HSG Blatt Nr.3-2011

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Emeritierung – Panorama

23. Mai 2011

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Rechtsgelehrter, Idealist, Demokrat Zur Emeritierung von Prof. Dr. Philippe Mastronardi

Für manche verkörpert er eher das Gegenbild des Repräsentanten einer Wirtschaftsuniversität. Für andere bildet er gerade den unabhängigen Gelehrten, den die HSG braucht, wenn sie sich nicht nur als Business School, sondern als Universität verstehen will. Persönlichkeit und Werk von Philippe Mastronardi lassen sich deshalb nicht einfach mit einer bestimmten Position verorten. Genauer betrachtet verkörpert er wohl beide Rollen in differenzierter und geistreicher Weise: jene des Anwaltes der HSG wie des Anwaltes der Kritiker der HSG.

klar, dass ein Jus-Studium mehr bedeuten muss als das Erlernen des juristischen Handwerks oder das Lernen von spezifischem Fachwissen. Ein guter Jurist zeichnet sich durch ein methodisch klares Rechtsdenken und durch die Fähigkeit zur Reflexion des bestehenden Rechts aus. In seiner Forschungsarbeit der letzten Jahre hat Philippe Mastronardi das Rechtsdenken, wie es herkömmlich verstanden wird, erheblich erweitert. So befasste er sich eingehend mit der, wie er es nennt, «interdisziplinären Richtigkeit» im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften und er übertrug, angetrieben durch die tiefe Krise des Finanzsystems, staatstheoretische Grundsätze auf die Wirtschaft und entwarf Grundzüge einer «Verfassung des Kapitalismus». Dass dabei manche seiner unorthodoxen Ideen zum Widerspruch herausfordern, nimmt er gerne in Kauf.

Kontrolle und Kritik der Macht

Universität als Körperschaft

Mit Philippe Mastronardi tritt auf Ende dieses Frühjahrssemester kein «typischer HSG-Professor» von der Universitätsbühne ab.

Nähe und kritische Distanz zu politischer Macht kennzeichnen schon die erste grosse Stelle, die Philippe Mastronardi nach dem Abschluss seines Studiums und dem Doktorat an der Uni Bern eingenommen hat. Während 16 Jahren erfüllte er die Aufgabe des Sekretärs der Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte. Man darf ohne Übertreibung sagen, dass er in dieser Zeit die Rolle und das heutige Verständnis parlamentarischer Oberaufsicht wesentlich mitgeprägt hat. Der tiefe Einblick in die Funktionen, Gesetzmässigkeit(en) und Abläufe der Verwaltung haben ihm staats- und verwaltungsrechtliche Fragestellungen eröffnet, die er später unter verschiedenen Aspekten wissenschaftlich bearbeitet und bis heute weiterentwickelt hat. In seinem demokratischen Verständnis ruft exekutive Macht (wo immer sie sich zeigt) nach demokratischer Legitimation und Kontrolle, wobei die Kontrolle immer auch Kritik der Macht bedeutet. Nur einen im dauernden demokratischen Diskurs legitimierten und erneu-

Philippe Mastronardi: Rechtswissenschaftler mit Blick für Zusammenhänge. erten Staat versteht er als auch einen «guten und gerechten Staat». Seit seiner Wahl als Ordinarius für öffentliches Recht an der Universität St.Gallen im Jahre 1995 betreute Philippe Mastro-

nardi primär Veranstaltungen im Bundesstaatsrecht auf allen Studienstufen. Seine Vorliebe für das Staatsrecht kam unter anderem auch in der Mitherausgabe und der Kommentierung mehre-

Bild: Hannes Thalmann

rer Artikel im St.Galler Kommentar zur Bundesverfassung zum Ausdruck. Zunehmend stärker engagierte er sich jedoch in der Rechtsmethodologie und in der Rechtstheorie. Für ihn war immer

