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Vorwort

Sehr geehrte Leserinnen, sehr geehrte Leser

Das diesjährige Neujahrsblatt trägt den Titel «Erinnern und Vergessen». Dieses gegensätzliche Begriffspaar prägt jeden einzelnen Menschen, aber auch die Geschichtsforschung und die Geschichtsschreibung.

Die Forschung muss zum einen angesichts der unzähligen thematischen Möglichkeiten stets Akzente setzen; zum anderen ist sie darauf angewiesen, dass sich ihre Themen mit ausreichend Quellenmaterial untersuchen lassen. Der Aspekt der Überlieferung war es auch, der die Redaktionskommission dazu veranlasst hat, «Erinnern und Vergessen» als Thema für das Neujahrsblatt 2023 zu wählen. Damals war das geplante Neubau-Projekt des Staatsarchivs, das im Mai 2022 mit einem Stimmenanteil von fast 72 Prozent deutlich angenommen wurde, erstmals ins Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit gerückt. In der Redaktionskommission entspann sich ein Gespräch über Fragen wie: Was bedeutet es für die künftige Geschichtsschreibung, wenn aufgrund der Masse der staatlichen Aktenproduktion ausschliesslich fünf bis zehn Prozent der Unterlagen dauerhaft überliefert werden? Wie prägt die Digitalisierung die Überlieferungsbildung? Gibt es Themen oder auch Dinge, die in Vergessenheit geraten, weil sie den Sprung ins digitale Zeitalter nicht schaffen?

Erinnern und Vergessen prägen die Geschichtsschreibung aber nicht erst seit den vergangenen Jahrzehnten mit ihrer massenhaften Aktenproduktion, sondern seit Jahrtausenden. Erinnerung wird aktiv gestaltet und bisweilen ebenso aktiv verhindert. Seit der griechischen Antike ist die Praxis der damnatio memoriae bekannt, die Tilgung von Namen und Bildern missliebiger oder missliebig gewordener Perso- nen. Wurden in der Antike Namen von Tafeln ausgemeisselt oder später im Mittelalter mit Messern von Urkunden gekratzt, liessen Herrschaftsträger in der Moderne beispielsweise Fotografien oder Gemälde verändern, um die Erinnerung an Menschen auszulöschen.

Die Auseinandersetzung darüber, woran künftige Generationen erinnert werden bzw. welche Erinnerungen in der bisherigen Form nicht tradiert werden sollen, wird aber auch von der Zivilgesellschaft in der Gegenwart geführt. Derzeit wird – um ein Beispiel zu nennen – in verschiedenen Schweizer Städten um sinnvolle Möglichkeiten im Umgang mit kolonialen Spuren gerungen.

Einige dieser Themen fanden Eingang in das diesjährige Neujahrsblatt. Den beiden Redaktorinnen, Regula Haltinner-Schillig und Susanne Keller-Giger, danken wir sehr herzlich für ihr grosses Engagement. Ebensolchen Dank möchten wir auch den Autorinnen und Autoren aussprechen, ohne die ein solcher Band nicht zustande kommen könnte. Der die Entstehung stets aktiv begleitenden Redaktionskommission sei für ihre Arbeit ebenfalls gedankt. Die Zusammenarbeit mit Daniela Saravo vom Appenzeller Verlag war wie immer hervorragend – herzlichen Dank auch dafür.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir eine anregende Lektüre!

Für den Vorstand des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen

Ernst Grob und Dorothee Guggenheimer

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