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Therapiewahl in der Erstlinie des HCC: Aktuelle Leitlinien und klinische Erfahrungen

Trotz aller medizinischer Fortschritte stellt Leberkrebs eine wachsende gesundheitliche Herausforderung für die westliche Welt dar. Mögliche Ursachen sind nicht alkoholbedingte Fettlebererkrankungen (NAFLD) bzw. nicht alkoholbedingte Steatohepatitiden (NASH), im Vordergrund stehen allerdings Alkoholkonsum und Hepatitis-C-Virus-Infektionen als Auslöser [1,2]. In asiatischen Ländern und Afrika hingegen überwiegen die viralen Ätiologien, insbesondere Hepatitis-B-VirusInfektionen [2]. In Deutschland macht das hepatozelluläre Karzinom (HCC) mit 65% das Gros der Leberkrebsfälle aus. Es wird häufig erst in fortgeschrittenen Stadien (Barcelona Clinic Liver Cancer [BCLC] B und C) diagnostiziert, in denen eine Heilung nicht mehr möglich ist und bei denen lebenszeitverlängernde Therapien eingesetzt werden [1, 3]. Als neuer Standard für die systemische Erstlinie des fortgeschrittenen hepatozellulären Karzinoms (HCC) hat sich die Kombination aus Atezolizumab und Bevacizumab etabliert. Bei der Mehrzahl der Patienten ist sie sicher und wirksam einsetzbar, aber es gibt auch Patienten, für die sie aufgrund von Kontraindikationen oder Unverträglichkeiten nicht geeignet ist. Auf einem Symposium anlässlich der Jahrestagung 2021 der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) erörterte Professor Marcus-Alexander Wörns, Dortmund, die Frage, welche Patienten dies betrifft und welche Patientengruppen möglicherweise alternativ von einer Therapie mit den Tyrosinkinase-Inhibitoren (TKI) Lenvatinib oder Sorafenib profitieren.

Dynamische Therapielandschaft

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Im palliativen Setting des HCC haben sich die Therapieoptionen in den letzten Jahren zunehmend diversifiziert (Übersicht bei [4]). In den Jahren nach der Zulassung der ersten Systemtherapie im Jahr 2007 – des Multityrosinkinaseinhibitors (MKI) Sorafenib – scheiterten zunächst mehrere Phase-III-Studien. Erst eine Dekade später bewies Lenvatinib als weiterer MKI in der REFLECTStudie seine Nichtunterlegenheit gegenüber Sorafenib beim medianen Gesamtüberleben (OS) mit 13,6 versus 12,3 Monaten [5]. Hochsignifikante Überlegenheit (p<0,0001) demonstrierte Lenvatinib hingegen in den klinisch relevanten sekundären Endpunkten im unabhängigen radiologischen Review nach mRECIST (modified Response Evaluation Criteria in Solid Tumours): eine Verdopplung des progressionsfreien Überlebens (PFS: 7,3 vs. 3,6 Monate) und der Zeit bis zum Progress (TTP: 7,4 vs. 3,7 Monate) sowie eine hohe Ansprechrate (ORR: 40,6% vs. 12,4%) [5]. Mit der Zulassung von Lenvatinib im Jahr 2018 für die Erstlinienbehandlung des HCC und der Einführung weiterer Wirkstoffe für die Folgelinien – den beiden MKI Regorafenib und Cabozantinib und dem anti-VEGF (vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor)-Rezeptor 2 Antikörper Ramucirumab – sind nun mehrstufige Therapien möglich [4, 6]. Im Jahr 2020 hielt schließlich mit der Kombination aus dem Checkpoint-Inhibitor Atezolizumab und dem gegen VEGF gerichteten Antikörper (AB) Bevacizumab auch die Immunonkologie (IO) Einzug in die Therapielandschaft des HCC [7].

Leitlinienempfehlungen für die Erstlinienbehandlung

Die Kombination aus Atezolizumab und Bevacizumab (IO+ABKombination) wird vom Update der ESMO-Leitlinie sowie von der neu überarbeiteten S3-Leitlinie aufgrund der Ergebnisse in der Zulassungsstudie IMbrave150 für die Erstlinie des fortgeschrittenen HCC empfohlen [3, 8, 9]. In den koprimären Endpunkten hatte die Kombination signifikante Vorteile gegenüber Sorafenib gezeigt (medianes OS: 19,2 vs. 13,4 Monate; medianes PFS: 6,9 vs. 4,3 Monate im unabhängigen Review gemäß RECIST 1.1). Und auch das ORR im HCC-spezifischen mRECIST war positiv (33,2% vs. 13,3%) [10]. Was in den Leitlinien aber auch zum Ausdruck kommt: Nicht für alle HCC-Patienten ist die IO-

Kombination geeignet. Aufgrund von Kontraindikationen oder Unverträglichkeiten gegen Atezolizumab und/oder Bevacizumab bleiben sowohl Lenvatinib als auch Sorafenib weiterhin wichtige Optionen in der Erstlinie des HCC [3, 8].

