Faustisch - Ein Deutsch-Ossig Roman | Dieter Liebig

Dieter Liebig

FAUSTISCH Ein Deutsch-Ossig-Roman

VIADUKT-Verlag

Die Arbeit der Lektorin wurde vom Verein Altes und Neues DeutschOssig e.V. gefördert.

Die fiktiven Figuren dieses Romans sind in einigen Fällen angeregt durch reale Personen, aber nicht mit ihnen identisch. Die Handlung des Romans ist nicht die dokumentarische Darstellung tatsächlicher Vorgänge. Darum erhebt dieser Roman keinesfalls den Anspruch, die geschilderten Vorgänge könnten wahr sein oder sich so zugetragen haben.

VIADUKT-Verlag Grüner Graben 28 02826 Görlitz michaelprochnow@gmx.de © 2015 Dieter Liebig Lektorat: Ines Eifler, Görlitz Layout: Thorsten Strohbeck, Graphs&Grooves, Berlin Covermotive: © Michael Vogler, „Landschaft mit blühenden Bäumen“, „Nach der Landnahme“ Printed in Germany ISBN 978-3-929872-75-0

Für Geertje

Erstes Kapitel

Georg Warner Es war Totensonntag. Der Vikar Georg Warner rollte seinen Talar zusammen und verstaute ihn in seiner Tasche. Er begab sich aus dem Predigerseminar auf den Hof und trank aus dem Lutherbrunnen. Dieses Ritual hatte er sich für alle seine Wege in und um Wittenberg zugelegt.

Es sollte ihn dort nichts anfechten, denn „lebendig Wasser quillet aus Gottes Brünnlein klar“.

Anfechtungen hatte Warner genug erlebt, seit er vor einem halben Jahr den Hort akademischer Bildung verlassen hatte, in der Meinung, dass ihn die Kirche brauche. Doch sie hatte ihm das Gegenteil bewiesen.

In einem langestreckten Bauerndorf mit ebenso langer und langweiliger Tradition verkümmerten nun binnen kurzer Zeit seine Ideen, sodass er um die Schrift ringen musste, die Heilige wie auch seine eigene der Auslegung. Er begann anderweitig zu schreiben, Texte, Erzählungen und Einakter. So wollte er seiner Ideen wieder habhaft werden.

In einem kurzen Sommer hatte er acht Verstorbene dicht hintereinander von der Zeitlichkeit in die Ewigkeit zu begleiten gehabt. Sein Vikariatsvater war in der Stadt Görlitz geblieben, ohne die Kirche am Ende des langen Dorfes zu besuchen. Dem Auftrag zu vertiefender praktischer Theologie hatte sich der Michaelsbruder entzogen. Führend in der Bewahrung der Liturgie, hatte er dem jungen Vikar sofort angesehen, dass ihm diese kein Quell der Offenbarung war, sondern er, um es milde auszudrücken, den „Mummenschanz“ belächelte. Auch hatte ihre erste Begegnung gleich zu einem Zusammenstoß geführt. Warner hatte ihm beim Antrittsgottesdienst, der gemäß der Gesinnung des Micha5

elsbruders in einer ehemaligen Klosterkirche abgehalten wurde, trotzig mitgeteilt, dass er keinen Talar besitze. Der Bruder hatte ihn daraufhin in sein drittes Predigtgewand gezwungen. Andernfalls sei das Vikariat beendet, bevor es begonnen habe.

In dieser Nummer drei stand dann Warner in der Sommerhitze vor den offenen Gräbern. Was er zu sagen hatte, stammte aus seiner frühen Jugend. Der Vikariatsvater, zu dem er aufgebrochen war, um vor seiner ersten Beerdigung unterwiesen zu werden, hatte ihn sich nicht einmal setzen lassen, sondern darauf verwiesen, dass der Ablauf einer Beerdigung in der Gottesdienstagende Teil II stehen würde. Die zog Warner dann auch zu Rate. Mehr noch half ihm seine Erfahrung. Er war in seiner frühen Jugend drei Jahre lang Kreuzträger gewesen. Sein damaliger Pfarrer war ein Eiferer. Am Grab predigend – und er ließ sich auch bei eisiger Kälte die Länge nicht vorschreiben – legte er die Beerdigungsgesellschaft auf ihr liederliches geistliches Leben fest, war auch so unfein, das mit konkreten Beispielen zu belegen, bis die Gesellschaft nicht mehr aus Trauer weinte, sondern wegen der eigenen Sünden.

Es hatte auch in jenem Dorf nicht lange gedauert, bis Warner hinter die allzu menschlichen Schliche der Bewohner gekommen war. Bis zum Sommer hätte es ihm gelingen können, dem ehemaligen Zuchtmeister in nichts nachzustehen. Aber er vermochte es nicht, die Leute mit ihren Sünden zu konfrontieren. Er hatte Mitleid mit ihnen, rechnete sich das keineswegs als Schwäche an. So waren seine Predigten eine riskante Gratwanderung, bei der er noch den räudigsten Sünder selig sprechen wollte. Auf diesem Weg starb er jedes Mal mit. Mit Grausen dachte er daran, wie oft sich das in seinem wahrscheinlich langen Pfarrerleben wiederholen würde. Am Ende wäre er wohl 1 000 Mal gestorben.

Auch suchten ihn animalische Bedrohungen heim. Er bekam keinen Bissen herunter, träumte mehrere Nächte die Sündenbestrafung, um in der letzten vor der Beerdigung wach zu liegen. Der Höhepunkt solcher Drangsale sollte mit der dritten Beerdigung eintreten. Die Hitze war unerträglich, der Sarg troff, und dazu waren die Kränze mit eben dem geschmückt, was es gerade gab, Jasmin. Der süßliche Geruch steigerte sich in Verbindung mit dem anderen, sodass der Jasmin schließlich stank.

Warner hatte sich vor nicht allzu langer Zeit, die ihm aber nun weit entfernt vorkam, mit einer Dorfschönheit unter einem Jasminstrauch verbunden. Vermutlich sollte ihm dies genau wie alles andere in diesem nunmehrigen Schattenreich genommen werden. Es gab nichts, was sich nicht mit dem Tod verband.

Bis hierher ging es nicht darum, das Leiden eines Vikars zu schildern, 6

sondern die besondere Zerrüttung Georg Warners. Denn an jenem Totensonntag war er höchst anfällig für eine Gratwanderung zwischen Tod und Leben, oder sagen wir, Himmel und Hölle. Der junge Vikar hatte bisher nur gelegentlich und im übertragenen Sinne mit der Hölle zu tun gehabt, wenn er dem Himmel entglitt. Er war dabei ein leichtfüßiger Clown in einer Komödie gewesen. Das noch einmal hervorzuholen, erscheint mir notwendig, denn mir ist bereits deutlich, dass ich über einen Narren in einer sich lang hinziehenden Tragödie zu schreiben haben werde.

Als ich Georg Warner kennenlernte, strotzte er vor Kraft. Ein weiteres Merkmal war, dass er sich langweilte. Er war vom Theologischen Seminar in Leipzig gekommen, hatte das beschauliche Naumburg mit seiner kirchlichen Hochschule in einer Stunde umrundet und war entsetzt. Nichts mehr mit dem umtriebigen Umherziehen wie in Leipzig, von Club zu Club. Georg Warner war darin durchaus dem Jakobiner Murat vergleichbar gewesen. Gleich ihm hielt er aufrührerische Reden von der Freiheit. Wie diesem der Boden von Paris, so wurde Warner schließlich der von Leipzig zu heiß. Er wollte nach Berlin wechseln, aber das wurde ihm verwehrt, das beschauliche Naumburg würde ihm zu Ruhe und Reife verhelfen.

Heißer Boden gehörte wohl immer schon zu Warners Ertasten der Erde. Diese trug ihn auch an der kirchlichen Oberschule 1970 nicht mehr, und er konnte sich nur noch durch eine Sonderreifeprüfung retten, vorzugsweise an der Universität Halle-Wittenberg abzulegen. Dahin waren bereits etliche Jungrevolutionäre aufgebrochen.

Geprüft wurde in Theologie und eben Marxismus-Leninismus. Der Professor dieser Fachrichtung nahm sich den Wehrdienstverweigerer Warner vor. So fragte er nach NATO und Warschauer Pakt, der Rolle der Nationalen Volksarmee in letzterem Schutz- und Trutzbündnis, um dann den Sack zuzubinden: „Wie stehen Sie zur Nationalen Volksarmee?“ Warner schwieg eine Minute lang. In dieser sah er alle akademischen Hoffnungen schwinden und sich als Hilfsarbeiter Schrauben sortieren. Dann gab er Auskunft, dass er Wehrdienstverweigerer sei.

Ausführen konnte er das nicht, denn der Theologieprofessor sprang auf, er hatte Warner mit mäßigem Erfolg bereits Luthers Stellung zur Arbeit aufzeigen lassen. Er rief in einer Lautstärke, die den Marxisten zusammenfahren ließ: „Herr Kollege, wissen Sie, dass die Prüfung ungültig ist!

Sie haben eben eine Gewissensfrage gestellt.“ Der Professor des Marxismus-Leninismus wurde friedlich. Warner durfte sich über die UNO auslassen. Dann hatte er die Sonderreifeprüfung bestanden.

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Aber er blieb im Visier. In Halle waren Umtriebe pazifistischer Art unter den Theologiestudenten im Gange. So brachte Warner das Kunststück fertig, nach 14 Tagen exmatrikuliert zu werden. Er reiste per Anhalter durch die DDR und gelangte bis nach Rostock. Dort wollte er sich als Hafenarbeiter verdingen, um bei günstiger Gelegenheit auf einem Schiff westwärts anzuheuern. Neben dem Wunsch, Pfarrer zu werden, bestand auch immer der des Seemanns. „Man“ nahm sich seiner an, und er wurde zurück an die kirchliche Oberschule geschickt. „Warner ist wieder da.“ Das konnte als Schreckensruf gelten. In seinem wechselhaften Leben ist Warner immer wieder dadurch geholfen worden, dass man ihn schlicht und einfach loswerden wollte. So wurde er jetzt nach Leipzig vermittelt, das für ihn und seine Ideen maßgeschneidert war.

Nun also Naumburg. An den Stammtischen war man immer noch mit höchst wichtigen theologischen Fragen befasst, was Warner langweilte.

Ich selbst war ein eher stiller, aber aufmerksamer Beobachter. So fiel mir Georg Warner auf, und ich fragte mich, was er denn so in seinem „Gepäck“ haben würde. Erst einmal verdingte er sich am Wochenende in einer Feierabendbrigade. Es galt, die vielen kirchlichen Gebäude mit Schubkarre und Mischer instand zu halten.

Den Inspektor lernte er nicht auf der Baustelle kennen. Kinzel war bei jeder Aufführung der Spielgruppe zugegen, die sich dem absurden Theater verpflichtet fühlte und die Warner ausgezeichnet fand. Kinzel aber bedachte sie stets mit harter Kritik und bissigem Spott. Warner erfuhr, dass dieser selbst Dramatiker gewesen war und auch inszeniert hatte.

Man mag es kaum glauben: den ganzen Sartre.

Warner war im Herbst 1973 eben dabei, eine Mischung aus Buna-Kalk für den Unterputz herzustellen. Der Inspektor erschien. Warner passierte es oft, dass ihn absurde Tätigkeiten auf Ideen brachten. Und so fragte er Kinzel, als seine Hände gerade in dem ätzenden Kalkgemisch steckten, ob er ihn in Dramatik unterrichten wolle. Der wollte erst nicht, sagte, dass es hart werden würde. Doch dann brachte Warner drei Jahre im Kampf gegen die Langeweile bei ihm zu. Das Hauptaugenmerk galt Stilübungen. Warner hatte bei eigenem Thema alle erdenklichen Dramatiker nachzugestalten. Nicht, was da geschrieben stand, war wichtig, sondern wie es geschrieben wurde. Warner bezeichnete sich deshalb lange Zeit nicht ohne Stolz als Handwerker.

Ich hatte mit ihm immer wieder losen Kontakt. Meine Pfarrstelle befand sich am anderen Ende der Görlitzer Landeskirche, in der wir unseren Dienst verrichteten. Warner hatte seine am östlichsten Ende, 8

mitten in der Industrie. Wir trafen uns gelegentlich, und er erzählte von seinem literarischen Schaffen. Er übergab mir seine Stücke und Texte oder schickte sie mir zu. So bin ich all die Jahre über im Besitz seiner Arbeiten gewesen, auch derjenigen, die ich hier nicht aufführen werde.

In gewissem Sinne war Georg Warner nach seiner Zeit als Pfarrer für mich verschollen. Ich hörte aber immer wieder von seinem zerklüfteten, außergewöhnlichen Weg. Kontinuierlich war sein Schreiben, und ich besorgte mir seine Bücher.

Die Zeit schlägt nicht nur Wunden. Von den Verwundungen Warners dort im Braunkohlenrevier weiß ich erst jetzt. Die Zeit vergeht. So hatte ich in Ruhland, wo ich meine gesamte Dienstzeit über Pfarrer war, meinen Abschied zu nehmen. Und da schließlich saß ein vom Leben gezeichneter Georg Warner vor mir. Er suchte mein Gespräch und bat mich, sein Leben romanhaft zu gestalten. Ich war überrascht, er kenne doch sicher genug Schriftsteller, die das übernehmen könnten. Georg Warner, der schon über 25 Jahre kein Pfarrer mehr war und daher auch nicht verabschiedet wurde, sagte: „Ich möchte, dass über den Pfarrer Warner geschrieben wird. Und das kann nur ein Pfarrer. Wir waren von Anfang an und immer miteinander vertraut.“ Wie zu sehen sein wird, mische ich auch den Schriftsteller kräftig ein. Anders geht es nicht.

Georg Warner ist nirgendwo Faust gewesen. Aber etwas Faustisches war ihm eigen. So habe ich mich dazu entschlossen, dem nachzugehen.

Georg war ein Meister ohne Margarita. Und so möchte ich dieser Moskauer Tragödie entsprechend ausrufen: „Mir nach, mein Leser!“

Marzahna Georg Warner befand sich immer noch dort, wo wir ihn vorhin verlassen haben, am Lutherbrunnen in Wittenberg. Die Talartasche hatte er, um das Elixier des Bruders Martinus aufzunehmen, auf den Brunnenrand gestellt. In dieser befand sich nicht mehr die dritte Nummer des scheinheiligen Michaelsbruders, sondern sein eigener Talar, für viel Geld durch die Bruderhilfe genäht. Er bot ihm Schutz, da er sein eigener war. Wenn Warner Ideen kamen, ließ er ihn im Schrank. Diese mussten nicht geschützt werden.

Es dürfte nicht verwunderlich sein, dass Warner sich der Herausfor9

derung des Totensonntags stellte. Der Anlass selbst war eher ein praktischer Grund. Die sich weit streckende Landschaft des kirchlichen Provinzsachsen war eine der weißen Flecken. Die Pfarrstellen waren spärlich besetzt. An Feiertagen, und Totensonntag war ein solcher, musste der Schein der Versorgung und des beständigen Trostes gewahrt werden. Auch die Insassen des Predigerseminars hatten dem zu folgen, taten es aber nicht, bis auf Warner. Ihm wurde ein Raum zugeteilt, der sich von Wittenberg bis Marzahna erstreckte. Zehn Kirchen hätte er dabei bedienen sollen. Ratlos über die Auswahl, wurde ihm geraten, die Glocken zu läuten. Dann würde sich herausstellen, wer diesem ungewöhnlichen Klang spontan Folge leisten würde.

Der Vikar Georg Warner läutete. Wartete, fuhr weiter. Einmal fanden sich zwei Frauen ein. Warner ließ es weit über die Zeit tönen, vielleicht würde noch andere das Bedürfnis zum Besuch eines Gottesdienstes überkommen. Doch es kam niemand mehr. Die Frauen beratschlagten und gelangten zu dem Schluss, dass es sich für sie nicht lohne. Warner kam die Schriftzeile ein, da Jesus sagt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Von der Kanzel aus, wie es hier Pflicht war, predigte er nicht in den leeren Raum, sondern bedachte die beiden Frauen. Auge in Auge und eindringlich. Er wich dabei nicht von seinem genau festgehaltenen Text ab. Er schrieb immer alles wörtlich auf und trug es auch so vor, weil er nicht gegen seine plötzlich einkommenden Ideen gefeit war. Mitunter dachte er, während sich die Zeilen leer dahinsagen ließen: Warum fällt mir das gerade jetzt ein?

Er hatte sich ein schönes Plakat aus Stoff malen lassen, das er über die Kanzelbrüstung hängen konnte. Er hatte sich dabei der zeichnerischen Begabung einer Vikarin bedient, die ihm aus schlechtem Gewissen wegen ihrer Totensonntagabstinenz gerne half. So war sie in gewisser Weise mit ihm unterwegs. Das Plakat zeigte ein blumengeschmücktes Grab mit einem Kreuz, auf dem das Jesus-Wort stand: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ Der Vikar Warner legte dieses Wort aus. Die Schrift seiner Predigt stach klar hervor, ebenso klar verkündete er, was das „Ich“ Christi mit dem „Ihr“ zu tun hat, was es heißt, dass Christus für uns gestorben ist.

In diesem Sinne gestärkt, verließen die Frauen schließlich die Kirche.

Warner holte die Karte hervor. Es ging auf elf Uhr zu. Bis zum Ende des Kirchspiels wollte er noch kommen, zumal sich Marzahna als großer Ort kundtat. Er wollte seiner Pflicht noch Genüge tun, denn falls sich jemand dort versammelt haben sollte, dürfte der jetzt warten.

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Als er Marzahna erreichte, brach der Himmel auf und ein strahlendes Novemberlicht ergoss sich, alles herbstlich belebend. Er war im Talar gefahren, was der Polizei nicht gefiel. Aber in dieser Gegend gab es keine Pfarrer und somit auch keine Polizei, die auf sie achtete.

Er betrat die Kirche nicht vom Haupteingang her, sondern durch die Sakristei. Dort war tatsächlich noch jemand, zwei Kirchenälteste, wie er erfuhr. Einer sagte: „Wir haben hier seit …“ Dann unterbrach er sich, setzte aber fort: „… seit vier Wochen keinen Gottesdienst mehr gehabt.“ Es handelte sich wohl eher um eine fiktive Zahl.

Georg Warner betrat die Kirche und prallte zurück. Sie war bis auf den letzten Platz besetzt. Und ein jeder und eine jede schaute ihn so an, als wollten sie erlöst werden.

Georg war ein literarischer Kopf, und so waren seine plötzlichen Ideen auch oft literarischer Natur. So kam ihm Georg Büchner ein. Ein widerständiger Pfarrer hatte dessen „Hessischen Landboten“ mit Bibelversen verziert. Jedenfalls empfand es Büchner so. Der Pfarrer hatte den Dichter mit in die Kirche genommen und ihn aus der Sakristei auf die mannigfaltig Geschundenen blicken lassen. In deren Gesichtern fand sich dennoch Hoffnung. Weil sie gläubig seien, erklärte er Büchner, habe er die Flugschrift mit Bibelsprüchen bedacht. Andernfalls würden die Leute seinen Text nicht verstehen.

Die Liturgie verlief deutlich und eindeutig, was die Texte betraf. Warner sang die Liturgie nie, sprach sie und sprach sie in sich hinein. Die nicht an ihn gewöhnte Gemeinde fragte sich dabei, wie ein so stimmgewaltiger junger Mann derart ins Nuscheln verfallen konnte. Nun aber war alles klar, am klarsten das Evangelium für Totensonntag. Warner setzte alle Pointen: „Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen hinaus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf von ihnen waren töricht, und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit. Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren Gefäßen, samt ihren Lampen.

Als nun der Bräutigam lange ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Um Mitternacht aber erhob sich lautes Rufen: Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen fertig. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsre Lampen verlöschen. Da antworteten die klugen und sprachen: Nein, sonst würde es für uns und euch nicht genug sein; geht aber zum Kaufmann und kauft für euch selbst.

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Und als sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür wurde verschlossen. Später kamen auch die andern Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht.

Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde!“ Schließlich war Georg Warner auf der Kanzel angelangt. Er hing sein Plakat nicht hinab. Auch auf seinen wohlformulierten Text wollte er verzichten und frei predigen. Den Kanzelgruß wollte er nicht unterlassen. Es war ihm wichtig, dass er bei seinen Ideen in Vollmacht predigte.

So grüßte er: „Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.“ Er ließ den Gruß durch den Raum schweben, um ihn zu sich zurückzuholen. Dann wies er auf sich und sagte: „ Ich lebe.“ Mit einer weit ausholenden Geste umfasste er die Gemeinde. Dabei reichte er weiter: „Und ihr sollt auch leben.“ Er machte eine Pause, die keineswegs eine Kunstpause war. Dann fragte er: „Wie lebe ich?“ Die literarische Idee trat klar vor sein inneres Auge: „Ich bin wie einer, der in einer Höhle sitzt. Noch mehr, ich bin gebunden, nicht einfach nur gefesselt. Ich bin gebunden an mein Ich. Zu allem damit verbundenen Elend lebe ich auch noch. Was aber unerträglich ist, das ist mein Blick. Ich sitze nämlich mit dem Rücken zu dem Licht, das vom oberen Eingang her einfällt. So kann ich nur die Schatten wahrnehmen. Alle, die oben vorbeigehen, sehe ich nur als Schatten. Es ist wie ein Blick in die Unterwelt, den alten Hades oder die Hölle bis heute hin. Die da hinter mir wandeln, sind schon tot. Bedeutsam ist mein Ich dadurch, dass es nicht einsam ist. Ihr sitzt mit mir aufgereiht.

So lebt auch ihr, wie ich lebe.“ Warner hatte das Höhlengleichnis Platons anschaulich hinter sich gebracht. Jetzt wollte er es Licht werden lassen, aber es gelang ihm nicht: „Gott sagt am Anfang: ‚Es werde Licht.‘ Und es ward Licht. Wir aber sitzen wieder in der Finsternis.“ Um diese zu kennzeichnen, bemühte Warner Jakob Böhme. Er nannte ihn nicht beim Namen, sondern verwies auf einen Mahner, der unmittelbar vor dem Dreißigjährigen Krieg auf die Zerrüttung unter uns Menschen aufmerksam gemacht habe, die ebenso unsere Zeit bestimme: „Es ist an uns zu bedenken, warum die Gnadengabe Gottes unserem zerstörten, geistig und leiblich verwüsteten Vaterlande in so verworrener Zeit eröffnet und vergönnt wird, da alles in tiefem Schlummer, 12

Schlamm und Kummer der zeitlichen Sorgen, Wollust und Nahrung gleich im Tode versunken und erstorben. Darüber des ewigen, unsichtbaren Gnaden- und Himmelsreichs Gottes und Christi vergessen, von Führern verführt, wir allezeit um äußere Hülsen und Schalen des toten Buchstabens und dieses vergänglichen irdischen Leibes und Lebens zanken, kriegen, streiten, rauben, morden, brennen, verfolgen, verjagen, verdammen, und das alles nur um eitler schändlicher eigner Ehre, Lust und Nutzens willen einander ins äußerste Verderben stürzen und uns gebärden, als wenn weder Recht noch Gericht, weder Seligkeit noch Verdammnis, weder Glaube noch Erkenntnis, weder Himmel noch Hölle, weder Engel noch Teufel, weder Leben noch Tod, ja, gar kein Gott jemals gewesen oder nimmermehr zu hoffen ist. Das lasst uns ernstlich bedenken.“ „Als wenn gar kein Gott jemals gewesen ist …“, sann Warner in die Pause hinein. Etwas von Jean Paul klang da nach, der am Ende keine Erlösung mehr fand, da die Menschheit eben auf diese wartete. Jesus erscheint und bekennt unter Tränen, dass er Gott nicht gefunden habe.

