuträger unterwegs waren, kann man streiten. Wahrscheinlich haben wir Fehler gemacht. Aber man muss sich die damalige Situation vergegenwärtigen. Für die Sozialdemokraten, die im Oktober 1989 die SDP in der DDR gründeten – übrigens teilweise unter Mitwirkung von Stasimitarbeitern oder jedenfalls einigen, die mit der Stasi verflochten waren –, war es völlig undenkbar, in Erinnerung an Verfolgung und Demütigung diejenigen aufzunehmen, die sie verantwortlich machten für die vielen Opfer und die Unbilden ihres täglichen Lebens. Darin waren CDU und FDP viel freier; die hatten nie Schwierigkeiten damit, die ehemaligen Blockflötenmitglieder aufzunehmen. Aber für den ehrlichen Teil innerhalb der neugegründeten Ost-SPD war es undenkbar, sich zu öffnen für SEDMitglieder, die Gräben waren einfach zu tief. SCHMIDT: Ganz am Anfang des Vereinigungsprozesses verfolgte die Westberliner Justiz besonders Wolfgang Vogel, der als Anwalt auf Seiten der DDR unseren Freikauf von Häftlingen organisiert hatte. Ich hatte Vogel vertraut und war empört über die Anklage. Ich habe ihn demonstrativ, unter Bestellung von Fernsehkameras, im Gefängnis in Moabit besucht und habe ihm meinen Mark Aurel mitgebracht als Mahnung zur Gelassenheit. Der ehemalige Bundeskanzler wurde auf Weisung der Staatsanwälte in Westberlin am Eingang zum Gefängnis nach Waffen abgetastet. Der Gefängnispfarrer bat dann Vogel und mich in sein Zimmer im Gefängnis, und da haben wir endlos miteinander geredet. Hans-Dietrich Genscher hat das zwei, drei Tage später genauso gemacht: Wir waren empört über die Art und Weise, wie diese Westberliner Justiz sich da aufgeführt hat. Das Gleiche gilt mit Blick auf Manfred Stolpe. STEINBRÜCK: Der wurde lange verdächtigt als IM »Sekretär«.

SCHMIDT: Das war eine Klassifizierung in der Kartei der Stasi, nichts, was er selber akzeptiert hätte. Diese verdammte Rumschnüffelei in den Karteien der geheimen Polizei der DDR finde ich zum Kotzen! Ich habe mich nie im Leben interessiert für die Akte, die die über den Schmidt haben. STEINBRÜCK: Die ist wahrscheinlich auch ziemlich dick. SCHMIDT: Das nehme ich an. STEINBRÜCK: Mein Problem sind nicht die kleinen SED-Leute oder die Schnüffler dort, mein Problem gegenüber der SED und ihren Nachfolgeorganisationen ist, dass sie sich der Bewältigung ihrer historischen Verantwortung nie gestellt haben. Ich stehe da stark unter dem Eindruck des Besuchs des Stasi-Gefängnisses in Hohenschönhausen. Da muss man gewesen sein, um die Niedertracht wirklich zu begreifen, die ausgeübt wurde gegenüber politisch Verfolgten. Man muss wissen, wie Frauen in den Gefängnissen behandelt worden sind und wie das Leben von Kindern aus Elternhäusern, die dem Regime nicht passten, systematisch kaputt gemacht wurde. Eine solche Aufarbeitung verlange ich von der jetzigen Linkspartei, bevor auch nur ansatzweise eine Annäherung zwischen SPD und Linkspartei politisch debattiert wird. Das schließt den respektvollen Umgang mit Mitgliedern dieser Partei und ehemaligen SEDMitgliedern überhaupt nicht aus. Noch einmal: Die Mitverantwortung für Verhältnisse, die Menschen zu Opfern gemacht haben, die fehlt mir bei der Linkspartei, und diese Verdrängung nehme ich denen übel. Die schäbige Rolle, die diese Partei im Umgang mit ihrer Vergangenheit spielt, trat das letzte Mal bei der Bundespräsidentenwahl offen zutage, als die Linke nicht nur nicht in der Lage war, den Kandidaten Gauck anzunehmen, sondern obendrein versucht hat, ihn zu diskreditieren.