Was spricht gegen die IO+AB-Kombination?

Professor Wörns zählte auf, in welchen Fällen aus seiner Sicht die IO+AB-Kombination nicht angezeigt ist: „Das ist ganz klar ein Zustand nach solider Organtransplantation, also vor allem nach einer Lebertransplantation, eine relevante Autoimmunerkrankung, aber auch“ – dies fügte er mit Blick auf das erhöhte Blutungsrisiko unter Bevacizumab [11] hinzu – „eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung, ein fistulierender Morbus Crohn.“ Ein kürzlich erschienener Review, den Wörns ebenfalls vorstellte, unterstreicht diese Einschätzung [12]. Die Autoren schlugen darin für die genannten Patientengruppen alternative Therapiealgorithmen mit Lenvatinib oder Sorafenib in der Erstlinie vor. Neben den relativen Gegenanzeigen gibt es aber auch Argumente für eine TKI-basierte Therapie. So haben inzwischen mehrere Untersuchungen gezeigt, dass die Wirksamkeit der Substanzen auch von der Ätiologie des HCC abhängt.

Die richtige Patientenselektion

In diesem Zusammenhang wies Professor Wörns auf die Studienpopulation der Studie IMbrave150 hin [10]: 40% der Studienteilnehmer waren asiatisch, fast die Hälfte hatte eine Hepatitis-B-Virus-Ätiologie und alle Patienten hatten eine sehr gut erhaltene Leberfunktion. Darüber hinaus war nur etwa die Hälfte mit einer lokalen Therapie vorbehandelt. „Das ist hier in der westlichen Welt ganz anders“, so Wörns. „Um es zusammenzufassen: Wir haben hier ein hochselektioniertes Patientenkollektiv, erhaltene Leberfunktion, sehr virallastig.“ Umso aufschlussreicher sind die neu vorgestellten Subgruppenanalysen von IMbrave150. So ist in der chinesischen Kohorte z.B. der OS-Vorteil deutlich höher als in der Gesamtpopulation (HR: 0,53 vs. 0,66) [9]. Andere Subgruppen wiederum weisen keine signifikante Überlegenheit der IO-Kombination gegenüber dem TKI auf [13]. Wörns fasste die Ergebnisse folgendermaßen zusammen: „Patienten im intermediären Stadium der Erkrankung, also BCLC B, aber auch vor allem Patienten mit einer nicht viralen Hepatitis scheinen weniger von der neuen Kombinationstherapie zu profitieren. Das ist natürlich für uns vor allem hier in der westlichen Welt eine ganz zentrale Frage: Ist die Kombination denn auch bei alkoholbedingter (ASH) oder nicht alkoholbedingter Steatohepatitis (NASH) Mittel der ersten Wahl?“ Dieselbe Schlussfolgerung zieht eine 2021 in Nature veröffentlichte Publikation. Daten einer MetaAnalyse von Patientengruppen der randomisierten Phase-III-Studien CheckMate 459, IMbrave150 und KEYNOTE-240 geben Hinweise darauf, dass das mit nicht alkoholbedingten Fettlebererkrankungen (NAFLD) assoziierte HCC schlechter auf eine IO-Monotherapie anspricht als das viral bedingte [14].

Das Überleben verlängernde TKI-Sequenz

„Und auch eine TKI-Therapie in der Sequenz könnte ein langes Überleben bedeuten“, führte Wörns weiter aus. In einer explorativen retrospektiven Analyse der REFLECT-Studie lag das mediane OS bei Patienten, die auf Lenvatinib in der Erstlinie und auf Sorafenib in der Folgelinie angesprochen hatten, bei 26,2 Monaten (95%-KI: 18,2–34,6) [15]: „Das sind Daten, die sich mit dem Gesamtüberleben in der Studie IMbrave150 in etwa messen können. Also ein Verzicht von Atezolizumab plus Bevacizumab in der Erstlinie und eine reine TKI-Sequenztherapie könnte, wenn man sich das Gesamtüberleben in bestimmten Populationen anschaut, für den Patienten von ähnlichem Benefit sein.“

Kombination ist Key

Doch auch weitere Fortschritte bei der Therapie des HCC sind in baldiger Zukunft zu erwarten. Im Hinblick auf die zukünftigen Optionen sagte Wörns: „Kombination ist Key.“ Denn Kombinationen IO plus IO oder IO plus eine antiangiogenetische Substanz sind aktuell vielversprechende Konzepte [16]. Mehrere entsprechende Phase-III-Studien für die Erstlinie des HCC laufen momentan [17]. Dazu gehören unter anderem die LEAP-002-Studie mit dem Checkpoint-Inhibitor Pembrolizumab plus Lenvatinib versus Lenvatinib (hierzu gab es bereits vielversprechende Phase-Ib-Daten [18]) sowie die HIMALAYA-Studie, die den PD-L1-Antikörper Durvalumab plus den CTLA4-Antikörper Tremelimumab versus Sorafenib testet.