Warner musste die Gemeinde wieder in den Blick bekommen. Und dieser verriet ihm, dass die mit äußerster Leidenschaft von Böhme auf den Haufen geworfenen Reihungen die Hörer nicht irritiert hatte. Sie mussten alles verstanden haben, weil sie es verstehen und mitnehmen wollten.

So konstatierte er jetzt: „Die uns betreffende Neuschöpfung kann nicht aus dem Licht kommen. Sie muss gleichsam aus der Finsternis geboren werden. Alle Welt verkündet uns das Licht und stößt uns in Finsternisse. Illuminierte Hoffnungsstrahlen uns verführender Ideologien. Und es wird finsterer als finster. Aber eben diese Finsternis wird geleugnet, und wenn wir uns gegen die Lüge wehren sollten, werden wir niedergehalten und verfolgt.“ Der Gemeinde musste zum Assoziieren Zeit gelassen werden. Warner hatte vor, die Dinge beim Namen zu nennen, aber noch nicht jetzt. Finsternis hatte er bisher genug verbreitet, er empfand, fast bis zur Unerträglichkeit. So sagte er fast schlicht: „Ich will euch den wahren Eintritt des Lichts nicht länger vorenthalten.“ Er wollte gleich weiter zitieren. Doch unwillkürlich nahm der zukünftige Dichter in ihm Gestalt an, nämlich mit dem wahrhaftigen Wort zu beginnen. So war zu hören: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott.

In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.

Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht 13

ergriffen.“ Er wollte sich jetzt eine Brücke bauen für das, was er in den Raum zu stellen gedachte: „Anno Domini, im Jahre des Herrn. Seither sind alle Jahre der Menschheit Jahre des Herrn. Mit dem Eintritt Jesu Christi in unsere Welt, seinem Leiden, Sterben – und Auferstehen, gilt von ihm her: ‚Ich lebe, und ihr sollt auch leben.‘ Anno Domini also ganz neu gefasst.“ Jetzt war Büchner gefragt, aber nicht mit seinerzeitigem Datum. Georg Warner bemühte das laufende Jahr auf Totensonntag hin: „Im Jahre des Herrn, anno Domini 1976, sieht es so aus, als würde die Bibel Lügen gestraft, als hätte der Herr gesagt: Herrschet über alles Gethier, was auf Erden kriecht und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag: Fremde verzehren seine Aecker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische der Vornehmen.“ Georg Warner nahm den Aufschwung, der ihn fortan bestimmen sollte: „Ich will euch nicht – ich lebe, und ihr sollt auch leben – über meinen letzten Gedanken im Unklaren lassen, wie es möglich ist, würdig zu leben: Friede den Hütten! Krieg den Palästen! Und zwar Krieg allen Mächten, die uns der Freiheit berauben und damit der Möglichkeit, bei uns selbst zu sein, damit unsere Hütten des Menschseins nicht hinausverlegt werden aus unserer Zeit. Amen.“ Warner hatte noch Heinrich Heine auf der Zunge gehabt. Aber der wäre wohl zu verwirrend gewesen, so sehr schlug er sich mit seinem Ich für Gott und Mensch in die Bresche. Bei dem Gesang des Kanzelliedes „Wenn wir in höchsten Nöten sein“, gönnte sich der Vikar noch den Heine’schen Anflug. Der wollte dabei die Französische Revolution deutsch fortsetzen: „Wenn wir diese überflügeln in der Tat, wie wir es schon getan in Gedanken, wenn wir uns bis zu den letzten Folgerungen desselben emporschwingen, wenn wir die Dienstbarkeit bis in ihrem letzten Schlupfwinkel, dem Himmel, zerstören, wenn wir den Gott, der auf Erden im Menschen wohnt, aus seiner Erniedrigung retten, wenn wir die Erlöser Gottes werden, wenn wir das arme, glückenterbte Volk und den verhöhnten Genius und die geschändete Schönheit wieder in ihre Würde einsetzen, wie unsere großen Meister gesagt und gesungen, und wie wir es wollen, wir, die Jünger …“ Bei der Verlesung der Verstorbenen in diesem Kirchenjahr hing Georg Warner das Plakat über die Kanzelbrüstung. Er ging danach nur auf die Blumen ein, die auf dem Grab lagen. Dazu sagte er, dass es zu spät 14

sein könne, Blumen auf das Grab zu pflanzen. Man solle sie mitten im Leben überreichen, sich herzen und lieben.

Nach dem Gottesdienst ging niemand nach Hause. Als Georg Warner in sein schlichtes Fahrzeug steigen wollte, schloss sich um ihn ein Kreis.

Das Automobil befand sich, so stellte er eben fest, genau vor dem Pfarrhaus, die Sonne beschien noch farbiges Weinlaub. Obwohl nur ein Kirchenältester sprach, schien sein Anliegen der Wunsch aller zu sein. Der Vikar solle als Pfarrer nach Marzahna kommen. Warner entschuldigte sich mit seiner noch länger währenden Ausbildung. Man würde warten.

Um ihn standen hoffnungsvolle junge Frauen. Warner hätte sicher eine gute Pfarrfrau unter ihnen gefunden. Und schließlich, Marzahna wäre unter den nun mit seinem Ich betrauten zehn Gemeinden ein Hort des Widerstandes geworden.

Georg Warner fuhr ab. Er kam nie wieder nach Marzahna. Wie er mir im Alter gestand, gehörte dieses Erlebnis am Totensonntag aber zu den lebhaftesten seiner Erinnerung. Wäre er nur dort geblieben. Aber dann würde ich nicht über ihn schreiben. Denn dieser Tag hielt für ihn noch Einiges bereit.

Auf dem Weg nach Wittenberg war es ihm bei allen gelungenen geistlichen Absichten nicht aufgefallen, dass er sein literarisches Programm gepredigt hatte. Befasst war er eben mit der Auslassung, nämlich Heines Erlösungsabsicht Gottes. Gestrichene oder auch nicht benannte Sätze entfalteten ein fast mystisches Eigenleben und tauchten immer wieder auf, als wäre die Absicht allzu schnöde vertan worden.

Er wollte jetzt mit Luther einen draufsetzen, zumal er ihn in seiner Predigt nicht angeführt hatte. Auch wartete das Lebenselixier aus dem Brunnen auf ihn. Was ihm einkam, war handfest, aber es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, dass es sich um eine Herausforderung handeln könne: „Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen.

Der Fürst dieser Welt, wie saur er sich stellt, tut er uns doch nicht; das macht, er ist gericht’.

Ein Wörtlein kann ihn fällen.“ 15

Eben das setzte dem, was in den letzten zwei Stunden geschehen und schon länger angelegt war, die Krone auf. Der Vikar und wohl auch zukünftige Dichter Georg Warner hatte nicht nur ein Wörtlein für den Teufel gebraucht, welches auch im Sinne Luthers nur „verdammt“ lauten konnte, er hatte sich wortreich geäußert und in die Verdammung sämtliche höllischen Geister einbezogen.

Das konnte der Teufel nicht dulden, keinesfalls. Er würde sich selbst um Georg bemühen. Wenn er nicht gefühllos gewesen wäre, hätte er den Namen fast liebkosend ausgesprochen. Denn er war dem seines einstmaligen Herausforderers gleich, den er zur Strecke gebracht hatte – Georg Faust. Dass der dann später in dichterischer Freiheit „Johann“ genannt wurde, schmerzte den Teufel allezeit. Aber am Ende hatte er sich den aberwitzigen und ihn, den Teufel, beerben wollenden Goethe auch geholt.

Die Worte Warners, sie lagen nicht schriftlich vor, da er frei gesprochen hatte. Aber es gab einen Mitschnitt, der über Hörfunk ebenso schnell verbreitet wurde, wie Warner sprach. Einer der unzähligen Geister des Teufels hatte es sich im Gehäuse der Orgel bequem gemacht.

Die sogenannte Predigt wurde verschriftet und all denen zuteil, die zukünftig mit Georg Warner zu tun haben sollten. In den erst weit später entschlüsselten Kürzeln befand sich ein Drudenfuß, was sogleich in der Berliner Normannenstraße für höchste Aufmerksamkeit sorgte.

Der Herr und Meister höchst selbst hatte ein Interesse an dem bisher als zerrüttet geltenden und damit nicht notwendig verfolgbaren Georg Warner bekundet.

Pratau In Wittenberg angekommen, vollzog Georg Warner sein Ritual. Er trank in langen Zügen, da er eine gewisse Leere in sich spürte. Dann verließ er den Hof und begab sich in die Jüdenstraße, wo er wohnte. Er hatte eine Nachbarin, mit der er sich gelegentlich von Fenster zu Fenster unterhielt. Sie hieß Tofana, ein außergewöhnlicher Name. Aber Warner forschte nicht nach, obwohl Tofana einen südländischen Teint besaß.

Sie arbeitete als Anästhesie-Schwester im örtlichen Krankenhaus.

Begegnet waren sie einander bisher nicht, auch nicht in die Quere 16

gekommen, obwohl sie das gleiche Bad benutzten. Jetzt blickte Warner an der Fassade hoch, denn es stand ihm nach seinen vielen Entäußerungen der Sinn nach einem Plausch. Aber das Fenster von Tofana war verschlossen.

Die Leere hatte sich noch nicht gegeben. Wenn so etwas geschah, suchte Warner sich selbst als Gegenüber. Er begab sich nicht in sein Zimmer, sondern suchte das Bad auf. Richtig, sein Blick war leer, der Spiegel verriet es ihm. Warner unterzog sich einer Übung, indem er Ideen langsam aufsteigen ließ. Bildhaft mussten sie sein.

Im näheren Umfeld konnte man Bildern und überraschenden Ideen zuhauf begegnen. Beide stammten von Lucas Cranach dem Älteren.

Neben dem Predigerseminar, fast um die Ecke herum, befanden sich die ruinierten Gebäude von Cranachs Malschule. Diese waren, wie vieles andere, dem sozialistischen Wohnungsbau zum Opfer gefallen. Es wurden gesichtslose Mehrstöcker aneinandergereiht, sodass am Ende das Geld für die Pflege des Kulturerbes fehlte. Vielleicht lag es aber gar nicht am Geld. Auch Wittenberg hatte derlei Zeilen, zumal es mit dem Stickstoffwerk Piesteritz einen bedeutenden Industriestandort darstellte. Stickstoff lag auch in der Luft, Wittenberg meist grau in grau vermittelnd. Dieses Gemisch war auch für das bildnerische Werk Cranachs ungesund.

Wenn Warner sich die kraftstrotzenden Reformationsbilder zu Gemüte gezogen hatte, begab er sich in dieses Geviert des verelendeten Cranach und ließ sich den Anflug von revolutionären Ideen gefallen.

Zugleich aber war ihm bewusst, dass er sich im ideenerstickenden Jahr 1976 befand. Kurz vor Totensonntag war das Konzert Wolf Biermanns, verbunden mit dessen Ausbürgerung, durch das Westfernsehen geflimmert. Er hatte sich dies allein im Gemeinschaftsraum angesehen, als eine Art Menetekel.

Oh, wie schön leer war jetzt das Gesicht im Spiegel. Es gab die Wirklichkeit wieder. Warner trat einen Schritt zurück. Er meinte, den Blick auf eine Frau richten zu müssen. Die „Venus“ von Cranach kam ihm ein.

Aber es gelüstete ihn nach mehr. „Drei Grazien“ waren da schon naheliegender. Aber er wollte nicht auf eigene Ideen verzichten. So stellte er das „Urteil des Paris“ fest vor sein inneres Auge.

Gewagt schiefer Hintergrund mit Berg. Ein Baum, dessen Äste sich wie Schlangen ineinander winden. Ein Ritter, der mit prüfendem Blick drei nackte Göttinnen betrachtet. Das Pferd hinter dem Baum schaut am lüsternsten drein. Ein alter Ritter will dem jüngeren eindringlich raten. Aber der ist nicht mehr ganz Ohr, nur noch Auge. Dem Alten hat 17

aber schon die vorderste Göttin sanft die Hand auf den Rücken gelegt.

Er wird dahin gelangen, wohin schon der jüngere Ritter gelangt ist.

Hier macht sich eine Idee Cranachs geltend. Der Ritter schaut nur auf die anmutigen Häupter der Göttinnen, bemerkt nicht das verführerisch präsentierte Nackte. Cranach hat dies obendrein geschickt abgegrenzt.

Die Damen tragen Geschmeide, als wären sie noch bekleidet. Die zweite Göttin zeigt kunstvoll geflochtenes Haar, die dritte trägt Hut. Georg Warner war in Gedanken nur mit den Damen befasst. So sagte er als Erstes im Blick auf den jungen Ritter: „Er sucht das Gesicht. Er sucht die Augen.“ Es war ihm auf einmal, als wenn jemand mit ihm sehen oder ihm zusehen wollte. War dem so, musste er deutlicher werden: „Nackt sind die Frauen, von einer verführerischen Schamlosigkeit. Ein Bein ist hinaufgezogen. Die Arme spreizen sich nach hinten, die Brüste wölbend. Eine Hand schiebt sich quer vor die behaarte Scham, betont, was unter dem Venushügel liegt.“ Warner dachte: „Gewagt, mein lieber Lucas, ach, ist das gewagt. Einen derart knackigen Hintern wie bei der zweiten Göttin muss man selbst bei jüngeren Frauen erst finden.

Nun ja, das ständige Malen der Reformation und der Reformatoren mag Cranach etwas ermüdet haben, sodass er auf einen Ausgleich sann, um auf andere Ideen zu kommen.“ Jetzt hörte es sich plötzlich so an, als tauche hinter dem Verschlag eine Nymphe aus dem Wasser auf. Warner schrak vor seinem Bild und seinen Gedanken zurück. Es konnte kein Trug sein, denn die Nymphe stieg aus dem Wasser.

Dann lugte plötzlich Tofana um die Ecke. Sie beugte sich etwas vor, der Bademantel verrutschte und gab eine Brust frei. Warner musste sich entscheiden. Entweder die Brust beraubte ihn seiner Ideen, um nur eine übrigzulassen. Oder er tat es wie der Ritter und wandte sich dem Kopf der Göttin zu.

Die Augen irritierten ihn. Sie waren dunkelbraun. Aber die Pupillen waren von grünen Sprenkeln umtupft, die je nach Gemütslage ein Eigenleben entfalten konnten.

Dass Tofana ihm bewusst den Blick auf ihre Brust gestattet hatte, erfuhr Warner, als sie ihn in ihr Zimmer einlud. Er folgte brav. Sie aber wollte wohl weniger brav erscheinen. Sie warf den Bademantel ab und drehte ihm ihren Rücken zu. Warner sah „Birne“ statt wie bei Cranach „Apfel“. Doch die vollkommenen Beine, die Lucas den drei Göttinnen verliehen hatte, bekam Warner auch hier zu sehen. Dann schrak er zurück. An der rechten Wade zog sich eine garstige Narbe hin. Nach einem Unfall wäre sie vernäht worden, nicht aber nach Gewaltanwen18

dung. Georg Warner war auf einmal hellwach. Tofana kleidete sich so weit an, dass nur noch ihr Oberkörper nackt war. Sie drehte sich dazu um, sodass Warner nun beide Brüste zu sehen bekam.

Er hätte sich fragen müssen, was hier gespielt wurde. Aber dazu kam ihm keine plausible Idee. Mit einer vergnügten Tofana an der Seite ging er dann die Collegienstraße hinauf, sie vorneweg. Auf einmal vernahm Warner eine Stimme, die unter Qualen ausstieß: „Georg …“ Er blieb abrupt stehen. Blickte am Haus hinauf. Und da stand, dass darin seinerzeit der Doktor Faust gewohnt habe. Wenn er den eindringlichen Ton richtig wahrgenommen hatte, rief ihn eben Faust um Hilfe.

Tofana hatte ihn nicht mehr an ihrer Seite bemerkt und war umgekehrt. „Was ist?“, fragte sie. Dabei blitzten ihre grünen Sprenkel. „Ich bin gerufen worden“, entgegnete Warner. „Das war ich“, sagte Tofana unmissverständlich. Dann ahmte sie die Stimme täuschend ähnlich nach. „Aber sie kam von hinten“, zweifelte Warner. „Georg“, sagte Tofana jetzt, und in ihrer Stimme lag alles, was Verführung beinhalten kann.

Tofana bog ab und strebte der Elbe zu. „Wohin gehen wir?“, wollte Warner wissen. „Nach Pratau, in die Schenke …“ Ein Buch war in seinem Kopf gänzlich zugeklappt, nämlich das „Volksbuch vom Doktor Faustus“. Sonst hätte Georg wissen müssen, dass er an diesem Abend Faust beerben sollte. Es war von da an bis in das weit entfernt liegende Jahr 1989 die Frage, ob er sich den Versuchungen ideenreich würde entziehen können.

Zur Dämmerstunde gelangte das Paar vor der Gastwirtschaft „Zum Freischütz“ an. Der Name konnte durchaus für ein teuflisches Kugelgießen stehen. Wie Warner später beim Studieren der Speisekarte feststellte, gab es auch Wild, eine Seltenheit.

Tofana trat vor ihm in die spärlich beleuchtete Gaststube. Der Wirt kam auf sie zu, und es schien, als kennten sie sich. Sie sagte etwas zu ihm, das Warner nicht verstehen konnte. Sie wurden an den Tisch in der Mitte gewiesen. Warner zog sich lieber in Ecken zurück oder saß mit dem Rücken zur Wand, um alles im Blick zu haben. Jetzt fühlte er sich beobachtet. Der Wirt brachte eine Karaffe „Rosenthaler Kadarka“, den Tofana vermutlich bestellt hatte. Dieser Wein war „Bückware“, wurde also nur unter dem Ladentisch gehandelt. Als Georg Warner den ersten Schluck getrunken hatte, blickte er auf, wollte dem Wirt bedeuten, mehr einzuschenken. Doch er erschrak und starrte ihm nur ins Gesicht. Ein Auge sah ihn leer und tot an, es war breiig verlaufen. Das andere Auge fixierte ihn scharf. Da Warner dem Wirt die Antwort schuldig blieb, schenkte der das Glas voll und bediente auch Tofana. Man trank sich zu, 19

wobei Warner den Wein vorsichtig einsog.

Ein Gespräch wollte nicht recht in Gang kommen. Die grünen Sprenkel tanzten in Tofanas Augen, als wollten sie dem leeren Auge des Wirtes etwas entgegensetzen. Der erschien jetzt mit der Speisekarte. Warner bemerkte, dass er von kräftiger Gestalt war. Der Wirt trug ein kurzärmeliges Hemd, sodass starke Unterarme und behaarte Hände zu sehen waren. Man konnte an Schraubstöcke denken. Vor den Leib hatte er eine lederne Schürze gebunden. In diese war ein Futteral eingearbeitet, aus dem drei verschiedengroße Messer hervorlugten. Eines musste zum Tranchieren bestimmt sein. Warner wäre es lieber gewesen, wenn sich noch mehr Gäste in der Wirtschaft befunden hätten. Aber sie saßen allein mitten im Raum. Es kam auch in der nächsten Zeit niemand.

Er studierte die Speisekarte eingehend, um nicht durch Reden aufzufallen. Tofana hatte ihm geraten, die Karte gründlich zu lesen. Das Angebot war reichhaltig, und die Speisen wurden ausführlich angepriesen.

Umso besser.

Als Warner bedauernd bei der letzten Seite angelangte, packte ihn Heiterkeit. Dort stand tatsächlich, dass man das köstliche Mahl würdigen solle, indem man sein Autogramm auf der Speisekarte hinterließ.

Dies habe mit Blut zu geschehen! Ein Federkiel war beigefügt. Wenn Warner nicht so leer gewesen wäre, hätte ihm ein bedeutender Satz einkommen müssen: „Blut ist ein besond’rer Saft.“ Als solcher war er bei Goethe durch Mephistopheles angepriesen worden.

Warner wollte plötzlich, dass es vorwärts ginge, etwas passierte. Er stach sich mit der Feder in den Mittelfinger der rechten Hand. Ein Blutstropfen zeigte sich. Tofana sprang blitzartig auf, beugte sich über den Tisch und steckte sich Georgs Finger in den Mund. Jetzt saugte sie heftig daran. Warner kam es vor, als hätte ihn eine Schlange gebissen und Tofana wolle ihn von dem Gift befreien. Sie zog den Finger wieder heraus, betrachtete ihn, quetschte ihn und nahm dabei immer noch Blut wahr.

Das Saugen begann erneut. Warner beobachtete dies erregt. Dabei sah er, dass Tofanas Augen fast schräg standen. Nein, giftig konnte sein Blut nicht sein, denn Tofana spuckte nicht aus. Schließlich gab sie den Finger frei und sank erschöpft in ihren Stuhl zurück. Wie zur Belohnung trank sie ihr Glas in einem Zug aus.

Es bedurfte zwingend einer Erklärung für dieses rätselhafte Verhalten. Tofana kam um den Tisch herum und schob sich an Warners Seite, als wolle sie mit ihm gemeinsam die Speisekarte studieren. Sie zog die Kerze auf dem Tisch heran.