*** SCHMIDT: … Ich will hier mal eine kleine Erinnerung unterbringen. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren war ich acht Jahre lang Vorsitzender eines großstädtischen Kreisverbandes der

SPD. Mein Kreisverband Hamburg-Nord hatte 10 000 Mitglieder, so viel hat die ganze hamburgische SPD heute ungefähr. Warum waren wir damals so attraktiv? Erstens: Es gab noch kein Fernsehen. Diese Abendunterhaltung für jedermann gab es nicht, sondern die Leute gingen in die Kneipe und spielten Skat – die Männer. Aber wichtig war, zweitens, dass wir thematisch weit über die Parteipolitik der SPD hinausgriffen. Der Kreis Nord in Hamburg machte öffentliche Veranstaltungen im Winterhuder Fährhaus – das ist inzwischen abgerissen und durch einen Theaterbau ersetzt worden – mit Rednern von anderen Parteien oder mit Rednern aus der katholischen Kirche oder mit Rednern aus der evangelischen Kirche. Das heißt, schon das Plakat machte klar, dass hier keine SPD-Politik verzapft wird. Die wurde in Wirklichkeit natürlich doch verzapft, aber die Anmutung für den, der das Plakat sah oder der in der Zeitung die Anzeige gelesen hatte, war nicht: Hier spricht die SPD. STEINBRÜCK: Das entspricht exakt meiner Erfahrung. Und zwar ist das Interesse umso größer, je dialogischer die Veranstaltung aufgebaut ist. Wenn ich befragt werde von Miriam Meckel, von Herrn Kilz von der Süddeutschen Zeitung, von Ulrich Wickert oder von einem Pastor oder von einem Professor, die erkennbar nicht parteigebunden sind, und es artet nicht in eine 45-minütige Frontalrede von mir aus, sondern es entwickelt sich sehr schnell ein Dialog, und anschließend beteiligt sich das Publikum, dann empfinden die Bürger das als spannend. Mich wundert nur, wie stark die etablierten demokratischen Parteien verhaftet sind in ihren alten, eher langweilig anmutenden Veranstaltungsformaten. Klatschmarsch, Einzug, irgendein Musikstück, eine 60-minütige agitatorische Rede, nach der die anderen immer die Vollidioten und die eigenen Leute immer die Schlaumeier sind, obwohl jeder im Publikum weiß, dass die Verteilung von Schlaumeiern und Idioten der Normalverteilung der Bevölkerung entspricht, und nach den sechzig Minuten – SCHMIDT: Das ist druckreif! STEINBRÜCK: Und nach den sechzig Minuten noch irgendein Schlusswort, das wie immer viel zu lang wird, dann acht Minuten Beifall, einige sind mit der Stoppuhr dabei, wie lange das wirklich dauert, Ende der Veranstaltung. SCHMIDT: Das Thema, das wir im Augenblick am Wickel haben, berührt ein anderes Thema: Warum spielt das Parlament im Bewusstsein der öffentlichen Meinung heute eine so geringe Rolle? Ich will versuchen, eine Antwort zu geben. In den fünfziger und sechziger Jahren, auch noch in den siebziger Jahren gab es für den Deutschen Bundestag wichtige Fragen, zum Teil Existenzfragen, zu entscheiden. Es gab zum Beispiel in den fünfziger Jahren zu entscheiden: Hat Kurt Schumacher recht mit seiner Politik der Wiedervereinigung, oder hat Adenauer mit der Westbindung recht? Hat Adenauer recht mit der europäischen Integration, oder hat Ludwig Erhard recht, der dagegen war? Oder denken Sie an den in bitteren Parla-