Eine Universität ist wesentlich geprägt durch die körperschaftliche Mitwirkung von Dozierenden und Studierenden. Philippe Mastronardi hat diese aktiv mitgestaltende Rolle der Studierenden in seinen Lehrveranstaltungen auch einund herausgefordert. Manchen Studierenden sind die abendlichen kontroversen Diskussionen bei Käse und Wein in Mastronardis Wohnung in bester Erinnerung. In Bezug auf das Verhältnis unter den Dozierenden hat er der Kollegialität grossen Stellenwert beigemessen: Kollegialität allerdings nicht verstanden als möglichst ungestörtes Nebeneinander, sondern als diskursives Miteinander, als «akademische Streitgenossenschaft». In diesem Sinne wünschen wir Philippe Mastronardi nach seiner Emeritierung weiterhin schöpferische Kraft und Wohlergehen. Prof. Dr. Bernhard Ehrenzeller Abschiedsvorlesung von Prof. Dr. Philippe Mastronardi: Dienstag, 24. Mai, 18.15 Uhr, Raum 09-010 (Audimax), «Wissenschaft als Liebe zum Wissen in einer rational gespaltenen Welt».

Europa aus verschiedenen Perspektiven Neues Center for Governance and Culture in Europe (GCE-HSG) Die HSG verfügt über eine neue Forschungseinrichtung: Der Politologe Dirk Lehmkuhl, der Humangeograph Martin Müller und der Kulturwissenschaftler Ulrich Schmid haben das Center for Governance and Culture in Europe gegründet. Die Ziele des Center bestehen in der Profilierung der interdisziplinären Europaforschung an der HSG, in einer Verbesserung des Informationsaustausches über europabezogene Aktivitäten in Lehre, Forschung, Beratung und Weiterbildung sowie in einer institutionalisierten Vernetzung (national und international). Das Center ist dem Institut für systemisches Management und Public Governance angegliedert (IMP-HSG). Europa hat sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts dramatisch verändert. Einerseits haben die frühen Einigungs-

schritte im Westen massgeblich zu friedlicher Kooperation und allgemeiner Prosperität beigetragen. Diese Entwicklung schliesst auch Staaten wie die Schweiz oder Norwegen als Nichtmitglieder der Europäischen Union ein.

Andererseits führte die Selbstauflösung der kommunistischen Systeme zu einer sehr heterogenen Situation: Das Spektrum der Regierungsformen reicht von einer schnellen EU-Integration bis hin zum Rückfall in autoritäre Herrschaft.

Gleichzeitig verdeutlichen gerade jüngere Ereignisse wie die Finanzkrise, der Georgienkrieg oder die Bürgerproteste in den Staaten des südlichen Mittelmeers sowohl die Fragilität gewachsener Strukturen innerhalb der EU als auch die Wichtigkeit der Sicherung einer friedfertigen Austragung von politischen Konflikten auf dem Kontinent und darüber hinaus. Es gibt aber immerhin einen weit reichenden Konsens über die Verbindlichkeit von Menschenrechten: Von Aserbaidschan bis Island und von Portugal bis Russland sind 47 Staaten Mitglied im Europarat – mit der einzigen Ausnahme der Diktatur in Weissrussland.

Viel mehr als «EU-ropa»

Aufwärts oder abwärts? Europa in Bewegung.

Bild: Photocase/froodmat

Am GCE-HSG sollen gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und kulturelle Wandlungs- und Europäisierungsprozesse aus einer interdisziplinären und transnationalen Perspektive untersucht werden. Betrachtet wird dazu nicht nur «EU-ropa», sondern alle Länder des Kon-

tinents geraten in gleichem Masse ins Blickfeld. Die Forschungsprojekte des Centers befassen sich unter anderem mit den kulturellen Voraussetzungen politischer Prozesse, mit Mustern von Regionalisierungen sowie mit dem Zusammenspiel von transnationaler und lokaler Governance.

Internationale Kooperation

Durch eine enge Zusammenarbeit mit renommierten Forschungsinstituten wie dem New Europe College in Bukarest und dem Centre for Advanced Studies in Sofia sind erste Schritte zur Bildung eines internationalen Netzwerks gemacht. Das GCE-HSG gibt einen eigenen elektronischen Newsletter unter dem Titel «Euxeinos. Governance and Culture in the Black Sea Region» heraus. Finanziert wird das neue Center durch eine Leistungsvereinbarung mit dem Staatssekretariat für Bildung und Forschung. (red.) www.gce.unisg.ch


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