UNPOSED MAGAZINE I ISSUE 01

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Mode, Nachhaltigkeit und Optimismus

ISSUE 01



Hallo! Willkommen zur ersten Ausgabe von


editorial


Was die Zukunft bringt, kann natürlich niemand sagen, aber eines steht fest – wir alle können dazu beitragen, sie so zu gestalten, wie wir sie gerne hätten, und wir starten genau hier. Veränderung denken und mitgestalten, Offenheit üben und Selbstkritik lernen sind die wichtigsten Herausforderungen, denen die Mode heute gegenübersteht. Wir haben uns ein Herz gefasst und einen Versuch gewagt. Sicherlich ist noch vieles unerwähnt geblieben, unvollständig oder sogar fehlerhaft – Kritik und Anmerkungen übrigens jederzeit erwünscht; dennoch, anstatt uns zurückzulehnen, möchten wir lieber aktiv dabei sein und mit an einer Zukunft der Mode arbeiten, die Nachhaltigkeit als Standard versteht und Vielfältigkeit ehrlich zelebriert. Zwar in kleinen Schritten und noch lange nicht perfekt, aber, wie man so schön sagt: wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wir verstehen uns als Teil einer Bewegung, die schon längst im Gange ist und für die viele engagierte Menschen schon Unglaubliches erreicht haben. Und genau deshalb dürfen wir jetzt auf keinen Fall aufhören! Je mehr Menschen sich für einen wirklichen Shift in der Mode einsetzen, desto besser. Auch deswegen möchten wir alle dazu einladen, gestalterisch an dieser Zukunft mitzuarbeiten, sich zu zeigen oder Anderweitiges beizutragen. Du hast auch etwas dazu zu sagen? Dann schreib uns, wir freuen uns über deine Nachricht!

Miriam Lellek und Luisa Weber, Gründerinnen & Herausgeberinnen


Impressum Unposed Magazine Luisa Weber & Miriam Lellek GbR Triftstraße 41 13353 Berlin Herausgeberinnen & Redaktion Luisa Weber und Miriam Lellek unposedmagazine@gmail.com Druck solid earth info@solid-earth.de Wörther Straße 29 10405 Berlin ©️ Luisa Weber und Miriam Lellek Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung der Herausgeberinnen vervielfältigt oder verbreitet werden.


08 TEAM 10 MANIFEST 12 RESTATUE FOTOSTRECKE 28 SMILLA HARMIA SKATE-

BOARDS UND JEANSRÖCKE 30 MODE UND KONSUM DEBORAH LELLEK

36 SARAH LEONI ANGESTOßEN 42 DER MANN UND

SEIN ROCK 58 ANNA

PFEIFFER

FOTOSTRECKE

GIVE ME

FIVE! 62 GUTES ZEUG 64 LUCIA

BERLANGA

WE SEE

BEAUTY 76 EINE GUTE FIGUR 80 NUDE, NOT SEXUALISED 82 DANKESCHÖNS JULE FUHRMANN

ALINE PAPE


team

Aline Pape

studiert Kommunikationsdesign in Aachen. Die Fotografie ist in ihrem Studium nicht nur ihr Schwerpunkt, sondern auch ihre Leidenschaft. Innerhalb ihrer Projekte erarbeitet sie konzeptionelle Bildwelten, die sich im Themenfeld Gender, Identität, Körper und Gesellschaft bewegen.

Charlotte Fellner studiert im dritten Jahr Film und Fotografie und beschäftigt sich am liebsten mit Menschen. Was andere so erleben und erfahren haben, ist für Charlotte selbst und auch für Charlottes Arbeit die größte Inspiration. Nach dem Interview mit Mark hat sich Charlotte nach Jahren mal wieder einen Rock zugelegt. Und liebt es.

Smilla Harmia schreibt gerne über Dinge, die sie alltäglich umtreiben. Dabei konfrontiert sie sich mit ihren eigenen Realitäten und was es für sie heißt, Teil einer Gesellschaft zu sein, die den Planeten ausbeutet und zerstört. Sonst bewegt sie Kaffee und skaten. In Zukunft würde sie gerne dazu beitragen, dass Mode und Lifestyle grüner werden.

Lucia Berlanga arbeitet als freischaffende Künstlerin in Berlin. Neben ihrem Designstudium umfassen ihre Projekte Malerei, Fotografie und Installationen. „Wir haben aus Angst und Scham den Blick in die Tiefe verlernt. Mit meiner Arbeit versuche ich das Verlernte wiederzufinden.“

Nikolas Iturralde

ist Grafikdesigner aus Ecuador und hat Kommunikationsdesign in Berlin studiert. Neben detailverliebten Formen, Schriften und der Arbeit mit Siebdruck oder Keramik beschäftigt er sich mit Themenfeldern, die über den Tellerrand des klassischen Grafikdesigns hinausgehen. Er versucht stets seinen eigenen kulturellen Hintergrund in seine gestalterische Arbeit mit einzubringen, um eine ausdrucksstarke visuelle Sprache und spannende grafische Symbiose zu erschaffen.

Deborah Lellek hat Soziologie und Politikwissenschaften in Hamburg studiert. Sie ist KlimagerechtigkeitsAktivistin und unterstützt mit der Gruppe Chico Mendes ein Wiederaufforstungsprojekt in Guatemala. Neben Projekten zu Aufklärungs- und Bildungsarbeit schreibt sie für Unposed, wie wichtig es ist, sich zu informieren und Modelabels kritisch zu hinterfragen.

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Basil Boyacos ist ein multidisziplinärer Künstler und Designer. Seine introspektiven Konzepte berühren Themen wie Absurdität und Isolation. Seine Werke entstehen durch das Experiment mit unterschiedlichen Medien und lassen dabei Bildwelten zu neuen Medienerfahrungen werden. Er hinterfragt die vorhanden Methoden der Gestaltung in einer mit Algorithmen gefüllte Welt.

Elisa Schütz findet, dass jede*r seine eigene Sprache hat – für sie ist es die Fotografie. Mit ihren Werken Menschen oder einer Idee Gehör zu verschaffen, ist ihr größter Traum. Am meisten fasziniert es sie, Menschen und deren Emotionen festzuhalten.

Laura Kennedy ist als Kommunikationsdesignerin immer neugierig und greift gesellschaftlich relevante Themen in ihre Arbeit auf, da sie der Meinung ist, dass Design die Welt ein wenig besser oder zumindest bunter machen kann. „Gestalter*innen haben die tolle Möglichkeit, mit nur wenigen Strichen auszudrücken, wie sie ihre Umgebung wahrnehmen.“

Jule Fuhrmann wohnt in Hamburg, ist jung und braucht das Geld – deshalb schreibt sie nicht nur für uns, sondern auch für die Werbung. Dort verbreitet sie neben kreativen Konzepten Diversität (soweit das als white hetero girl geht) und bricht mit veralteten Strukturen. Seit 1994 hasst sie Ungerechtigkeiten und teilt das gerne lautstark mit jedem und jeder, auch denen, die es nicht hören wollen – Nachsitzen erwünscht.

Louis Roth behandelt vor seiner Linse behandelt jede*n gleich, um die Individualität hervorzuheben und aus Konzepten und Gedanken visuellen Content zu schaffen. Zahlreiche Skizzen während der Planung gehören genauso dazu, wie vor Ort spontane Entscheidungen zu treffen. Sein Ziel ist erreicht, wenn er den Betrachtenden dasselbe Gefühl geben kann, das er beim Blick durch die Kamera empfindet – Faszination, Freude, Aufregung.

Tim Pohr ist Illustrator und studiert Kommunikationsdesign in Potsdam. Ganz nach dem Motto „schön hässlich“ beschäftigt er sich mit unkonventionellen Themen, mag es, Grenzen zu überschreiten, und nimmt sich dabei selbst nicht zu ernst. Wichtig sind ihm Themen der Gleichberechtigung und Antidiskriminierungsarbeit sowie das Entdecken und Entfalten seiner eigenen Identität.

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manifest


Mode ist Kommunikation. Wie wir uns bekleiden, ist sowohl Selbstauskunft als auch Selbstwahrnehmung – wichtige Bestandteile unseres Lebens. Diese Bestandteile sind heute mit vielen anderen Aspekten unseres Lebens nicht mehr gut vereinbar – sei es mit unserer Umwelt, dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft, der eigenen Gesundheit. Daran müssen wir gemeinsam etwas ändern! Aber wie kommunizieren wir über die Mode? Wird uns von den Modemedien eine Veränderung gegenübergestellt? Es gibt bereits Bewegungen, die sich über verschiedene Plattformen engagieren. Dennoch, die Themen Nachhaltigkeit und Vielfältigkeit sind noch immer nicht vollständig in den klassischen Modemedien angekommen. Diesem Problem möchten wir ein Magazin entgegensetzen. Wir möchten, dass jede*r in der Mode repräsentiert ist und dass Nachhaltigkeit zum Standard wird. Wir nehmen im klassischen Print-Format die Utopie vorweg, in der Mode einfach nachhaltig ist und für alle gleich zugänglich sein kann. Die genannten Grundwerte geben die moralische Struktur des Unposed Magazine vor und werden sich in unserem präsentierten Inhalt konsequent widerspiegeln. Unser Team besteht aus Menschen aus ganz verschiedenen Bereichen – denn unser Ziel ist es, die Ansichten einer vielfältigen Gruppe hervorzuheben und viele Blickwinkel mit einzubeziehen, da wir Mode als ein Thema betrachten, das jede*n auf die eine oder andere Weise betrifft. Gemeinsam bieten wir Designer*innen, Künstler*innen, Autor*innen, die sich für nachhaltige Ansätze, Gender-Themen oder Vielfalt in der Mode engagieren, eine Plattform und regen einen Diskurs an, der bisherige Ideale von Schönheit, Modeproduktion und -präsentation in Frage stellt. Wir wollen das Bewusstsein unserer Leser*innen stärken, ermutigen, den eigenen Stil zu leben und für mehr Freiheit in der Modewelt einzustehen. Text: Miriam Lellek & Luisa Weber Fotografie: Aline Pape "UTOPIA- a world between the sexes"

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restatue Mode:

Mohlagé @mohlage www.mohlage.com Melisa Minca @meliseminca www.melisaminca.com IVY Berlin @ivy.berlin www.ivyberlin.org Fotografie:

Louis Roth @raw.louis Text:

Miriam Lellek

Mit Restatue hat alles angefangen. Als erste Fotostrecke, die für Unposed entstanden ist, steht Restatue für das, was Unposed in der Zukunft werden soll, und verarbeitet unsere Vision, alte Ideale umzustürzen und Neue zu errichten. Ausgehend von der Idee, ausschließlich nachhaltige und primär lokale Mode zu präsentieren, entstand eine träumerische, positive und gemeinschaftliche Fotostrecke.