40 DOKUMENTATION mentsdebatten über anderthalb Jahrzehnte ausgefochtenen Streit über die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik. Oder dann die Ostpolitik. Oder dann der berühmte oder berüchtigte NATODoppelbeschluss. Das alles waren Fragen von tiefgreifender Bedeutung, und das wiederum verlangte nach akzentuierter Stellungnahme und verlangte nach Führung. Es scheint so, als ob die Fragen, die heute im Parlament verhandelt werden, vom Gewicht her eine geringere Qualität hätten. In Wirklichkeit hat zum Beispiel die Frage nach der Zukunft der Europäischen Union in meinen Augen ein ungeheures Gewicht, aber das wird gar nicht begriffen und erkannt, weder vom Publikum noch vom Parlament. Es kommt hinzu, dass die Medien sich angewöhnt haben, das Parlament für unwichtig zu halten – ihre ewigen Talkshows halten sie für viel wichtiger. Sie veranstalten eine nach der anderen, an jedem Wochentag außer Samstag, und was hier geredet wird, wird zur Quelle der politischen Information für die Öffentlichkeit. In Wirklichkeit ist es eine Quelle der Desinformation, weil jeder nur drei Minuten redet, dann kommt der andere dran, und am meisten redet der Talkmeister. Das läuft hinaus auf eine vollkommene Entpolitisierung des Publikums.

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manchmal tagelang eingeschlossen. Da musste der Verwaltungsleiter dann für Ordnung auf dem Hof sorgen und manches für den Herrn erledigen. Schmidt: Das ist richtig – genauer gesagt, Brandt zog sich nicht zurück, sondern er litt an Depressionen, und die waren zum Teil so schlimm, dass seine eigene Ehefrau nicht zugelassen wurde. Irgendwann klopfte dann Ehmke an die Tür und sagte: Willy, wir müssen regieren. Bisweilen ist Willy darauf eingegangen, und bisweilen hat er Ehmke machen lassen, was dazu führte, dass die übrigen Kabinettsmitglieder anfingen zu bezweifeln, dass alles richtig war, was Ehmke machte. Er war in innerer Übereinstimmung mit den Grundlinien Brandts, das muss man sagen. Aber als Wehner und Schmidt von Willy 1972 beauftragt wurden, das Kabinett zusammenzustellen – er litt wieder an einer Depression, trotz des phantastischen Wahlsiegs; er hatte die SPD bis auf 45 Prozent gebracht –, brauchten wir über Ehmke nicht ein Wort zu reden. Es war völlig klar, er musste weg aus dem Bundeskanzleramt und kriegte ein Ressort.

SCHMIDT: Jedenfalls hat Ehmke uns das nicht verziehen. Willy Brandt hat es akzeptiert. Es hat später mal eine Bemerkung gegeben von Brandt, dass wir ja das Kabinett zusammengestellt hätten, und so zwischen den Zeilen schien das zu heißen: Ich, Brandt, hätte das ein bisschen anders gemacht.

SCHMIDT: Richtig.

STEINBRÜCK: Ich will noch mal zurück zu jenen Berufspolitikern, für die eine stetige Absicherung in ihrer Partei wichtiger ist als die Bestätigung durch den Wähler. Da liegt für mich ein nicht geringes Problem. Es gibt Abgeordnete der SPD, deren Erststimmenergebnis bis zu sieben, acht, neun Prozent schlechter ist als das Zweitstimmenergebnis der Partei, und gerade einige von denen reißen den Schnabel in den Sitzungen am weitesten auf. Das persönliche Ergebnis in der Direktwahl des Abgeordneten sollte eigentlich ein Gradmesser sein für erfolgreiche politische Arbeit. Aber statt mal die Frage zu stellen, ob das denn die richtigen Kandidaten sind, werden sie von einer festgeschweißten

SCHMIDT: Ich habe mich seit tausend Jahren aus diesem Grunde an keiner Talkshow beteiligt. Sondern immer nur eins zu eins oder zwei zu eins, aber niemals mehr.

