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Einleitung Peter K. Wehrli
from orte 218
Zirzensischer Auftakt
Als Kinder spielten wir Zirkus. Der Purzelbaum war echt. Aber der Schreck des Dompteurs vor dem grimmig fauchenden Löwen war gespielt. Da wurde der Zirkus also Theater. Der richtige Zirkus aber wird nicht gespielt, er wird gelebt. Der Mut der Seiltänzer, die fast in der Höhe verschwinden, ist nicht gespielt, er ist tatsächlich vorhanden. Dabei verirren wir uns leicht in ein Widerspiel der Gegensätze, das Peter Handke 1966 in seinem folgenreichen Essay Die Dressur der Objekte ausgetragen hat. Er interpretiert den Zirkus als «Theater ohne Bedeutung», weil ja ein Trapezkünstler, der durch die Zirkuskuppel fliegt, nichts anderes bedeutet als «ein Trapezkünstler, der durch die Zirkuskuppel fliegt», und nicht etwa, «die Gedanken sind frei». Ist es im Theater der Schauspieler, der die Szenen in seiner Gestik und Mimik mit Bedeutungen auflädt, so ist es im Zirkus das Publikum, das den Zirkusakt nach seiner emotionalen oder rationalen Verfassung mit metaphorischer Sinngebung nährt. Viele von Peter Handkes frühen Ideen haben dann etwa in André Hellers Zirkus Roncalli ihren Niederschlag und auch direkte szenische Gestalt gefunden. Und die Gedanken haben 1974 in sehr geringerer Form sogar in Zürich ihren zirzensische Verwirklichung bestanden: An einer Sitzung der damaligen Gruppe Olten wurde prächtig unsystematisch diskutiert, weshalb Schriftsteller, also Dramatiker, ihr literarisches Tun allein auf Prosa, Vers oder Drama beschränken und sich nie gedrängt fühlen, etwa Zirkusnummern zu schreiben. Vorführbare, wohlverstanden. Das Ergebnis der Diskussion hiess Wortzirkus Bramarbasani, eine Wortschöpfung, die
Plakat des Wortzirkus Bramarbasani von Bettina Truninger.
Clemens Mettler, dem Autor des Glasberg eingefallen ist. Am 1. September 1974 fand die zirkushaft grosssprecherisch angekündigte «Weltpremiere» im Thearena-Zelt auf dem Zürcher Schiffländeplatz statt. Da feierte sich Zirkus ungebrochen als Theater. Und das Programm triefte vor lauter Bedeutungsreichtum. Da gab es keine Zirkusnummer, die nicht ideell und mit «poetischer Ideologie» aufgeladen sein wollte: der Zirkus seiner Zirkushaftigkeit entkleidet. Und was davon überlebte, feierte sich als Zitat. Da durfte André Kaminski seinen «atemberaubenden Hochseilakt» mit dem Titel Die dressierte Idee aufladen, die Bodenakrobatik-Darbietung machte erkennbar, dass die Obersten auf der Pyramide selber das Tragen nicht gewohnt sind. Doris Morf verbreitete in ihrer «Menagerie» die Frage, inwiefern der Mensch ein Tier sei. Und Franz Hohler als Raubtierdompteur lieferte eine szenische Studie über die Zivilisierung der Wildheit. Und selbst das Gerumpel der einbrechenden Tische und Wände in der von Clemens Mettler ausgeheckten Clownnummer hatte seine Erklärung darin, dass der reiche Hausbesitzer, der Weissclown, den armen Obdachlosen August aus seiner Bleibe vertrieben haben wollte. Weil da kühn «Zirkus als literarische Gattung« installiert werden sollte, schien es selbstverständlich, dass Nummer 25 der Literaturzeitschrift orte das Programm des Zirkus Bramarbasani ausführlich dokumentierte; orte taugte da als – allerdings verspätetes – Programmheft. Und einiges von der damaligen «Erneuerungslust, von der Vitalisierung erstarrter Konvention, von der Sinngebung im Sinnlosen, von der Poetisierung des Kruden» findet seine unverhohlene Fortsetzung nun in der vorliegenden orte-Nummer, die sich jenen Zirkus zum Thema macht, der trotz Tierschutzmassnahmen und Anklage wegen kultureller Aneignung trotzig seine eigene Gegenwelt feiert.
Peter K. Wehrli