Was Georg Warner jetzt zu hören und zu lesen bekam, war in höchs20

tem Maße aberwitzig. Eine an sich einfache Suppe war mit einer langen Beschreibung versehen. Sie war wohl einst in einem Glaubenskrieg als erster Gang gedacht gewesen. So fanden sich die Worte „Gott“ und „himmlisches Heer“. Tofana borgte sich aus dem Text noch andere Wörter, sodass schließlich zu lesen war: „Er soll Gott und allem himmlischen Heer absagen.“ Bei einem Lendenbraten wurde auf die heilende Wirkung der beigelegten Kräuter und des Gemüses verwiesen. Es kam aber etwas anderes heraus: „Er soll aller Menschen Feind sein und sonderlich derjenigen, so ihn seines bösen Lebens wegen würden strafen wollen.“ Ragout mit einer flambierten Birne wurde geistliche Wirkung zugeschrieben, was wohl eher „geistige“ hätte heißen müssen. Eingeschränkt wurde diese dadurch, dass das Mahl auch von Pfaffen und dergleichen Personen bevorzugt worden war, wobei sie freilich auch angefeindet wurden. Die Verschlüsselung ergab schließlich: „Den Pfaffen und geistlichen Personen soll er nicht gehorchen, sondern sie anfeinden.“ Fisch als Fastenspeise war aufgeführt, sodass die Kirche, Predigten und auch Sakramente hierzu in Einklang standen. Zu anderen Zeiten war das Dargebotene nicht derart zu gebrauchen, sondern profan zu verzehren. Auf Faust gemünzt trat hervor: „Zu keiner Kirche gehen, die Predigten nicht besuchen, auch die Sakramente nicht gebrauchen.“ Und schließlich wurde ein Mahl in drei Gängen angeboten, für diejenigen, die sich im Ehestand verbunden hatten. Es klang wie Hohn, was da als Gegenteil herauszulesen war: „Den Ehestand hassen, sich in den selbigen nicht einlassen, nie verehelichen.“ Georg Warner war derart ernüchtert, dass es ihm nach keiner Speise in der Schenke „Zum Freischütz“ gelüstete. Er trank sein Glas mit dem „Rosenthaler“ leer und bezichtigte sich bei dessen Farbe der gedankenlosen Fahrlässigkeit, mir nichts, dir nichts dem Teufel fast seine Seele überschrieben zu haben. Tofana gab dem Wirt die Speisekarte zurück, ein leichtes Kopfschütteln genügte, um zu verdeutlichen, dass Warner der Appetit vergangen war.

Der Wirt stieg daraufhin eine Treppe hinauf und verschwand hinter der Tür. Im Nu erhob sich draußen ein ungestümer Wind, riss und tobte, als wollte er das Haus umstoßen. Warner meinte, etwas festhalten zu müssen, und tat dies mit Tofana. Die aber hätte den Beistand nicht gebraucht, sondern lauschte angestrengt. Aus dem oberen Zimmer hinter der Treppe erklangen gräuliche Geräusche. Erst schienen Schlangen und Nattern unterwegs zu sein, ein Zischen und Pfeifen war zu vernehmen. Dann knallte es unablässig, als wenn jemand gegen die Wände 21

geworfen würde.

Der Wind legte sich ebenso plötzlich, wie er losgestürmt hatte. Es war gänzlich still. Und es schien noch stiller zu werden, als der Mond durch ein Fenster schien. Warner ging entschlossen darauf zu. Er meinte auf dem Misthaufen eine Gestalt ohne Kopf liegen zu sehen. Eben da trat der Wirt von oben her wieder ein. Bevor er das Ende der Treppe erreicht hatte, stand Warner vor ihm und forderte entschlossen, das obere Zimmer sehen zu wollen. Der Wirt gab ihm zu verstehen, dass der Raum nicht beleuchtet sei. Warner bestand auf einer Lampe. So bequemte sich der Wirt, eine Laterne herbeizuschaffen. Warner blickte sich um. Tofana wollte ihn offensichtlich nicht begleiten. Sie saß gleichmütig am Tisch und war mit dem Duft des sich entfaltenden Weines befasst.

Der Wirt öffnete die Tür und leuchtete hinein. Die Wände schienen blutverschmiert. Warner sah auch Haarbüschel, an denen Weißes klebte. Der Teufel musste Faust bei dessen Heimholung alle düsteren Gedanken aus dem Kopf geschlagen haben.

Wieder in der Diele angelangt, setzte sich Warner an den Tisch, Tofana gegenüber. Er trank den Wein vorsichtig, als wäre er auf noch mehr Erscheinungen gefasst. Der Wirt spülte hinter dem Tresen Gläser aus, ein dezenter Hinweis darauf, dass bald Ausschankschluss sein würde. „Du hast Glück gehabt“, hörte Warner Tofana sagen. „Wie bitte?“, fragte er fast empört. Doch Tofana fuhr ernsthaft fort: „Faust hat entsprechend dem Kontrakt nach 24 Jahren der Teufel geholt. Das wiederholt sich in Folge eben in dieser Schenke. Heute waren wieder 24 Jahre um.“ Georg Warner rechnete kurz. Wenn er, aus Versehen, die Speisekarte unterschrieben hätte, würde ihn der Teufel im Jahr 2000 einfordern. Im Blick auf das neue Jahrtausend wäre das kein schlechtes Datum für den Teufel gewesen. Vielleicht hätten sich umgehend die „Mächte des Bösen“ gezeigt.

Man brach auf. Mit einem Nicken gab der Wirt Tofana zu verstehen, dass nichts zu zahlen sei. Pünktlich zu Totensonntag setzte Schneefall ein. Warner sollte das in Zukunft stets begegnen, wenn er nach der Aussegnung der Toten den Friedhof verließ.

Zwischen Pratau und Wittenberg querte ein vielbefahrener Schienenstrang die Straße. Man ging schweigend nebeneinander her, Warner blickte missmutig in den Schnee. Als es den Bahnübergang hinter sich zu lassen galt, hing plötzlich Tofana an ihm, küsste ihn. Sie saugte, wie sie es mit seinem Finger getan hatte. Da schoss ein Blitz an ihnen vorbei.

Polternd folgten Güterwagen. Warner blickte hinauf. Die Schranken waren offen. Tofana gab ihn frei, dann sagte sie: „Du solltest vorsichtig 22

sein. Der Teufel versteht keinen Spaß.“ Endlich war das Predigerseminar erreicht. Warner eilte auf den Hof und trank in langen Zügen aus dem Brunnen. Dabei kam ihm ein, wie real das Geschehen gewesen sein musste, denn Luther hatte sich in einer Tischrede zu Faust geäußert: „Wenn ich, Martin Luther, ihm nur die Hand gereicht hätte, wollte er mich verderbt haben; aber ich wollte ihn nicht gescheuet haben, ich hätte ihm die Hand hingestreckt im Namen des Herrn, unter Gottes Schutz.“ Georg Warner wusch sich im Lutherbrunnen vorsichtshalber die Hände. Dann fühlte er sich so leer, dass er des Spiegels bedurfte. Im gemeinschaftlichen Bad angelangt, wurde er bestätigt, nicht eine Idee war mehr da. Die gab ihm Tofana, die hinter ihm im Spiegel erschien. Ihre grünen Sprenkel glühten. Sie hatte nur einen dünnen Schleier übergeworfen, wie Cranachs Göttinnen ihn trugen, durchsichtig.

In Tofanas Zimmer angelangt, verstreute Warner hastig seine Kleidung im Raum und kam auf Tofana zu liegen. Sie gab dem, was nun folgte, eine eigene Note. Sie sprach von ihrem Skelett, das auf längere Zeit von jedem Menschen übrigbliebe. Sie tat das ausführlich. Schließlich war Warner nicht mehr sonderlich fleischlich gesinnt. Er meinte, unter seinen Händen die Rippen zu fühlen und auf den Knochen des Beckens zu ruhen. Alsbald schlief er ein.

Ein Traum verfolgte ihn. Er sah den Wirt vor sich, als Folterknecht, der jemandem seine Gerätschaften vorführte, sich seines Erfolges sicher: „Auf diese Leiter binde ich dich zuerst, an Händen und Füßen.

Die Daumenschrauben leg ich dir an, sie sind noch rot vom vorherigen Blut. Und auch deins wird im Handumdrehen aus den Fingerspitzen spritzen. Fehlt es dir an Bekennermut, so zieh ich dir die spanischen Stiefel an. Und meinst du, darin bequem gehen zu können, wird ein Keil dir die Wade nach vorn treiben und das Blut aus den Füßen hervorschießen, als ob Brombeeren durch einen Beutel gepresst werden.

Solltest du ganz und gar verstockt sein, so halte ich dieses hier bereit.“ Der Folterknecht hängte Schnüre in einen Kessel mit kochendem Schwefel. Warf sie auf die Erde. Der Schwefel sprühte von den Schnüren, die sich schlängelten und wanden. Dazu sagte der Folterknecht: „Dieses Feuerwerk wird sich auf deinem Leib abspielen und deine Knochen bloßlegen. Das ist ein Vorgeschmack auf die Hölle.“ Warner sprang auf und aus dem Bett. Fast wäre ihm das Herz stehengeblieben. Er eilte noch auf allen Vieren durch den Raum. Dann hatte Tofana die Lampe eingeschaltet und blickte ihn unverwandt an.

Das Licht versetzte Warner in Hektik. Er fuhr sich über den nackten 23

Leib, um die brennenden Schwefelschnüre abzuwehren. Da war aber nichts dergleichen. Er rannte zum Bett und suchte Tofanas Körper ab.

Auch nichts. Dabei war er sich sicher, dass sich zwischen ihnen dieses Gezüngel befunden hatte.

Tofana nahm ihn wieder zu sich und sagte fast überdrüssig: „Schlaf jetzt.“ Warner konnte nur so tun, lag still. Als Tofana gleichmäßig atmete, tastete er sich an ihren Unterschenkel vor, befühlte die Narbe. Ja, sie musste von einem solchen Folterinstrument herstammen.

Georg Warner betrieb Nachforschungen in Bibliotheken. Der Schlüssel seiner Suche sollten „Spanische Stiefel“ sein. Es konnte nur nach Spanien gehen. Aber was er suchte, fand er schließlich in Italien, dem der Renaissance, wo ja Gift das probate Mittel des Erfolges war. Wenn es langsamer gehen sollte, dann die Folter.

Er fand ein erpresstes Geständnis. Die Frau dazu war in einer Abbildung dargestellt und Tofana ähnlich. Sie hatte in Neapel und Palermo 500 Morde an Ehemännern verübt oder Beihilfe dazu geleistet.

Das Spiel Weihnachten ging vorüber. Warner war nicht heimgefahren. Diese Oberlausitz mit der großen Stadt hatte sein Gemüt verstört. Da auch Tofana sich rar gemacht hatte, verlebte er stille Feiertage. Silvester hätte er gern mit Tofana verbracht. Sie war auch nicht abgeneigt und sagte, dass sie auf einen Ball beim Satan gehen würde. Das war Warner entschieden zu viel. Er beschaffte sich ein paar Flaschen Bier und bildete sich ein, es sei das geliebte Einbecker Luthers.

So begrüßte er am nächsten Morgen das neue Jahr 1977 frisch und munter. Am Neujahrstag las er Beckett, „Warten auf Godot“. Er ärgerte sich über die Leere darin. Dann las er das Stück noch einmal und ärgerte sich noch mehr über das sinnlose Warten. Sein überhaupt erstes Stück hatte Erfolg gehabt, die „Barrieren“, eben zu Bußtag aufgeführt, geschrieben an der Elbe, gegenüber von Pratau.

Was ihn an Beckett geärgert hatte, war die ungeheure Leere. Alles lief leer. Godot konnte bei der Anlage überhaupt nicht kommen. Statt Kurzweil zu treiben, sich die Zeit zu vertreiben, hätte dieses den ganzen Raum füllende Warten nur überwunden zu werden brauchen, indem 24

man ging. Das wäre ein versöhnlicher Schluss gewesen. Er hätte immer wieder geschehen können, sogar schon nach den ersten Seiten.

Das Jahr konnte „heiter“ werden, gestand sich Warner am Nachmittag ein. Er musste noch etwas zuwege bringen. Auf andere Gedanken konnte er kommen, indem er sich mit dem gegenwärtigen Stoff des Predigerseminars befasste. In der Homiletik waren Gleichnisse auszulegen.

Die lasen sich einfacher, als sie sich deuten ließen. Man musste aus dem Bild zur Deutung gelangen. War das Gleichnis besonders stark wie beim Evangelisten Lukas, fiel man immer wieder in dieses zurück. Ende Januar hatte Warner zu predigen. „Der barmherzige Samariter“ war ihm zugeteilt worden.

Eine Idee kam ihm ein, sodass er sofort wusste, dass er nicht predigen, sondern spielen würde. Er würde ein Stück schreiben und war entschlossen, gleich zu beginnen. Die schöne Fabel verlangte nach drei Teilen. Ein Mann war auf der Straße von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber gefallen. Die zogen ihn aus, schlugen ihn und ließen ihn halbtot liegen. Ein Priester, der vorüberkam, und ein Levit ließen ihn unversorgt zurück. Ein verachteter Samariter aber nahm sich seiner an, brachte ihn zu einer Herberge und ließ ihn pflegen.

Die Absicht zur Gestaltung hatte aber einen entscheidenden Haken.

Vollkommen vom Gleichnis losgelöst wurde eine Frage an Jesus gerichtet: „Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Jesus verweist auf die Gebote, die darauf hinauslaufen, dass man seinen Nächsten lieben soll wie sich selbst. Zum Glück für den Fortgang oder als Verbindung zum Gleichnis fragt der Schriftgelehrte noch einmal nach, wer denn sein Nächster sei.

Das hatte bis hierher etwas den Geruch von „Warten auf Godot“ an sich. Denn die Klugen bildeten eine Wartegemeinschaft, die wohl nichts tun würde. Aber die Falle hatte sich der Schriftgelehrte selbst gestellt, indem er gerade fragte: „Was muss ich tun?“ Das war das Reizwort. Jetzt bedurfte es eines Hauptdarstellers, der ebenfalls nicht gewillt war, etwas zu tun. Irgendjemand sollte es sein, Bernd Schulze oder Burkhard Schmidt, abgekürzt B. S. Verdeckt und versteckt konnte aber auch der Barmherzige Samariter herauskommen.

Vielleicht am Ende. Und so schrieb Warner jetzt den Titel hin: „Das glückliche Ende des B. S.“ Neben B. S. und dem Propheten benötigte er noch drei Mörder, einen Fußgänger, einen Pfarrer und einen Intellektuellen. Die knifflige Frage nach dem ewigen Leben hatte der Prophet zu lösen.

Den Propheten ließ er gleich mit nicht zu Beckett passenden schö25

nen Worten auftreten, entliehen aus Nikos Kazantzakis’ „Letzter Versuchung“.

Das glückliche Ende des B. S. Nur die Bühnenmitte ist erleuchtet. Der Prophet tritt aus dem Dunkel in den Lichtkreis.

Prophet: Das ewige Leben, meine Freunde, ist wie eine Reise. Eine Reise aus dem Dunkel ins Licht, aus der Sklaverei in die Freiheit. Es bedeutet die Unsterblichkeit des Menschen. (Unter den Zuschauern befindet sich B. S. Die Worte des Propheten versetzen ihn in Begeisterung.)

B. S.: Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?

Prophet: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du da?

B. S.: Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst.

Prophet: Du hast richtig geantwortet. Tue das, dann wirst du leben.

(Er wendet sich zum Gehen.)

B. S.: Wer ist denn mein Nächster? (Der Prophet mustert ihn eingehend.)

Prophet: Geh’ auf die Straße von Jerusalem nach Jericho. Dort wirst du es erleben. (Er setzt seinen Weg fort.)

B. S.: Ich kenn’ mich hier nicht aus. (Der Prophet kommt zurück.)

Prophet: Geh’ nur. Jede Straße führt von Jerusalem nach Jericho. (Ab.) B. S.: Die Rede ist dunkel. Wie nur die eines Propheten. Man sollte sie prüfen. (Zu den Zuschauern.) Kennen Sie die Straße von Jerusalem nach Jericho? (Wartet.) Schönen Dank. Ich dachte es mir gleich. Wenn es sie überhaupt gibt, dann weit entfernt. (Auf der Bühne erscheint der Fußgänger. B. S. eilt auf ihn zu. Verstellt ihm den Weg.) Kennen Sie die Straße von Jerusalem nach Jericho? (Die Mörder stürzen auf die Bühne.

B. S. rettet sich durch einen Sprung in den Zuschauerraum. Die Mörder schlagen den Fußgänger nieder. Ziehen ihm die Kleider aus. Lassen ihn liegen. Ab. B. S. erhebt sich. Geht an den Bühnenrand. Schockiert.)

Und Schluss. Nicht, dass Warner nichts mehr eingefallen wäre. Er wollte nur für die beabsichtigten Provokationen fit sein. Und dazu würde ihm die Gesprächsrunde zu Glaubensfragen der richtige Anlass sein, zu der er sich nun aufmachte. Er wollte für sein Stück trainieren. Eben war die Methode „Clinical Pastoral Training“ aus Amerika herübergeschwappt und Gegenstand der allermodernsten Ausbildung am Predigerseminar, 26

mit Supervisor und reflektierenden Gruppengesprächen.

Warner kam ein, wie ein Gedächtnisprotokoll zerpflückt worden war.

Er hatte sich seelsorgerlich ins Krankenhaus zu Krebspatienten begeben müssen, die um ihr Schicksal nicht wussten. Er hatte sich ganz normal mit ihnen unterhalten. Aber in seinem Protokoll befand sich gleich zu Anfang die Bemerkung, dass er an einem Beerdigungsinstitut vorbeigekommen war. Diese wurde ihm zum Fallstrick und seine vermeintlichen Ängste wurden von den Vikarinnen und Vikaren in der Auswertung zutage gefördert. Es traf zwar sogar einiges davon zu. Dennoch hatte Warner noch eine Rechnung offen.

Aus Amerika herübergeschwappt war auch der fundamentalistische Glaube der „Jesus people“, mit der aggressiven Botschaft „Jesus liebt dich!“ fern von biblischem Befund. Bei den Vikarinnen hieß das freilich verinnerlicht: „Jesus liebt mich.“ Man saß schließlich im Halbkreis. Glaubenserfahrungen wurden in den Raum geworfen und aufgenommen, wie beim Ping-Pong fragweise zurückgepasst. Warner durchbrach das Übungsprinzip. Neben einigen Gedankenblitzen höhnte und spottete er. Faust hätte sich an ihm hinsichtlich seiner Verpflichtung dem Teufel gegenüber ein Beispiel nehmen können: „Den Pfaffen und geistlichen Personen soll er nicht gehorchen, sondern sie anfeinden.“ Das Wesen der Frömmigkeit besteht darin, dass es emotional ist. Die erste „Jesus liebt mich“-Jüngerin stampfte schließlich erbost hinaus.

Eine andere war so gestimmt, dass sie den verstockten Bruder sanft auf den Weg der christlichen Tugend geleiten wollte. Heftig weinend entfernte sich dann auch sie. Stille herrschte und alle blickten entgeistert auf den Grobian Warner.

Der Supervisor hatte jetzt entschieden einzugreifen. Er würde für Georg Warner am Ende der Ausbildung weitläufig aktenkundig machen, dass dieser für den Beruf des Pfarrers nicht geeignet sei. Bei Bewerbungen brachte die Akte den gewünschten Erfolg. Warner schreckte dieser Doktor kaum. Er ging nach seinen Eindrücken am geschicktesten mit der luziferischen Erhebung um.

Jetzt ließ er vernehmen: „Herr Warner, ich frage mich, was Sie eigentlich hier wollen. Sie sitzen herum, keineswegs uninteressiert, denn Sie sammeln Material für Ihre Stücke. Ich bin gespannt, welche Schlussfolgerungen Sie aus dieser Runde ziehen werden.“ Der Supervisor war klug, im Training geübt. Warner musste ihm ehrlich kommen. So sagte er: „Das Stück wird ‚Das glückliche Ende des B. S.‘ heißen und ich werde es bei der homiletischen Probe spielen. Sei27

en Sie versichert, dass darin keine der hier anwesenden oder anwesend gewesenen Personen vorkommen werden. Ich benötige nur die Atmosphäre.“ Warner wusste, dass ihm sein Ansinnen nicht verweigert werden konnte. Es handelte sich bei den Gottesdiensten um reguläre einer Gemeinde. Er hatte einen solchen in Eigenverantwortung zu gestalten.

Warner eilte nach Hause, um das unglückliche Wirken des B. S. aufs Papier zu bringen. Es galt, nach der Regieanweisung fortzufahren, da B. S. sich erhoben hat und schockiert am Bühnenrand steht.

B. S.: Fast hätten sie mich erwischt. Dann läge ich jetzt dort. Halbtot oder ganz vielleicht. (Er ruft leise in Richtung des Fußgängers.) He, he!

(Zu den Zuschauern.) Ganz tot, mausetot läge ich da. Es ist eine Schande, wenn man daran denkt. Man sollte es vor die UNO bringen. Es ist Aufgabe der Weltorganisation, für die Menschenrechte zu sorgen, auch für das Recht auf Leben. (Er sieht nach dem Fußgänger.) Das hier aber scheint nur noch ein Fall für den Totengräber zu sein. (Er erstarrt.) Er hat sich bewegt. Haben Sie es gesehen? Er lebt. Jetzt müsste ich ihm helfen. (Erregt.) Wer hätte mir denn geholfen? Sie oder Sie? Und ich soll jetzt da vor gehen. Als barmherziger Samariter vielleicht. Man kennt ja die rührselige Geschichte. Sollen die sich doch um den da kümmern, die diese Geschichte erzählen. Sollen die den Beweis antreten, dass es einen Sinn hat, sich mit einem Halbtoten einzulassen. (Von rechts kommt der Pfarrer. B. S. erfreut.) Manchmal geschehen noch Zeichen und Wunder. Sie sehen jetzt die Auslegung des ‚barmherzigen Samariters‘.

(Der Pfarrer tritt an den Fußgänger heran. Betrachtet ihn mitleidig. Ab. B. S. entsetzt.) Er hat ihn liegen lassen. Und ist mit einem Predigtbeispiel in seiner Kirche verschwunden. Und wäscht seine Hände in Unschuld. (Ärgerlich.) Weshalb stehe ich überhaupt noch hier? Es gibt keine Gerechtigkeit mehr. Nur abgedroschene Phrasen. (Von rechts kommt der Intellektuelle. B. S. eifrig.) Ich nehme alles zurück. Dieser Mann gehört zur Intelligenz. Humanistisches Erbe, alte Schule. (Der Intellektuelle geht zum Fußgänger. Betrachtet ihn interessiert. Probiert dessen Lage aus. Durchgeistigt ab. B. S. ironisch.) Ein Ästhet. Die Geschichte wird der Menschheit demnächst vorgesetzt. Welturaufführung am Broadway.

(Aufbegehrend.) Und da soll ich, B. S., Bernd Schulze oder Burkhard Schmidt, mich für einen Halbtoten einsetzen? Einen Kranz kann der haben, mehr nicht. Die Friedhofsruhe ist die beste. Der Pfarrer hält eine schöne Predigt und der Schriftsteller widmet ihm ein Stück. Und ich, wie gesagt, spende den Kranz. Ende gut, alles gut. Ein glückliches Ende, 28

für uns. Dass der andere ins Gras beißen musste, nun ja. Die Enkel fechten’s besser aus. (B. S. blickt nach der rechten Seite der Bühne.) Es kommt keiner mehr. Wer auch? Gehen wir. (Er begibt sich zum Ausgang. Da ihm keiner folgt, kehrt er zögernd, dann schneller werdend, zur Bühne zurück.) Was starren Sie mich so an? Ihnen gefällt wohl das Ende nicht.