Erst das Land, dann die Partei STEINBRÜCK: Obwohl ich Brandts Wahlsieg vom November 1972 als einen der größten Triumphe der SPD in Erinnerung habe – insbesondere wegen der Anfeindungen, denen die Sozialdemokratie seit 1966 auch aus einem Rechtsaußenlager der CDU/CSU ausgesetzt war –, fiel auf die seinerzeit von mir bewunderte Persönlichkeit von Willy Brandt ein leichter Schatten, als ich später erfuhr, welchen Schwankungen er ausgesetzt war. Von Horst Ehmke weiß ich, dass Brandt ganze Tage lang nicht ansprechbar war, außer von ihm als Kanzleramtschef. SCHMIDT: Horst Ehmke war ab 1969 Willy Brandts Regierungsmanager und hat häufig genug eine Ordre de Mufti verkündet, von der der Mufti gar nichts wusste. STEINBRÜCK: Aber der Mufti hat sich auch oben auf dem Venusberg hinter zugezogenen Vorhängen

SCHMIDT: Ich stimme Ihnen zu, Peer. Wenn jemand für sich weniger Stimmen erhält als seine Partei, dann ist er als Kandidat nicht geeignet. Man sollte ihn beim nächsten Mal nicht wieder aufstellen – aber ihn auch nicht hoch auf die Landesliste setzen. Und man sollte nach neuen Kandidaten Ausschau halten.

Gewinnen wollen SCHMIDT: Wir spielen ja nun schon seit vielen Jahren miteinander Schach. Sie haben von fünf Spielen vier gewonnen, und einmal haben Sie mich gewinnen lassen –

STEINBRÜCK: Er kriegte Forschung und Technologie.

STEINBRÜCK: Merkwürdigerweise treffe ich sehr viele Menschen, die das genauso sehen wie wir, aber trotzdem gibt es diese Laberrunden, und trotzdem schalten Leute ein. Ich teile die Auffassung, dass die Talkshows zu einer Art Politikersatz geworden sind. Aber wir dürfen auch nicht vergessen: Die Politiker tragen durch ihre Beteiligung selber zum Bedeutungsverlust des Parlaments bei.

STEINBRÜCK: Also sollte man sich in den Talkshows rarmachen, dort sehr selten auftreten.

Delegiertenkonferenz zum dritten und vierten Mal wieder aufgestellt. Die Parteien sollten dazu übergehen, sehr viel breiter Kandidaten auszusuchen und zu fördern. Das interessiert mich: Wie kommen die Parteien aus ihrer Binnenfixierung heraus und präsentieren Kandidaten und Kandidatinnen, deren Profil nicht nur die eigenen Delegierten, sondern vor allem die Wählerinnen und Wähler überzeugt?

***

STEINBRÜCK: Das stimmt nicht. Wenn Sie gewonnen haben, Helmut, haben Sie sauber gewonnen. SCHMIDT: Was ich sagen will, ist, dass im Schachspiel natürlich jeder von beiden gewinnen will. Das spielt auch eine Rolle in der Politik. Das hat mit Macht noch gar nichts zu tun, sondern Gewinnenwollen ist zunächst einmal eine allgemein menschliche Eigenschaft – wie im Fußballspiel oder im Schachspiel. Allerdings ist die Politik viel mehr dem Fußballspiel zu vergleichen als dem Schachspiel, denn die Politik ist ein Mannschaftssport und nicht ein Sport, wo es allein auf das eigene, sehr persönliche Können und die eigene Kraft ankommt. Alle Politiker sind auf ihre Mannschaft angewiesen. STEINBRÜCK: Man will zusammen gewinnen. Deshalb fand ich ja diesen Satz der Grünen-Politikerin Claudia Roth zum Kringeln blöd, die während der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland sagte, sie freue sich ja so sehr, wenn auch mal die anderen gewinnen. So was käme mir nicht in den Sinn. Ich will, dass unsere Mannschaft gewinnt, dass wir gewinnen.