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Melanie @dasmelanie trägt Kleid von Melisa Minca, Schuhe & Brille: Model′s own

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Isabella @isabellaannaherrera trägt einen Anzug von Melisa Minca, Schuhe: Stylist′s own

David @sir.babyface | www.om-mgmt.com/david trägt eine Hose von Mohlagé, Gürtel: Vintage, Schuhe & Shirt: Model′s own

In den letzten Jahren hat sich vieles in Bewegung gesetzt, was uns zum Nachdenken, Verändern und Umdenken inspiriert hat. Dadurch sind wir aufmerksamer und kritischer geworden, mit uns selbst und unserem individuellen Handeln, aber auch damit, wie wir als Gesellschaft mit Menschen, mit der Vergangenheit und mit der Zukunft umgehen wollen. Noch nie war es in unserem persönlichen Leben so präsent wie in den letzten Jahren, dass wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher. Und das ist auch gut so! Denn da sind warnende Signale der Klimakatastrophe, weltweit Krisen und Verletzungen der Menschenrechte, Missstände in der Gleichberechtigung und der sozialen Gerechtigkeit. Alle diese Themen erfordern ein Handeln, und zwar eigentlich jetzt sofort, damit sich wirklich etwas zum Besseren verändert. Insbesondere müssen Staaten, Konzerne, die Politik reagieren, doch viel passiert irgendwie nicht, zumindest nicht genügend, weshalb überall in den letzten Jahren vermehrt Menschen auf die Straßen gegangen sind und bei Demonstrationen und Aktionen die Politik auf Themen wie die Klimakrise oder soziale Ungerechtigkeiten aufmerksam gemacht haben. Das finden wir unglaublich wichtig und ein starkes Zeichen dafür, wie viele Menschen auf einen Wandel hoffen und schon sehr viel dafür tun. Dass sich Veränderung leider oft nicht so schnell umsetzen lässt, wie man es sich wünschen würde, oder gar blockiert wird, kann frustrieren und entmutigen. Wir möchten mit Unposed trotzdem einen Optimismus aufrechterhalten, der uns weiter an die Möglichkeit glauben lässt, dass wir es als Gesellschaft schaffen, nachhaltiger, gerechter und offener zu werden. Mode ist natürlich nur ein Aspekt von vielen, aber – wie wir finden – ein ziemlich wichtiger. Und genau da möchten wir ansetzen und auch einen kleinen Beitrag zu einer Veränderung leisten, nämlich unsere Seh- und Konsumgewohnheiten in der Mode neu zu denken. Denn welche Vorbilder und Ideale stehen in der Mode immer noch im Vordergrund, obwohl wir schon längst einen Schritt weiter sein könnten?

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Elena @elenamaria trägt ein Kleid von Ivy Berlin, Mantel & Scrunchy von Melisa Minca, Schuhe & Sonnenbrille: Stylist′s own

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Lucio @luciopuwalla trägt einen kompletten Look von Melisa Minca, Ohrringe: Vintage, Schuhe: Model′s own

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David trägt ein Oberteil von Mohlagé

Wir möchten diese Vorstellungen, die sich in der Mode immer wieder manifestiert haben, umstürzen und neue Standards und Ansichten etablieren. Wir sind überzeugt, dass Mode auch immer mitschwingen muss im Prozess der gesellschaftlichen Transformation und dass daher Modedesigner*innen und Gestalter*innen durch ihre Arbeiten durchaus an einem Wandel beteiligt sind. Mit Unposed möchten wir anfangen, zu hinterfragen, wie Modemedien vorgeben, was getragen wird und wer es präsentieren darf und wie damit signalisiert wird, was Schönheit angeblich sei. Wir wollen einen offenen Diskurs mitgestalten, der sich immer wieder neu dem Vorgang unterzieht, sich zu fragen, was in unserer Gesellschaft als schön empfunden wird und wie wir neuere und fairere Ideen über Mode und Schönheit einbringen können. Restatue ist als Anfang eines offenen, sich immer wieder selbst reflektierender Prozesses zu verstehen, mit dem wir nicht aus Gewohnheit an alten Idealen festhalten wollen, sondern Mut zu eigenem Stil machen möchten. Das Vorbild bist du selbst! Und die neuen „Statuen“ sollen einmal denen gelten, die sich nicht an die traditionellen Vorbilder der Mode gehalten haben und die sich weiterentwickeln, alte Muster aufbrechen und auch mal gegen den Strom schwimmen.

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Isabella trägt einen Anzug von Melisa Minca, Schmuck: Stylists own

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Melanie trägt einen Rock von Mohlagé, Pullunder: Vintage

David trägt einen kompletten Look von Mohlagé, Schuhe: Model′s own

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Ich ziehe den Jeansrock noch ein bisschen runter, die Socken noch ein bisschen höher. Neneh Cherry aufs Ohr, mein Board unter dem Arm. No Money Man Can Win My Love.

Text und Fotografie: Smilla Harmia „Skateboards und Jeansröcke“

Fortsetzung auf Seite 41

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mode

und konsum Wie Greenwashing zum Problem für die Klimakrise wird Text von Deborah Lellek

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Seit Jahrzehnten schärfen immer mehr Menschen ihr Bewusstsein für Nachhaltigkeit. Sie ernähren sich vegan, kaufen auf dem Wochenmarkt ein oder bestellen Fair-Trade-Sneaker. Von genau diesen Veränderungen erzähle auch ich aus meinem Alltag. Natürlich, denn es ist wichtig, die eigenen Werte und Überzeugungen in Einklang mit dem eigenen Konsum zu bringen. Um in Anbetracht der absurden Realität der Klimakrise nicht den Mut zu verlieren, ist es allein aus Selbst fürsorge sinnvoll, dass das eigene Verhalten zu den eigenen Idealen passt. Mit beruhigtem Gewissen einzukaufen, fühlt sich einfach besser an, obwohl damit natürlich nicht die Welt gerettet und die Klimakrise gelöst werden kann. Damit ich nicht verzweifle, versuche ich also wie so viele von uns, Plastik zu reduzieren, insgesamt weniger zu konsumieren und Kleidung in Second-Hand-Läden zu kaufen. Dabei stoße ich immer wieder an die Grenzen der Machbarkeit, denn oft ist schwer zu unterscheiden, welche Produkte nachhaltig produziert wurden und welche nur diesen Anschein erwecken. Wie ausweglos der Versuch ist, nachhaltig den eigenen Alltag zu gestalten, zeigt das Beispiel Mode sehr eindrücklich. Genau genommen ist weniger neue Kleidung kaufen immer noch zu viel, denn die Modeindustrie ist eine der umweltschädlichsten Industrien. Gerade die Fast-Fashion-Labels, die günstige Massenware verkaufen, sind große Umwelt- und KlimaSünder. Schon bei der Faserproduktion werden z.B. große Mengen an Wasser verbraucht und Chemikalien freigesetzt – sowohl bei pflanzlichen Naturfasern wie Baumwolle als auch bei Chemiefasern wie Polyester. Baumwolle wird meistens als Monokultur angepflanzt, benötigt in der Regel viele Pestizide und viel Wasser, was Böden und Ökosystemen großen Schaden zufügt. Unter den Folgen leiden besonders Klein-Bäuer*innen in Ländern des globalen Südens, deren Felder durch den Anbau von Baumwolle unfruchtbar werden, sodass ihre Erträge von teuren Pestiziden und künstlicher Bewässerung abhängen. Die Folgen sind nicht nur eine Versalzung der Böden und eine Kontaminierung des Grundwassers, sondern auch schwerwiegende Gesundheitsgefährdungen. Polyester wird aus Erdöl und unter dem Einsatz von Chemikalien hergestellt. Der Prozess ist insgesamt sehr energieaufwändig. Auch nachdem die Kleidung getragen wurde, hören die Probleme nicht auf, denn die Faser ist nicht biologisch abbaubar. Außerdem ist Polyester einer der Verursacher von Mikroplastik, das die Weltmeere belastet. Unabhängig davon, welche Faser zum Einsatz kommt: Wenn zusätzlich die Transportwege, der Energieverbrauch der Weiterverarbeitung, die Haltbarkeitsdauer der Kleidung sowie die Entsorgung in Betracht gezogen werden, offenbart sich eine dreckige Industrie, die Mensch und Natur extrem schadet.

