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Einleitung Erwin Messmer

Einleitung

«Im Mai 1941 trat der Ackerbauleiter der Gemeinde Unterschwand eines Abends auf dem Heimwesen Gschwend durch die offene Stalltüre und ging suchend den mächtigen Hinterteilen der Kühe und Rinder entlang, bis er den Bauer entdeckte, der in der Dämmerung zwischen zwei Tieren auf dem einbeinigen Stühlchen hockte und molk. Er wünschte guten Abend, stellte leichthin die übliche unbestimmte Frage nach dem Ertrag, auf die er eine ebenso unbestimmte Antwort bekam, und sah zu, wie die Milch in den Kessel zischte, dann erklärte er gelassen, er komme von der Ackerbaustelle Unterschwand. «Ihr habt noch nicht angebaut, Tanner», fuhr er fort. «Jetzt hab ich doch einmal fragen wollen, ob Ihr die Verordnung eigentlich nicht gelesen habt. Zugeschickt habe ich sie Euch, das weiss ich.» Die Milch überschäumte im Kessel, der Bauer stand auf und antwortete, während er den Kessel zur Tause hinübertrug, er habe einmal so etwas Ähnliches zugeschickt bekommen. Nachdem er die Milch in die Tause geleert hatte, blieb er vor dem Besucher stehen und fragte: «Seid Ihr der Steiner?» Da es ihm bestätigt wurde, mass er ihn abwägend mit einem kurzen forschenden Blick aus tiefliegenden kräftig leuchtenden Augen und sah einen etwa dreissigjährigen, untersetzten, festen Dorfbewohner vor sich, dem der Pflichteifer des Beamten den angeborenen Ausdruck von Gutmütigkeit im runden Gesicht schon fast verdrängt hatte. Ruhig und schweigend ging er darauf wieder zwischen zwei Kühe hinein, setzte sich und molk weiter.»

Sitzt man da als Leser nicht mitten in einem Film? Man kann von Meinrad Inglin lesen, was man will, seine Kunst der Beschreibung ist eminent filmisch und damit topmodern. Kein Wunder, dass die

Erzählung, deren Anfang oben zitiert ist, vom Innerschweizer Regisseur Xavier Koller verfilmt worden ist: Der schwarze Tanner, und dass derselbe Regisseur auch die Erzählung Tod eines Schirmflickers als Vorlage zu einem der populärsten Schweizer Filme überhaupt benutzt hat: Das gefrorene Herz. «Inzwischen war Tanners Frau in das helle Rechteck der offenen Stalltüre getreten und dort stehengeblieben, eine mittelgrosse derbe Bäuerin, die rasch erriet, was hier verhandelt wurde, und den fremden Besucher drohend zu mustern begann», liest man ein paar Abschnitte weiter unten. Man sieht alles klar vor sich, und gerade das helle Rechteck der offenen Stalltüre verleiht der Szene eine geschärfte optische Plastizität – nur ein beliebig herausgegriffenes Beispiel für Inglins stilistische Meisterschaft. In ihrem für uns verfassten Beitrag würdigt Beatrice EichmannLeutenegger diese ausserordentliche Beschreibungskunst eines Inglin ebenfalls und verweist dabei auf die grandios in Szene gesetzten Naturschauspiele (Schneetreiben, Föhnstürme, «die heranwallenden Nebelschleier, die Dämonie bleicher Geröllhalden»). Man wäre gespannt gewesen, wie ein Michael Maar auf seinem spektakulären Spaziergang durch die deutschsprachige Literatur, nämlich in seinem Buch Die Schlange im Wolfspelz, Inglin als herausragenden Stilisten gewürdigt hätte, wenn er denn hätte. Aber eben, auch bei Maar fehlt einer der bedeutendsten Schweizer Schriftsteller des Zwanzigsten Jahrhunderts, obwohl er seinen Rang neben den in diesem Panoptikum hymnisch gefeierten helvetischen Autoren wie Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, Robert Walser und Regina Ullman locker hätte behaupten können. Meinrad Inglins Werk lebt vom Gegensatz zwischen der gebirgigen Natur und ihren in ihr agierenden Menschen einerseits und dem überzivilisierten Unterland andererseits. Im Roman Die graue March wird das Gebirge allerdings gar nie verlassen. Ein Bauern- und Jägerroman, geschrieben von einem, der selber ein begeisterter Bergler und Jäger war. In diesem Stück Schweizer Literatur stehen Mensch und Tier auf gleicher Stufe, die jagenden Hunde, die

