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Die Polizei vor der Kantonspolizei

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Akten und Akteure

Akten und Akteure

Polizeigeschichte wird gerne als Erfolgsgeschichte geschrieben. Dabei fallen Schlagworte wie Rationalisierung, Bürokratisierung oder Modernisierung, um zukunftsweisende Entwicklungen zu charakterisieren. Um diese Vorstellung weiter zu festigen, werden alle Probleme und Fehlentwicklungen unter den Tisch gekehrt. Oder aber sie werden hervorgehoben, um den Gegensatz einer quasi anarchischen «Welt ohne Polizei» dem wohlgeordneten Zustand der jeweiligen Gegenwart gegenüberzustellen.45

Auf den ersten Blick entspricht das der Quellenlage in Appenzell Ausserrhoden. Separate Sitten und Polizeiordnungen erscheinen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Vorher sind sie unter einer Unmenge von zivil, straf und verfassungsrechtlichen Artikeln der Landbücher begraben. Dasselbe gilt für die Vollzugsorgane. Erst mit dem Erlass von speziellen Wachtordnungen im 18. Jahrhundert werden diese Amtsträger fassbar, meist aber nur auf lokaler Ebene. Vorher verbergen sich die Vollzugs und Ordnungskräfte in den Gemeinden hinter Begriffen wie Feuerschauer und Dorfwächter. Ausserhalb der Dörfer waren dann Harschiere46 oder Landjäger für die Sicherheit und Ordnung verantwortlich.47 Es ist nicht unproblematisch, strukturelle Veränderungen in der Polizeiorganisation allein über Gesetze und Verordnungen erschliessen zu wollen. Gesetzliche Vorgaben und die gelebte Praxis weichen in der Regel voneinander ab. Ausserdem entfalten Verwaltungsreformen erst nach einer gewissen Zeit ihre Wirkung. Was sich retrospektiv als weichenstellende Verordnung präsentiert, ist häufig ein fortlaufendes SichZurechtfinden der alten Amtsträger in neuen Strukturen. Trotzdem soll der Versuch gewagt werden, einige Rahmenbedingungen der Polizei des 16. bis 19. Jahrhunderts in Appenzell Ausserrhoden zu skizzieren.

Bereits im Appenzeller Antworten und Mandatenbuch wird für den 30. Oktober 1547 festgelegt, dass,

Wachter unnd fuerschower […] bin tag uff die wacht sœllenn gon unnd nütt wider darab, unntz sy den tag sechenn unnd sollinnd mitt thrüwenn wachenn unnd all stund umm gon.48

Stündlich sollten die Wächter demnach sowohl am Tag als auch in der Nacht auf einer festgelegten Ronde49 in ihrem Flecken durchs Dorf gehen und für Ruhe und Ordnung sorgen. Zunächst wurde diese Aufgabe von den wehrfähigen Dorfbewohnern selbst in der Art eines Milizdienstes wahrgenommen. Tagsüber sorgte die gegenseitige soziale Kontrolle der Einwohner untereinander ebenfalls für Ruhe und Ordnung.50 In der Nacht jedoch war eine befohlene Abordnung unabdingbar, insbesondere um Brände und Einbrüche zu verhindern. Mit der Zeit wurde der Wachtdienst immer mehr als leidige Pflicht wahrgenommen.

Diejenigen Gemeindemitglieder, die es sich leisten konnten, begannen damit, für sich einen Stellvertreter aufzubieten und zu bezahlen. Da dies Schule machte, wurde die Dorfwache von einem allgemein verstandenen Milizdienst zu einem Nebenerwerb für bestimmte Personengruppen. Vorzugsweise waren es ehemalige Söldner, die aus fremden Kriegen zurückgekehrt waren, Besitzlose, Kinder und ältere Menschen. Überwacht und geführt wurden sie durch die «Hauptleut und Räth», das heisst durch den regierenden und stillstehenden Gemeindehauptmann und seine Miträte.51 Die Beziehung zwischen den Dorfbewohnerinnen und bewohnern und ihren Dorfwächtern war jedoch nicht immer konfliktfrei. Bemerkungen zu Dienstversäumnissen wie Trunkenheit oder Schlafen während des Wachtdienstes sind Legion. Zeittypisch wurden Gebote und Verbote aneinandergereiht wie beispielsweise in der Wachtordnung von Herisau von 1703:

Die Wächter sollen auf die Ungehorsamen fleissig Acht geben und sie an gebührenden Orten anzeigen. Sie sollen sich hüten vor unzeitigem Schlafe und nicht volltrunken auf die Wache gehen. Zur Abstrafung für die Übertretungen der Nachtwächter werden jeweils drei Herren bestimmt. Die Nachtwächter müssen durch das Dorf nach der ihnen bestimmten Gasse laufen und hier die Stunde ausrufen.

Drei Jahre später werden die verschiedenen Wachtversäumnisse weiter spezifiziert:

Wenn einer, der auf die Runde ermahnt worden ist, nur zum Schein auf die Wacht kommt und gehet hernach ins Wirtshaus, der ist zu Busse verfallen 30 Kreuzer. Man soll auch nicht später denn eine Stunde bei der Wacht erscheinen und bis um 12 Uhr, bis die Wacht abzieht, verbleiben. Der Besitzer des Hauses

soll selber gehen, oder seinen mannbaren Sohn schicken, aber keiner, der noch keinen Eid an der Landsgemeinde geschworen.52

Auch die Wachtmannschaft selbst hatte kein einfaches Leben, wurde sie doch gelegentlich zur Zielscheibe von Gespött und Tätlichkeiten:

Man sol die waichter uf der wacht ruwig lassen. Zum annderenn das niemannd die wachter uff der gass zerenn noch sumen sol. Unnd wer wair, der die waichter misshanndletti unnd mitt gfairttenn beschütti older wurffi old mitt jnn fraiffnetti, der ist on gnad zuo buoss verfallen.53

Was heutzutage unter die Rubrik «Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte» fällt,54 war schon damals ein Thema. Mit der Androhung, die Übeltäter zu büssen, versuchte die Gemeindeobrigkeit des Problems Herr zu werden.

Die Vielzahl gesetzlicher Regelungen vermittelt einen Eindruck davon, wann die Dorfwachen einzugreifen hatten. Öffentliche Völlerei und Trunkenheit stellten eine Gefährdung der guten Ordnung dar. Deshalb sollten Konflikte in den Wirtshäusern wenn immer möglich vermieden werden. Das Zutrinken wurde untersagt und Sperrstunden eingeführt. Die Wirte waren angehalten, bei Widerhandlungen Anzeige zu erstatten. Ein weiteres Problem stellten Bettler und Landstreicher dar. Menschen, die landfremd und nicht sesshaft waren, wurden immer wieder als Herd für Unruhen identifiziert. Bereits im «Silbernen Landbuch» von 1585 wurde versucht, dieses Problems indirekt Herr zu werden. So wurde die Beherbergung von «froembden uss lenndischen bettler[n]» unter Strafe gestellt, wenn der Aufenthalt länger als eine Nacht dauerte. Von dieser Regel ausgenommen waren «allt krannckhluet» und «kindbetteren», also Kranke und Mütter im Wochenbett.55 Offensichtlich war dieses Vorgehen nicht von Erfolg gekrönt, da in regelmässigen Abständen bis weit ins 19. Jahrhundert solche Bettelmandate erlassen wurden. So werden im Frühlingsmandat von 1607 in Artikel 9 sowohl die unterschiedlichen Arten von Landstreichern aufgezählt als auch die Gefahren, die von ihnen ausgehen, erläutert:

Und die wil nun diese zit har, so über schwencklich vil arm volck, sondernlich vil landt stricher, buben volck und gmainj wiber sind, ouch an etlichen orten böse wort uss giesend, sol hie mit ein ieder wissen, dz man sy vort wise, sy nit beherberge, dan was bresthafft ist, mag einer ein nacht beherbergen und nit witer.56

Falls sich die Ortsfremden weigern sollten, die Gemeinde zu verlassen, so «sol ieder die selben gfenklich an grifen, sy min heren zu fueren und anzaigen»57. Um dem Problem auch ausserhalb der Dörfer Herr zu werden, wurden die Harschiere oder Patrouillenwächter eingesetzt. Das waren entweder

speziell bezeichnete Dorfwächter oder zu diesem Zweck aufgebotene Personen, auch hier häufig ehemalige Soldaten. Damit war die Grundlage für eine erste, überregionale Polizei geschaffen, wenn auch zunächst nur auf Zeit. In regelmässigen Abständen wurden Betteljagden oder «landjegenen» auf Personen veranstaltet, die keinen festen Wohnsitz hatten und herumzogen. Denn diese standen unter dem grundsätzlichen Verdacht, für Unruhe zu sorgen. Betteljagden wurden auch in der gesamten Eidgenossenschaft koordiniert durchgeführt. Dies insbesondere dann, wenn Hunger, Krankheit oder Krieg viele Menschen dazu veranlassten, ihre Heimat zu verlassen und viele Leute herumzogen.58 Die ausserrhodische «PolizeyVerordnung» vom 26. September 1814 zählt folgende Personen zu den NichtSesshaften:

Commoedianten, Taschenspieler, Marktschreyer, Seiltänzer, Spielleute, Thierführer, verkleidete Leute, wie auch Steuersammler, die nicht die hohe Bewilligung zum kollektieren durch die Canzleyen verifiziert vorweisen können, und endlich alle Kessler, Schleifer, Zainemacher, Glasner, Dachflicker etc., welche von den Herren Hauptleute nicht schriftliche Erlaubnis zu arbeiten haben, sollen sogleich weg und unter Begehren des Weiterweisens der nächsten St.Gallischen PolizeyBehörde zugeführt werden.59

Kurzfristig konnte so zwar örtlich ein Problem gelöst werden, auf Dauer erwies es sich aber als untaugliches Mittel. Denn man begnügte sich damit, die Landstreicher und Vagabunden über die Gebietsgrenze in die Nachbarschaft abzuschieben, von wo sie bei nächster Gelegenheit wieder zurückkehrten.60 An der Tatsache, dass ein Teil der Bevölkerung, insbesondere ledige Frauen mit Kindern, an struktureller Armut litten, änderten solche Treibjagden ebenfalls wenig.

Hingegen führte das generelle Misstrauen gegenüber Wandernden und Reisenden zu neuen Aufgaben und Polizeitechniken. Wer unterwegs war, benötigte dafür die Genehmigung der Behörden. Aus diesem Grund wurden Ausweise und Reisepapiere ausgestellt, auf denen Zweck und Dauer der Reise vermerkt waren. Es war für die Reisenden vorteilhaft, wenn sie sich jederzeit ausweisen konnten, damit sie nicht Gefahr liefen, als Vaganten behändigt und ausgewiesen zu werden. Um verdächtige oder bereits abgewiesene Personen identifizieren zu können, kamen Signalementsbücher auf, die mit den Nachbarkantonen ausgetauscht wurden. Solche Steckbriefe dienten der gezielten Fahndung, aber auch der Identifikation von Personen.61

Verordnungen, die Aufgaben und Pflichten von Wachen und Harschieren regeln, sind ab der Mitte des 18. Jahrhunderts aus der Nachbarschaft von Appenzell Ausserrhoden erhalten geblieben. So steht in Artikel 2 der Anstellungsurkunde der Amtsdiener des Fürstabts von St.Gallen von 1750:

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