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Doch inzwischen bemühen sich viele Labels um ein Image, das Menschen, die Wert auf Nachhaltigkeit legen, ansprechen soll. Die Gruppe der Menschen, die bewusster konsumieren und Wert auf ökologische Produktionsweisen legen, wächst zunehmend. Von diesem Trend wollen auch etliche Unternehmen profitieren. Immer mehr Läden verkaufen nun Mode, die sie in der Werbung oder in den sozialen Medien als „nachhaltig“, „conscious“ oder „green“ anpreisen. Das ist vielleicht schön anzusehen, aber was bedeutet das für die Klimakrise? Es bedeutet, dass der Lifestyle-Trend des ökologischen Lebens und der weit verbreitete Glaube, Kaufentscheidungen allein könnten einen Ausweg aus unserer Misere bringen, von einigen Unternehmen ausgenutzt werden. Marketingkampagnen erzählen uns von der Verantwortung des Einzelnen. Sie erzählen uns von den Bemühungen der Unternehmen, dem Nachhaltigkeitsanspruch gerecht zu werden. Sie sprechen die Bedürfnisse, Interessen und Wünsche von klimabewussten Zielgruppen an, die dadurch weiter zum Einkaufen animiert werden sollen. Dazu gehören auch Modekonzerne, die sonst mit prekären Arbeitsbedingungen, Umweltverschmutzung oder Textilverbrennung Schlagzeilen gemacht haben. Wenn die Produktionsweise jedoch nicht zu der ökologischen und grünen Präsentation nach außen passt, nennt man das „Greenwashing“. Diese Widersprüchlichkeit in der Mode-Industrie zeigt, dass der nachhaltige und sozial gerechte Anspruch als neue Absatz- und Vermarktungsmöglichkeit instrumentalisiert wird. Das Engagement für Klimaschutz ist teilweise nicht nur unglaubwürdig, sondern es deutet auch auf weit größere Probleme hin, angefangen bei der Frage, wie man zwischen Greenwashing und glaubwürdigen ökologischen Standards unterscheiden kann. Dadurch, dass viele Unternehmen ihre Nachhaltigkeitsstandards selbst festlegen oder sich selbst mit eigenen ökologischen Siegeln zertifizieren, bleibt völlig intransparent, welche Materialen wirklich ökologisch sind und unter welchen Bedingungen die Kleidung hergestellt wird. Das ist für alle die Unternehmen ungerecht, die es mit der Nachhaltigkeit ernst meinen, tatsächlich gerechte Arbeitsbedingungen bieten und die Grenzen der Natur achten. Greenwashing erzeugt so einen Wettbewerbsnachteil für Labels mit ehrlichen Werten und Produktionspraktiken. Denn ein Resultat davon ist auch, dass Konsument*innen vom grünen Anstrich und von einigermaßen erschwinglichen Preisen der Fast-Fashion geblendet werden. In den Verbraucherländern sollen wir dann kein schlechtes Gewissen mehr haben müssen und uns über die vermeintlich nachhaltige Lebensweise freuen, obwohl sich in den Produktionsländern wie Bangladesch, Indien oder China wenig bis gar nichts geändert hat. Dieses Problem kann und muss politisch angegangen werden. Schon lange gibt es Forderungen aus Politik und Zivilgesellschaft nach verschärften Gesetzen, die Standards für Lieferketten festlegen, Unternehmen für ihre eigenen Produkte verantwortlich machen, glaubwürdige Zertifikate einführen und die Kontrolle und Überprüfbarkeit von Produktionspraktiken erleichtern. Wie sehr das Problem drängt, zeigt das Ergebnis des Nationalen Aktions-

Illustration: Nikolas Iturralde-Graber @nikolas_itu

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plans Wirtschaft und Menschenrecht (NAP), der durch freiwillige Selbstverpflichtung von Unternehmen bessere Bedingungen für Menschen und Umwelt entlang den Lieferketten schaffen sollte: 2020 wurde erhoben, dass nicht einmal die Hälfte aller Unternehmen mit Hauptsitz in Deutschland die Forderungen umgesetzt haben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat daraufhin einen mehr als überfälligen Gesetzentwurf – das Lieferkettengesetz – vorgelegt, der im März 2021 im Bundestag verabschiedet wurde. Ab 2023 sind Unternehmen verpflichtet, die Menschenrechte einzuhalten und „umweltbezogenen Pflichten“ in allen Produktionsschritten gerecht zu werden. Bereits jetzt merken Kritiker*innen an, dass das Lieferkettengesetz nicht weit genug reicht, da zum Beispiel die Umwelt-Standards und der Anwendungsbereich, der festlegt, auf welche Unternehmen sich das Gesetz bezieht, große Lücken aufweisen. Auch auf EU-Ebene gibt es Bemühungen, Menschenrechts- und Umweltstandards gesetzlich festzulegen, die weiter als das Gesetz der Bundesregierung reichen sollen. Noch ist unklar, ob ein europäisches Lieferkettengesetz verabschiedet wird. Bis dahin bedarf es einer enormen Recherchearbeit, um etwas über die Produktionsweisen verschiedener Unternehmen herauszufinden. Der Mangel an Transparenz ist jedoch nur ein kleiner Teil einer viel grundsätzlicheren Gefahr, die mit Greenwashing und grünem Konsum in Verbindung steht. Uns wird suggeriert, dass wir mit unserem eigenen Konsum die Klimakrise abwenden könnten. An uns wird von allen Seiten appelliert, noch ein bisschen mehr Klimaschutz in den Alltag zu integrieren. Grünes Wachstum sei die Lösung der Probleme; wenn alle mitmachen, dann werde das schon funktionieren. Damit wird aber eine Krise der Menschheit, eine kollektive Krise, eine globale Krise, in eine individuelle Krise umgewandelt. Das lenkt von den Verantwortlichen und den Möglichkeiten für bessere Ergebnisse beim Klimaschutz ab, denn das Problem liegt nicht allein beim Einzelnen, sondern auch in unserem CO²-basierten Wirtschaftssystem; es lässt sich nicht lösen, wenn die Verantwortung auf Käufer*innen oder Konsument*innen geschoben wird. Die Idee von einem kollektiven Wandel der Lebensstile ist von vorneherein utopisch, da viele Bürger*innen kaum ein entsprechendes Verantwortungsgefühl zu haben scheinen. Andere wiederum können sich den weiterhin teuren ökologischen Lebensstil schlicht nicht leisten. Viel wichtiger wäre es also, dass politische Akteur*innen in Machtpositionen und Institutionen weltweit erkennen, dass grünes Wachstum nicht funktioniert, und endlich einen Weg gehen, der den Ressourcenverbrauch und fossile Energiegewinnung reduziert. Wichtig wäre es, an großen Stellschrauben zu drehen und das Klima durch politische Maßnahmen zu schützen, anstatt ein permanentes Schuldgefühl bei Konsument*innen zu erzeugen. Denn der Versuch zu einem ökologischen Leben ist innerhalb der jetzigen Strukturen in der Regeln zum Scheitern verurteilt. Politische Akteur*innen sollten einen rechtlichen Rahmen schaffen, in dem nur noch nachhaltig erzeugte Produkte wirtschaftlich sind und nachhaltiger Konsum als einzige Möglichkeit bestehen bleibt. Durch ordnungspolitische Maßnahmen können wirtschaftliche Bedingungen geschaffen werden, die die Kaufentscheidung zwischen nachhaltig und nicht-nachhaltig überflüssig macht.

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Wir dürfen uns nicht auf unserem scheinbaren grünen Lebensstil ausruhen. Natürlich können wir auch als Konsument*innen Druck aufbauen und Veränderungen einfordern, jedoch müssen wir darüber hinausblicken und uns von der Vorstellung einer alleinigen Verantwortung des Einzelnen lösen. Wie viele Klima-Aktivist*innen gerade vemitteln, ist es unumgänglich, dass wir zusammen unsere Kraft entfalten und aktiv werden, um nicht nur in unseren Einkaufstaschen etwas zu verändern, sondern uns über unseren alltäglichen Konsum hinaus einbringen. Wir müssen uns gegenseitig stärken und mutig sein. Wir müssen uns zusammenschließen und austauschen, hinterfragen und uns informieren. Wir müssen klar benennen, was falsch läuft und dass es anders sein könnte. Besonders dass die Modeproduktion, die Modemedien und das Marketing in ihren Vorgehensweisen transparenter und verlässlicher werden, ist keine Unerreichbarkeit, sondern eine Notwendigkeit. Ökologie in der Mode darf nicht weiter ein trügerisches Verkaufsargument sein. Greenwashing muss durch klare und nachvollziehbare Standards entlang den Produktionsketten beendet werden. Dazu müssen wir eine kritische Haltung einnehmen und einfordern, was schon längst eine Selbstverständlichkeit sein könnte. Gemeinsam können wir dem grünen Anstrich eine ehrliche Bedeutung verleihen und das System in Richtung Nachhaltigkeit verändern.

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angestoßen

3D Grafik:

Basil Boyacos @Takisbasil Shop:

@namu_designs Interview:

Miriam Lellek und Luisa Weber

In unserer Interviewreihe Angestoßen haben wir für diese Ausgabe mit Sarah Leoni gesprochen. In dieser Rubrik geht es uns neben interessanten Gesprächen und einem Toast an die tollen Menschen, die uns in dieser Ausgabe unterstützen, auch um neue Gedankenanstöße, die unseren Blickwinkel auf die Mode erweitern können. Sarah erzählt uns, wie sie mit NAMU die Welt der Handyketten nachhaltiger gestaltet, und spricht über ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit der Modebranche.

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Liebe Sarah, du hast gemeinsam mit Sofia Biskupek NAMU gegründet, ein Label für nachhaltige Handy-Umhängeketten. Wie habt ihr euch kennengelernt und wie kamt ihr auf die Idee zu NAMU? Sofia und ich sind schon seit einigen Jahren sehr gut befreundet. Als dann die Redaktion, in der ich zuvor gearbeitet hatte, aufgelöst wurde und ich in derselben Textilagentur wie Sofia anfing, hat sich unsere Freundschaft noch verstärkt, da wir als Kolleginnen dort sehr viel Zeit verbracht haben. Die Idee zu NAMU entstand dann sehr spontan. Sofia hatte sich für 80 Euro eine Handy-Kette gekauft, von der ich zunächst richtig begeistert war, da sie mal nicht wie ein Schnürsenkel aussah (lacht). Als wir dann nichts über Produktion und Materialien herausfinden konnten, waren wir enttäuscht. Außerdem konnte man die Hülle nicht wieder von der Kette lösen, da dachten wir – das können wir besser. Daraufhin fertigte Sofia für sie und mich zwei Handy-Ketten an – quasi die Prototypen. Unsere Freund*innen und Bekannten waren so begeistert und wollten auch welche haben, sodass wir schließlich einen Instagram Account anlegten, um sie dort zu verkaufen. So hat eines zum anderen geführt. Wie seid ihr auf den Namen NAMU gekommen? Sofia schlug damals Wörter vor, die sich schön anhörten, aber keinen Sinn ergaben, typisch Künstlerin, und ich, typisch Journalistin, fand, der Name müsse auch eine Bedeutung haben (lacht). Am Ende haben wir einen Kompromiss gefunden, da eine Kollegin unter Sofias Wortfetzen NAMU raushörte, was auf koreanisch Holz bedeutet. Wir finden die Ketten toll! Vor allem, dass man sie auch als Schmuck tragen kann. Dahinter steckt ja auch ein sehr nachhaltiger Gedanke. Hast du das Gefühl, mit den Handy-Ketten und im Speziellen damit, dass ihr sie nachhaltig und nur auf Anfrage produziert, einen Nerv zu treffen? Zum einen ja, es gibt Kund*innen, die bei uns kaufen, da wir ausschließlich Perlen aus nachhaltiger deutscher Forstwirtschaft benutzen und nichts überproduzieren. Zum Anderen gibt es auch Käufer*innen, denen erstmal nicht bewusst ist, wie unsere Produktion abläuft und die unsere Ketten einfach nur schön finden. Wir sehen darin aber keinen Widerspruch. Wir verfolgen mit NAMU unsere Werte, und egal aus welchen Gründen Menschen bei uns einkaufen, konsumieren sie ja trotzdem nachhaltig. Unsere Grundidee muss ja auch nicht zwingend im Vordergrund stehen – dass etwas nachhaltig produziert ist, sollte sowieso zur Selbstverständlichkeit werden und kein spezielles Feature mehr sein. Hast du das Gefühl, wir leben in einer Art „Bubble“ und es sind nur einige wenige, die sich mit den Themen bewusster Konsum oder Nachhaltigkeit auseinandersetzen? Das ist schwierig. Ich denke, der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und es fällt uns allen schwer, etwas daran zu verändern. Das Thema Nachhaltigkeit löst bei einigen einen Verzichtsgedanken aus. Dabei könnten wir vieles als Chance sehen und Neues kennenlernen. Ein großes Problem ist, denk ich, dass sich viele Menschen nachhaltigen Konsum nicht leisten können. Für eine grundsätzliche Veränderung müssen wir nachhaltigen Konsum aus der Wohlstandsbubble lösen. Dazu muss man allerdings sagen, dass wir als Wohlstandsgesellschaft natürlich enorm zur Umweltzerstörung beitragen und dass somit auch die Verantwortung bei uns liegt, daran etwas zu ändern.