Mir auch nicht. Aber sollen wir etwa, soll ich etwa …? Wir haben es gesehen. Die vorbeigegangen sind, die hießen nicht B. S. Die hatten einen Namen. Und da sollen wir, die namenlosen kleinen Leute, das tun, was die versäumten. Dem dort helfen? (Der Fußgänger bewegt sich. B. S. verzweifelt.) Er lebt immer noch! (B. S. sammelt sich.) Wir wollen unsere Zeit nicht mit unnützen Reden verlieren. Wir wollen etwas tun, solange sich die Gelegenheit bietet! Uns braucht man nicht alle Tage. Es ist offen gesagt nicht so, als brauchte man gerade uns. Andere würden die Sache ebenso gut, wenn nicht besser machen. Aber in dieser Gegend und in diesem Augenblick sind wir die Menschheit, ob es uns passt oder nicht.

Was tun wir hier, das muss man sich fragen. Wir haben das Glück, es zu wissen. Wir warten, warten und warten. (B. S. betritt entschlossen die Bühne. Geht zum Fußgänger. Hebt ihn auf und trägt ihn in den Zuschauerraum. Von rechts kommen die Mörder. Bauen sich im Halbkreis um die Stelle auf, wo der Fußgänger gelegen hat.)

Erster Mörder: Das Unglaubliche ist geschehen. Es hat ihm einer geholfen.

Zweiter Mörder: Ein Namenloser.

Dritter Mörder: Den wir finden müssen. (Erster Mörder weist ins Publikum.)

Erster Mörder: Willst du es mit denen allen aufnehmen?

Dritter Mörder: Wer sind sie schon? Kleine Leute, die nichts tun können.

Zweiter Mörder: Sie haben uns das Gegenteil bewiesen.

Dritter Mörder: Ein Einzelner hat es getan.

Erster Mörder: Das Beispiel wird Schule machen.

Zweiter Mörder: Schlechte Zeiten für Mörder.

Dritter Mörder: Abwarten.

Erster Mörder: Man kennt uns bereits.

Dritter Mörder: Untertauchen.

Erster Mörder: Man wird uns zu finden wissen.

Zweiter Mörder: Das ist das Ende.

Erster Mörder: Ja, das ist es. Das glückliche Ende des B. S. Auf die Mithilfe der zukünftigen Pfarrer vom Predigerseminar durfte 29

Warner bei der Inszenierung nicht setzen. Das Verhältnis war arg gestört. Er hätte sich erklären, „B. S.“ vorstellen und so sein Auftreten in der Gesprächsrunde am Ergebnis festmachen können. Aber „B. S.“ hätte dann zwingend ein neues Frage- und Antwortspiel nach sich gezogen.

Er begab sich zur Jungen Gemeinde, die zur Schlosskirche gehörte.

An der ehrwürdigen Stätte mit den ehernen Thesenanschlägen Luthers am Eingang durfte er nicht spielen. Es war Winter und für den Auftritt kam nur die sogenannte Winterkirche infrage, ein schmuckloser Saal, der für die weitgehende Tristesse des Stückes das entsprechende Umfeld bot.

Die Jugendlichen waren sogleich Feuer und Flamme. Die Rollen wurden Warner aus der Hand gerissen. Als Fußgänger war ein unschuldig dreinblickendes Mädchen am besten geeignet, das die schreckliche Wendung des Spazierganges überraschend darstellte. Der Text sah nun eine Fußgängerin vor, wobei das Ausziehen pietätvoll geschehen sollte.

Der Darsteller des Pfarrers bat es sich aus, ein stilles Gebet sprechen zu dürfen. Bei der ihm zugedachten Blasphemie etwas gewagt. Der Intellektuelle mit Baskenmütze und Künstlerschal bestand darauf, einen Fotoapparat mit sich führen zu dürfen, um den einmaligen Augenblick festzuhalten. Er tat das dann sehr ausführlich und von allen Seiten.

Der letzte Sonntag im Januar, immer noch zum Festkreis Epiphanias gehörend, und um eine Erscheinung ging es ja hier samt B. S. und den Mördern, beschied Warner einen vollen Saal. Er hatte ein Plakat ausgehängt, auf dem in verschiedenen Größen und zuhauf „Warten“ stand.

Da überall „in Schlangen“ gewartet wurde, mangelte es nicht an Bildmotiven. Dass es ein glückliches Ende geben sollte, hatte er ganz unten auf der möglichen letzten Zeile festgehalten.

Der Übung mit den Jesus-Jüngerinnen entsprechend, musste Warner alias B. S. die ganze Zeit gegen das Publikum direkt vor ihm anspielen.

Er hatte eine Befürchtung gehegt, nämlich dass jemand die Fußgängerin aufheben könnte, während er entschlossen ging. Nun, dann wäre das Stück auch zum glücklichen Ende gelangt. Aber diese Überraschung blieb aus. Als er sich wieder vorn befand, schwoll ihm geballte Ablehnung entgegen. Das konnte er für eine Provokation nutzen: „Was starren Sie mich so an? Ihnen gefällt wohl das Ende nicht? Mir auch nicht.“ Um sich dann zu erklären.

Als Warner zur Verabschiedung an der Kirchentür stand, immer noch als B. S. und nicht als der Vikar, waren alle erleichtert. Er erhielt meist sanften Händedruck, bei Begeisterten war er etwas fester. In der Sakristei, da er sein Tun im Sakristeibuch festhalten musste, wollten 30

ihn die Kirchenältesten nicht wie in Marzahna zum ständigen Bleiben ermutigen. Es war ihnen eher die Neugier anzusehen, was aus diesem Menschen wohl für ein Pfarrer werden würde. Einen Dom oder eine Schlosskirche würde man ihm keinesfalls anvertrauen.

Was Warner ganz und gar nicht mit Faust gemeinsam hatte, war dessen Kontrakt in dem Punkt: „Zu keiner Kirche gehen, die Predigten nicht besuchen, auch die Sakramente nicht besuchen.“ Faust machte dem Teufel diesbezüglich keine Scherereien. Hinsichtlich Georg Warners aber herrschte Alarmstimmung und so sollte es auch bleiben. Er hatte wie Luther den Leuten aufs Maul geschaut, riss in seinem Gefolge die „Mauerkirche“ ein und befand sich, da die im Geiste zurückgebliebenen Christen ihre religiösen Bedürfnisse nur hinter Mauern befriedigen durften, mitten in der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Die „Drähte“ glühten. Der Fall wurde zur Chefsache erklärt. Dieser Warner hatte mit ein paar Zeilen seine Heerscharen an Mördern für abgedankt erklärt. Jetzt hätte der Teufel am liebsten seine Großmutter traktiert, da er es mit der eben nicht greifbaren Tofana nicht vermochte.

Diese schamlose Person hatte ihn wohl für immer um den Kontrakt mit Georg Warner gebracht. Anstatt Faust zu werden, würde er unablässig faustisch Schwierigkeiten bereiten.

Der Teufel hatte Tofana keinen der finstersten Winkel in seinem entrückten Reich zugedacht, wie sie es ja bei 500 Morden an Ehemännern verdient gehabt hätte. Er empfand Hochachtung vor ihr. Und so durfte sie gelegentlich als Anästhesie-Schwester ihrem Wesen nach die Schläuche vertauschen. Dabei war auch heutigen Tags manch Eheweib wieder glücklich geworden.

Der Teufel machte eine müde Handbewegung. Er hatte nicht bedacht, dass Tofana eine Solistin war, die sich um den Teufel nicht scherte. Aus einer Laune heraus hatte sie ihren Auftrag missachtet, um Warner selbst in der Hand zu behalten oder um sich ihm in die Hand zu geben.

Jetzt galt es, diesem Warner den verlässlichsten Höllengeist an die Seite zu stellen, ohne dass dieser sein Diener wäre. Aber die Karten würde er entscheidend mischen. Mephistopheles erhielt die teuflische oder geheimdienstliche Akte von Georg Warner. Er sollte dabei die Fußnoten und das Kleingeschriebene beachten, denn Warners Tun war eben da in seiner seelischen Bewegtheit festgehalten.

Der Teufel instruierte, denn es ging um die Rangordnung. Mephistopheles stand einige Stufen unter ihm. Der Teufel fragte ihn, wie er Warner gegenüberzutreten gedenke. Der lächelte mild und sagte: „Als wäre ich als Mensch geboren worden.“ Dem Teufel erschien ein solches 31

Wissen seines Höllengeistes absurd. Mephistopheles antwortete ihm, dass er diese Rolle sogar studiert hätte. Es gebe ihn sozusagen zweimal.

Der Teufel vermutete eine perfide Hinterlist. Mephistopheles gab zu verstehen: „Ich bin die Macht, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ In einer hinteren Ecke der Hölle rumorte es, dann war es, als wenn ein Kopf gegen die Wand geschlagen würde. Mephistopheles sagte abfällig: „Der Geheimrat Goethe ist so eitel, dass er immer, wenn er ein Zitat seinerseits vermutet, sich zu Wort melden will.“

Der Pudel Georg Warner entfernte sich rasch von der Stätte seines Wirkens. Um zu seinem stärkenden Trunk zu gelangen, musste er von der Schlosskirche die Collegienstraße hinunter. Er tat es auf der rechten Seite, um nicht an Fausts Wohnhaus vorüber zu müssen. Der Lutherbrunnen war, obwohl das Wasser floss, vereist. Die Kälte jagte ihm die Hitze aus dem Kopf und schuf Raum für nüchterne Gedanken. Um derlei weiter zu fördern, brach Warner einen Eiszapfen ab.

Wieder auf der Collegienstraße angelangt, beschuldigte er sich eines gewissen Aberglaubens und steuerte den Gehsteig gegenüber an. Das Haus mit Tafel des Doktor Faust brachte er lutschend hinter sich. Da rief ihn abermals eine Stimme: „Georg.“ Warner blickte sich um, denn trotz der Kälte dieses Januartages war wohl noch etwas Hitze in seinem Kopf übriggeblieben. Nur seine Fantasie konnte ihm eingegeben haben, dass jemand nach ihm rief. Es war ein kleiner weißer Pudel, der ihm entgegen lief. Der neigte jetzt den Kopf zur Seite und schaute den Vikar an, als wolle er die Annahme bestätigen, „Georg“ gerufen zu haben.

Georg ging auf ihn zu und ließ ihn an seinem Eiszapfen lecken, damit er ebenfalls klar im Kopf werden würde. Dann drehte er sich um und ging weiter, zu seinem Zimmer in der Jüdenstraße. Bevor er abbog, blickte er sich noch einmal um. Der Pudel stand an seinem Fleck. Hätte er auch vor dem Haus noch einmal zurückgeschaut, an dem später keinerlei Tafel zum Gedenken an Georg Warner angebracht werden würde, dann hätte er bemerkt, dass ihm der Pudel folgte.

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In seinem Zimmer warf er sich aufs Bett. Dabei stieß er mit einem Buch zusammen, dass er weder bestellt noch gekauft hatte. Es trug den Titel „Der Meister und Margarita“. Es musste von Russland handeln, denn der Verfasser dürfte es dort geschrieben haben, Michail Bulgakow.

Mit etwas kühler Gedankenakrobatik konnte aus Margarita Gretchen werden und Faust war zum Meister aufgestiegen. Warner wollte gleich zu lesen anfangen, denn wenn er eine Kirche verließ, pflegte es faustisch zuzugehen. Warum das mit kühlem Kopf nicht wollen.

Dem Bett gegenüber befand sich ein großer Spiegel, der bis zum Boden reichte. Vermutlich war eine Vormieterin besonders eitel gewesen oder wollte sich beim Liebesspiel beobachten. Egal, was man in diesem Bett tat, man musste geradezu in den Spiegel blicken. Warner hatte nur Harmloses vor, nämlich zu lesen.

Er sah sich, sein Bett – und darunter den kleinen weißen Pudel. „Das also ist des Pudels Kern“, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte sich nicht wie Faust mit einem aufgemalten Pentagramm geschützt. Jetzt sah er eines an seiner Tür. Und wie bei Faust war es an einem Ende offen.

Es war also klar, wie der Pudel hereingekommen war, wohlgemerkt: ein weißer. Mephistopheles hatte die Gunst der Stunde zu nutzen gewusst.

Der Pudel blieb aber der, der er war. Er tat so, wie es nur verzogenen Hunden eigen ist. Warner versuchte, ihn hervorzulocken. Der Pudel verstand nicht. Als er seine Hand nach ihm ausstreckte, kam ihm wohl die Erinnerung an den Eiszapfen ein und der Pudel leckte ihm die Finger. Warner zog ihn hervor, zeigte ihm das Pentagramm mit der offenen Stelle. Dann öffnete er die Tür und beförderte ihn hinaus.

Vermeintlich ungestört auf dem Bett, bemerkte er, wie sich der Spiegel veränderte, sich verdunkelte. Ein Schemen war erkennbar. Dann war es, als wenn jemand aus dem Dunkel hervortrat. Er wurde immer deutlicher, bis er klare Gestalt annahm. Und diese trat plötzlich aus dem Spiegel.

Der Besucher wollte sich nicht aufdrängen. Er griff nach dem einzigen Stuhl, setzte sich neben Warner und bedeutete ihm, er solle bequem liegen bleiben. Warner wusste umgehend, wen er vor sich hatte. Mephistopheles besaß zwar einen stets in schwarzes Tuch eingeschlagenen Körper, aber er war nur Kopf. Man hätte von einem Kopfmenschen reden können.

Dieser kluge Kopf ließ sogleich vernehmen: „Der Doktor Faust war sich darüber bewusst, dass er mit seiner Unterschrift der ewigen Seligkeit verlustig gegangen war. Da er keine Kirche besuchen durfte, sann er auf eine List. Er wollte sich durch eigene Studien wieder an Gott he33

rantasten.“ Warner fragte Mephistopheles, was das mit ihm zu tun habe. „Nun“, antwortete dieser, „du hast heute sehr löblich das Gleichnis des Lukas auf den Kopf gestellt. Gratulation. Faust wäre so etwas nicht eingekommen. Deshalb ist es gut, dass du den Kontrakt nicht selbstvergessen unterschrieben hast.“ Warner antwortete: „Mit dem Teufel hatte das nichts zu tun.“ Das fand Mephistopheles nun gar nicht: „Du hast seine Mörder bloßgestellt. Darauf fragte der Teufel besorgt: ‚Heute schreibt er das – und morgen …?‘ Er fand es höchst zwingend, mich an deine Seite zu stellen.“ Warner gab prompt zurück: „Als was?“ Mephistopheles lächelte sanft. Kaum zu glauben, dass ein Höllengeist so lächeln konnte. Er gab Auskunft: „Der Teufel hatte die Vorstellung eines Widersachers, was ja dem Selbstverständnis der Hölle entspricht. Ich bin aber, im Rang zwar unter ihm stehend, mit eigenem Willen ausgestattet. Ich kann selbst wählen.“ Er machte eine bedeutsame Pause. Warner kamen in dem Moment genügend Versuchungen ein. Doch er beharrte auf seiner Frage: „Als was?“ Es wurde ihm wieder das milde Lächeln zuteil und Mephistopheles offenbarte seinen Willen, indem er sagte: „Als dein Freund.“ Warner wollte sich jetzt vergleichen: „Warum bist du nicht auch der Freund von Faust gewesen, als eine Art Knecht sogar der Erfüller seiner Wünsche geworden?“ Mephistopheles war an klaren Worten gelegen: „Wir beobachten die Menschen von Geburt an und verfolgen ihren Werdegang. So finden wir die heraus, die uns zu Diensten sein können.

Faust entwickelte sich zu einem besonderen Exemplar. Er war intelligent, siehe Doktor Faustus, benutzte diese Gabe aber nur dazu, Widersetzliches hervorzubringen. Als er sich dann als Schwarzkünstler auch an den Mächten der Finsternis verging, um sie sich dienstbar zu machen, drehten wir den Spieß um. Es ist kaum zu glauben, aber wahr, dass er mit seiner Magie sogar den Teufel zwang, vor ihm zu erscheinen.“ Warner unterbrach ihn: „Du sagst, er empfand Reue wegen des Kontrakts.“ Mephistopheles erboste sich fast: „Aber nicht wegen seiner Vorhaben, die ihm von nun an immer gelangen. Wegen seines schandbaren Selbst, das er wieder instand gesetzt wissen wollte, sann er auf Auswege. Nannte es ‚studieren‘.“ Warner fragte: „Warum dafür die Bibel?“ Das schien naheliegend: „Hier erhoffte er am ehesten einen heimlichen Schlupfwinkel zu finden, um uns am Ende zu entgehen. Ich schlug die Tür zu, gestattete ihm drei Bücher von den fünf des Mose, die Psalmen aber keineswegs, wodurch er unauffällig hätte beten können. Von den Evangelien gestattete ich ihm drei, darunter den Arzt Lukas, der ja im 34

Verteilen der Gerechtigkeit ein guter Psychologe war. Keinesfalls durfte er den Evangelisten Johannes lesen, mit seinem Plan, der in den letzten Worten Jesu endet: ‚Es ist vollbracht‘. Außerdem verbot ich ihm den Schwätzer Paulus und alle anderen Briefschreiber.“ Warner stand jetzt der Sinn danach zu fragen, warum die Apokalypse des Johannes nicht zur genehmigten Literatur gehörte. Faust hätte darin von seiner Ausweglosigkeit gelesen, da der Teufel mit seinesgleichen in den feurigen Pfuhl gestoßen wird. Er unterließ es, denn ein anderer Gedanke beschäftigte ihn. Dieser Mephistopheles hätte in Absehung seiner Natur einen passablen Doktor der Theologie abgegeben.

Mephistopheles musste Warners Gedanken erahnt haben. So hob er gegenüber seinem erklärten Freund zu einem Bekenntnis an, das er nirgendwo mehr wiederholte: „Wenn ich als Mensch geboren wäre, so wollte ich Tag und Nacht meine Hände mit Danksagung gegen Gott im Himmel aufheben, dass er seinen Sohn mit dem menschlichen Fleisch und Blut bekleidet hat; sich des menschlichen Geschlechtes annimmt, dass er es von des Teufels Gewalt erlöse; der Teufel ärgster Feind worden und dem Menschen das ewige Leben gibt; dagegen muss der Teufel in der Hölle wiederum büßen, was er verderbet hat.“ Es war wohl alles gesagt, was hätte sein können, aber nicht sein konnte. Mephistopheles stand auf und verabschiedete sich. Er wies auf das Buch und sagte zu Warner, er solle fleißig lesen, vor allem von Margarita. Mephistopheles bevorzugte für seinen Abgang nicht den Spiegel, sondern die Tür, was ja durch das offene Zeichen möglich war. Doch bevor er verschwand, wollte auch Warner eine Empfehlung aussprechen: „Tofana wohnt im Nachbarzimmer.“ Mephistopheles bedachte den zum Scherzen Geneigten mit einem abfälligen Blick und sagte: „Tofana ist ausgezogen, ich möchte sogar sagen, sie ist vorübergehend weit verzogen.“ Die Tür schloss sich. Warner blickte unter das Bett. Der Pudel hatte sich vertrauensvoll einen seiner Pantoffeln geangelt und schlief darauf den Schlaf des lieben tierischen Hausgenossen.

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Die gelben Blumen Warner nahm sich vor, das Buch in Auszügen zu lesen. Das stiftete mehr Verwirrung, als es zu Erkenntnissen führte. Einmal las er von einem Jeschua, der jeden als guten Menschen bezeichnete, auch Pontius Pilatus.

Einen Zusammenhang ergab das, weil Pilatus diesen Jeshua wie einst Jesus zum Tode verurteilte und dieser gekreuzigt wurde.

Gänzlich abwegig war, dass der Teufel mit drei widerlichen Gehilfen Moskau heimsuchte und die im sozialistischen Aufblühen begriffene Stadt arg durcheinander brachte, denn sie war im Verborgenen mächtig korrupt und verlogen, was seinen Höhepunkt in Künstlerkreisen fand.

Diese Kulturszene war wiederum ein Thema für sich.

Dann war von dem Meister die Rede, der abseitig lebte und das nicht schlecht. Er hatte in der Lotterie gewonnen, brauchte seinem Beruf als Historiker und Übersetzer nicht mehr nachzugehen, mietete sich eine hübsche Kellerwohnung mit Garten davor. Irgendetwas musste er aber anfangen und so verfiel er darauf, einen Jesus-Roman oder besser, einen Pilatus-Roman zu schreiben. Der Anfang dazu war bedeutsam: „Der grausame Prokurator von Judäa, Pontius Pilatus …“ Es ging bereits auf Fastnacht zu. Und eben das faschingshafte Treiben in dem Roman ließ Warner in seiner Leseabsicht kapitulieren und von vorn, Seite für Seite, beginnen. Jetzt kam Licht ins Dunkel, denn der Teufel setzte sich zu einem Kulturfunktionär und dem Lyriker Iwan Besdomny auf eine Parkbank an den Patriarchenteichen. Eben war die Abteilung Kultur vom Zentralkomitee der KPdSU informiert worden, dass sämtliche Schriftsteller eine Kampagne starten sollten mit der Botschaft, Jesus habe nie gelebt. Das fand der Teufel so aberwitzig, dass er den Kulturfunktionär wenig später an der Straßenbahnhaltestelle auf verschüttetem Sonnenblumenöl ausrutschen ließ, woraufhin ihm die Straßenbahn den Kopf abfuhr.

Warner, der eben erst seine schriftstellerische Laufbahn begann, war sichtlich verstört, dass 50 Jahre später immer noch die gleichen Gesetze der Propaganda herrschten. Er hatte nicht vor zu beweisen, dass Jesus gelebt hatte, weil ihm das selbstverständlich erschien. Wenn er weiterlas, würde er einen Vorgeschmack davon bekommen, was ihm zuteilwürde, wenn er sich im Thema vergriff. Erst einmal war um den Meister zu fürchten.

Der kam dann nicht wie Iwan Besdomny in die Irrenanstalt. Dieser hatte sich mit seiner Erzählung von den Patriarchenteichen selbst auf36

gedrängt. Der Meister lieferte sich, nachdem er beim Schreiben seines Romans nur Ungemach erlebt hatte, selbst dort ein. So wurden beide zu Nachbarn, der Meister kletterte unruhig in mondbeschienenen Nächten über Balkone und gelangte so in das Zimmer von Besdomny.

Inzwischen war es März geworden, genauer, der 1. März. Warner bemerkte voller Schrecken, dass er genau vor einem Jahr sein Vikariat angetreten hatte. Es verlangte ihn nach Trost. Getröstet hatte den Meister eine gewisse Margarita. Als er sein Manuskript schließlich, um allem zu entkommen, in den Ofen warf, rettete sie dieses.

