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Einleitung

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Vorwort

Vorwort

Regula Haltinner-Schillig und Susanne Keller-Giger

Erinnern und Vergessen gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. Es braucht sie beide. Das Gedächtnis archiviert und löscht Informationen in einem laufenden Prozess. Dabei kommt es zu Verzerrungen, Erinnerungen verblassen und können ganz aus dem Gedächtnis verschwinden beziehungsweise vergessen gehen. Jeder und jede Einzelne von uns verfügt über ein individuelles Gedächtnis. Gegenstände, Töne, Gerüche, Landschaften und andere Sinneseindrücke können Erinnerungen aufrechterhalten oder reaktivieren. An gewisse Gegebenheiten erinnern wir uns gerne, andere werden verdrängt und vielleicht sogar vergessen.

Die Möglichkeit, sich an Vergangenes erinnern zu können, hängt oft auch davon ab, ob bestimmte Gegebenheiten dokumentiert worden sind und die Dokumentation erhalten geblieben und zugänglich ist. Erhalten ist beispielsweise eine Fotoserie über das Leben eines Taglöhners. Wäre dieser nicht immer wieder fotografiert worden, wären wir uns der Schicksale dieser Menschen nicht oder weniger bewusst.

«Gedächtnisinstitutionen» wie Archive, Bibliotheken und Museen sichern, bewerten, erschliessen und erhalten öffentliches wie privates Schriftgut, Bild- und Tonaufnahmen, Bücher, Gegenstände und Weiteres mehr. Damit nehmen sie eine bedeutende Rolle ein beim Erhalt von Erinnerungsträgern. Sie schaffen die Grundlage für die Auseinandersetzung späterer Generationen mit der Vergangenheit. Archivarinnen und Archivare wählen aus, was erinnert und erhalten werden soll. Dabei richtet sich ihre Einschätzung nach festgelegten Parametern und gesetzlichen Vorgaben, die sich über einen längeren Zeitraum ändern können.

Das Neujahrsblatt 2023 widmet sich unterschiedlichen Aspekten des Erinnerns und Vergessens, auf der individuellen wie kollektiven Ebene. Die einzelnen Autorinnen- und Autorenbeiträge sind lose aneinandergereiht und stehen inhaltlich nur teilweise miteinander in Zusammenhang. Ziel der Redaktion war es, den Band trotz einer gewissen «Archivlastigkeit» abwechslungsreich und lesefreundlich zu gestalten.

Eine fundierte Einleitung in das vielschichtige Thema bietet der Aufsatz von Staatsarchivar Stefan Gemperli. Er setzt sich mit der Frage auseinander, nach welchen Kriterien ein Archiv als öffentliches Gedächtnis im demokratischen

Rechtsstaat vorzugehen hat beziehungsweise wie Geschichte möglichst authentisch vermittelt werden kann, auch wenn das kollektive Gedächtnis vergessen können muss.

Max Lemmenmeier macht uns mit Aufstieg und Fall eines vergessenen Handwerks und Gewerbes, der Kürschnerei und des Pelzhandels, vertraut. Wie sich doch die Zeiten ändern. Heute kann man sich kaum mehr daran erinnern, dass diese Branche auch in St. Gallen bis vor einigen Jahrzehnten einen hohen Stellenwert hatte. Der Autor legt anschaulich dar, dass Pelz ein modisches Element und als «Must-have» das wertvollste Kleidungsstück jeder Frau war, die sich ein solches Statussymbol leisten konnte.

Stefan Sonderegger und Nicole Stadelmann geben Einblick in die Arbeit der Archivarinnen und Archivare des Stadtarchivs der Ortsbürgergemeinde St. Gallen. Schriftliche Zeugnisse der Stadt St. Gallen vom Mittelalter bis zur Entstehung der Politischen Gemeinde St. Gallen werden dort aufbewahrt. Die Autorin und der Autor veranschaulichen die Hintergründe von Verlusten von Urkunden, sei es durch Naturkatastrophen und Krieg oder die Entsorgung durch Institutionen und Private entsprechend dem Zeitgeist und abhängig von der Stellung der Institution.

Das Werdenberger Kulturarchiv des Historischen Vereins der Region Werdenberg steht im Zentrum von Hanna Raubers Ausführungen. Sie zeigt dessen Entstehungsgeschichte und gibt Einblicke in die Bestände der Sammlung. Die Aufgaben eines Regionalarchivs sind vielfältig, eine besondere Herausforderung ist die sachgerechte Aufbewahrung und Betreuung der Sammlungen. Gezielte Öffentlichkeitsarbeit, der es gelingt, den Wert des Archivs für die Bevölkerung sichtbar zu machen, ist unverzichtbar.

Die Alterskrankheit Demenz nimmt in unserer alternden Gesellschaft rasant zu. Diana Staudacher und Heidi Zeller befassen sich mit der noch jungen Geschichte der Erforschung von Demenzerkrankungen. Dabei stehen nicht allein medizinische Aspekte im Fokus; vielmehr wird deutlich, dass Demenz eine soziale Aufgabe der Gesellschaft ist, der sie sich stellen muss. Die Selbstwahrnehmung von Demenzerkrankten wie der Einblick in die Perspektive der Angehörigen zeigen die Komplexität des Umgangs mit dieser Krankheit.