gejagten Rehe und Hasen, der den Hühnerstall in ein Blutbad verwandelnde Marder, sie alle «denken», spekulieren, fühlen, ähnlich wie der ihnen übergeordnete und oft nachstellende Mensch. Thomas Hürlimann nennt dieses kurz vor dem Schweizerspiegel publizierte Buch den «bedeutendsten Roman» des Dichters*. Peter Egloff, der sich in der Welt der Jagd im Allgemeinen ebenso gut auskennt wie in Inglins Welt im Besonderen, kommt in seinem Beitrag über Inglin als Jäger und Jagdschriftsteller um diesen «erratischen Block, grau, fremd und gross – schrecklich gelungen (…) und schön verhauen!» (Thomas Hürlimann) selbstverständlich ebenfalls nicht herum. Der Roman Urwang erschien 1954, also im gleichen Jahr wie Max Frischs Stiller. Darin wird das Leben in einem entlegenen Innerschweizer Bergtal geschildert, dessen fromme, friedlich ihrem Bauerntum nachgehenden Bewohner von der Elektroindustrie heimgesucht werden und letztendlich einem Stausee weichen müssen, welcher diese Welt, bemerkenswerterweise erst nach Ende des Romans, ersäufen wird. Die Kritik, so Hürlimann, habe kopfschüttelnd festgestellt, dass sich der alternde Dichter ein Stück Natur und Heimatboden zum Thema mache, in einer Zeit, wo «der Nominativetat der Nazis» eine solche Sicht nicht mehr zulasse. In der Folge sei Inglin als «Poet für Feld, Wald und Wiese» abgestempelt worden – eine Qualifizierung, die er bis auf den heutigen Tag nicht mehr losgeworden sei. «Irrtum!» lautet die Entgegnung seines prominenten Lands- und Talgenossen. «Inglin verstand es, Jahrzehnte bevor das soziokulturelle Gerede über Umweltschutz und Waldsterben zum Allgemeinplatz verödete, Bilder zu schaffen, die nur einem Dichter gelingen.» Gallus Frei, der Inglin-Verehrer und Leiter des Thurgauer Literaturhauses, thematisiert in seinem Beitrag eines seiner stärksten Leseerlebnisse, eben den Roman Urwang. Meinrad Inglins Leben und in der Folge seine Lebensphilosophie wurde von zwei Katastrophen inspiriert und verdüstert: Vom Brand des Hotels Axenstein in Morschach (eindrücklich geschildert in Werner Amberg und ebenso fulminant inszeniert im Roman

* Alle Hürlimann-Zitate sind dem Aufsatz Hotelbrand und Bergtod. Über den Dichter Meinrad Inglin und sein Werk entnommen. In: Meinrad Inglin: Der schwarze Tanner und andere Erzählungen. Mit einem Nachwort von Thomas Hürlimann. Ammann-Verlag, Zürich 1985.

Grand Hotel Excelsior) und vom Bergtod seines geliebten Vaters (dokumentiert in Werner Amberg, und in der Erzählung Die Furggel in abgewandelter Form nochmals aufgegriffen). Das Gesetz, das allem Gewachsenen innewohnt, so bringt Hürlimann die Quintessenz von Inglins literarischer Botschaft auf den Punkt, ist das des Zerfalls. Die gewachsene Ordnung zerstört sich im Lauf der Zeit selber. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch das Opus Magnum des Autors zu lesen, der Schweizerspiegel, gemäss Hürlimann nicht Inglins «bedeutendstes», sondern sein «wichtigstes Werk», «unsere Buddenbrooks». Mit diesem monumentalen Familien- und Kriegspanorama hält einer, der im ersten Weltkrieg selber als Offizier diente, seinem Land den Spiegel vor. «Im Schweizerspiegel erfahren wir, wann und warum die Schweiz sich entschloss, ihr Staatsgefüge als ‹Grand Hotel Excelsior› an den Abgrund zu stellen», rekapituliert Hürlimann. Die eminente Inglin-Kennerin Beatrice von Matt geht diesem literarischen Hauptwurf in ihrem original für «orte» verfassten Beitrag auf den Grund. Meinrad Inglin ist vor fünfzig Jahren gestorben. Zu seiner Zeit war er ein auch in Deutschland und Österreich hochangesehener Schriftsteller, einer der bedeutendsten Vertreter schweizerischer Literatur, was zahlreiche Preise, auch solche aus dem nahen Ausland, belegen. Inzwischen ist es still geworden um Inglin. Über die Spannung zwischen Inglins Selbstverständnis als Schriftsteller und der Einschätzung seiner Zeitgenossen sowie der lesenden Nachwelt hat uns der Schwyzer Inglin-Spezialist Daniel Annen einiges von Wichtigkeit zu sagen, wobei er unter anderem auch auf den frühen Schlüsselroman Die Welt in Ingoldau eingeht, in welchem die bigotte Welt und die damalige problematische Ausprägung des Katholizismus in der Innerschweiz entlarvt werden. Dieses Heft will wenigstens ein Scherflein zur Erfüllung unseres Wunsches beitragen, dass die Grabesruhe um Inglin und sein Werk in Zukunft immer wieder empfindlich gestört werde. Erwin Messmer

Meinrad Inglin und Bettina Zweifel.

Foto: Meinrad Inglin-Stiftung.

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