Eben gerade war Warner der Reihe nach dort angelangt, wo der Meister Margarita zum ersten Mal begegnete. Er las: „Die Augen des Besuchers weiteten sich, und er blickte zum Mond, während er weiterflüsterte: ‚Sie hatte widerliche Blumen von beängstigendem Gelb in der Hand.

Weiß der Teufel, wie sie heißen, aber es sind die ersten, die man in Moskau bekommt. Diese Blumen hoben sich deutlich von ihrem schwarzen Frühjahrsmantel ab. Gelbe Blumen trug sie! Eine ungute Farbe. Sie bog von der Twerskaja in eine Gasse ein und drehte sich um. Sie kennen doch die Twerskaja? Auf der Twerskaja waren Tausende von Menschen unterwegs, aber ich schwöre Ihnen, sie sah nur mich, und ihr Blick war nicht nur unruhig, sondern irgendwie krank. Mich beeindruckte nicht so sehr ihre Schönheit wie die ungewöhnliche Einsamkeit in ihren Augen, eine nie gesehene Einsamkeit!

Ich folgte dem gelben Zeichen, bog ebenfalls in die Gasse ein und ging der Frau nach. Schweigend liefen wir durch die trostlose, krumme Gasse, ich auf der einen Seite, sie auf der andern. Und stellen Sie sich vor, in der Gasse war keine Menschenseele. Es war qualvoll für mich, denn mir schien, ich müsse mit ihr reden, aber ich fürchtete, ich würde kein Wort herausbringen und sie würde weggehen und ich würde sie nie wiedersehen. Und stellen Sie sich vor, plötzlich sprach sie: ‚Gefallen Ihnen meine Blumen?‘ Ich erinnere mich noch genau, wie ihre Stimme klang, ziemlich tief, aber brüchig, und es mag dumm sein, doch mir war, als ob sich ihr Echo in der Gasse an der schmutziggelben Wand brach. Rasch ging ich zu ihr hinüber und antwortete: ‚Nein.‘ Sie blickte mich verwundert an, und plötzlich, völlig unerwartet, wurde mir bewusst, dass ich diese Frau mein Leben lang geliebt hatte! Erstaunlich, was? Sie werden natürlich sagen, ich sei verrückt.‘ ‚Gar nichts sag ich‘, rief Iwan und fügte hinzu: ‚Ich flehe Sie an, erzäh37

len Sie weiter!‘ Der Besucher fuhr fort: ‚Ja, sie blickte mich verwundert an, dann fragte sie: ‚Mögen Sie überhaupt keine Blumen?‘ Ich hatte den Eindruck, dass ihre Stimme feindselig klang. Ich ging neben ihr her, bemühte mich, gleichen Schritt zu halten, und spürte zu meiner eigenen Verwunderung keinerlei Schüchternheit. ‚Doch, ich mag Blumen, nur diese nicht‘, sagte ich. ‚Welche denn?‘ ‚Rosen liebe ich.‘ Doch sofort bedauerte ich, dies gesagt zu haben, denn sie lächelte schuldbewusst und warf den Strauß in die Gosse. Ich war ein bisschen verwirrt, hob ihn wieder auf und gab ihn ihr, doch sie stieß die Blumen lächelnd zurück, und da behielt ich sie in der Hand.

Eine Zeitlang gingen wir schweigend, dann nahm sie mir die Blumen aus der Hand, warf sie zu Boden und schob ihre Hand im schwarzen Stulpenhandschuh unter meinen Arm.‘ ‚Weiter‘, sagte Iwan, ‚und lassen Sie bitte nichts aus!‘ ‚Weiter?‘, fragte der Besucher. ‚Nun, das Weitere können Sie sich denken.‘ Er wischte mit dem rechten Ärmel eine Träne weg und fuhr fort: ‚Die Liebe war so plötzlich da, wie ein Mörder in einer Gasse plötzlich vor einem steht, und traf uns beide. So schlägt ein Blitz ein, so stößt ein Finnenmesser zu! Sie pflegte übrigens später zu sagen, so sei es nicht gewesen, wir hätten einander schon seit langem geliebt, ohne uns zu kennen, ohne uns je gesehen zu haben.‘“ Warner klappte das Buch zu. „Die Liebe – wie ein Mörder in einer Gasse! Welch ein treffender Vergleich“, dachte Warner. Er blickte in den Spiegel, aber der Pudel war nicht unter dem Bett. Er hatte ihn mehrmals loszuwerden versucht, hatte ihn einmal weit außerhalb der Stadt zurückgelassen, aber er kam immer wieder. Dass er sich jetzt von selbst auf den Weg gemacht hatte, war ungewöhnlich. Aber vielleicht hatte er seinem Herrchen angemerkt, dass der alsbald aufspringen, sich die Jacke überwerfen und aus dem Haus stürmen würde. Heut oder nie!

In der Collegienstraße herrschte Getriebe. Man musste sich auf dem Bürgersteig an langsameren Passanten vorbeischlängeln. Irgendwo musste Gelb auftauchen, Osterglocken. Dass die echten Glocken Faust gerade noch rechtzeitig für Goethe am Leben erhalten hatten, konnte ein gutes Omen sein. Jetzt hatten die gelben Blumen auch einen Namen.

Die Menschen trugen noch Winterkleidung, alles grau in grau. Mit seiner gelben Jacke, und Warner fiel erst jetzt auf, dass er diese Farbe 38

trug, würde er sich hervorheben. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig war nichts zu entdecken. Als Warner am Haus des Doktor Faust vorüberkam, blickte er fast vorwurfsvoll hinauf. Sollte er durch die ganz andere Spielart, den Meister, genarrt worden sein? Als er das Haus hinter sich gelassen hatte, hörte er eine einsame Stimme „Georg“ rufen.

Auf der anderen Seite machte er jetzt eine Frau aus. Sie war sehr schön, wie selbst aus der Entfernung zu erkennen war. Sie trug einen schwarzen Frühjahrsmantel. Als sicheres Zeichen, dass er sich auf der richtigen Fährte befand, entdeckte er schwarze Stulpenhandschuhe.

Aber – die gelben Blumen fehlten. Warner war sich sicher, so diese Begegnung stattfinden würde, dass sie nur über die gelben Blumen ins Gespräch kommen konnten. Nichts mit Osterglocken.

Er musste es auf einen Versuch ankommen lassen und bog in die Troggasse ab. Diese kurze Gasse zwischen Collegien- und Jüdenstraße kam ihm endlos vor. Die Beine wurden ihm immer schwerer. So blieb Warner schließlich stehen. Sein Herz klopfte rasend. Er drehte sich sachte um und triumphierte. Die schöne Frau war ihm gefolgt. Nun brauchte er nur noch seinen Schritt zu verlangsamen. Bald waren sie auf gleicher Höhe, gingen nebeneinander her. Die Gasse war so schmal, dass sie mühelos eine Hand in die des andern hätten legen können. Aber das Problem, den Faden zu finden, war das Fehlen der Blumen.

Da kam plötzlich der Pudel die Gasse heruntergeschossen. Er setzte zum Sprung an und die Frau fing ihn auf. „Behemoth“, jubelte sie. „Wo kommst du denn her? Ich habe dich furchtbar vermisst.“ Warner wollte die Gelegenheit nutzen. Ach, dieser Pudel. So sagte er: „Der Pudel ist mir zugelaufen.“ Die Frau schien außer sich zu sein, denn sie sagte: „Hat dich das Herrchen auch gut behandelt?“ Warner konnte Hunde und deren Besitzer nicht leiden. Obwohl sie Herr des Hundes sein sollten, nahmen sie, eben durch kindliche und kitschige Sprüche gedrängt, oft das Aussehen ihres Hundes an. Warner äugte. Nein, der Pudel war im Gegensatz zu Frauchen hässlich. Noch etwas irritierte ihn, der Name „Behemoth“. Einer der drei finsteren Gesellen im Gefolge des Teufels bei Bulgakow hieß so, war aber ein Kater.

Etwas pikiert nahm Warner die Frage an den Pudel auf: „Behemoth hat es gut bei mir gehabt. Er teilte meine Einsamkeit und schlief unter dem Bett.“ Das sagte er, weil daran dachte, wer sich bald in seinem Bett befinden sollte und seine Einsamkeit teilte. Aber das Stichwort hatte er geliefert. Die Frau musste darauf eingehen. So fragte sie: „Du bist einsam?“ Sie fasste sich ein Herz und sagte: „Ich bin es auch.“ Dem Aufschlag zutiefst ehrlicher Augen folgten die Worte: „Sehr einsam.“ 39

Am oberen Ende der Gasse tauchte ein verwegener Bursche auf. Nur Warner wusste, um wen es sich handelte. Mephistopheles hatte bei ihrer ersten Begegnung seine Verwandlungsfähigkeit gepriesen. So sagte er: „Ein Mörder.“ Die Frau flüchtete nicht in seine Arme, wohl ahnend, dass Georg die Mörder bisher vertrieben hatte. So bekräftigte er noch einmal: „Das ist ein Mörder.“ Der Mann war jetzt mit ihnen auf gleicher Höhe. Er ließ ein Klappmesser aufspringen. Die Frau klammerte sich an Georg. Als der Mann weiterging, sah Warner an seinem leichtfüßigen Gang, dass Mephistopheles mit sich zufrieden war. Er hatte die Handlung entscheidend vorangebracht.

Die Frau zitterte leicht, als sie sagte: „Die Liebe – wie ein Mörder in der Gasse.“ Dann küssten sie sich. Jetzt erfuhr er ihren Namen: „Ich bin Margit.“ Er nahm ihr den Pudel aus dem Arm, der sich bei der Umarmung pudelwohl gefühlt hatte, und setzte ihn auf die Gasse. Ab jetzt gab es eine klare Trennung zwischen Herrchen und Hund wie auch zwischen Frauchen und Hund. Keinesfalls würde Behemoth noch einmal sein Plätzchen unter dem Bett finden.

Margit fand es nicht nett, dass der Schoßhund zu Fuß gehen sollte. „Er kennt den Weg“, sagte Warner, „ich wohne der Gasse gegenüber.“ Jetzt kam ihm ein, dass Margit geradewegs vom Himmel gefallen sein könnte. Dass sie auch von etlichen Klaftern unter der Erde aufgestiegen sein könnte, den Gedanken gestattete er sich nicht. In diesem Zusammenhang fiel ihm Tofana ein. Er erzählte Margit, dass seine Nachbarin abgereist sei. Das Zimmer sei für sie wie geschaffen. In seiner Jackentasche fand er zu seiner eigenen Überraschung die Schlüssel. Oben angekommen, schloss er die Tür auf. Margit lugte hinein und sagte: „Gemütlich.“ Warner wollte dem nicht nachstehen und entgegnete: „Bei mir ist es noch gemütlicher.“ Das fand Margit durch den großen Spiegel bestätigt. Darin würde sie sich immer anschauen können. Ach, was sind Frauen eitel. Als er ihr das gemeinsame Bad zeigte, schob er den Pudel mit dem Fuß hinein. „Er duscht so gern“, begründete er sein Tun und schloss die Tür.

Sie befanden sich wieder in dem Zimmer mit dem nun irritierenden Spiegel. Durch ihn waren sie zweimal vorhanden. Georg Warner sprach zum Spiegel und zitierte Goethe am Anfang: „Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie! durchaus studiert, mit heißem Bemüh’n.

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Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor“ Dann setzte er fort: „Ich habe leider nur Theologie studiert. Aber ich habe Ideen.“ Aus Margit sprudelte es heraus: „Georg, mir graust vor dir.“ Sie warfen sich aufs Bett. Margit war noch nicht bewusst, dass die Ideen Warners zwar nicht zum Grausen waren, aber solches bewirkten. Vor allem grauste es den Teufel und seine unzähligen Gesellen. Die Gretchenfrage wollte Margit auch noch loswerden, obwohl die Verpflichtung Warners für den Dienst Gottes auf der Hand lag: „Wie hältst du’s mit der Religion?“ Georg antwortete: „Gar nicht. Ich halte es mit der Wahrheit“, um schnell zur Abwehr des Teufels hinzuzufügen, „mit der göttlichen Wahrheit.“ Die Biografie Margits war ernüchternd und ihre politischen Ansichten waren blauäugig. Georg Warner belehrte nicht. Das Leben selbst würde Margit weitsichtig und leidensfähig machen. Jetzt hatte er eine Chemielaborantin aus dem Stickstoffwerk Piesteritz vor sich. Woher sie kam, konnte sie nicht recht sagen. Seit zwei Generationen waren die Familien der lukrativen Arbeit nachgezogen, aus der Börde in die Wismut, von dort in den Überseehafen Rostock. Wieder zurück in das Gaskombinat Schwarze Pumpe, von da nach Piesteritz. Die Bindungen hatten sich dabei verloren. „Verstehst du nun, weshalb ich einsam bin?“, fragte Margit.

Georg Warners Herz zog sich zusammen. Margit war heimatlos. Er hatte eine Heimat, die Oberlausitz war ihm in Herz, Sinn und Verstand eingebrannt. Zu seinem Leidwesen, denn es wollte ihn dort niemand verstehen.

Margit zog alsbald ein. Sie brachte zwei Koffer mit. Auf dem Bücherbord befanden sich nur abgegriffene Kinderbücher. Wenn Warner schwergewichtige Schriften studiert hatte, ließ er sich von seiner enthusiastischen Freundin die Geschichten erzählen.

Es wurde Frühling, ein begeisternder mit Margit. Und Warner wurde immer deutlicher, dass er eine Entscheidung treffen musste, der Verantwortung nicht davonlaufen durfte. Die Zeit am Predigerseminar näherte sich ihrem Ende. Er musste sich allmählich eine Pfarrstelle suchen.

In seiner Kirche an der Neiße erwartete niemand seine Wiederkehr.

Ehemalige Kommilitonen bemühten sich um ihn. Sie waren in der leergefegten Gegend um Oschersleben in Position gegangen, dort konnten sie wegen der kirchlichen Tabula rasa ihre Ideen voll ausleben. Nur er fehle noch.

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Warner gelang es nicht, sich zu lösen. Ihn würde es in den wenig faustischen Osten verschlagen. Doch vorher wollte er eine Sache entschieden erledigt wissen. Er verließ das Predigerseminar für einige Zeit, was ihm niemand verübelte, da auf seine Beiträge schon seit Längerem kein Wert mehr gelegt wurde. Er ging zur „Rotte“, dem Gleisbau, weil dort gewaltig Geld zu verdienen war. Er wurde aber nicht auf Montage geschickt, sondern gelangte zur Jochdemontage Stößen. Dort hatte er gemeinsam mit Sträflingen Joche zu zerlegen, in großem Tempo. Die wurden als zerschnittene Schienenteile per Bahn angeliefert. Sie stammten aus dem sumpfigen Oberhofer Tunnel. Alles verrostet und mit ungeheurem Kraftaufwand bei Tempo zu lösen.

Erleichterung verschaffte ihnen Schwejk. Er sah tatsächlich wie jener aus, rauchte eine kurze angekohlte Pfeife. Schwejk war ein „Politischer“.

Er war schnell eingekleidet worden, als er sich weigerte, seine Arbeitskraft in die Bewegung der sozialistischen Brigaden einzubringen. Gefällt hatte ihn die Bemerkung: „Das ist ja wie ‘53.“ Warner hatte hinter ihm und seinem Bolzendreher, mit dem er die massiven Schrauben losdrehte, nichts anderes zu tun, als mit einem Vorschlaghammer auf die verdrehten Bolzen und Schrauben zu schlagen. Das Kommando hinter ihm hatte diese auseinanderzubringen.

Warner wurde alsbald klar, in welcher Lage er sich befand. Tat er nur so, als wenn er zuschlüge, oder ließ er den Hammer nur leicht anklingen, wurde die Arbeit für die Männer hinter ihm zur Tortur. So schlug er gewissenhaft zu.

Am Abend konnte er sich kaum noch bewegen, beim Essen zitterten ihm die Hände. Als er auf der Pritsche lag, bedachte Warner seine Situation. Er konnte zur Pforte gehen, sich abmelden, und das war’s. Er war ein freier Mann. Aber was, wenn er das in Zukunft nicht mehr wäre, sondern ebenfalls ein Gefangener?

Früh um fünf saß er am Frühstückstisch. Schwejk musterte ihn anerkennend. Dann sagte er: „Ich habe nicht gedacht, dich heute Morgen noch hier zu sehen.“ Jetzt begann die Fron, von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends, zwölf Stunden lang. Es gab bei jeder schweren Arbeit Tricks. So brauchte man den Hammer nur schwingen zu lassen, ohne unsinnig draufzuhauen. Schließlich galt es, genau die Schwachstelle zwischen verkeilter Mutter und Schraube zu finden.

Warner verließ die Jochdemontage an einem Abend nach getaner Arbeit. Schwejk registrierte die Übergabe der Arbeitsuniform. Dann sagte er wie beiläufig: „Georg, gib dir Mühe, dass dieser Unrechtsstaat endet, so wie ich es tun werde.“ 42

Wieder in Wittenberg, fand ihn Margit blass und ausgemergelt. „Fehlt dir etwas?“, fragte sie. „Mir fehlt rein gar nichts“, antwortete Warner, „ich habe aber etwas mitgebracht.“ Er tat geheimnisvoll, sagte, dass sie sich schön anziehen solle. Das war für Margit mit Körperpflege verbunden. Sie kam aus dem Bad und ihr heißer Körper vernebelte den Spiegel.

Sie wollte ihn abwischen, doch dabei ging er zu Bruch. „ Sieben Jahre Pech.“ Aber so lange sollten Glück und Pech nicht dauern.

Vor den bronzenen Thesen Luthers zog Georg Warner eine Schachtel hervor. Er öffnete sie. Darin lagen zwei goldene Ringe. Jochdemontage Stößen, 800 Mark wert. Margit war überwältigt. Liebe hin, Liebe her.

Georg wollte ihr Sicherheit geben. Und die Ringe würden nach der Verlobung von der linken auf die rechte Hand wandern.

Der 16. Juni 1977 kam. Georg Warner hätte sich überallhin verdingen können, zwischen Kap Arkona und dem Fichtelberg. Er konnte sich aber nicht davonstehlen. So stieg er mit Margit in den Zug nach Osten, ohne zu wissen, was ihn dort erwartete. Er stand am Fenster, schaute auf Wittenberg zurück. Da kam jemand hinterher gehetzt. Es war der weiße Pudel. Aber er schaffte es nicht mehr aufzuspringen. Warner sah, wie er schwarz wurde. Das also war des Pudels Kern.

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Zweites Kapitel

Der Bischof Die Fahrt verlief konsequent: Jessen, Annaburg, Herzberg, Bad Liebenwerda, Elsterwerda. Und dann kam der rußige Himmel mit der Kokerei Lauchhammer. Schwarze Pumpe lag daneben. Es folgte dieses grässlich gesichtslose Hoyerswerda, die sozialistische Stadt. Dann rollte der Zug noch eine Weile durch Braunkohlegegenden. Es ging auf Görlitz zu.

Warner war unruhig geworden. Er verließ das Abteil und trat ans Fenster, verschaffte sich Luft. Plötzlich stand Mephistopheles neben ihm. Auf die Landschaft blickend, sagte er: „Gott hat die Lausitz geschaffen und der Teufel darunter die Kohle versteckt.“ Dann war er verschwunden.

Warner war eine Idee gekommen, die sich binnen kurzer Zeit verfestigte, sodass er sie hinsichtlich seiner Absichten vertiefen konnte. In Görlitz angekommen, steuerte er zielsicher mit Margit an der Seite die Berliner Straße hinunter zum Konsistorium.

Der Bischof war leider nicht da. Die Sekretärin wusste, dass der Bischof im Gegensatz zu allen anderen mit Warner ein vertrauensvolles Verhältnis pflegte, und wollte ihn über den Aufenthaltsort des Bischofs nicht im Unklaren lassen. Sie sagte, dass er so schnell nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Er sei im Ausland. Merkwürdig war nur, dass der Bischof nicht reisen durfte. Aber er hatte sich diesmal energisch durchgesetzt. Die Sekretärin gab preis, er sei zur Weltkirchenkonferenz geflogen. „Nach der Ablehnung der Reise hat er zum Hörer gegriffen und gesagt: ‚Wollen Sie morgen in der Bild-Zeitung lesen: Nicht einreisen durften der Bischof Zulu von Südafrika und der Bischof des Görlit44

zer Kirchengebietes?‘“ Warner ließ sich beim Oberkonsistorialrat melden, der den Bischof vertrat. Als er auf dem Flur wartete, klärte er Margit darüber auf, wo und warum sie sich hier befanden. Sie bemerkte, dass die Angestellten einen Bogen um Georg machten. Sie hörte es tuscheln: „Kaum zu glauben, Warner ist wieder da.“ Sie mussten in feindseliger Umgebung sein.

Warner nutzte die Zeit, um über die Begegnungen mit dem Bischof nachzudenken. Schon als er Student war, hatte er die Hand über ihn gehalten. Auch durch das erste Examen hatte er ihn bugsiert. Vor der mündlichen Prüfung, der Bischof selbst war für das Alte Testament zuständig, hatte er Warner wesentlich früher zu sich bestellt und gesagt: „Mann, was haben Sie denn da gemacht.“ Gemeint war die schriftliche Arbeit am Tag vorher, eine glatte Fünf. Warner gab zu, dass er Hebräisch nur sehr mangelhaft beherrsche. Leider hatte er den aufgerufenen Text vom Tode König Sauls nie gelesen. So war Abenteuerliches herausgekommen, folglich war Warners Interpretation ebenso abenteuerlich gewesen. Der Kulturfunktionär in Moskau hätte begeistert in die Hände geklatscht über Warners Version der Bibel.

Als das Fach des Bischofs geprüft wurde, tat dieser wie nebenbei kund, dass nicht mehr übersetzt zu werden brauche, da dies bereits in der schriftlichen Prüfung geschehen sei. Alle Köpfe schnellten ungläubig zu ihm hin, denn er entwickelte bei der Übersetzung stets Leidenschaft, die sich auf den Prüfling übertrug – so er Hebräisch beherrschte.

Er hatte Warner vorab nicht im Unklaren darüber gelassen, dass der Text von der Berufung Davids als neuem König von Israel handelte.

Dann hatte er gesagt: „Ich werde Sie an entscheidender Stelle fragen, warum Gott einen solch sündhaften Menschen zu seinem Werkzeug machte. Und Sie werden antworten: ‚Das Handeln Gottes geht mitten durch den Schnittpunkt der Sünde hindurch.‘“ Das war ganz die Theologie Karl Barths und diese somit als Höhepunkt einbezogen. Es wurde eine Eins, was zusammen mit der verhauenen schriftlichen Prüfung im Alten Testament eine Drei ergab. Doch warum war Warner des Hebräischen nicht mächtig? Die Antwort ist einfach. Er hatte die Zeit, da es Stammformen zu lernen galt, mit Liebesabenteuern verbracht.