Fazit

Abschließend konstatierte Professor Wörns noch einmal die aktuelle Situation: „Wir haben mit Atezolizumab und Bevacizumab einen neuen Standard of Care in der Erstlinientherapie des fortgeschrittenen HCC.“ Mit Blick auf die notwendige Patientenselektion und die Kontraindikationen fügte er hinzu: „Mit den langjährig verfügbaren TKI mit bekanntem Sicherheitsprofil und handhabbaren Nebenwirkungen – auch mit dem Lenvatinib – stehen effektive Therapien als Alternative zur Verfügung.“

Elisabeth Wilhelmi, München

Literatur

1 Robert Koch-Institut. Krebsgeschehen in

Deutschland 2015/2016, 12. Ausgabe 2019 2 EASL Guideline. J Hepatol 2018;69:182236 3 S3-Leitlinie, Version 6.2; Stand: Oktober 2021 4 Villanueva A. N Engl J Med 2019;380: 1450-1462 5 Kudo M et al. Lancet 2018;391:11631173 6 Fachinformation Lenvima®; Stand: November 2021 7 Fachinformation Tecentriq®; Stand: September 2021 8 Vogel A et al. Ann Oncol 2021;32:801805 9 Finn RS et al. ASCO-GI 2021; Abstract 267 10 Finn RS et al. N Engl J Med 2020; 382:1894-1905 11 Fachinformation Abevmy®; Stand: Dezember 2021 12 Pinter M et al. Gut 2021;70:204-214 13 Finn RS et al. EASL Summit 2021; Abstract O05 14 Pfister D et al. Nature 2021;592:450-456 15 Alsina A et al. Liver Cancer 2020;9:93104 16 Sangro B et al. Nat Rev Gastroenterol

Hepatol 2021;18:525-543 17 Kudo M et al. Liver Cancer 2020;9:640662 18 Finn RS et al. J Clin Oncol 2020; 38:2960-2970 19 Okamoto K et al. ACS Med Chem Lett 2015;6:89-94 20 Wu P. Drug Discovery Today, July 2015: 1-6

Abrocitinib für die mittelschwere bis schwere atopische Dermatitis zugelassen

Im Dezember 2021 hat die Europäische Kommission Abrocitinib (Cibinqo®) für die Behandlung von erwachsenen Patienten mit mittelschwerer bis schwerer atopischer Dermatitis (AD) zugelassen, die für eine systemische Therapie infrage kommen. Die Zulassung des einmal täglich oral anzuwendenden Januskinase 1 (JAK1)-Inhibitors erfolgte für die Dosierungen 100mg und 200mg. Darüber hinaus wurde eine Dosis von 50mg zur Behandlung von mittelschwerer bis schwerer AD speziell bei Patienten mit mittelschwerer und schwerer Niereninsuffizienz (Nierenversagen) oder bei bestimmten Patienten zugelassen, die mit Cytochrom-P450 (CYP) 2C19 inhibierenden Wirkstoffen behandelt werden.

Rasche Verbesserung von Juckreiz und Hautbild

Die Zulassung von Abrocitinib stützt sich auf die Ergebnisse von 5 klinischen Studien mit mehr als 2.800 Patienten, darunter 4 Phase-III-Studien sowie eine noch laufende, offene Langzeitverlängerungsstudie. Abrocitinib zeigte deutliche Verbesserungen hinsichtlich der Linderung von Symptomen und der Krankheitskontrolle im Vergleich zu Placebo. In einer Studie, die einen aktiven Kontrollarm mit Dupilumab umfasste und in der Patienten untersucht wurden, die eine topische medikamentöse Hintergrundtherapie erhielten, führte Abrocitinib 200mg nach 2 Wochen zu einer stärkeren Linderung des Juckreizes als Dupilumab. Der JAK1-Inhibitor zeigte ein konsistentes Sicherheitsprofil über alle Studien hinweg, einschließlich einer Langzeitverlängerungsstudie, und wies ein günstiges NutzenRisiko-Profil auf. Die häufigsten unerwünschten Ereignisse, die bei ≥5% der Patienten unter Abrocitinib auftraten, waren Übelkeit (15,1%) und Kopfschmerzen (7,9%). Die häufigsten schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse waren Infektionen (0,3%).

S. M.

Abrocitinib

Abrocitinib (Cibinqo®) ist ein „small molecule“ zur oralen Anwendung, das selektiv die Januskinase 1 (JAK1) hemmt. Es wird angenommen, dass die Hemmung von JAK1 mehrere Zytokine moduliert, die an der Pathophysiologie der atopischen Dermatitis beteiligt sind, darunter die Interleukine IL-4, IL-13, IL-31, IL-22 und das thymische stromale Lymphopoietin (TSLP).

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