Was zu tun ist STEINBRÜCK: Die Fragen aus dem Publikum, die ich nach Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2008 gehört habe, gingen mehrheitlich in eine einzige Richtung: Die Politik hat 500 Milliarden für die Banken – 500 Milliarden war das Volumen des Finanzmarkt-Stabilisierungsgesetzes –, aber sie hat kein Geld für die Renovierung der maroden Schule meiner Kinder oder für die Umgehungsstraße, auf die wir aus Lärmschutzgründen seit Jahren warten. Sie streitet fast ein halbes Jahr lang über die Erhöhung von Hartz-IV-Regelsätzen um fünf oder sechs Euro, aber den Banken schiebt sie mal eben 500Milliarden über den Tisch. Es war nicht leicht, auf diese Fragen eine Antwort


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jetzt. Noch haben sie den Test nicht bestanden, aber man kann nicht ausschließen, dass wir irgendwann einmal einen grünen Bundeskanzler kriegen. Ich halte das nicht für erstrebenswert, ich würde aber einen Fehler machen, wenn ich es nicht für möglich hielte. Und dann wird sich zeigen, ob er verwalten kann und ob er die verschiedenen Felder beherrscht, ob er Sozialpolitik beherrscht, ob er Finanzpolitik beherrscht, ob er Forschungspolitik beherrscht. Alles das lernt diese Partei langsam. Die Sozialdemokraten haben das inzwischen weitgehend gelernt, die CDU hatte einen kleinen Vorsprung. Die FDP hat es eigentlich nie gelernt, sie hat ihre Ansätze – ich habe vorhin ein paar Namen genannt – leider verloren. Eine Ausnahme war Hans-Dietrich Genscher. Der konnte nicht nur regieren, der konnte auch verwalten, der konnte auch eine Behörde leiten – eine riesenhafte Behörde mit Botschaften in Brasilia und Djakarta, in Moskau und Washington, bei den United Nations und in Peking. Er konnte das. Der jetzige – kann es offensichtlich nicht.

zu geben, ohne dass die Leute schreiend rausliefen. SCHMIDT: Was war denn Ihre Antwort, Peer? STEINBRÜCK: Die Antwort lautete: Alle Rentner und Rentnerinnen, alle Sparer, alle Kommunalpolitiker, die einen Kassenkredit brauchen, jeder Gewerbetreibende und Handwerksmeister, der einen Betriebsmittelkredit braucht, jeder Arbeitnehmer, jeder Gewerkschafter und jeder Manager, deren Unternehmen Investitionen fremdfinanzieren – sie alle sind darauf angewiesen, dass das Arteriensystem von Wirtschaft und Gesellschaft mit Blut, will sagen: mit Geld und Kapital versorgt wird und nicht kollabiert. Das ist der Grund, warum wir die Banken gestützt haben. Nicht aus irgendeiner devoten Haltung gegenüber Bankmanagern. Mein Respekt gegenüber ihnen entspricht inzwischen ziemlich genau dem Respekt, den sie den Politikern entgegenbringen, und der ist recht gering. Es ging darum, das Finanzsystem funktionsfähig zu halten, damit die Banken ihren Pflichten als Finanzdienstleister nachkommen konnten. Das ist das entscheidende Stichwort: Finanzdienstleistungen zu erbringen für eine Volkswirtschaft und für eine Gesellschaft. Und das drohte zusammenzubrechen.

