UNISCENE Hamburg 04/13

Page 18

Hamburger im Exil: In England fehlen ihm die salzigen Lakritze

Literatur

Foto: Kristine Thiemann

Ressortleitung: Michelle Ostwald E-Mail: literatur@uniscene.de

Inselaffen vs. Kartoffelfresser Mit 15 Jahren wurde Philip Oltermann von Hamburg auf eine Insel verschleppt und ist bis heute nicht zurückgekehrt. In „Dichter und Denker, Spinner und Banker“ stellt er fest: So schlimm sind die Engländer gar nicht. Eine Rezension von Michelle Ostwald. Der gebürtige Hamburger Philip Oltermann (31), der in London lebt und als Redakteur für „The Guardian“ arbeitet, hat ein abwechslungsreiches Buch verfasst, das mehr als die bloße Aneinanderreihung von Erlebnissen ist. Der Autor erzählt die Beziehung zweier Kulturen. Dabei greift er zum einen auf seinen eigenen Erfahrungsschatz, zum anderen auf historisch belegte Begegnungen zwischen Engländern und Deutschen zurück. Anpassen und angepasst werden Als sein Vater den Umzug nach London ankündigt, reagiert der 15-jährige Philip nicht besonders euphorisch. Welcher Teenager hat schon Lust, Freunde und Schule zu wechseln und sein ganzes Leben hinter sich zu lassen? Na klar: Der Aufbruch in ein fremdes Land ist auch ein Abenteuer, das Neugier weckt. Doch so ganz Feuer und Flamme wie seine Eltern ist Philip trotzdem nicht. Während sich Mutter und Vater 18

mit Salt and Vinegar Chips sowie Fish and Chips den Magen vollschlagen und zu echten Fans des British Way of Life werden, hat Philip Probleme, sich umzustellen und kann traditionellen Gerichten nichts abgewinnen: „Jeder Bissen wurde mit einem Schluck Flüssigkeit heruntergespült, als wäre der Geschmack sonst unerträglich. Dabei handelte es sich um ein Getränk, welches mir den englischen Nationalcharakter symbolisch auf den Punkt zu bringen schien: ein lauwarmes Glas Wasser.“ Integration erfolgreich Nach einiger Zeit legt sich Philip „einen südlondoner Middle-Class Akzent“ zu und wird von nun an nicht mehr „Phil the German“, sondern nur noch „Phil“ genannt. Endlich kann er über das Essen hinwegsehen und andere Dinge schätzen lernen. So beispielsweise das britische Fernsehen, das, „was Unterhaltung, Diskussionsniveau, Humor und Vielfältigkeit angeht, dem deutschen weit vor-

aus ist“, so der Autor. Heute vermisst der gebürtige Hamburger zwar immer noch salziges Lakritz und den Gong der Tagesschau, ansonsten hat er sich aber gut eingelebt. Ob er sich vorstellen kann, zurückzukommen? „Im Prinzip ja, praktisch jein. Ich habe einen Job bei einer tollen Zeitung, bin mit einer Engländerin verheiratet, habe hier meinen Freundeskreis. Andererseits reizt es mich schon, mal wieder in Deutschland zu wohnen, auch wenn ich dann doch zu sehr Hamburger Lokalpatriot bin, um mich den Exil-Engländern in Berlin-Kreuzberg anzuschließen“. Auch Heinrich Heine hat seine Erfahrungen gemacht Eine der historischen Begegnungen, die der Autor in seine Geschichte einflechtet, ist die zwischen Heinrich Heine und dem hitzköpfigen Engländer William Cobbett, der als radikaler Linker seinerzeit die einflussreiche Zeitung „Weekly Political Register“ herausbrachte. Heine

war fasziniert: Ein Land, in dem es Pressefreiheit und Demokratie gab, kannte er nicht. Doch die Freude währt nicht lange. Das tiefsinnige Gespräch, das Heine sich mit Cobbett erhofft hatte, blieb aus, weil dieser sich als derber Kerl mit einer Vorliebe fürs Pöbeln herausstellte. Heine war völlig von der Rolle und projizierte später seine Abneigung zu Cobbett auf ganz England. Kulturelle differenzen mit Humor nehmen Gerade wegen der Unterschiede sind interkulturelle Beziehungen so interessant. Philip Oltermann hat einen Beitrag zur deutsch-englischen Freundschaft geschrieben, der mit humorvollen Anekdoten und interessanten Fakten punktet.

Philip Oltermann: „dichter und denker, Spinner und Banker“ Biografie Dieses Buch ist weder wissenschaftliche Abhandlung noch blanker Erfahrungsbericht, sondern vielmehr eine interessante Kombination aus beidem. Es entsteht eine humorvolle Bestandsaufnahme unserer Beziehung zu den Engländern, die mit biografischen Erlebnissen und historischen Fakten gespickt ist. Eine nette Bettlektüre, von der man keine großen Gefühle erwarten muss – aber mit einem Schmunzeln im Gesicht kann man schon rechnen. Paperback, 288 Seiten, 12,99€, erscheint bei Rowohlt, W: rowohlt.de April 2013 |


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.