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Ihr stellt alles eigenhändig her. Wie genau läuft eure Produktion ab? Sofia und ich arbeiten beide Vollzeit, daher bleibt uns nur der Abend oder auch mal das Wochenende. Oft geht es nach dem Büro direkt zu Sofia, wir machen eine Flasche Wein auf und es wird aufgeperlt (lacht). Bei 3 bis 6 Ketten in der Woche ist das keine große Arbeit nebenher. Es gibt aber auch Wochen, wo plötzlich 15 Sonderanfertigungen anstehen – da kann es schon mal stressig werden, vor allem, wenn etwas mit der Zulieferung nicht klappt. Schließlich bestellen wir immer nur die Perlen, die wir auch verkaufen. Eigentlich haben wir aber immer eine gute Zeit zusammen, und es ist auch meditativ, die Ketten anzufertigen. Nach einem Arbeitstag tut uns das gut und macht Spaß. Sarah, bevor du bei Sofia im Büro angefangen hast, hast du einige Zeit als Redakteurin im Beauty Ressort einer Modezeitschrift gearbeitet. Hat dein Job deine Art und Weise, Schönheit zu sehen, verändert oder beeinflusst? Ja auf jeden Fall. Ich habe mich davor nicht aufwendig geschminkt und habe dann selbst gemerkt, wie ich mein Äußeres nach ein paar Wochen verändert habe. Auch meinem Umfeld ist das aufgefallen, wie zum Beispiel meinem Freund, der mich gefragt hat, ob ich überhaupt ins Büro gehe in dieser Aufmachung (lacht). Alle Frauen in der Redaktion waren immer super modebewusst gekleidet – das hat sich natürlich auf mich übertragen. Es ist schwer abzuschalten, wenn man den ganzen Tag retuschierte und perfekte Gesichter sowie straffe und doch kurvige Körper anschaut. Irgendwann denkt man, das ist normal, und fragt sich, wieso nach 3 mal Yoga die Woche trotzdem noch nicht alles perfekt ist. Findest du es rückblickend problematisch, wie Modemedien mit dem Thema Schönheit umgehen? Was könnte deiner Meinung nach von dort aus geändert werden? Es ärgert mich, dass die Darstellungen von Körpern und Gesichtern so extrem bearbeitet werden. Meiner Meinung nach müssten Medien diese Veränderungen kennzeichnen. Es wird ein unechtes Bild vermittelt, und gerade Menschen, die nicht aus der Branche sind und das nicht wissen, hinterfragen diese Bilder erst gar nicht. Außerdem finde ich es tragisch, dass die meisten Modemedien Ethnien immer noch so einclustern. Bei mir in der Redaktion sollte immer ein Model gefunden werden, mit dem sich die „deutsche“ Leserin identifizieren kann, damit sie sich das präsentierte Make-up auch an sich selbst vorstellen kann. Aber gerade da nimmt man den Leuten die Möglichkeit, sich mit Diversität auseinanderzusetzen! Oder wenn dann mal eine Person abgebildet wird, die nicht dem gängigen Typus „Model“ entspricht, dann muss das unter einer Prämisse laufen – selbst wenn es nur eine Zahnlücke ist! Das wäre mal der erste Schritt, einfach Menschen zu zeigen, die aussehen wie echte Menschen. Findest du es denn spürbar, dass sich in den Medien etwas verändert im Bezug auf Diversität bzw. auch in deinem eigenen Denken? In den Medien: ja, aber noch nicht genug! Es ist schön, dass sich wenigstens etwas tut. Ich bekomme jedoch eher über soziale Medien einen Shift zu spüren, und der neue Mut zur Realität macht Spaß und mir das Herz auf! Hoffentlich wird aus diesem Trend eines Tages das neue „Normal“. In meinem eigenen Denken hat sich auch vieles verändert, aber vielleicht auch, weil ich älter und selbstbewusster geworden bin.

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Illustration: Tim Pohr @zasdgafgaf

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Wäre ich heute noch einmal 14, würde ich mich leichter tun. Damals hatte ich eine übersexualisierte Britney Spears als Vorbild und dachte, so müsste man aussehen. Heute gibt es andere Vorbilder – zum Glück! Was denkst du können wir als Unternehmer*innen und Kund*innen tun, damit Nachhaltigkeit kein vorübergehender Trend bleibt? Es ist wichtig, dass wir als Konsument*innen neugierig bleiben und Gewohnheiten hinterfragen. Immer, wenn ich zu einem Produkt keine Angaben für beispielsweise Produktion oder Material finde, kaufe ich es nicht. Als Unternehmer*in sollte man ehrlich zu seinen Kund*innen sein. Jede*r möchte natürlich im Moment die Trendwelle mitreiten, die großen Firmen haben aber natürlich kein Interesse, ein funktionierendes System zu verändern und dafür auch noch Geld auszugeben. Das führt zu viel Greenwashing, und da müssen wir als Kund*innen vorsichtig bleiben. Ehrlichkeit ist da viel cooler, denn perfekt sein kann natürlich nicht jede*r von heute auf morgen. Auch wir von NAMU sind das nicht – unsere Hüllen kommen aus China. Das ist allein von der Entfernung sicher ganz und gar nicht nachhaltig. Wir müssen an dieser Stelle den Kund*innen sagen: So ist es momentan, wir arbeiten aber bereits an einer besseren Lösung. Ich habe mit NAMU gemerkt, wie schwierig es sein kann, jedes Detail nachhaltig hinzubekommen, allein deswegen macht es mich misstrauisch, wenn große Unternehmen vorgeben, schon perfekt zu sein. Euer Ziel ist es, nachhaltiger zu werden, aber natürlich gibt es Probleme und Hürden. Darauf kann man auch aufmerksam machen, denn gibt es überhaupt Produktionen in Deutschland für Handy-Hüllen? Welche Möglichkeiten hat man, wenn man sie nicht selbst herstellt? Da haben wir am Anfang lange gesucht und niemanden gefunden, der in Deutschland für uns nachhaltige Hüllen produzieren kann. Wir hoffen, eines Tages eine Kooperation mit einem Studiengang zu Produktdesign in die Wege leiten zu können. Wir geben in dieser Hinsicht unser Bestes und hoffen, dafür bald eine Lösung zu finden. Was hat dich dahin gebracht, wo du heute bist und wie du heute denkst? Vor allem sind es viele kleine Auslöser und Entscheidungen. Nachdem ich aus der Redaktion gegangen bin, war das allerdings schon ein Wendepunkt, bei dem ich mich gefragt habe, ob ich überhaupt weiterhin für so eine Maschinerie arbeiten möchte. Da habe ich dann angefangen, an ein eigenes Projekt zu denken, wo ich meine Ideen und Ideale umsetzen könnte, natürlich auch im Bezug auf Nachhaltigkeit. In der Redaktion wurde man teilweise so mit Werbeprodukten überschwemmt, dass man total den Bezug dazu verliert. Als dann Sofia mit ihrer Handy-Kette vorbeikam, dachte ich – das ist es, was ich machen will! Wenn du dein Handy für eine Woche abgeben müsstest, was würdest du mit der gewonnenen Zeit anstellen? Da fällt mir vieles ein, aber am liebsten würde ich mich einfach mal wieder langweilen. Ich bin in meinem Alltag so oft am Handy, dass ich nicht eine Sekunde Leerlauf habe. Fast habe ich das Gefühl, das Langweilen verlernt zu haben. Dabei birgt es so viel Raum für Kreativität und neue Gedanken, die sonst durch den ganzen Handy-Spam verdrängt werden.

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Meine Oma würde sagen: Herzchen, fall mir ja nicht auf dein Gesicht. Wobei sie sich ernsthaft Sorgen macht, ihr eigenes Gesicht zu verlieren. Er würde sagen: Das passt gar nicht zu dir. Was er eigentlich meint: das find ich jetzt nicht so heiß.