Der langjährige Stadtarchivar der Politischen Gemeinde St. Gallen, Marcel Mayer, beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Frage, wie Verwaltungsgeschichte, ein wenig be- ackertes Gebiet, rekonstruiert werden kann. Er umschreibt den Begriff «öffentliche Verwaltung» und zeigt, welche Quellen sich für verwaltungsgeschichtliche Untersuchungen besonders eignen. Weil Bund und Kantone über Archivgesetze verfügen, ist das (selektive) Gedächtnis der öffentlichen Verwaltungen relativ gut. Ersichtlich wird, dass sich trotzdem Lücken in der historischen Überlieferung ergeben können.

Erinnerungsarbeit ist eine zentrale Aufgabe des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte. Peter Müller hat mit Judith Grosse, der Leiterin des Archivs, und ihrer Vorgängerin, Marina Widmer, ein ausführliches Gespräch zu diesem Thema geführt. Es dreht sich als Erstes um die Frage, mit welchen Formaten das Archiv zur Aufarbeitung der Geschlechtergeschichte arbeitet und ob es historische Themen gibt, mit denen sich die kollektive Erinnerung besonders schwertut. Zur Sprache kommt weiter die Schwierigkeit, aufbewahrungswürdige Geschichten von Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte der Öffentlichkeit zu vermitteln, weil sie aus verschiedenen Gründen gar nicht bekannt sind. Weiter informieren Judith Grosse und Marina Widmer über die Zusammensetzung der Archivbestände und die Sammelpraxis von Bewegungsarchiven. Schliesslich wird auf die Wichtigkeit von Methoden wie der Oral History hingewiesen.

Im 16. Jahrhundert baute der reformierte Zweig des bedeutenden St. Galler Geschlechts der Blarer (oder Blaurer) von Girsberg durch eifriges Kopieren, Sammeln und Archivieren von Briefen und Tagebüchern ein Familienarchiv auf. Jürg Rohner beschreibt die rege Sammeltätigkeit der Blarer, insbesondere der beiden Brüder Ambrosius und Thomas. Als Wortführer der Reformation waren sie mit bedeutenden Theologen und Politikern ihrer Zeit vernetzt. Der Autor gibt auch Auskunft über die späteren Überlieferungswege des Familienarchivs.

Der Beitrag von Rudolf Gamper befasst sich mit der Erhaltung und Aussonderung von Informationsträgern in der frühneuzeitlichen Bibliothek der Stadt St. Gallen. Er zeichnet die Anfänge der Stadtbibliothek nach, die während der Reformationszeit von St. Galler Bürgern eingerichtet wurde. Der Autor gibt Antworten auf die Frage, warum das Andenken an den Reformator Joachim Vadian eine so grosse Bedeutung für die Bibliothek hatte, noch heute sichtbar in den Namen Kantonsbibliothek Vadiana und Vadianische Sammlung der Ortsbürgergemeinde. Es wird

Sammlungskonzepten der Bibliothekare vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nachgegangen. Bücher, anfänglich als Gebrauchsgut gedacht, wurden über die Jahrhunderte zum Kulturerbe und die Stadtbibliothek zu einem Zentrum der Erinnerungskultur.

Der evangelisch-reformierte Pfarrer und Klinikseelsorger Daniel Klingenberg widmet seinen Beitrag der Nutzung von Friedhöfen, die sich in den letzten rund hundert Jahren stark gewandelt hat. Friedhöfe sind Orte des Gedenkens und der Stille. Man erinnert sich dort an die eigene Sterblichkeit. Der Platzbedarf hat sich aber deutlich verringert, auch weil immer weniger Erdbestattungen und immer mehr Kremationen stattfinden. Der Autor zeigt auf, wie neue Nutzungen an Bedeutung gewinnen.

Um drei Bücher der goldenen Erinnerung geht es im Beitrag von Jakob Kuratli Hüeblin. Das Liber Viventium, Liber Aureus und Vidimus Heider gehören bis heute zu den bedeutendsten Quellen zur Pfäferser Kloster- und Rechtsgeschichte. Der Abt des Klosters, Michael Saxer, berief sich Anfang des 17. Jahrhunderts auf der Grundlage der drei Erinnerungsträger auf die Pfäferser Rechtstradition. Er hoffte, damit die alten Freiheiten des Klosters Pfäfers gegenüber der Eidgenossenschaft zu retten.

Der Kantonsarchäologe von St. Gallen, Martin Schindler, fokussiert auf eine der Hauptaufgaben der Fachstelle, die Öffentlichkeitsarbeit. Er schildert, wie anhand von Funden und Befunden Bilder der Vergangenheit vermittelt werden. Ein erster Schritt in diese Richtung findet bereits bei einer Ausgrabung statt. Auch bei der Sanierung von Burgruinen ist eine Vermittlung des archäologischen Erbes auf unterschiedliche Weise möglich. Der Autor zeigt die Bedeutung von Informationstafeln bei Fundstellen auf. Das Verständnis für den Schutz des Kulturerbes wird im Weiteren durch Publikationen, Kulturtage, Museen und Ausstellungen gefördert.

Wir bedanken uns sehr bei den Autorinnen und Autoren für die angenehme und verlässliche Zusammenarbeit. Unser Dank geht ebenfalls an Markus Zweifel für sein aufmerksames Lektorat und die wichtigen Hinweise.

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