Zeitung Vinschgerwind 9-22 vom 05.05.2022 Bezirk Vinschgau Südtirol

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Vinschgerwind 9-22

05.05.22

„Erzählen wir einander“ „Erzählen wir einander“ Der Zufall Anita Pichler Der Anfang ist leicht: Erzählen wir einander. Der Anfang ist wie eine Bitte, wie jede Wurzel, die Rübe, das Herz: Ich setze das erste Wort an den Platz, wo ich stehe. Ich suche einen Tag an diesem Ort und beginne. Aus: Pichler, S. 35

25 Jahre ist es her, dass Anita Pichler verstorben ist. Sie war eine Schriftstellerin aus Schenna, hat ihre Kindheit aber auch in Sulden verbracht. Dann hat sie in Triest, Venedig und Prag Sprachen studiert, als Übersetzerin und Redakteurin gearbeitet und zahlreiche Reisen unternommen. Und immer wieder geschrieben – unter Verwendung modernster Erzählmethoden. Dafür erhielt Anita Pichler als eine der ersten Südtiroler:innen internationale Aufmerksamkeit. Die Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1986 und Publikationen bei Suhrkamp zeugen davon. Im männerdominierten Süd-

tiroler Literaturbetrieb hat sie Pionierinnenarbeit geleistet. Dazu gehörte in den späten 80er Jahren die Entscheidung, als freie Schriftstellerin zu leben, „aber nur, wenn mir das erlaubt, so zu schreiben, wie ich schreibe.“ Das Wie ist ein rhythmischer Ton, der die bilderreiche Sprache der schnellen Handlung vorzieht. Ihre tiefgehenden Texte speisen sich aus Mythologie, Geschichte und einer sensiblen Beobachtungsgabe. Andeutende, aber dringliche Prosa für ein intensives Leseerlebnis. Im Handel sind alle ihre Werke erhältlich, auch dank der eifrigen Nachlassverwalterinnen Sabine Gruber und Renate Mumelter. „Haga Zussa“ (Die Zaunreiterin), „Wie die Monate das Jahr“, „Die Frauen aus Fanis“, und „Beider Augen Blick“ sind zu Pichlers Lebzeiten erschienen. 49-jährig erlag sie am 6. April 1997 einer Krebserkrankung. „Es wird nie mehr Vogelbeersommer sein …“ (dazu eine CD mit Pichler im O-Ton!) und „Flatterlicht“ versammeln posthum unveröffentlichte Prosaminiaturen, Gedichte und Fotos. Anita Pichler wurde auf eigenem Wunsch in Sulden begraben. Von den Bergen hatte sie sich angezogen gefühlt und bei ihrer älterer Schwester Renate war

Anita Pichler (links) mit Cousin Fred und Schwester Renate in Sulden

sie gern gewesen, welche eine Residence in Sulden betreibt. „Sulden war für sie Heimat“, heißt es im soeben erschienenen Film von Lorenz Zenleser. Das zweite filmische Porträt nach „ich will einfach erzählen …“ (Eisenstecken/Oberkofler, 2002). Und doch ist wenig bekannt über die Dichterin. „Das Private bleibt gedacht und unter uns. Das Öffentliche hast Du selbst veröffentlicht, Dich niemals dazu“, gedenkt ihr Sabine Gruber in der Neuen Südtiroler Tageszeitung vom 8.4.1997. Und lässt sie dadurch wirken, worin sie sein wollte: im Wort.

Requiem auf Anita Pichler Robert Schindel 1 Im Schatten des Ortlers Im Ort Sulden Tief im Faltwerk hat Anita ihre letzte Adresse 5 Im Schatten des Berges Im Ort Nimmermehr Tief im Wortwerk hat Anita ihre Adresse.

Aus: Gruber/Mumelter, S. 116

Das Jahr 1991 verbrachte Anita Pichler als Stadtschreiberin in Biel (CH)


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