Text und Fotografie: Smilla Harmia „Skateboards und Jeansröcke“

Fortsetzung auf Seite 57

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der mann und sein rock Mode:

Afora @afora.world www.afora.world.de Sepideh Ahadi @sepidehahadi www.sepidehahadi.com Kula @kula.shoes www.kula.shoes.de Folkdays @folkdaysberlin www.folkdays.com Elina Sterinefeld @sternefeldjewellery www.elina-sternefeld.de Fotografie:

Elisa Schütz @elisamarieschuetz Text:

Charlotte Fellner @ccipollaa

Auf der Suche nach Männern in Röcken war mein erster Schritt, mal bei Google danach zu suchen. Und unter dem Begriff "Men in skirts" findet man tatsächlich eine Fülle an verschiedenen Fotografien zu dem Thema, aus Magazinen, Editorials, direkt vom Laufsteg oder vom roten Teppich. Beispiele sind Billy Porters Abendroben bei den Oscars oder Harry Styles in einem Kleid von Gucci auf dem Cover der amerikanischen Vogue. Beide lösten allein durch ihre Outfits eine Welle der Berichterstattung aus. Wirft man allerdings einen Blick auf unsere Gesellschaft und unseren Alltag, scheint es fast so, als hätte es diese geschlechtsneutrale Neuinterpretation nie gegeben. Ist der Rock am Mann etwas, das der männliche Alltag nicht verträgt?

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Max @max.mckone trägt ein Kleid von Afora, Tasche und Ring von Folkdays, Schuhe von Ethletic erhältlich über Kula

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Der Rock, das erste Kleidungsstück überhaupt Grundsätzlich könnte man sagen, der Rock war das erste Kleidungsstück, das der Mensch je getragen hat. In seinen Ursprüngen noch aus natürlichen Materialien wie Fellen, Häuten oder Gräsern, wurde er um die Hüfte gebunden, um die Kälte der Nacht abzuhalten oder vor schlechtem Wetter zu schützen. Getragen wurde das Gewand von jedem, erfüllte es doch ganz pragmatische Bedürfnisse. Überfliegt man die Menschheitsgeschichte, fällt eines auf: In jeder Kultur finden sich rockähnliche Kleidungsstücke, die von Männern getragen wurden. Im antiken Griechenland und im römischen Reich zum Beispiel die Toga, ein langes Stück Stoff, das mehrfach um den Körper gewickelt und drapiert wurde. Diese Wickeltechnik findet sich auch bei dem im südasiatischen und -pazifischen Raum getragenen Sarong oder bei dem schottischen Kilt wieder. In Europa trugen Männer, neben der z.B. in geistlicher oder in gerichtlicher Position bis heute getragenen Robe, bis in das 19. Jahrhundert zu feineren Anlässen Gehröcke über eng anliegenden Strumpfhosen. Außerdem gibt es heute etliche Kulturen, in denen fußlange Röcke die normale Alltagskleidung der Männer sind, wie in einigen arabischen, asiatischen und afrikanischen Ländern. Langsamer Wandel In der westlichen Welt sehen einige Theorien in der Domestizierung des Pferdes als Reittier einen möglichen Grund für den Wandel des Rockes hin zum reinen Damenkleidungsstück. Dieser Prozess dürfte einen langsamen, aber entscheidenden Effekt auf die gesellschaftliche Modeordnung gehabt haben. Die Beinkleider der Soldaten wurden zum Schutz im Gefecht länger, und aufgrund der Sitzposition auf dem Pferd wechselte man zu Hosen oder Hosenröcken. Da traditionell Männer in den Krieg zogen, etablierte sich die Hose als reines Männerkleidungsstück. Später noch, genau gesagt 1846, könnten die Erfindung der Nähmaschine und die darauf folgende Entwicklung des industriellen Produktionsverfahrens eine plötzliche Verschiebung der modischen Ordnung in der Gesellschaft ausgelöst haben. Hosen konnten nun von ungelernten Arbeiter*innen in kurzer Zeit und in hoher Stückzahl produziert werden. Durch die maschinelle Herstellung sanken die Herstellungs- und Lohnkosten so rapide, dass die Hose zur kostengünstigen Alltagskleidung wurde. Als sich dann Ende des 19. Jahrhunderts die Frauenbewegung aufmachte, die Hose zu erobern, blieb eine entsprechende Gegenbewegung auf der männlichen Seite, sich den Rock zurückzuerobern, aus. Somit erweiterte sich die Garderobe der Damenwelt um den Hosenanzug, die Jeans und einiges mehr, während der Männerwelt all die verschiedenen Variationen des Rockes weiter verwehrt blieben. Erst in den 1960er Jahren fingen junge Männer im Zuge der Gegenbewegung in Amerika wieder an, sich dem Rock zu widmen. Sie trugen ihn als Zeichen für geschlechtliche Gleichberechtigung und Gleichstellung von Mann und Frau. Auch wenn sich in den folgenden Jahrzehnten einige Pop- oder RockGrößen wie David Bowie oder Kurt Cobain öffentlich in Kleidern oder Röcken zeigten, kam der Rock nie wirklich im männlichen Mainstream an. Rock-Tragen blieb etwas Rebellisches und Mutiges.

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Und heute? Sicher, durch die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz einer großen geschlechtlichen Diversität und durch das voranschreitende Aufbrechen traditioneller Rollenbilder entdeckt vor allem die junge Generation den Rock wieder für sich. Vor allem Social-Media-Plattformen erweisen sich als Spielwiese für modische Experimente und können als Bestärkung und Inspiration für das Entdecken der eigenen Identität dienen. Auch präsentieren immer mehr hochrangige Modemarken männliche Modelle in Kleidern und Röcken auf ihren Laufstegen und beweisen damit, dass die Modewelt hier unseren gesellschaftlichen Standards schon etwas voraus ist. Da sich unser Leben aber nicht nur online oder in bestimmten Blasen abspielt, lohnt sich für eine realistische Einschätzung ein Blick in gesellschaftliche Räume, in denen Männlichkeit noch klar maskulin definiert wird. Dafür ist Mark Bryan vermutlich der perfekte Ansprechpartner. Der 61-Jährige arbeitet als Maschinenbauingenieur im Bereich der Roboterverpackung, restauriert in seiner Freizeit seinen Oldtimer Porsche 911 und trainiert eine American Football-Mannschaft. Bekannt ist er allerdings eher für seine Garderobe, denn Mark trägt seit etwa vier Jahren Röcke im Alltag. Seit kurzem ist sein Instagram-Profil öffentlich, und innerhalb von wenigen Wochen schoss die Follower-Zahl auf inzwischen gut 260.000. Offensichtlich besteht ein großes Interesse an einem Geschäftsmann im Rock. Dabei war Instagram für ihn anfangs nur eine Möglichkeit, Tagebuch über seine Outfits zu führen. Denn die sollen sich, wenn möglich, innerhalb eines Monats nicht wiederholen. Für Mark ist das Tragen von Röcken kein politisches Statement und auch kein Protest. Er trägt sie, weil er den Style mag, weil er mag, wie Röcke sich an seinem Fortsetzung auf Seite 50

Schuhe von EKN erhältlich über Kula, Hose von Sepideh Ahadi

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Fotografie:

Lorenza de Marco @lorenzademarco_ph Model:

Mark Bryan @markbryan911


Irfan @irfan160 | @1amanagement | @fangfrischberlin trägt eine Jacke und einen Overall von Sepideh Ahadi, Schuhe von Kulson erhältlich über Kula

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Max trägt ein T-Shirt von Afora, Armreif von Folkdays

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Körper anfühlen und weil er damit einfach gut aussieht. Eigentlich hat es damit angefangen, dass er gerne High Heels trägt, zu Beginn immer mit Hosen kombiniert. Allerdings meint er, dadurch kommen die Schuhe einfach nicht zu Geltung, wenn da die Hose noch halb drüber hängt. Also hat er es mal mit Röcken probiert und gemerkt: Das ist es. Er vertritt das mit vollem Selbstbewusstsein. Darin sieht er auch den Grund, warum er in der Öffentlichkeit noch nie wegen seines Aussehens beleidigt oder unangenehm angesprochen wurde. Er fühlt sich wohl, so wie er ist, und er bietet damit niemandem eine Angriffsmöglichkeit. Frauen, meint er, würden ihn öfter danach fragen, wo er seine Kleidung kauft, komplimentieren seine Outfits oder zeigen einfach durch einen Daumen nach oben ihre Unterstützung. Bei Männern sei die häufigste Frage, wie er in solch hohen Schuhen laufen könne, ohne sich die Knöchel zu brechen. Die einzigen, die wohl nicht genau wissen, was sie mit einem Mann im Rock anfangen sollen, das seien halbstarke Jugendliche mit zu viel Testosteron im Blut. Die Kommentare unter seinen Posts auf Instagram seien zu 95 Prozent positiv, meint er. Natürlich gebe es mal die eine oder den anderen, der ihn kritisch sieht oder eine Beleidigung hinterlässt. Aber diese Kommentare löscht Mark nicht. Jede*r habe ein Recht auf die eigene Meinung, und zudem möchte er diesen Menschen nicht das Gefühl geben, dass ihr Kommentar ihn verletzt habe – denn das habe es nicht. Im Privatleben kann Mark sich auf die Unterstützung seiner Familie verlassen. Seine Ehefrau und er, im Januar elf Jahre verheiratet, haben insgesamt sechs Kinder. Und die stehen alle hinter ihm. Seine Enkelinnen auch, weil sie wissen, dass ihr Vater und Opa immer noch der gleiche Mensch ist, egal ob er nun Hosen oder Röcke trägt. Die Kleidung, die man trägt, verändert den Menschen nicht, das betont Mark immer wieder. Familie und enge Freunde würden das auch verstehen. In den Rock wachsen Männern oder sich als männlich identifizierende Menschen, die das Tragen eines Rockes gerne ausprobieren würden, sich aber noch unsicher sind, rät Mark, sich in einem anonymen Umfeld mit dem Gefühl vertraut zu machen und sich dabei ein Selbstbewusstsein aufzubauen, zum Beispiel in einer anderen Stadt bummeln gehen, in einem Viertel spazieren gehen, in dem man niemanden kennt, um sich auf der einen Seite an das rein physische Gefühl eines Rockes zu gewöhnen, auf der anderen Seite aber auch daran, wie das Umfeld auf einen reagiert. Denn man darf nicht vergessen, dass Mark mit dem Verständnis und der Unterstützung aus seinem privaten und beruflichen Umfeld ein großes Privileg genießt. Nicht selten sind Männer, die sich in ihren traditionellen Röcken in der europäischen Öffentlichkeit zeigen, rassistischen Zuschreibungen ausgesetzt, die auf der Kleiderordnung anderer Kulturen basieren. Grundsätzlich sollte jeder für sich entscheiden, ob man mit den möglichen Konsequenzen im privaten Raum oder auf der Arbeitsstelle umgehen kann und sich dabei sicher fühlt, in diesen Situationen einen Rock zu tragen. Denn die Kleidung, die man trägt, wird beim Großteil unserer Gesellschaft nach wie vor mit bestimmten Klischees oder Vorurteilen verbunden, was sich dann auch auf die Art und Weise auswirken kann, wie man behandelt wird. Und von Vorurteilen von Männern in Röcken und High Heels kann auch Mark berichten. Oft werde er auto-