Der Bischof hielt Warner für keinen theologischen Kopf. Ebenso wenig interessierte ihn der Literat Warner. Aber er sah in dem jungen Mann einen Rebellen, der es im Sinne der Wahrheit noch weit bringen würde. Solche Leute wollte er haben. Denn er hatte das Wächteramt der Kirche in Anlehnung an das Alte Testament vor den totalitären Machtanspruch des Staates gestellt. Er berief sich dabei auf den Prophe45

ten Jesaja: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen.

Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen.“ Ins Nachdenken hatte er Warner in einem persönlichen Gespräch gebracht. Der Bischof war eine der wichtigsten Personen der Bekennenden Kirche gegen den Machtanspruch des totalitären Dritten Reiches in Schlesien gewesen. Als er einmal zum Verhör abgeholt worden war, hatte der Polizist gesagt, er würde einige Hundert Meter hinter ihm gehen, weil er sich schäme. „Sehen Sie“, gab der Bischof Warner zu verstehen, „die Menschen haben durchaus ein Gewissen. Beherzigen Sie das, wenn Sie vorschnell urteilen wollen. Wer nicht vergeben will, ist weder für das Reich Gottes noch für die Welt geschaffen.“ Einen zweiten Gedanken wollte er Warner noch mitgeben: „Ich war als Pfarrer in der Festung Breslau eingeschlossen. Pfarrer war ich wieder, weil ich eine schwere Beinverletzung von der Front mitgebracht hatte. In Breslau trug ich immer eine Pistole bei mir. Mir stand nicht der Sinn danach, einfach so oder nebenbei umgelegt zu werden. Denken Sie daran, wenn es einmal hart auf hart gehen sollte.“ Jetzt wurden sie in das Dienstzimmer des Oberkonsistorialrates gebeten. Warner stellte umgehend fest: „Ich bin wieder da. Und das ist meine Verlobte Margit.“ Der greise Oberkonsistorialrat schien zu seufzen: „… wieder da und mit einer Margarita. Wo das hinführt, kann man sich denken.“ Warner besaß immer noch genug Schwung: „Ich will in meine zukünftige Pfarrstelle eingewiesen werden.“ Der Oberkonsistorialrat schränkte ein: „Sie haben noch eine Weile Vikar zu sein.“ Das stand außer Zweifel. Warner gab dem Oberkonsistorialrat das an die Hand, was ihn handeln ließ: „Ich möchte eine Industriepfarrstelle in der Braunkohle mit Kraftwerken drum herum.“ Das waren Dauervakanzen, weil niemand freiwillig dahin wollte. Sie waren bei Besetzungen das größte Problem. Der Oberkonsistorialrat konnte nun also zwei Probleme auf einmal lösen, nämlich auch das mit Warner. Nur den günstigen Augenblick genutzt, ehe der es sich anders überlegte. Aber das hatte Warner keineswegs vor.

Der Oberkonsistorialrat drückte eine Taste, dann sprach er der Sekretärin gegenüber einen malerischen, aber unverständlichen Namen aus. Die erschien mit der Akte. Der Oberkonsistorialrat diktierte ihr die Berufung Georg Warners eben dorthin, unterschrieb, siegelte und überreichte Warner das Dokument. Der war hochbeglückt, ohne zu wissen, wohin es eigentlich ging.

Der Oberkonsistorialrat verabschiedete Warner, bat aber seine Ver46

lobte, noch zu bleiben. Warner ging wieder auf den Flur. Der erschien ihm nicht mehr so dunkel wie zuvor. Hinter der Tür ließ sich der Oberkonsistorialrat Zeit mit Margit. Er sah, wie sie immer noch scheu sein Dienstzimmer betrachtete. Auf dem Schreibtisch befand sich ein großes Kreuz, in den Regalen standen altehrwürdige Bücher, deren Titel sie nicht deuten konnte. Überall drängten sich unverständliche Sprüche auf.

Als sich der Oberkonsistorialrat an sie wandte, schrak sie zusammen. „Sie sind kirchenfremd.“ Das Wort hatte sie noch nie gehört. Da sie aber wusste, womit Georg Warner beschäftigt war und was einmal sein Beruf sein würde, hatte sie vorsorglich in ihre Unterlagen geschaut und konnte jetzt sagen: „Ich bin getauft.“ Der alte Herr schien erleichtert.

Das bekräftigte er: „Dann können Sie mit dem Segen der Kirche heiraten, sollten aber vorher in diese eintreten.“ Margit blickte ihn befremdet an, sodass er sich erklärte: „Wenn der Vikar Warner Pfarrer sein wird, werden Sie alles Schwere mit ihm teilen müssen. Ohne ganz dazuzugehören, würde das schief gehen.“ Dann sann er über ein persönliches Abschiedswort nach. Es war ihm egal, ob die Verlobte das gleich verstehen würde. So gab er ihr mit auf den Weg: „Bedenken Sie im Blick auf ihren zukünftigen Ehemann, dass wir alle Sünder sind.“ Als Margit dieses ominöse Zimmer verlassen hatte, fasste sie Georg bei der Hand und eilte mit ihm die Treppen hinunter auf die Straße.

Wieder auf der Berliner angekommen, wollte Georg wissen, was der Alte von ihr gewollt hatte. „Wir können heiraten“, sagte sie. Dann erzählte sie ihm von dem kurzen Gespräch. Hinsichtlich des letzten Rates dachte Warner grimmig: „Falls es Probleme gibt, wird Tofana von ganz unten anreisen.“ Wohin nun? Margit wies die Richtung: „Ich habe einmal ein Buch gelesen, in dem Missionare in Afrika vorkamen. Deine Wirkungsstätte klang wie Deutsch-Ostafrika.“ Warner holte seine Urkunde hervor.

Tatsächlich hatte der Name des Ortes etwas Exotisches: Deutsch-Ossig.

Vor Ort Auf dem Bahnhof war Hilflosigkeit angesagt. Zu genanntem Dorf schien keine Bahn zu fahren. Warum Warner bei seinem halbjährigen Auf47

enthalt keine Kenntnis von ihm hatte, lag daran, dass er sich als Vikar nördlich der Stadt, in Ludwigsdorf, befunden hatte. Dass Deutsch-Ossig südlich davon lag – also gab es diesen Ort –, erfuhren sie von einer freundlichen Dame, die sich ihrer annahm. Sie riet ihnen, den Bus zu nehmen, da der Bahnhof außerhalb liege. Auf Nachfrage hinsichtlich des Namens sagte sie, dass „Deutsch“ vor den Ort gesetzt sei, weil über der Neiße Wendisch-Ossig läge, das hieße aber jetzt anders. Der Bus fahre nach Zittau.

Damit war die Richtung klar. Schließlich fuhren sie. Kaum zwei Kilometer aus der Stadt heraus, hieß es schon aussteigen. Was war das? Vor ihnen stand eine Wand von Kraftwerken. Sie wurde durch den Rauch aus den Schloten noch bedeutend höher. Einen Horizont gab es nicht.

An ihre Ohren drangen Quietschen, Heulen, Rasseln, Leiern, Wummern und etliche Zwischentöne. Selbst wenn man das nie gehört hatte: Es war klar, dort musste der Braunkohlentagebau liegen. Als Kontrast dazu stand nach Norden hin eine Kirche, die von außen schmucklos wirkte.

Eingeschüchtert fragte Warner einen Passanten, wie er in die Kirche oder ins Pfarrhaus gelangen könne. Sie fanden den Weg zur Küsterin.

Diese machte den strengen Eindruck einer ehemaligen Gouvernante.

Ohne selbst etwas zu sagen, ließ sie sich Warners Anliegen vortragen.

Dabei betrachtete sie die Verlobte kritisch, abschätzend, ob diese jemals eine vernünftige Pfarrfrau werden könne. Das Dokument, das Warner als Inhaber der Pfarrstelle kennzeichnete, ließ sie sich natürlich zeigen.

Dann ging sie ins Haus, kam bald mit einem gewaltigen Schlüsselbund zurück. Die Küsterin war trotz ihres hohen Alters gut zu Fuß. Im Eiltempo ging es die Straße hinauf und zur Kirche. Tor an der Mauer aufschließen, hindurch, zuschließen. Auf dem Friedhof standen alte Grabkreuze, hier war seit Langem nicht mehr beerdigt worden. Aber wo?

Die Kirche war keineswegs schmucklos. Großartiges Barock tat sich kund. Die Küsterin führte sie schnell hindurch. So war zu erfahren, dass der Künstler Rodewitz geheißen habe, Meisterschüler von Permoser in Dresden. Auch in Görlitz hatte er zahlreiche bedeutende Werke hinterlassen, so den Altar der Dreifaltigkeitskirche. Wie zum Hohn war Warner eben an dieser Vikar gewesen, aber wohl nicht würdig, dort seine Predigerstimme ertönen zu lassen. Nun hatte er seinen eigenen Rodewitz.

Margit, der Kirchen fremd waren, blieb ob der Pracht der Mund offenstehen. Alsbald aber standen sie vor einer Rarität, einem evangelischen Beichtstuhl. Zwei oben sitzende Engel verkündeten Binde- und 48

Lösegewalt und dazwischen war deutlich zu lesen: „O Herr, ich habe gesündigt.“ Warner war sofort aufgefallen, dass sich die Kanzel im Altar befand.

Die würde er keinesfalls besteigen, mit ihm sollte alles auf Augenhöhe geschehen. Was ihn an der Kirche sofort begeisterte – und von einer derartigen Gemütsverfassung konnte man nicht ausgehen –, war die Theatralik des Barocks in diesem Raum. Hier würde er auf viele Ideen kommen. Nach einem Blick in Margits Gesicht entfernte er sich hochzufrieden. Jetzt brauchte nur noch das Pfarrhaus diesem Prachtbau zu entsprechen.

Es kam ganz anders, was sich Warner hätte denken können. Eine Gemeinde, die so lange unversorgt gewesen war, konnte nur eine Bruchbude anzubieten haben. Das war das Haus keineswegs. Es war herrschaftlich, mit Gesindehaus daneben, freilich ohne Fenster, und einer großen Scheune mit einstürzendem Dach. Auf dem Hof lagen Berge von Gerümpel.

Vormals musste das Anwesen eine Pfründe gewesen sein, der Pfarrherr war tatsächlich Herr mit Äckern, Knechten und Gesinde. Die Pfründe verschafften ihm die Lehnsherren. Warner erinnerte sich sofort an die fünf herrschaftlichen Logen in der Kirche. Warner wäre seinerzeit niemals als Pfarrer von Deutsch-Ossig bestellt worden. Auch grauste ihn der Gedanke, dass Georg Büchner einen Blick aus der Sakristei in diese Kirche werfen hätte können. Neben den Palästen hätte er auch sie stürmen lassen müssen. Warner fiel auf, wie sich die Zeiten geändert hatten. Auf den Ort regnete Asche, mit Schwefel vermischt.

Das DDR-Industriezeitalter konnte sich nicht nachhaltiger bemerkbar machen als durch den Tagebau. Wie zum Hohn kam das daher, dass die einstigen Herren abgeschafft waren, ihre Paläste verfielen und drum herum alles Volkseigentum war. Auch das ehemals herrschaftliche Pfarrhaus war verfallen.

Vor der Tür löste die Küsterin Schlüssel von dem gewaltigen Bund.

Einen für das Tor, einen für die Kirche und einen für das Pfarrhaus.

Dann ließ sie sich den Empfang quittieren und wünschte sich eine gute Zusammenarbeit. Der gewölbte Hausflur war dunkel und speckig.

Rechts im Untergeschoss musste eine Frau wohnen. Nach oben führten stolze granitene Treppenstufen. Der Eingang zur Wohnung war durch eine Türblende abgegrenzt. Im Flur war sofort zu spüren, dass hier lange keiner mehr gewohnt hatte. Die Zimmer, über drei Meter hoch, das sogenannte Wohnzimmer 35 Quadratmeter groß, drehten sich um eine alte Räucherkammer. Alles war verkeimt, Unrat lag in den Ecken. Tape49

ten hingen von den Wänden, Wasserflecken waren nicht zu übersehen.

Ohne ein Wort zu sagen, drehte Georg mit Margit die Runde. Dann verließen sie wortlos die „Wohnung“.

Warner wollte noch das vermutlich große Gelände besichtigen. Wäre er nach Deutsch-Ostafrika bestellt worden, hätte er eine Savanne erblickt. Eine solche gab es hier auch, nur war sie mit hüfthohen Brennnesseln bewachsen. Daneben lag ein riesiger Misthaufen der LPG, von dem aus ätzende Jauche über das Grundstück rann.

Margit rannte plötzlich los, Warner konnte sie nicht mehr einholen.

Auf der durch den Werksverkehr äußerst belebten Straße, die am Haus vorbeiführte, jagte sie zur Bushaltestelle. Eben kam ein Bus aus Zittau an und sie stieg ein. Warner konnte gerade noch aufspringen. Es ging wieder nach Görlitz. Neben ihm weinte Margit.

Auf einer Bank am Bahnhof versuchte er sie zu trösten. Sie aber hielt bereits tapfer eine Fahrkarte nach Wittenberg in der Hand. Georg Warner verlor keineswegs den Mut. Er spürte die Herausforderung. Dort vor der Stadt war er zu Hause. Er kam Margit damit, dass sich etwa die Auswanderer nach Amerika auch erst behaupten mussten. Sie gab ihm tonlos zur Antwort, dass sie nicht nach Amerika wolle, sondern nach Piesteritz. Das sei vergleichbar mit der Gegend, in die sich Warner begeben hatte, aber immerhin zivilisiert. Und Wittenberg biete auch Kunst, der sie sich jetzt intensiver widmen würde als zuvor.

Georg Warner sagte Margit, dass sie einsam sein würde wie zuvor.

Sie hätten sich ihre Liebe gestanden, um gemeinsam weiterzugehen.

Das könne bei der großen Liebe überall geschehen, warum nicht hier.

Sie schaute ihn merkwürdig an, dann sagte sie: „Ich liebe dich, aber ich kann nicht mit dir leben.“ Alles war gesagt, sie nahm ihre Tasche und ging.

Als der Zug schon abgefahren war, Warner saß immer noch auf der Bank, fiel ihm ein Wort ein, das in dem Satz gefehlt hatte, das kleine Wort „so“. Margit hatte ihm nicht zu verstehen gegeben, dass sie „so“ nicht mit ihm leben könne, sondern generell. Warner sah eine Frau mit zwei Pudeln an ihm vorübergehen, der eine war weiß, der andere schwarz.

Dann raffte er sich auf. Besuchte eine inserierte Haushaltsauflösung und schaffte die billig erworbenen alten Möbel – später sollten sie als Antiquitäten einen vielfach höheren Preis erzielen – per Gütertaxi in sein neues Zuhause. Dann befand er sich inmitten der Möbel in dem großen Wohnzimmer. Von der Decke bleckte eine Birne, durch die Frau im Erdgeschoss war zum Glück der Strom nicht abgeschaltet worden.

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Wenn Warner jetzt eine Plane über sein „Strandgut“ gebreitet hätte, wären ihm Gefühle wie dem gestrandeten Robinson Crusoe gestattet gewesen. Auch der war zufrieden.

Warner baute immerhin das Bett zusammen. Vorder- und Hinterwand waren geschwungen und an den Seiten mit gedrechselten Kugeln verziert. Über die Seitenwände musste man mittig einsteigen, da sich diese ebenfalls symmetrisch bogen. Man konnte also keinesfalls herausfallen. Es waren Bretter einzulegen, die Warner vor Einbruch der Dunkelheit noch auf dem Hof zusammengesucht hatte. Eine Matratze besaß er nicht, aber die würde sich finden. Er löschte das Licht, legte sich auf die Bretter und deckte sich angezogen mit seiner gelben Jacke zu. In seiner früheren Einsamkeit hätte er sich vor dem Einschlafen beklagt, wie elend diese Welt sei. Jetzt kam ihm ein, dass Faust sich verpflichten musste: „Den Ehestand hassen, sich in selbigen nicht einlassen, nie verehelichen.“ Warner weinte sich nicht, er lachte sich in den Schlaf.

Am nächsten Morgen borgte er sich eine Sense und mähte den Tag über die Brennnesseln ab, schaffte sie ins angrenzende sumpfige Gelände. Wenn man das Mähen nicht vernachlässigte, blieben sie schließlich weg und es wuchs Gras. Das Mähen brachte ihm bei den Dorfbewohnern mehr Achtung ein, als es eine gute Predigt vermocht hätte. Nach und nach entrümpelte er den Hof. So hatte er ständig Kontakt mit den Dorfbewohnern. Wie er erfuhr, war die Zahl seiner „Schäfchen“ gering.

Man bezeichnete sie als „treue Kerngemeinde“.

Es kam zu Gesprächen. Warner hörte, dass die Deutsch-Ossiger, abgesehen von einigen Atheisten, jemanden wie ihn sehnlichst erwartet hatten. Es war fast wie in Marzahna. Er erfuhr auch, dass der Ort vor ihm eine Pastorin gehabt hatte. Ein alter Bauer sagte, dass er so lange gelebt habe, um nicht von einem Weib beerdigt zu werden. Wer wen beerdigte, war auch sonst bedeutungsvoll. Ein anderer Bauer, der nach der Zwangskollektivierung gezwungen worden war, LPG-Vorsitzender zu werden, sagte zu Warner: „Ich hoffe, dass Sie uns befreien werden.“ Weniger nebenbei erfuhr Warner, dass ein Drittel der Bewohner Flüchtlinge von jenseits der Neiße waren. In ein kleines Fachwerkhaus gegenüber der Straße wurde er eingeladen. Es gab Täubchen, ein Essen, das Warner noch nie in seiner Zartheit genossen hatte. Alfons, er sollte später ein Freund Warners werden, sagte schließlich: „Wir mussten Anfang Januar ‘45 aus Oberschlesien auf den Treck. Ich besaß dort 40 Hektar Land. In Warmbrunn bei Hirschberg ging der letzte Zug nach dem Westen ab. Der Russe beschoss bereits den Bahnhof. Ich hatte schon den Fuß aufs Trittbett gestellt, hinter mir meine Frau und die vier Kinder.

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Eines auf der Flucht geboren. Dann bin ich wieder abgestiegen, weil ich mir sagte, dass es vielleicht doch wieder nach Hause geht. So bin ich hierher gelangt. Ich hoffe, dass Sie mir die falscheste Entscheidung meines Lebens besänftigen können. Sie hat es ja auch wie mich nach Deutsch-Ossig verschlagen.“ Warner entgegnete bestimmt: „Ich bin freiwillig gekommen.“ Das hat ihn immer aufrecht gehalten. Wäre es nicht so gewesen, wäre er in dem, was kommen sollte, verrückt geworden, vermutlich aber vorher davongerannt. Alfons hob die Hand zum Ohr und sagte: „Hören Sie?“ Er meinte die Geräusche der Bagger.

Jedenfalls war Warner, was ihm vorher nie geschehen war, in diesem Ort höchst willkommen. Er kämpfte sich malernd und tapezierend durch die Räume des Hauses. Holte sich dabei die Krätze, was erst spät als inzwischen äußerst seltene Krankheit erkannt wurde. Bis dahin hatte er sich fast „totgejuckt“. Einige Narben blieben zurück.

Die üppigen herrschaftlichen Fensterfronten mussten behängt werden. Die Bruderhilfe besorgte den Stoff und die Frauen der Frauenhilfe nähten die Vorhänge. An den Wänden ragten Bretteregale auf, die in geschickter Zusammenstellung nicht nur Bücher bargen. So wurde die Höhe der Räume erträglich. Später sagte mir Warner, dass er diese Umgebung stets vermisst habe, als er längst von jenem Ort weggezogen war.

Erntedank Die alte Frau, die im Parterre wohnte, betrieb emsig Gemüsehandel. Mit ihren Früchten fuhr sie einmal in der Woche auf den Görlitzer Markt.

Ihr Garten lag weit außerhalb, wie sie sagte, um dann seufzend hinzuzufügen: „Am Grubenrand.“ Das gab Warner die Gelegenheit, die Kohlengrube in Augenschein zu nehmen.

Auf dem gemeinsamen Weg dahin wurden die apokalyptischen Laute der Bagger klar unterscheidbar. Was zunahm, war das Stampfen, sodass die Erde leicht erschüttert wurde. Die Gartenanlage dehnte sich weit hin. Was die alte Frau zu bewirtschaften hatte, war eher ein Feld, jedenfalls nicht das Terrain eines Hobbygärtners. Dass die Frau ein Feind des Unkrautes war, konnte nicht gesagt werden, aber es gedieh alles prächtig. Ihre Rede besaß eine Besonderheit, sie bestand in Vergleichen. Ei52

ner Geschichte schloss sich die nächste an. Eben verglich sie ihre einstige Heimat mit der gegenwärtigen. Auch sie war Flüchtling, stammte aus Schönberg, das weiter drin, aber immer noch im Kreis Görlitz gelegen hatte.

Der Kreis hatte 1945 zwei Drittel seiner Größe verloren, den Teil östlich der Neiße. Anfang der 50er-Jahre war er aus Orten anderer Kreise zusammengestoppelt worden, Bautzen, Löbau, Zittau und Niesky.

So waren die Einwohner gemischter Herkunft. Gesprochen wurde der Oberlausitzer Singsang, das kräftige Rollen des „r“ war zum Zittauer Gebirge hin zu vernehmen, nach Norden war der Dialekt bereits ein schlesischer. Von dort stammte auch Warner.

Beim Vergleich sagte die Frau, dass sie in Schönberg einen kleinen Betrieb geführt habe, der Strohmatten herstellte. An Gemüseanbau war nicht zu denken, außer für den eigenen Bedarf. So war es jetzt insofern besser, als sie ihrer Leidenschaft nachgehen konnte. Das war ein weiterer Wesenszug an ihr. Bei ihren Vergleichen drehte sie alles ins Positive.

Sie erzählte auch von ihrem Mann. Der war bald nach der Flucht, noch jung, gestorben. Es folgte keine Analogie. Sie fragte umgehend, wo denn die junge Frau abgeblieben sei, die mit ihm hier angekommen war. „Meine Verlobte“, kennzeichnete sie Warner. Das war richtig und Warner wollte es so. Sie hatten sich nicht entlobt, den Ring hatte er auch nicht zurückbekommen. Freilich trug er seinen nicht mehr, sondern hatte ihn zur Ansicht in einem Schälchen auf dem Nachtschrank stehen.

Dann tat er in einer kleinen Notlüge kund, dass Margit zurückgefahren sei, weil sie in Wittenberg einen verantwortungsvollen Beruf auszuüben hätte. Die Frau sah ihn von der Seite her an und Warner bemerkte, dass sie ihm nicht recht glaubte. Aber sie war nicht tratschig, sodass keine Gerüchte gestreut werden würden.