FOTOS: INGRID KRUSE

SCHMIDT: Die Fragen aus dem Publikum sind nur zu verständlich. Und Ihre Antwort ist in Ordnung. Das Problem ist damit aber nicht gelöst. Es besteht nämlich darin, dass die Banken, statt sich auf ihre Funktion als Finanzdienstleister zu konzentrieren, in Wirklichkeit zu einem Selbstzweck geworden sind. STEINBRÜCK: Wir sprachen im vorigen Kapitel ja schon über den Eigenhandel der Banken, das Spiel mit Wetten auf zukünftige Preise oder Kurse, das Investmentbanking. Ich war in den vergangen Jahren mehrfach in Frankfurt eingeladen, um bei der Deutschen Börse, bei der Deutschen Bank und bei anderen Instituten Reden zu halten, und da habe

ich diesen Bankmanagern unverblümt meinen Eindruck vermittelt, dass das Wirtschaftssystem, das sie trägt, durch Übertreibungen und Exzesse nicht nur ökonomischen Krisen ausgesetzt sei. Wir hätten es auch mit einer moralischen Krise zu tun. Ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das derartig materialistisch orientiert sei, einer Bereicherungsmentalität fröne und alle Bereiche der Gesellschaft dem Wettbewerbsprinzip anheimstellen wolle, verliere seine Legitimation. In meinen Augen sei unser Ordnungssystem im Augenblick nicht gefährdet durch irgendwelche Verrückten, die vom linken Rand oder vom rechten Rand kommen, sondern von den Protagonisten des Systems selbst. Sie würden möglicherweise die Achse dieser Republik versetzen, weil sie Maß und Mitte verloren und ihre Vorbildfunktion vergessen hätten. Die groteske Erfahrung ist gewesen, dass ich dafür Beifall bekam, sodass ich mich gelegentlich nach den masochistischen Qualitäten meiner Zuhörer gefragt habe. Allerdings folgten sie gleichzeitig dem Prinzip: zum einen Ohr rein, zum andern Ohr raus. Hier muss die Politik ansetzen: dass diese »Eliten« sich selber den Ast absägen könnten, auf dem sie sitzen, falls sie nicht die Balance halten und auch ihrer Verpflichtung auf das Allgemeinwohl und auf sozialen Ausgleich gerecht werden. Hier muss es in meinen Augen eine sehr viel stärkere, eine fordernde Ansprache geben.

STEINBRÜCK: Als Westerwelle von Frank-Walter Steinmeier das Amt des Außenministers übernahm, wurde auf der Veranstaltung im Auswärtigen Amt ein Foto gemacht, das mir lebhaft in Erinnerung geblieben ist. Die Körperhaltung von Westerwelle brachte auf entlarvende Weise zum Ausdruck, dass er endlich in dem Amt angekommen war, das er sich seit langem ersehnt hatte. SCHMIDT: Es ist eines der großen Probleme der parlamentarischen Demokratie, dass man Leute zum Minister machen muss, von denen man bisher nur weiß, dass sie im Parlament ein paar gute Reden gehalten haben. Von denen man aber überhaupt nicht weiß, ob sie eine große Organisation leiten können, ob sie eine Armee geistig führen können, ob sie ein Fingerspitzengefühl haben für den Arbeitsmarkt mit den beiden großen Parteien, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Alles das sind Dinge, die man nicht weiß, wenn man einen Mann, der bisher nur Opposition im Parlament gespielt hat, zum Minister macht. Das führt dann dazu, dass manche dieser Minister sich auf ein persönliches Küchenkabinett konzentrieren, weil sie das Verwalten nicht gelernt haben. Das gilt auch für die gegenwärtige Bundeskanzlerin. ■

*** STEINBRÜCK: Ich habe mal den Satz gelernt: Es kommt in der Politik nicht auf das Gutgemeinte an, sondern auf das Gutgemachte. SCHMIDT: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Politik heißt auch verwalten können. Politik besteht nicht nur aus Regieren, insbesondere Kommunalpolitik ist im Wesentlichen Verwaltung. Dazu muss man die Gesetze kennen, nicht nur die Haushaltsgesetze, aber die ganz besonders. Es genügt nicht die gute Gesinnung, man muss auch wirklich etwas können. Das lernen die Grünen