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matisch als homosexuell wahrgenommen, was er selbst nicht versteht, da Kleidung für ihn kein zugeordnetes Geschlecht oder eine Sexualität hat. Dies ist eine Haltung, die er auch anderen Menschen näherzubringen versucht, um damit eine größere Akzeptanz für individuelle Ausdrucksweisen zu schaffen. Mark erzählt, dass er auch Kommentare von Frauen erhalte, die gerne maskulinere Kleidung tragen würden. Die veralteten Stereotypen, dass Kleidung die sexuelle Identität zum Ausdruck bringt, möchte Mark entkräften und Männern wie Frauen die Hemmung nehmen, sich nach ihrem Geschmack zu kleiden. Er ermutigt sie, unabhängig von etablierten Rollenbildern einfach sie selbst zu sein und die Kleidung zu tragen, in den sie sich wohlfühlen. Auch wenn er seinen Kleidungsstil nicht als politisches Statement wahrnimmt, sieht Mark seine Aufgabe darin, anderen Menschen online und offline zu zeigen, dass jeder Mensch gleichwertig ist, egal was man trägt, wie man sich selbst ausdrückt oder wohlfühlt. Klar, sagt er, Röcke zu tragen ist da vielleicht nur ein kleiner Schritt, aber vielleicht zeigt es den Menschen, dass wir alle im Inneren menschlich sind. Unabhängig davon, woran wir glauben, welche Farbe unsere Haut hat, wen wir lieben oder ob wir eben lieber Hosen oder Röcke tragen.

Irfan trägt einen Rock von Sepideh Ahadi, Kaputzenpullover von Afora, Schuhe Ekin erhältlich über Kula


Max trägt ein Kleid von Afora, Ring von Folkdays, Ohrring von Elina Sternfeld

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Links: Mode von Sepideh Ahadi, Irfan trägt Schuhe von EKN erhältlich über Kula, Max trägt Schuhe von Flamingoslife erhätlich über Kula

Oben: Max trägt einen Mantel und einen Rock von Sepideh Ahadi, T-Shirt von Afora, Kette von Elina Sternfeld

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Ich find‘s aber gut. Ästhetik liegt eben im Auge des Betrachters. Oder in der Perspektive einer Generation, die man eigentlich beim exzessiven Streben nach Individualität begraben wollte. Aber deren Ideale und Ideologien schimmern immer noch mehr als nur ab und zu durch. Text und Fotografie: Smilla Harmia „Skateboards und Jeansröcke“

Fortsetzung auf Seite 79

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give me f ive! Kosmetik:

Five Skincare www.fiveskincare.ch @fiveskincare Interview:

Miriam Lellek und Luisa Weber

Hand aufs Herz – wie viele Inhaltsstoffe brauchen Beauty-Produkte wirklich? Wir haben darüber mit Anna Pfeiffer, der Gründerin von FIVE, gesprochen und erfahren, worauf es bei der Hautpflege wirklich ankommt. Ihre Grundidee ist eine Beautylinie, in der jedes Produkt mit fünf natürlichen Inhaltsstoffen auskommt. Zudem wird alles ohne Tierversuche und synthetische Stoffe sowie ohne Emulgatoren, Alkohol, Parabene und Silikone in der Schweiz und Deutschland hergestellt – mit Transparenz und maximaler Natürlichkeit! Alle Produkte von FIVE sind von Vegan Society und ClimatePartner zertifiziert.

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Was sind deine persönlichen Beweggründe, Naturkosmetik herzustellen? Ich selbst habe eine sensible Haut und war mit der Menge an Produkten und Werbeversprechen überfordert. Auch in der Naturkosmetik habe ich kein Produkt aufgrund seiner Inhaltsstoffe verstanden. Ich begann zu recherchieren und fand heraus, dass viele Inhaltsstoffe in Pflegeprodukten gar nicht für den Hauptnutzen enthalten sind.Die Produkte sollen bei extremen Temperaturen die gleiche Textur behalten, der Duft soll überirdisch sein und einziehen soll das Produkt bitte in zwei Sekunden. Für empfindliche Haut ist dies nicht zum Vorteil – so entstand schließlich die Idee für FIVE. Wieso beinhaltet gängige Kosmetik so viele Inhaltsstoffe? Weil es einfacher ist, einen Stoff hinzuzufügen als einen wegzulassen. Wenn ich zum Beispiel wässerige Bestandteile verwende, müssen diese konserviert werden. Wenn ich dann fetthaltige Ingredienzen dazugebe, benötigt es Emulgatoren, die das Wasser und das Fett verbinden. Es spielen natürlich auch Kosten eine Rolle, und oft wird daher mit Füllstoffen gearbeitet. Zum Schluss besteht das Produkt aus ganz vielen Inhaltsstoffen, von denen aber nur die wenigsten einen Nutzen für die Haut mitbringen. FIVE verwendet Glas, das in Europa, vorwiegend in Deutschland, produziert wird. Du bemühst dich allerdings mit FIVE um ein Mehrwegsystem – wie kann so etwas in der Zukunft gut funktionieren? Mehrwegsysteme sind nicht von Beginn an nachhaltig, sondern müssen sich diesen Status erst erarbeiten. Ein Beispiel: Wir verwenden bereits Mehrwegboxen für unseren Versand. Diese Box wird uns von der schweizerischen Post zur Verfügung gestellt, welche diese herstellt und nach jedem Versand reinigt und wieder in den Kreislauf bringt. Die Ressourcen für die Herstellung einer stabilen Box sind um ein Vielfaches größer, als sie für einen Einwegkarton wären. Die Mehrwegbox wird also erst nachhaltig, wenn sie x-Mal verwendet wurde. Damit die Box nachhaltig wird, müssen alle mitmachen, um die Box immer wieder in den Kreislauf zu bringen. Wird dieser durchbrochen, weil jemand die Box nicht zurückgibt oder sie beschädigt wird, ist alles dahin. Deshalb brauchen Mehrwegsysteme die Zusammenarbeit und die Verantwortung aller beteiligten Personen und Unternehmen.

Make-Up Entferner: Entfernt zuverlässig Make-up, wasserfeste Mascara und Stadtschmutz. Frei von Tensiden oder aggressiven Inhaltsstoffen. Kaltgepresste Bio-Pflanzenöle unterstützen die Haut bei der Regeneration und bewahren die Hautbalance.

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Dein Ziel ist, Kosmetik verständlicher zu machen. Was sollten wir über das Thema Hautpflege wissen? Die Beauty-Industrie lebt, wie auch alle anderen Industrien, davon, ständig neue Produkte mit neu entwickelten Inhaltsstoffen auf den Markt zu bringen und den Konsument*innen das Gefühl zu geben, dass die Produkte dringend erworben werden sollten. Dieses Handeln ist nicht in erster Linie von einem Nutzen für die Haut getrieben. Doch braucht die Haut höchstens eine unterstützende Pflege, manchmal auch gar nichts. So macht eine Sonnencreme viel Sinn und im Winter eine Schutzcreme vor Kälte. Zusätzlich braucht sie Feuchtigkeit und etwas Fett – mehr aber nicht. Viel wirkungsvoller ist ein gesunder Lebensstil, gute Ernährung, Sport und Stressmanagement. Wie beurteilst du die Separation von Männer- und Frauenprodukten in der Kosmetikbranche? Als ich FIVE gestartet habe, habe ich die Produkte klar als Unisex deklariert. Davon bin ich aber etwas abgekommen, denn ich merke, dass die Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind. Dies muss nicht unbedingt auf Produktebene sein, aber Frauen und Männer beschäftigen andere Fragen. So haben zum Beispiel viele Frauen Hautprobleme, nachdem sie die Pille abgesetzt haben. Männer haben mit irritierter Haut nach der Rasur zu kämpfen. Grundsätzlich finde ich aber Unisex-Produkte nach wie vor sinnvoll! Was ich persönlich gar nicht mag, und was mich auch vor der Gründung vor FIVE sehr gestört hat, ist die klare Ansprache von Stereotypen in der Beauty-Industrie. Als Frau habe ich mich oft nicht angesprochen gefühlt von den blumigen Versprechen und Verpackungen. Ich muss aber betonen, dass sich hier in den letzten Jahren sehr viel positiv verändert hat. Als ein unabhängiges Unternehmen bist du für vieles selbst verantwortlich. Dies birgt neben der persönlichen Freiheit, die eigenen Ziele zu verfolgen, sicherlich auch Hürden und Schwierigkeiten. Wie hat sich das in den letzten vier Jahren seit der Gründung für dich angefühlt? Insgesamt sehr gut. Ich bin extrem froh, dass wir den unabhängigen Weg gegangen sind, denn es ist erfüllend, meine Marke so entwickeln zu können, wie ich es für richtig halte. Auch kann ich mir meinen eigenen Arbeitstag so planen, wie es für mich passt und sich richtig anfühlt. Wir wachsen natürlich nicht so schnell, dafür aber sehr nachhaltig. Eine Gründung ist in den ersten Jahren ein Auf und Ab. Aber wir sind auf einem sehr guten Weg. Wenn ich dann zurückblicke, bin ich positiv überrascht, was ich mit FIVE schon alles erreicht habe.

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Gesichtsserum: Das persönliche Lieblingsprodukt der Gründerin. Das ölfreie Serum bringt maximale Feuchtigkeit mit biologischem Rosenblütenhydrolat und Hyaluronsäure. Das Besondere an diesem Produkt: Normalerweise werden wasserhaltige Produkte mit Alkohol konserviert. Alkohol kann jedoch die Haut austrocknen und reizen. Stattdessen setzt Five auf vegane Milchsäurebakterien, die das Produkt nicht nur haltbar machen, sondern auch nachweislich die Hautfeuchtigkeit verbessern.