Jetzt zog es Warner an den Grubenrand. Er ging nahe heran, sodass der Bagger keine zehn Meter von ihm entfernt mit einem Schaufelrad die Erde abdrehte. Von dort gelangte sie auf ein Förderband, das sie zu Waggons transportierte und hineinfallen ließ. Jetzt wusste Warner auch, woher das Klirren und Quietschen kam. Das Kraftwerk selbst war nicht zu sehen, aber die Wolke stand wie beim seligen Mose am Sinai über der Landschaft.

Warner musste an das Nichts und das Etwas denken. Hier, wo er stand, wuchs Gras, bald dahinter glänzten in sattem Gelb die ersten Kürbisse. Etwas zur Seite hin stand eine Schafherde, die der Bagger nicht im Geringsten zu stören schien. Dann folgte das Nichts – oder die Grube. Aber eine Grube kann ja auch immer als Sinnbild des Nichts 53

gelten. Noch krasser war der Unterschied der Tätigkeiten. Hier wurde gegraben, gesät und geerntet. Dort wurde moderne Technik in Gang gesetzt, um das alles ungeschehen zu machen. Warner mutmaßte, dass beide Gruppen nichts miteinander zu tun hätten. Wie er später feststellen sollte, war auch keine Verständigung möglich. Jede Seite hatte ihre eigene Weltanschauung.

Die Frau musste an ihre Arbeit gehen. Sie wies auf ein Gehölz hin, den sogenannten Pfarrbusch. Seine Breite zeige eben das Land an, das vor der LPG der Kirche gehörte. Das habe sich wie ein „Handtuch“ von der Neiße bis hoch nach Jauernick hingezogen. Auch die anderen Gehöfte und Güter hatten je nach Größe einen solchen Streifen besessen, um verschiedene Bodenqualitäten nutzen zu können.

Warner verabschiedete sich und begab sich zum Pfarrbusch. Von da aus bewegte er sich die sanfte Steigung hinauf bis zur Jauernicker Grenze. Auf dem Rückweg steuerte er das ebenfalls zu seiner Gemeinde gehörende Klein Neundorf an. Es lag in einem idyllischen Tal und wollte, wie auch das Bergdorf Jauernick, so ganz und gar nicht in die Industrielandschaft passen.

Auf halbem Weg zurück lag da plötzlich der Friedhof. Warner betrat ihn und war entzückt. Im Gegensatz zum Pfarrgelände war er äußerst gepflegt. Er war im italienischen Stil gestaltet worden. Zypressen waren planvoll gewachsen, Buchsbaum und andere südländische Sträucher rahmten Wege und Gräber. Seine Schutzbefohlenen reisten also aus dieser verdreckten Gegend in die Toskana aus. Wieder vor dem Friedhofstor, erschrak Warner, denn er fragte sich unwillkürlich, wie lange man hier noch die vorletzte Ruhe finden würde. Geradeaus in seiner Blickrichtung bewegte sich der Tagebau vorwärts.

Das Erntedankfest stand bevor. Warner wollte sich an diesem Sonntag offiziell vorstellen. Predigtmaterial hatte er genug beisammen. Ideen drängten sich auf. Er brauchte nur seinen heutigen Weg biblisch zu füllen, Mose war ja schon einmal auf seiner Seite. Auch nutzten die Pfarrer das Erntedankfest, seit mit der LPG-Gründung das Motto ausgegeben worden war: „Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“, dazu, die sozialistischen Errungenschaften infrage zu stellen. Oder sie, wie im Falle seines ehemaligen Heimatpfarrers, zu geißeln. Hinzu kam, dass Erntedank auf den ersten Sonntag im Oktober fiel. Traf dieser mit dem 7. Oktober, dem Tag der Republik, dem hohen Feiertag zusammen, da auch die Kohlekumpel und Kraftwerker ihre Erfolge auf den Gabentisch legten, musste Erntedank verschoben werden. Die Nähe des 7. Oktober schärfte aber noch einmal die kritischen Sinne. Kein Prediger kam 54

zu Erntedank um das Evangelium des Sonntags herum. Auch Warner hatte sich dieses jetzt vorgenommen, das natürlich bei Lukas stand: „Es war ein reicher Mensch, dessen Feld hatte gut getragen. Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen, und will darin sammeln all mein Korn und meine Vorräte und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?

So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich für Gott.“ Warner nahm sich vor, abermals den Teufel zu reizen. Denn den reichen Kornbauern hatte ohne Zweifel der Teufel geholt. Das hatte er mit Doktor Faust gemeinsam. Ansonsten hatten sie auf den ersten Blick wenig Ähnlichkeit. Der eine sorgte, um sich dann auf lange Sicht zu belohnen. Der andere hatte keine Sorgen, „er brachte Tag und Nacht in Saus und Brause hin, spielte, fraß und soff mit seinen Zechbrüdern“ oder war mit Goldmachen beschäftigt.

Das ließ ihn bei seinen Zeitgenossen verdächtig erscheinen. Auch hatte er von seinem Vetter Äcker und Wiesen geerbt, die arg ungepflegt und unbestellt waren. Warner überlegte an dieser Stelle, ob er Mephistopheles beim Namen nennen sollte. Ihn als „Geist“ zu bezeichnen, der Faust zu Diensten sein musste, hätte genügt. Ihn in einer Predigt lobend zu erwähnen, konnte ihm als Blasphemie ausgelegt werden. Er verwendete den Namen.

Mephistopheles hatte seinem Herrn Faust Vorhaltungen gemacht, weil er in Verruf geraten war. Wenn er seine Äcker und Wiesen instandsetzte, konnte keiner mutmaßen, dass er seinen liederlichen Lebenswandel auf ganz andere Art bestritt. Der willigte zwar in die notwendige Täuschung ein, tat aber selbst nichts, sondern beauftrage Mephistopheles mit der bäuerlichen Arbeit. Der „legte sofort in Fausts Namen Hand an und brachte diesen wieder in einen ehrlichen Ruf. Es war aber damals eine unbequeme Zeit und die Frucht nicht recht wohl geraten.

Dennoch schnitt Faustus dreifach so viel von seinen ererbten Gütern, als sein nächster Nachbar that.“ Jetzt galt es, die Moral von der Geschichte kundzutun. Doktor Faustus hatte seine Seele dem Teufel verschrieben, der ihn laut Kontrakt erst nach 24 Jahren holen würde, nach 24 Jahren in Saus und Braus. Der reiche Kornbauer hatte anscheinend alles selbst aus eigener Kraft voll55

bracht. Erst dann stieg die Hoffart in ihm auf. Nein, es musste auch hier mit dem Teufel zugegangen sein. Denn der Bauer war in seinem Streben nicht reich für Gott gewesen. So wurde er zu einer Beute des Teufels, der ihm eben diese großartige Ernte zugeschanzt hatte, um ihn sich holen zu können, noch in derselben Nacht.

Warner betonte im Gottesdienst die Übereinstimmung beider Geschichten. Es sei dabei ganz gleich, ob der Teufel einen noch in derselben Nacht einfordere oder nach 24 Jahren. Zeit sei hier ein relativer Begriff.

Im Fortgang seiner Predigt trug er nach diesem einleitenden Beispiel das geflügelte Wort „zum Teufel gehen“ als Motto vor sich her. Nähme man von hier aus 24 Jahre an, wäre man im Jahre 2001. Prophetische Weitsicht wollte er nicht entwickeln. Damals konnte noch keiner ahnen, was sich fast auf den Tag genau ereignen würde, die Welt des Bösen offenbarend: und so fort.

Handfest hielt sich Warner an das, was er vorfand. Beschrieb seinen Gang durch die Landschaft. Im Altarraum wurden zu Erntedank die Erntegaben aufgebaut, erhaben sah das aus. Da jeder, der zum Gottesdienst gekommen war, seine Gabe erkennen wollte, herrschte Hochstimmung. Nichts damit: „nicht reich für Gott“. Wenn sich ein Prediger dies entgehen ließ, musste er reichlich töricht sein. Warner pries das, was er an Ernteeifer gesehen hatte. Seine Hausbewohnerin strahlte, da sie ihn auf den Predigtweg gebracht hatte. Dann fügte er kein „aber“ an. Er schilderte ohne Anknüpfung die andere Welt. So sich diese durchsetzte, war es vielleicht auch im Großen und Ganzen vorbei, hier allemal. Der begnadete Totensonntagsprediger konnte es sich nicht verkneifen, auf den schönen „italienischen“ Friedhof einzugehen. Dann sagte er, dass alsbald die Toten ein unruhiges Leben führen würden.

Warner schien sich wieder einmal im Negativen festgefahren zu haben. Zu seiner Meisterschaft aber gehörte es, sich ehrlich wieder da hinauszuwinden. Wenn sein ehemaliger Ortspfarrer die Finsternis so heraufbeschworen hatte, dass Zähneklappern zu hören war, schwang er sich plötzlich zu dem Satz auf: „Und seid sicher, meine Lieben, wir werden uns alle im Himmel wiedersehen. Amen.“ Warner hatte nun noch seine Vorstellung vorzunehmen. Er leierte nicht seine Kurzbiografie herunter, sondern griff auf Elementares zurück. So sagte er: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben. Deshalb bin ich hier. Wir werden bis aufs Blut dem ‚alt bösen Feind‘ widerstehen. Wir werden ihm den Acker, der ihm nicht gehört, entreißen und ihn in uns bewahren.“ 56

Jetzt jagten ihn literarische Ideen. Fast vor sich hin gab er Günter Eich wieder: „In der Stunde X werde ich dennoch sagen, dass die Erde schön war.“ Dies sollte ihn demnächst einholen. Was er aber hinaus schmetterte, war Paul Celan. Er hatte diesen Satz nicht verstanden und Celans Lyrik, die ihm nie eingekommen wäre, ließ seine eigene Lyrik mehrere Monate verstummen. Jetzt hatte er den Satz plötzlich verstanden. Er umfasste mit einer weiten Armbewegung die Gemeinde und teilte ihr mit: „‘Es war Erde in ihnen, und sie gruben.‘ Amen.“ Es musste an diesem Sonntag noch etwas geschehen. Der Teufel war doch arg gerupft worden. Warner blickte aus dem Fenster. Obwohl rund um die Woche in drei Schichten gearbeitet wurde, zeigte sich der sonst nie ruhende Berufsverkehr nur spärlich. Der Schichtwechsel war schon vorbei, es ging auf den späten Nachmittag zu. Das musste man nicht unbedingt auf der Uhr ablesen oder durch Verkehrsbeobachtungen feststellen. Das Kraftwerk fuhr an. Werk I aus den späten 50iger Jahren arbeitete für sich. Das Anfahren besorgte Werk II. Werk III aus dem Jahre ‘78, mit 1 000 Megawatt Leistung das größte, tat dies mit entsprechendem Lärm kund. Die Filter waren offen, sodass der Böhmische Wind aus Südwesten alsbald Staub und Ruß auf Deutsch-Ossig schleuderte.

Warner blieb noch eine Weile am Fenster stehen. Wenn sich noch etwas ereignen sollte, müsste eine Frau auf der Straße erscheinen. Wer sich aber dem Haus näherte, war die Erscheinung der zweiten Heimsuchung. Mephistopheles steuerte auf das Pfarrhaus zu. Einzulassen brauchte ihn Warner nicht.

Und richtig, bald öffnete sich die Tür. Mephistopheles trat ein. Er setzte sich an den Tisch und forderte Warner mit einer Handbewegung auf, es ebenfalls zu tun. Er wirkte ernst und begann seine Rede mit einem Vorwurf: „Musstest du mich unbedingt mit hineinziehen? Der Herr und Meister war über verschiedene Kanäle Ohrenzeuge. Dass ich Äcker und Wiesen von Faust instandgesetzt hatte, wusste er nicht. Das minderte den Glanz der Macht über den liederlichen Faust.“ Er machte eine Pause, um dann seinen Einspruch zu bekräftigen: „Höre. Wenn dir an meiner Freundschaft gelegen ist, lass mich bei deinen Scharmützeln aus dem Spiel. Ich kann dir sonst nicht helfen.“ Warner hatte nicht vor, sein Beispiel zu verteidigen, denn das hatte eben für größere Aussagen gedient. Dem war auch so, denn Mephistopheles war auf Weisung hin erschienen. Warner wollte wissen, worauf diese hinauslief. Mephistopheles schien sie herabspielen zu wollen, indem er sagte: „Auf nichts anderes, als dass ich deine Gegenwart teile.“ Das tat er vorerst schweigend. Nach einer gewissen Zeit, Warner wur57

de die Stille unheimlich, zog Mephistopheles eine Uhr hervor. Dass er zum Feststellen der Zeit eine Uhr benötigte, erschien Warner lächerlich.

Vielleicht ging es Mephistopheles um Theatralik, denn er öffnete eine Sprungdeckeluhr, deren Deckel nach oben schnellte.

Plötzlich begann eine Sirene zu heulen, die anderen im Ort fielen ein.

Mephistopheles konstatierte: „Pünktlich.“ Dann öffnete er das Fenster. Den Lärm des Tagebaus übertönten landschaftsweit Sirenen. Dann rückte die hiesige Feuerwehr mit Blaulicht und Martinshorn aus, Richtung Hagenwerder. Es dauerte nicht lange, da donnerten von Görlitz her weitere Wehren vorbei. Auch die Dörfer waren alarmiert worden.

So hätte man fast von einer Parade zum Zwecke der Feuerbekämpfung reden können. Als der Aufzug beendet war, zeigte Mephistopheles Warner an, er solle ihm folgen.

Es ging bis hinauf zum Spitzboden. Mephistopheles öffnete das kleine Giebelfenster nach Süden hin. Da stand eine riesige Rauchsäule, die qualmenden Schlote gaben nur die Kulisse dafür ab. Flammen mussten so hoch schlagen, dass ihre feurigen Zungen sich in den Rauch mischten. Ein wahrhaft höllisches Feuer.

Mephistopheles nahm den Gedanken Warners auf. „Dass es so ist, wird sich daran erweisen, dass man keine Spuren für eine Brandstiftung finden wird. In der Mühle hat sich das Korn beim Mahlen selbst entzündet. Eine Verkettung von Zufällen bewirkte, dass kein Müller sich in dem Geschoss befand, als der Brand ausbrach. Das Feuer hat auch die Scheunen erfasst. So verbrennt die gesamte Ernte.“ Warner war über die höllische Rache bestürzt. Der Teufel hatte das Gleichnis vom reichen Kornbauern verwirklicht. Bevor Mephistopheles ging, sagte er noch: „Es werden bald einige Herren bei dir erscheinen, die dir merkwürdige Fragen stellen werden. Vom Teufel würde ich an deiner Stelle nicht reden. Denk an den Moskauer Meister.“ Am nächsten Tag bekam Warner schon früh am Morgen Besuch. Die Herren trugen Ledermäntel. Einer blieb an der Tür stehen, ein zweiter zückte Stift und Notizbuch, der dritte setzte sich dahin, wo gestern Mephistopheles gesessen hatte. Herr Warner solle auch Platz nehmen.

Der dritte Herr stellte sich als Kumpfe, Hauptmann der Staatssicherheit, vor. Er legte einige Seiten vor sich hin. Wie Warner mit entschlossenem Blick feststellte, handelte es sich um eine Mitschrift seiner Predigt.

Der Hauptmann begann mit einer Einleitung: „Herr Warner, wir glauben nicht an Geister, weder Teufel noch Gott. Sie sind gemäß unserem atheistischen Bekenntnis tot. Dass sie beide bemüht haben, liegt daran, dass sie die religiösen Bedürfnisse Weniger zu befriedigen haben. Aus 58

Gründen der Demokratie lassen wir dieses zu.“ Er machte eine Pause, um abzuwarten, ob Warner etwas erwidern würde. Den hatte aber keineswegs Furcht gepackt.

Der Hauptmann bestätigte nun, was Warner vermutet hatte. Er hob die Blätter leicht an und sagte: „Ihre Predigt.“ Warner war auf eine Interpretation derselben gefasst, der Punkte, die als staatsfeindlich gelten konnten. Der Hauptmann wollte aber gleich zur Sache kommen und sagte auch: „Zur Sache.“ Dann ließ er hören: „Herr Warner, wir haben Ihr Haus den ganzen Tag über beobachtet. Das konnte bei einer solchen Brandrede, wie Sie sie gehalten haben, gar nicht anders sein. Sie haben das Haus nicht verlassen. Es ist auch niemand zu ihnen gekommen.

Folglich können Sie den Brand in der Mühle, der die Errungenschaften unserer sozialistischen Produktionsgenossenschaften vernichtet hat, nicht gelegt haben. Dass Sie jemanden in der kurzen Zeit dazu anstiften konnten, haben wir als Vermutung fallen lassen. Aber“, er dehnte das „aber“, „Sie könnten jemanden oder einige subversive Elemente darin bestärkt haben, diese Tat zu vollbringen.“ Warner hätte nun zwingend seine Predigt verteidigen und im Nachgang auslegen müssen. Er tat nichts desgleichen. Das Schweigen verwunderte den Hauptmann abermals. Er wusste aber aus Erfahrung: Wenn einer schwieg, hatte er auch etwas zu verbergen. Also konnte es getrost dabei bleiben, er würde es schon herausfinden. Diesem Besuch würde dann ein längerer folgen oder das Gespräch würde an einem ganz anderen Ort wiederaufgenommen werden. So konnte Kumpfe Warner jetzt bedeuten: „Sollte es sich bei der Ergreifung des Täters oder der Täter erweisen, dass sie durch Ihre Predigt zu der Tat ermuntert wurden, gilt diese nicht mehr als solche, sondern als staatsfeindliche Aufforderung zu schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit der Vernichtung sozialistischen Eigentums. Dann dürfen Sie nur noch zwecklose Gnadengesuche schreiben.“ Der Besuch, oder besser: das Verhör, war beendet. Kumpfe schüttelte den Kopf. Er hatte sich auf das Gespräch mit diesem Sophisten Warner gefreut, seinen Stil bewundert, der ihn auch bei riskanten Passagen die Kurve kriegen ließ. Für einen Pfarrer war ihm, auch wenn er sich äußerst kritisch geäußert hatte, nichts aus dem Rahmen Fallendes vorzuwerfen. Das war bei einem Nachbarpfarrer ganz anders. Der hatte von der Kanzel verkündet: „Auch für Erich Honecker und all die kleinen und großen Verbrecher ist der Herr Jesus gestorben.“ Nein, dieser Warner war ein Meister der Hintertür. Hätte er geredet, hätte der Hauptmann geistreich mit ihm die Klinge gekreuzt.

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Warner geleitete die Abordnung bis zur Haustür. Es wurden keine Abschiedsgrüße ausgetauscht. Als Warner wieder zu seiner Wohnung hinaufstieg, konstatierte er, dass es bei einer Drohung geblieben war. Wenn eine solche ausgestoßen wurde, hatten die anderen nichts in der Hand.

Der Fall löste sich so, wie es nach dem Hergang des Brandes durch Mephistopheles anzunehmen war: Es handelte sich um Selbstentzündung des Getreides. In der Gemeinde aber gab es ohne Warners Wissen metaphysische Anflüge. Dass er mit dem Bösen im Bunde stehe, wurde ob seiner Haltung gänzlich ausgeschlossen. Aber in die Zukunft blicken konnte er wohl. So jemanden nannte man Prophet. Das kam dann immerhin oder immer von Gott, war also nicht in finstere Zweifel zu ziehen. Dass es einen Zusammenhang zwischen der Predigt und dem Feuer geben musste, wollte niemand leugnen. Aber die Gemeinde, schon etwas an Warner gewöhnt, hielt beides sehr wohl auseinander.

Das eine war eine Predigt über das Strafgericht Gottes, das andere ein Strafgericht Gottes. So hatte der Teufel abermals verspielt.

Das Revier Georg Warner war intensiv mit dem beschäftigt, was nicht zum Siedlungsgebiet seiner kleinen, treuen Gemeinde gehörte. In Görlitz-Weinhübel südlich vor der Stadt befand sich ein großes Neubaugebiet. Hier wohnte vornehmlich die in Kraftwerk und Grube wirkende „Intelligenz“, ohne dass die anderen als weniger intelligent galten. Sie lebten aber in einem anderen Umfeld, dem Neubaugebiet von Hagenwerder.

Und dieses gehörte zum Braunkohlenrevier. Als alles vorbei war, sich die Schutzengel am sauberen Himmel drängelten, um abzufliegen, gestand mir Warner, dass er das Revier schmerzlich vermisse. Er hatte dazugehört.

Er begab sich jetzt in das Zentrum von Hagenwerder, die Bahnhofsgaststätte. Als solche diente die umgewidmete Wartehalle, denn sie musste stets an die hundert Besucher fassen. Junge Leute saßen beieinander und diskutierten. Gegessen und getrunken wurde auch, aber das geschah in Maßen, es sei denn, man beeilte sich. Um 20 Uhr wurde geschlossen, damit jeder am nächsten Tag frisch zur Arbeit gehen konnte.

Warner konnte sich unauffällig in jener Schenke bewegen. Er trug 60

langes Haar. Ein Schnurrbart, der direkt vom Milchbart aus gewachsen war, gab ihm etwas von einem preußischen Korporal, obwohl er überzeugter Pazifist war. Die schmalen Augen waren eher „Sehschlitze“.

Seine gelbe Jacke konnte als Parker durchgehen. Die Jeansmode behagte ihm nicht, er trug Cord- oder Leinenhosen. Warners Statur war die eines Kesselschmiedes.

Setzte er sich an einen Tisch, wurde er nicht misstrauisch als Fremder beäugt, sondern war umgehend ins Gespräch einbezogen. Es wurde über alles geredet, kein Thema war tabu. Im Revier herrschte ein ungewöhnliches DDR-Klima. Nach längerer Beobachtung merkte Warner, woran das lag. Die Kraftwerker und Kohlekumpel standen an der vordersten Front der sozialistischen Wertschöpfung. Da jeder unbedingt gebraucht wurde, hatte sich ein Selbstbewusstsein entwickelt, das mit dem sonstigen Duckmäusertum nichts gemein hatte. Wenn einer eine gewagte Äußerung machte, ihm das bedeutet wurde, sackte er nicht erschrocken in sich zusammen, sondern verkündete noch einmal stärker seinen Standpunkt. Wenn es Warner gelang, hier Vertrauen zu finden, konnte „die Post abgehen“.

Es mag merkwürdig erscheinen, dass hier eine Männergesellschaft versammelt war. Junge Frauen kamen nur am Rande vor, obwohl es solche gab. Aber sie arbeiteten nicht dort, wo die Arbeit hart war. Auch wurden sie durchweg „Maschis“ genannt. Sie bevölkerten als Maschinistinnen die unzähligen Stellwerke in der Grube. Von ihnen galt, was bereits der Liedermacher Gerhard Gundermann von sich gab: dass sie nicht lieben können, weil sie harte Hände haben und ein hartes Herz.