Helmut Schmidt / Peer Steinbrück ZUG UM ZUG Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011, 320 Seiten, 24,99 Euro; ISBN 978-3-455-50197-1


42 DAS ALLERLETZTE

REIN ODER RAUS? ODER BEIDES? VERWIRRUNG DER GEFÜHLE Zwei Jahre war er in der SPD. Um heute festzustellen: Er kann nicht in ihr, aber auch nicht ohne sie sein Von Martin Kaysh

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ilfe, ich bin illegal. Also, wenn ich das mit der Parteireform richtig verstanden habe. Ich habe den jüngsten „vorwärts“ studiert, die Anträge zum Bundesparteitag. „Partei leben!“ hieß die Überschrift. Aber vor das Leben hat die Antragsberatungskommission das Lesen gesetzt, sieben Seiten ohne Bilder. Das muss so sein, das verstehe ich auch als Organisationslaie. Warum ich illegal bin? Nun, ich bin Unterstützer der SPD, naja, ich halte mich dafür. In einem Kulturforum arbeite ich hin und wieder mit, gut, ich gehe da hin. Ich kann einfach nicht in Strukturen denken, die das Parteiengesetz erfordert. Um ernsthaft in einer Partei mitzuwirken, bräuchte ich

meine persönliche Andrea Nahles, also eine private Generalsekretärin, die meine E-Mails liest, vielleicht sogar pünktlich beantwortet, Anträge formuliert, die Arbeit halt macht. Bevor mir Andrea Nahles die Reduzierung ihrer Arbeit aufs Banale vorwirft: Ein persönlicher Referent, der hinter mir aufräumt, würde reichen. Aber ich war mal in der SPD. Mit 14 Jahren wollte ich rein, durfte nicht, schaute traurig auf mein riesiges, vom Bauzaun geklautes Willy-Brandt-Plakat, das zwischen Postern von Mark Spitz, Les Humphries und Günter Netzer im Kinderzimmer hing. Als es mit der Aufnahme klappte, hing an der Wand Helmut Schmidt, Hochglanz, ein Geschenk des örtlichen

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Ich komme mir vor wie ein wiederverheirateter Katholik, der von der Kommunion ausgeschlossen wird.

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Martin Kaysh

Martin Kaysh ist Kabarettist, Alternativkarnevalist und Blogger.

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Landtagsabgeordneten. Mit der Partei und mir ging es zwei Jahre gut. Ich habe das nicht ausgehalten, diese Ortsvereinssitzungen. Gleich auf der ersten wurde gewählt und mir eingeflüstert, ich müsse Gudrun von der AsF als Schriftführerin wählen, weil dann die Frauen auch den Juso-Siggi bei der Wahl zum zweiten Bildungsobmann unterstützen würden. Das sei wichtig für den Einfluss im Vorstand des Ortsvereins Marl-Drewer-Süd. Wir haben die Trennung beide überlebt, also die SPD und ich. Was aber steht jetzt in den Anträgen zum Bundesparteitag? Wer Mitglied war, kann kein Unterstützer werden. Punkt. Klar, man will sich nicht einen Typen ins Haus holen, der gerade erst zur Linken rübermachte. Aber ich komme mir da vor wie ein wiederverheirateter Katholik, der von der Kommunion ausgeschlossen wird. Jetzt habe ich rausgefunden, dass ich im „Kulturforum der Sozialdemokratie“ sitze – so heißt das korrekt, nicht „Kulturforum der SPD“. Das hat sich jemand ausgedacht, der denken kann, wie es die Parteistatuten erwarten. Ich bin also doch nicht illegal. ■

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ILLUSTRATION: CHRISTINA BRETSCHNEIDER

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