Shea Cream: Intensiv nährender Balsam für sehr trockene oder empfindliche Haut mit fair gehandelter biologischer Sheabutter. Die Konsistenz erinnert an Honig und schmilzt bei Hautkontakt sofort. Ideal für sehr trockene Haut oder als Schutzcreme für den Winter.

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gutes zeug The Female Company macht Periodenprodukte für starke, moderne Frauen – aus Bio-Baumwolle ohne Chemie und Pestizide. Dabei räumen sie nicht nur mit Tabus rund um die Menstruation auf, sondern versorgen auch pro verkaufter Abo-Box eine weitere Frau mit Periodenprodukten, die es sich selbst nicht leisten kann. Die wunderschönen Tamponboxen kannst du in unterschiedlichen Größen einmalig oder als Abo bestellen unter www.thefemalecompany.com

Die zertifizierten Naturseifen von Terrorists of Beauty werden in Handarbeit in einer norddeutschen Seifenmanufaktur hergestellt und von einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung plastikfrei verpackt und verschickt. Vegan. Palmölfrei. Unisex. Mit diesen Waffen kämpft das Hamburger Label gegen die Gesetze der Schönheitsindustrie. www.terroristsofbeauty.com

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Gitti bietet nicht nur tolle, knallige Nagelfarben, sondern auch ein umweltfreundliches Konzept, das ganz ohne Tierversuche auskommt. Die Berliner Firma verzichtet auf chemische Lösungsmittel und stellt ihre Nagellacke zu 55% aus Wasser her. Jeder Kauf bei Gitti unterstützt zudem die Kooperation mit Charity Water, die Menschen mit sauberem Trinkwasser überall dort versorgt, wo es keine Selbstverständlichkeit ist. www.gitticonsciousbeauty.de

Die Game-Changerin namens Estrid ist ein veganer Rasierer, den du benutzen kannst oder auch nicht. Denn Estrid ist für alle da – egal ob du es gerne flauschig oder super smooth haben willst. Es ist dir überlassen, aber eines steht fest: mit Estrid rasierst du dich cruelty free und bezahlst einen fairen Preis. www.estrid.com

Im Online Shop von Mit Ecken und Kanten findest du Mode, Naturkosmetik sowie Foodies und Wohnaccessoires, die aus dem Handel aussortiert wurden. Die Produkte, die ausschließlich von nachhaltigen und fair produzierenden Firmen stammen, können zu reduzierten Preisen auf www.miteckenundkanten. com gerettet werden.

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we see beauty Fotografie und Text von Lucia Berlanga Als Kind fand ich Menschen schön, die eher nicht dem entsprachen, was wir unter klassischen Schönheitsidealen zu verstehen pflegen. So eiferte ich beispielsweise der Freundin meines Cousins nach, ich wollte um jeden Preis so aussehen wie sie! Für mich war sie wunderschön, hatte lange blonde Haare, mindestens 15 Kilo mehr Gewicht und das Gesicht voller Pickel. Für mich war klar: Diese Pickel brauch ich auch, um schön zu sein. Später habe ich trotzdem jahrelang extreme Perfektions-Ansprüche an mein eigenes Äußeres gestellt, obwohl ich zeitgleich die Menschen am schönsten fand, die diesen Ansprüchen ebenso wenig gerecht wurden – im Gegenteil sogar eher mit so kategorisierten „Schönheitsdefiziten“ ausgestattet waren. Sie gaben mir aber das Gefühl, zu wissen, wer sie sind, wo sie hinwollen, sie hatten einen großartigen Humor und eine geheimnisvolle Tiefe. Das schönste Kompliment, das mir selbst bisher zugeflogen ist – vielleicht das einzige, das ich je wirklich annehmen konnte, ohne misstrauisch den Zweck zu hinterfragen –, kam von drei Mädchen im Grundschulalter, die mich anhielten, um mir zu sagen, dass sie mich so schön fänden. Das hat mich berührt, weil ich ahnte, dass sie eine ähnliche Wahrnehmung von Schönheit hatten wie ich damals im selben Alter. Noch heute hilft mir dieses Erlebnis in Zeiten, in denen ich nur an mir zweifle, und gibt mir die Hoffnung, dass wir unser Verständnis von Schönheit zukünftig ändern können. Denn was ist eigentlich Schönheit für meine Mitmenschen? Über die Jahre erlernt sich eine Sichtweise, befeuert durch die Industrie, die uns immerzu Optimierungsmöglichkeiten anbietet, anstatt uns zu erlauben unsere Fähigkeiten oder Stärken wahrzunehmen. Aber ist nicht das, was für Menschen Schönheit ausmacht, Authentizität oder Selbstbewusstsein, das wir uns vielleicht hart erarbeiten mussten? Ich möchte in diesem Projekt Menschen portraitieren, deren Wesen ich schätze, und ihre Ansichten und Wahrnehmungen zu Schönheit kennen lernen. Mir ist es dabei wichtig, die Kluft zu schließen, die sich vor allem in der Schönheitsindustrie zwischen jung und alt auftut, und Menschen unterschiedlichen Alters einzubeziehen. Es ist längst Zeit, dass sich eine Mode- und Schönheitsindustrie etabliert, die den Fokus darauf lenkt, Konsument*innen dabei zu unterstützen, sich in ihrer Individualität und Realität zu entfalten, statt sich zu verstecken, verjüngen, kaschieren, überpinseln und unterspritzen! Denn Schönheit ist vielmehr die Gabe, sich so anzunehmen, wie mensch ist, und ebenso die Fähigkeit, die Individualität anderer Menschen zu sehen und diese zu lieben, wie sie sind. Mit einer neuen Interpretation des Beauty-Editorials möchte ich genau das versuchen: Schönheit als etwas Ganzheitliches zu verstehen und das Authentische hervorzuheben.

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Gab es Momente in deinem Leben, in denen du dich bevorzugt oder benachteiligt gefühlt hast auf Grund deines Aussehens? Nadine: Meine Mutter hob stets mein schönes Aussehen in den Vordergrund. Sie war stolz, eine hübsche Tochter zu haben, und richtete mir ständig aus, wenn jemand aus ihrem Bekanntenkreis oder sogar unser gemeinsamer Zahnarzt von mir schwärmten. Oft dachte ich, ich würde dadurch unterschätzt werden, und das machte mich wütend, vor allem da es noch mehr gibt, was mich auszeichnet! Ich sagte zu meiner Mutter, dass ich das nicht mehr hören wollte. Dies wiederum erzeugte ein schlechtes Gewissen in mir, ich dachte, dass ich undankbar sei und deshalb vielleicht einen Unfall haben könnte und äußerlich entstellt würde. In diesem Zwiespalt steckte ich lange. Ob ich das jetzt bevorzugt oder benachteiligt nennen würde, kann ich nicht genau sagen, denn für mich hat beides die Bedeutung, oberflächlich betrachtet worden zu sein. Wie würdest du die Beziehung zu deinem Körper beschreiben? Nadine: Bis ich 14 Jahre alt war, gehörte mein Körper und mein Aussehen ganz mir und ich fühlte mich wohl. Ich war immer schon schlank, hübsch und sportlich – am liebsten rannte ich durch die Gegend. In der Pubertät fingen dann plötzlich die Vergleiche untereinander an und somit die ersten Komplexe wie zum Beispiel zu dunkle Körperbehaarung. Und natürlich wollte ich auf einmal den Jungs gefallen. Gleichzeitig habe ich durch die Antibabypille jedoch in kurzer Zeit viele Kilos zugenommen und war das erste Mal mit Kontrollverlust bezüglich meines Körpergewichts konfrontiert. Auch wenn ich mit 20 und viel Sport wieder zu einer gefühlten Einheit mit meinem Körper zurückfand, war ich noch lange nicht frei von Komplexen. In meinen 30ern kam schließlich mehr Gelassenheit und ein neues Selbstverständnis von Schönheit dazu. Ich rasierte mir eine Glatze, nahm mir bewusst das Weiblichkeitssymbol weg und fühlte mich trotz nachwachsenden grauen Haaren neu und nicht alt! Seit meiner ersten Schwangerschaft bin ich grundsätzlich mehr mit mir selbst zusammengewachsen. Mein Körper ist nicht mehr wie früher, aber ich bin stolz auf ihn.

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Text: Lucia Berlanga

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Mical: Ich war in meiner Kindheit zwei ganz unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt, zum einen dem meiner Mutter, die sehr offen ist, und zum anderen meinem Vater, der eher altmodisch und konventionell eingestellt ist. Also klar, ich empfinde Schönheit oft noch im typischen, klassischen Sinne, wie ich es in meiner Kindheit gelernt habe. Aber je älter ich werde, desto öfter begegnet mir die Schönheit im Untypischen, und ich lege meinen Fokus bewusst mehr auf Charakter und Ausstrahlung. Besonders wenn ich ganz bei mir selbst bin und auf meine innere Stimme achte, erscheint mit die Welt voller Schönheit! Auch aus Hamburg wegzugehen und in anderen Städten wie London und Berlin neue Erfahrungen zu sammeln, hat mich dazu inspiriert, mich von alten Ansichten zu trennen und offen zu sein für alle Facetten von Schönheit. Mein direktes Umfeld trägt dazu bei, wie frei von Konventionen ich mich bewegen und entfalten kann – die Anonymität der Großstadt ist für mich dabei essenziell. Sich nicht erklären zu müssen oder etwas darstellen zu müssen, um dazuzugehören, gibt mir die Freiheit, ganz ich selbst sein zu können.

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Ute: Schönheit ist für mich der erste Anblick in die Augen, das Strahlen, die Mimik und Gestik. Ja, die Ausstrahlung eines Menschen und das Lachen. Je länger ich über Schönheit nachdenke, begreife ich – mein eigener emotionaler Zustand ist maßgeblich beteiligt in dem, wie ich Schönheit sehe.

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Hulya: Beauty is something or someone that has substance in it and evokes something as soon as you look at it. When I was working as a professional dancer I had to fit into the beauty ideal of the commercial dance scene to get a chance at castings and auditions. Nevertheless, I have a very good relationship with my body. I love to go swimming or dancing but I also enjoy eating. I try to listen to my body and be nice to it. What makes a person beautiful is to stay true to yourself and live authentically, not being perfect and having a big heart. Complexity is also something in which I find beauty.

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Was assoziierst du mit dem Begriff Schönheit? Leonardo: Es entsteht ein befriedigtes Gefühl und ein kaleidoskopmäßiger Film mit Zitrusfrüchten, Insekten, Wärme, sanfter Berührung, dreckiges Lächeln,… es fehlt an nichts, alles ist da, ich brauche nichts, ich habe alles. Ich war schon immer ein Bewunderer der Schönheit, und sie ist so vielschichtig, dass es schön ist, nach ihr zu streben. An welchen Vorbildern hast du dich in deinem Leben orientiert? Leonardo: An meinem Vater. Ich hatte immer zu wenig von ihm und habe ihn idealisiert. Doch seine Schönheit ist eine andere, er hat harmonische und interessante Gesichtszüge und ungewollt Eleganz in seinen Bewegungen und Haltungen. Meine Mutter dagegen hat mich gelehrt, dass Pflege nicht nur unser Äußeres betrifft, sondern auch die geistige Haltung. Was macht für dich einen schönen Menschen aus? Leonardo: Er strahlt und ist in seiner Mitte... bhaaa nein, zu statisch... er tanzt um eine Mitte, besitzt gesunde Aggression und zieht Grimassen, weil er nicht in den f *#%ı°ng Spiegel schaut, und ist deshalb so fotogen wie ein Kind. Natürichkeit. Ja, ich glaube, das ist der Kern der Schönheit für mich.


Elisa: Von meiner Familie wurde ich als Kind oft gehänselt und verurteilt, ich sei zu dick. Nicht nur die Jungs aus meiner Schule, sondern sogar meine Tanzlehrerin hat sich über mich lustig gemacht und mir die einzige Männerrolle gegeben, da sie mich zu kräftig für Mädchenrollen fand. In Frankreich ist Gewicht sehr wichtig, deshalb habe ich mich in meiner Kindheit und Jugend sehr hässlich gefühlt. Ich wollte nie wie die Frauen meiner Kindheit werden, die mir ein schwaches Bild von Weiblichkeit vermittelt haben. Ich wollte lieber wie ein Junge sein, frei, ohne in eine Rolle gezwängt zu werden. Erst mit Mitte 20 habe ich aktiv angefangen, an meinem Selbstbild zu arbeiten, und jetzt mit 35 fühle ich mich wunderschön, obwohl ich älter werde, dadurch Falten bekomme und nicht mehr dem jugendlichen Schönheitsideal entspreche. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass wir in den Medien mehr ältere Frauen sehen, als Vorbilder und Orientierung, um die Angst zu verlieren und nicht ewig an dem Jugendlichen festhalten zu wollen. Ich habe das Gefühl, als weibliches Wesen wird man ein Leben lang nach dem Aussehen beurteilt oder begutachtet. Durch diesen Druck geht eine menge Energie verloren, die für viel produktivere Dinge genutzt werden könnte. Wenn ich mir heute Bilder aus meiner unsicheren Jugend ansehe, denke ich: Verdammt! Ich war wirklich hübsch. Hätte ich ein bisschen mehr Selbstsicherheit gehabt, hätte ich auch viel mehr geschafft, anstatt so viel an mir selbst zu zweifeln. Es ist schön zu sehen, dass sich heute dahingehend etwas verändert und mehr über solche Dinge gesprochen wird. Die kommenden Generationen werden es sicherlich leichter haben – je offener über Diversität in jeglicher Hinsicht gesprochen wird, desto leichter wird es für das Individuum, die eigene Schönheit zu erkennen und mit vollem Bewusstsein zu entfalten, ohne Scham und Zweifel. Was ich mich früher nicht getraut habe, weil ich zuviel Angst vor der Meinung anderer Leute hatte, hole ich heute nach, bunte Haare, Tattoos, Piercings und so weiter. Darauf zu scheißen, was andere von mir denken, bestärkt mich, meinen Körper als den meinen anzuerkennen und damit machen zu können, was ich will. Das macht mich unabhängiger von Bestätigung anderer, und was ich mir zuvor in Beziehungen holen musste, kann ich mir mittlerweile selbst geben. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass mehr ältere Frauen sichtbarer werden, auf den Tanzflächen, in den Medien und nicht nur für Rentnerwerbung.

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eine gute f igur Die feministische Kolumne Text von Jule Fuhrmann

Wieso ich mich eigentlich immer so locker kleide, fragt mich eine Freundin. Mit locker meint sie nicht lässig, fesch oder schnittig. Sie meint breit, nicht körperbetont. Im nächsten Satz macht sie mir Komplimente, denkt sie. Das sei doch schade, mein Körper sei doch toll. Ich könne ruhig engere Kleidung tragen, ihn betonen. Ob ich das überhaupt will, fragt sie nicht. Denn Frauen tragen enge Kleidung – zeig doch, was du hast. Und Gott ja, zeig, was du hast, wenn du dich danach fühlst. Die einzige Ästhetik, die uns als Frauen übrig zu bleiben scheint, die von uns erwartet wird, ist die, die unseren Körper im besten Licht zeigt. Und klar, das beste Licht ist nicht das strahlendste, sondern das, das am schmalsten leuchtet. Niemals würde meine Freundin auf die Idee kommen, dass mein oversized Hemd über der lockeren Jeans etwas mit meiner Ästhetik und nicht mit meiner Scham über meinen Körper zu tun hat. Wieso sollte ich der Gesellschaft sonst den Blick auf meinen Körper verwehren.

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Ihr ist nur eine Antwort eingefallen, ich schäme mich für ihn, weil ich dick bin. Aber nur, weil ich meine Speckfalte heute mal nicht zwischen low waist Jeans und Croptop durchblitzen lasse, heißt das nicht, dass ich sie verstecke, und noch lange nicht, dass ich sie hasse. Es heißt auch nicht, dass ich sie liebe. Es heißt nichts, außer dass meine Ästhetik gerade nach einer lockeren Bluse über einer lockeren Jeans schreit. Ich habe kein Problem damit, wenn Frauen ihre Körper zeigen. Ich habe kein Problem mit von ihnen selbst gewählten und verzierten Präsentiertellern, sondern mit von anderen aufgestellten Anklagebänken. Denn wenn wir darauf bestehen, dass Frauen ihre Körper zeigen, bestehen wir eigentlich darauf, dass sie diese der Gemeinschaft zur Bewertung vorlegen. Während sie gegen Pfiffe aus dem Publikum ankämpfen, flüstert ihnen ihr Pflichtverteidiger ins Ohr: Kennst du deinen Körpertyp – Sanduhr oder doch Holzklotz? Dann komm, hier ist die Liste an Dingen, die du tragen solltest, und eine noch längere Liste mit absoluten Don'ts. Schreib sie dir hinter die Ohren – schon mal drüber nachgedacht, ob du echt goldene Ohrringe tragen solltest? Und damit du beim nächsten Gang nach draußen direkt weißt: das Kleid geht gar nicht, maximal mit einem Gürtel darauf... Taille, Taille, Taille. Stets die Frage im Ohr: Macht das eine gute Figur? Und ja, vielleicht habe ich zu viel Suits geschaut. Wir treffen Urteile über das Selbstempfinden von Menschen. Schließen aus ihrer Kleidung auf ihr Verhältnis zu sich selbst und ihrem Körper. Wir zwingen ihnen Tipps auf, damit sie unserer Norm entsprechen, unserer Beurteilung entkommen. Aber gibt es dieses Entkommen? Was wäre, wenn ich nicht schlank aussehen will und das auch nicht müsste? Wenn das schlanke Bein, der knackige Jeans-Hintern oder die schmale Taille nicht das Maß unserer Kleiderwahl wären? Wenn Kleidung nichts für uns tun müsste, außer uns ein gutes Gefühl zu geben? Wenn der Freispruch „Du machst eine gute Figur“ statt „Das macht eine gute Figur“ lauten würde, egal ob in Croptop, Müllsack oder Heels?

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Manchmal erwisch ich mich dabei, wie ich mich über die Überraschung, Verwirrung, ja Empörung in ihren Gesichtern freue. Und im nächsten Moment hoffe ich auf Omis Bestätigung in einem Schulterklopfen und auf seine, in einem begierdevollen Blick.

Ende

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Nude, not sexualised Ein Körper auf einem Podest hockend, stehend, posierend. Die Haut spannt und rollt sich zusammen. Haut über Knochen, weich und kantig zugleich, lässt uns der Körper erfahren, was es heißt, Lasten zu tragen, Liebe zu erfahren, den Sommer zu riechen, Wärme zu genießen. Außen die Leinwand, innen das Leben. Naturalisieren statt sexualisieren. Instrumentieren und experimentieren, statt ihn stetig zu manipulieren. Ihn ansehen als Wunder auf Zeit, die uns nicht ewig verbleibt.


Fotografie & Text:

Aline Pape

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♥ Tausend Küsse und eine dicke Umarmung gehen an alle, die 🕐 und Arbeit in unsere ❶ Ausgabe gesteckt haben und durch ihre Beiträge ✑, Gedanken, Fotostrecken und Texte dieses 📖 überhaupt erst möglich gemacht haben❣ Dankeschön an alle, die sich als Model für verschiedenste Projekte zur Verfügung gestellt haben, sowie alle Designer*innen für die Bereitstellung der Kleidung, Schuhe und Accessoires. Dass dieses Magazin so unglaublich ✨ ✨ ✨ geworden ist, verdanken wir unseren Grafikdesigner*innen, die viel zeitinten-


sive Arbeit ☕ in die Gestaltung gesteckt und etliche ✆–Meetings durchgehalten haben ⏳. Für die freundliche 💵 Unterstützung bedanken wir uns bei Interflugs und dem Materialstipendium der HTW Berlin ✿. Danke auch an unsere Familien und Freund*innen für die viele Unterstützung, Beratung und Korrektur ✔. Ohne euch wäre ISSUE 01 nie das geworden, was es heute ist, und wir freuen uns über alle, die nun Teil der Unposed Familie sind🌞! See ya soon ✌


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