Das reimte sich dann auf „Schmerz“, welchen sie allein vermitteln konnten. Wo sich die Kumpel aber die Liebe holten, war nicht auszumachen, denn es wurde keine Geliebte in die geschlossene Gesellschaft eingeführt. Vielleicht verließ man zur Nacht gelegentlich Hagenwerder.

Als Georg Warner sich in einer größeren Runde outete, herrschte doch einmal stummes Erstaunen. Man hatte von einem Pfaffen in Deutsch-Ossig gehört. Seitdem war dort der Teufel los. Dieser oder jener hatte bereits angekündigt, dass es nicht mehr lange dauern dürfte, bis er in Hagenwerder auftauchen würde. Jetzt war er da, in Aussehen und Erscheinung anders, als zu erwarten war. Einer erhob sich und gab zu verstehen, dass man hier in einem sozialistischen Industriegebiet sei.

Es gab freilich auch hier eine Rangordnung, die dann geltend gemacht wurde, wenn Strittiges entschieden werden sollte. Die Ordnung richtete sich nach der Arbeitsleistung. So sagte ein Baggerschlosser: „Die Zeitung habe ich heute schon gelesen. Wenn du nicht Dümme61

res vorzubringen hast, schweig.“ Der eben noch kühne Redner setzte sich bedeppert. Jetzt wurde eine Runde Bier bestellt, für Warner mit.

Man unterhielt sich über Belangloses. Als jeder das frisch Gezapfte vor sich hatte, trank man für Warner überraschend auf dessen Ankunft im Revier. Der Schlosser Hildebrand, „Hilde“ genannt, fragte kurz und knapp: „Was hast du vor?“ Warner hatte nicht vor, lang und breit seine Absichten zu verkünden.

Er sagte, dass er annehme, ein jeder kenne die Thomas-Müntzer-Straße.

Sie trennte Althagenwerder von den Neubauten. Warner verwies auf das letzte Haus. An dem war nichts, als dass es öde und einsam dastand, gegenüber dem Damm und der Neiße, dahinter finsteres Polen. Man hatte in dem Haus nie Leben bemerkt. Warner holte nicht weit aus, sondern sagte, dass es ihm gehöre, genauer der Gemeinde vor Ort. Aller vierzehn Tage versammelten sich darin die „Treuesten der Treuen“ aus Althagenwerder, um Gottesdienst zu feiern. Jetzt sagte er, dass dies ab jetzt „unser“ Haus sei. Zweimal pro Woche offen. Und was sich darin abspielen sollte, war die „Offene Arbeit“, zu der jeder kommen könne.

Es ging auf 20 Uhr zu, die Gaststätte schloss. Ein erster Termin war vereinbart worden.

Warner hatte durchaus vor, der Offenen Arbeit eine Richtung zu geben. So hieß das Programm „Bibel, Blues und bunte Bilder“. In der Reihenfolge wechselten die Angebote. Mit „Bibel“ war kein Missionswerk gemeint, es wurden allgemein Gleichnisse besprochen, vorrangig die des Lukas. Im Besonderen steuerte Warner seine beiden Stücke bei, ließ sie per Handzettel durchspielen, um schon einmal zu sehen, wer für das Spiel begabt war. „Blues“ war der Musik vorbehalten. Jeder konnte seine Schallplatten mitbringen und man kam darüber ins Gespräch. „Bunte Bilder“ war allgemein gemeint. Es wurden Lebensbilder von beeindruckenden Persönlichkeiten vorgestellt, vor allem solchen, die gegen den Strom geschwommen waren. Liebe und andere Zutaten des Lebens wurden besprochen. Auch die Literatur war Thema, denn die DDR galt als Leseland. Mit dieser hatte das so viel zu tun, als man sich gute Bücher als Mangelware beschaffen musste, um sich ausführlicher bilden zu können. Hilde machte mit der Vorstellung den Anfang. Er hatte gerade Heinrich Manns „Henri Quatre“ gelesen. Die Kumpel und Kraftwerker waren anspruchsvoll. So kamen von ihrer Seite, nicht durch Warner, religiöse Themen aufs Tablett. Er selbst steuerte schließlich „Der Meister und Margarita“ bei.

Dass der Staat nicht eingriff, nicht einmal durch sein berüchtigtes Spitzelwesen, lag daran, dass in der Thomas-Müntzer-Straße auch 62

nichts anderes geschah als in der Bahnhofskneipe, die nach wie vor Treffpunkt blieb. Die Zusammenkünfte dienten ebenso der Stärkung der Arbeitsmoral, was in Hagenwerder das Allerwichtigste war. Bildung war freilich Klassenkampf, gerade hier, wo die Schule im Ruf stand, den Stalinismus zu kultivieren. Aber es war nicht zu erkennen, dass die Runde in der Thomas-Müntzer-Straße im Sinne des Klassenfeindes verbildet wurde. Nun sollte man nicht blauäugig Wohlwollen vermuten. Ein Kulturfunktionär hatte das der Kraftwerks- und Grubenleitung auseinandergesetzt. Und der war kein anderer als Mephistopheles gewesen.

Die Sache mit dem Hahn Freilich waren die kleinen und großen Höllengeister beunruhigt, der Teufel am allermeisten. Warners Provokationen glichen einem unangekündigten Vulkanausbruch. Seit Erntedank, also seit einem halben Jahr, hatte der Vulkan kein Feuer mehr gespuckt.

Das lag daran, dass Warner sich gründlich auf die Eruption vorbreitete. Er wollte auch, dass seine neue Gemeinde an die Offene Arbeit mündig und umfassend heranging. Im Bereich „Bibel“ wurde der Verrat thematisiert, weniger an Jesus als an den Verrätern, die da waren: Judas, Petrus und noch zehn andere. Das Thema stand immer unter einem bestimmten Motto. Hier war die Liedzeile vorangestellt worden, die daran erinnerte, dass es Zwölfe waren, die den 13. eiskalt an die Wölfe verrieten.

In „Bunte Bilder“ stellte Warner die „Träume“ von Günter Eich vor.

Denn um einen Traum, aus dem man im Gegensatz zu Eich erwachte, sollte es bald gehen. Unmissverständlich sollte Eichs Warnung mit einbezogen werden: „Ich beneide alle, die vergessen können, die sich beruhigt schlafen legen und keine Träume haben.

Ich beneide mich selbst um die Augenblicke blinder Zufriedenheit.

Im Grunde aber meine ich, dass auch das gute Gewissen nicht ausreicht, und ich zweifle an der Güte des Schlafes, in dem wir uns alle wiegen.

Sieh, was es gibt. Gefängnis und Folterung, Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt, 63

den körperlosen Schmerz und die Angst, die das Leben meint.

Die Seufzer aus vielen Mündern sammelt die Erde, und in den Augen der Menschen, die du liebst, wohnt die Bestürzung.

Alles, was geschieht, geht dich an.“ So war das Umfeld für Warners Stück „Mein Hahn ist tot“, geschaffen.

Die Auswahl der Spieler wurde besprochen, erst einmal darauf gerichtet, wer spielen wollte und es sich zutraute. Am wandlungsfähigsten erschien Warner „Radl“. Der protestierte immer wieder gegen seinen Spitznamen. Er hieß nämlich Raeder. Aber das gemeine Volk war bei Spitznamen stets gnadenlos. Radl sollte Hinz spielen. Er hatte in der „Hierarchie“ einen unteren Stellenwert, denn er arbeitete in der Entaschung. Auf dem Wege über die baldige Spielgruppe Hagenwerder gelangte er später zum Puppenspielstudium und wurde noch viel später ein preisgekrönter Animationsfilmer.

Woher der Spitzname „Äugel“ stammte, lag nahe. Er schielte leicht, hatte aber eine schöne Gesangsstimme. Andere Sangesfreudige wurden ihm als Chor bei der Wachkompanie zugeteilt, er selbst war Chorleiter. Jetzt fehlte noch der „Chef “. Wer dieser in einem Verratsspiel nur sein konnte, lag auf der Hand. Warner wollte den Teufel diesmal siegreich agieren lassen. Nun ist es bei Spitznamen mitunter so, dass dafür untaugliche lange Namen ausgewählt werden. „Nostradamus“ war zu seinem gelangt, weil er abergläubisch unter der Kohle anderes vermutete. Ein Zwist in der Planungskommission hatte ihn aufgeschreckt, eben dort, wo sich später die „Rutschung P“ befinden sollte. Ein Ingenieur hatte resignierend herausgeschrien: „Von mir aus könnt ihr hier bis zur Hölle baggern!“ Der Kohlekumpel hatte sich daraufhin mit Alchimie und Sterndeutung beschäftigt. Er hätte auch „Paracelsus“ genannt werden können.

Was er aber von sich gab, waren die Berechnungen und Voraussagen des Nostradamus. Auf diesem Weg hatte er sich eine hintergründige Sprache zugelegt.

Die Proben fanden vor Ort statt, in der unbeheizten Kirche. Das war zwar nicht förderlich, stufte aber den Ernst höher. Georg Warner musste mit einem leichten Ziehen im Herzen erstmals intensiver an Margit denken. Wie sie hatten auch seine Mitstreiter noch nie eine Kirche betreten. Sie lachten. Sie fanden die barocken Figuren heiter, was sie ja auch waren. Man konnte auch unbedarft sein, denn es gab zuhauf verständliche Symbole. Warner machte sie umgehend mit der hervorragenden Akustik bekannt. Egal, wo der Spieler stand, er wurde, ohne die 64

Stimme dem Raum anpassen zu müssen, überall gehört. Man ging mit Eifer an die erste Probe. Mit dabei war auch Hilde. Dass der Literaturbeflissene nicht spielte, lag an einem Sprachfehler. Er hatte später für alle Belange der Proben und Aufführungen zu sorgen, sodass er als Spielleiter gleich hinter dem Autor und Regisseur Warner genannt wurde.

Georg Warner vernachlässigte seine Gemeinde keinesfalls. Nach wie vor war ihm besonders an persönlichen Kontakten gelegen. Gern hielt er sich bei dem alten Stellmacher auf, überhaupt war der Ort einer der Alten, während Hagenwerder durchgehend jugendlich war. Alt und Jung mussten also zusammenrücken.

Warner war gern in der Werkstatt, weil sein Vater ebenfalls Stellmacher war, jetzt nebenbei, denn wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten war er schon lange als Forstarbeiter tätig. Warner, als ältestes von drei Geschwistern, musste immer mit. So hatte er eine besondere Beziehung zum Holz. Er benötigte eine verstellbare Bühne, die in Zukunft in jede Kirche passen würde. Oben liefen Latten, auf die, wieder dank der Frauenhilfe, der Stoff aufgezogen wurde. Der Hintergrund ließ sich von fünf auf drei Meter verkürzen, die Seiten in einer Länge von einem Meter. Diese wurden in den Raum hinein geöffnet, sodass man in die Spielfläche schaute.

Mit dieser Bühne ist dann Warner durch die Lande gezogen. Er besaß nun auf lange Sicht seine geliebte, transportable Bühne. Als sie erstmals aufgestellt war, musste Warner schmunzeln. Über dem Hintergrund erhob sich der Kanzelengel mit dem Spruchband: „Das ist das wahrhaftige Wort Gottes.“ Warner verzichtete am Sonntag Judika, der so viel bedeutet wie „Richte mich“, auf jegliche Liturgie und Sangesfreude. Er nannte jetzt diese Art der Darstellung „Offener Gottesdienst“ gemäß seiner Offenen Arbeit. Analoge Texte zum Thema waren aufgerufen.

Was ihn gleich zu Anfang beglückte, war die Gemeinsamkeit in dieser Kirche. Eine Kerngemeinde reagierte auf Änderungen meist allergisch. „Jetzt kommen die Fremden.“ Und verhielt sich abstinent. Hier waren alle erschienen, weil sie zu „ihrem“ Pastor hielten. Auch die jungen Kraftwerker und Kohlekumpel waren vollzählig. Hinzu kamen etliche Neugierige, die vermuteten, heute würde in Deutsch-Ossig wieder etwas losgehen. Die Kirche war trotz eisiger Kälte Ende März voller Menschen. Wo sich die kleinen Geister befanden, wollte Warner nicht wissen. Gespannt war er aber schon jetzt auf die Reaktion aus unteren Gefilden. Das Spiel begann schließlich:

65

Mein Hahn ist tot Personen: Hinz, Kleintierzüchter Chef Chorleiter des Musikkorps bei der Wachkompanie Chormitglieder Magd Eine Wartehalle. Hinz kommt mit einer Kiste. Studiert die Zugabfahrtszeiten. Setzt sich auf eine Bank. Redet zur Kiste.

Hinz: Heut fährt kein Zug mehr. Aber ich verspreche dir, morgen früh beim ersten Hahnenschrei bekommst du dein Futter. In deinem eigenen Napf. Guten Weizen. (Der Chef ist unbemerkt hinzugetreten.)

Chef: Haben Sie mit mir gesprochen? (Hinz ist leicht verstört.)

Hinz: Weshalb sollte ich mit Ihnen reden? Ich kenne Sie doch nicht.

(Der Chef setzt sich.)

Chef: Herr Hinz. Sie sind Kleintierzüchter?

Hinz: Sieht man das?

Chef: Sie sprachen von Weizen.

Hinz: Ich züchte Geflügel. Genauer, einen Hahn. (Er nestelt an seiner Kleidung. Holt einen Umschlag hervor.) Er hat heut einen ersten Preis gewonnen, auf der Zuchtausstellung. (Er fingert ein Diplom aus dem Umschlag. Der Chef betrachtet es erfreut.)

Chef: So einen Hahn suche ich für eine kleine Vorstellung.

Hinz: Er ist nicht dressiert. Sieht nur gut aus und kann goldhell krähen.

Chef: Genau das ist erforderlich. (Hinz steckt das Diplom weg.)

Hinz: Der Hahn ist nicht käuflich.

Chef: Das habe ich erwartet. Er soll nur zum richtigen Zeitpunkt krähen.

Hinz: Er kräht pünktlich alle drei Stunden.

Chef: Ich brauche ihn gegen Morgen.

Hinz: Da sind wir längst zu Hause.

Chef: Sind Sie da so sicher?

Hinz: Absolut.

Chef: Ich würde das nicht so laut sagen. Es ist immerhin gefährlich, Gründonnerstag mit einem Hahn unterwegs zu sein.

Hinz: Das liegt am Termin der Ausstellung.

Chef: Spielen Sie nicht den Ahnungslosen. Ganze Völkerstämme es66

sen an diesem Tag nur Eier, um sich vor dem Verrat zu schützen, und Sie sind mit einem Hahn unterwegs. Das macht Sie zu einem der ersten Anwärter.

Hinz: Auf neue Preise, meinen Sie? Chef: Für den Verrat.

Hinz: Hören Sie. Sie kommen hier mitten in der Nacht an. Setzen sich unaufgefordert. Drängeln mir ein Gespräch auf. Und obendrein beschimpfen Sie mich auch noch. Sie sollten augenblicklich gehen.

Chef: Sie missverstehen mich, mein Freund. Ich wollte Ihnen nur ins Gewissen reden. Wegen des Hahnes. Aber wenn Sie meine Warnung in den Wind schlagen, müssen Sie die Folgen tragen. (Er will sich entfernen.)

Hinz: Moment. Wovor wollen Sie mich warnen?

Chef: Ich sagte es doch schon. Vor dem Verrat. Gründonnerstagnacht. Fällt Ihnen da nichts in Verbindung mit einem Hahn ein?

Hinz: Ehe der Hahn kräht …

Chef: Na sehen Sie. Ich wusste, Sie kennen die Geschichte. Prägen Sie sich den Schluss gut ein.

Hinz: ... wirst du mich zweimal verraten.

Chef: Es heißt zwar ‚verleugnen‘. Aber Sie sind der Sache gleich auf den Grund gegangen. Und da Sie Bescheid wissen, steigen Sie rechtzeitig aus. Bleiben Sie ein unbescholtener kleiner Bürger. Wir brauchen nur den Hahn.

Hinz: Meinen Hahn gebe ich nicht her.

Chef: Schade. Dann kann ich Ihnen nur eine gute Nacht wünschen.

(Er geht. Hinz stellt die Kiste auf die Bank.)

Hinz: Hast du diesen Verrückten gehört, mein Guter? Ich dich hergeben! Lieber verpfände ich meine Seele dem Teufel. (Er legt sich über die Kiste. Schläft ein. Traummusik. Das Musikkorps bei der Wachkompanie zieht auf. Der Chorleiter tritt vor das Korps. Dirigiert das folgende Lied.)

Chormitglieder: Der Hahn ist tot, der Hahn ist tot, der Hahn ist tot, der Hahn ist tot.

Er wird nicht mehr krähn co co di, co co da, er wird nicht mehr krähn co co di, co co da, co co co co co co co co di, 67

co co da.

(Hinz ist während des Liedes aufgewacht. Geht mit seiner Kiste zum Musikkorps.)

Hinz: Können Sie Ihre unanständigen Lieder nicht woanders singen?

Chorleiter: Dies ist ein internationaler Evergreen. Wir beherrschen ihn in allen erdenklichen Sprachen und er wird immer wieder gern gehört. Falls er Ihnen nicht zusagt, gehen Sie doch in einen Vergnügungspark und nicht aufs Rathaus.

Hinz: Ich bin lediglich auf der Durchreise und wünsche, dass Anspielungen auf einen toten Hahn unterbleiben. Ansonsten muss ich mich beim Tierzuchtverein beschweren.

Chorleiter: Lassen Sie das nicht den Chef hören. Er hat es nicht gern, wenn die Vorstellung gestört wird. Sie machen sich damit verdächtig.

Hinz: Ich weiß nicht, was daran verdächtig sein soll, wenn man sich für das bedrohte Leben einsetzt. Ich bin dagegen, dass ein vollkommen Unschuldiger einfach abgeschlachtet wird.

Chorleiter: Sie bringen mich in Verlegenheit. Ich bin nur der Chorleiter des Musikkorps bei der Wachkompanie. Tragen Sie Ihr Anliegen doch dem Hohen Rat vor.

Hinz: Keiner kann sich der Verantwortung entziehen. Vor allem Sie nicht mit Ihrem Lied. Sie haben doch einen Dienstgrad, der Ihnen gewisse Vollmachten gibt. (Der Chorleiter strafft sich.)

Chorleiter: Musikkorps stillgestanden! (Das Musikkorps befolgt den Befehl.) Zu Ehren unseres Chefs ‚Der Hahn ist tot‘ auf lateinisch.

Chormitglieder: Noster gallus est mortuus, noster gallus est mortuus, noster gallus est mortuus, noster gallus est mortuus.

Ille non contabit, co co di, co co da, ille non contabit, co co di, co co da, co co co co co co co co di, co co da.

Chorleiter: Rührt euch! (Zu Hinz.) Aufgrund Ihrer vorhin gemachten Äußerungen muss ich annehmen, dass Sie mit dem gefangenen Aufrührer unter einer Decke stecken.

Hinz: Was ich gesagt habe, bezog sich auf einen Hahn. Von einem Aufrührer weiß ich nichts.

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Chorleiter: Da besteht ein unmittelbarer Zusammenhang. Der Aufrührer warnt durch einen Hahn seine Leute, wenn sie ihn verraten sollten. Deshalb sind wir an dem Hahn interessiert. Kräht kein Hahn mehr nach dem Aufrührer, ist seine Sache gestorben. Seine Anhänger werden weiterlügen. Und genau das wäre in unserem Sinne. Leider bekommen wir den Hahn nicht in den Griff, so sehr sich der Chef auch bemüht.

(Hinz wird unruhig. Presst die Kiste an sich.)

Hinz: Jetzt verstehe ich die Schwere Ihrer Aufgabe. Singen Sie ruhig weiter. Ich bin der Letzte, der Sie daran hindert. Ich höre mir das Lied von fern an. (Er will gehen.)

Chorleiter: Was haben Sie denn da in der Kiste?

Hinz: Einen H… Äh. Heu. Chormitglieder: Der war auch mit ihm zusammen.

Chorleiter: Können Sie das bezeugen?

Chormitglieder: Jederzeit. (Der Chorleiter wendet sich an Hinz.)

Chorleiter: Haben Sie die Anklage gehört? Sie stehen unter dem Verdacht, mit dem Aufrührer gemeinsame Sache gemacht zu haben.

Hinz: Das ist doch absurd. Ich bin Kleintierzüchter.

Chorleiter: Also kennen Sie die Geschichte von dem Hahn.

Hinz: Sie ist ganz einfach. Handelt von Weizen und von Züchterpreisen.

Chorleiter: Und vom Krähen.

Hinz: Alle drei Stunden.

Chorleiter: Auch gegen Morgen?

Hinz: Weshalb nicht gegen Morgen?

Chorleiter: Bald ist es Morgen.

Hinz: Dann wird er bald krähen.

Chorleiter: Und wieder ist ein Verräter glücklich entkommen. Ehe der Hahn kräht …

Hinz: Ach, das meinen Sie. Chorleiter: Sie kennen die ganze Geschichte. Sie kennen den Aufrührer und warten nur darauf, dass der Hahn kräht.

Hinz: Ich kenne den Aufrührer nicht.

Chorleiter: In Ordnung. Fassen wir uns kurz.

Chormitglieder: Dieser war auch mit ihm zusammen, denn er ist ein Galiläer.

Hinz: Ein Galiläer soll ich sein?

Chorleiter: Halten Sie sich nicht mit Nebensächlichkeiten auf. Antworten Sie genau. Kennen Sie den Aufrührer?

Hinz: Mensch, ich weiß nicht, was hier geredet wird.

69

Chorleiter: Etwas ungenau, dafür umso leidenschaftlicher. Wir erwarten Leidenschaft. Dann ist die Vorstellung nicht so fade. Mögen Sie Chansons?

Hinz: Was soll das schon wieder?

Chorleiter: Ein Beitrag steht noch aus. Der von der Magd. Wir bereiten ihn auf Französisch vor. (Er hebt den Taktstock.)

Chormitglieder: Le coq est mort, le coq est mort, le coq est mort, le coq est mort.

Il ne dira plus, co co di, co co da, il ne dira plus, co co di, co co da, co co co co co co co co di, co co da.

(Die Magd kommt.)

Magd: Dieser war auch mit ihm zusammen.

Hinz: Mademoiselle, ich kenne ihn nicht.

Chorleiter: Ziehen Sie die Veranstaltung nicht ins Lächerliche. Es ist todernst. (Zur Magd.) Du kannst gehen, mein Kind. (Die Magd ab.)

Hinz: Damit wäre die Angelegenheit für mich erledigt. (Er will sich entfernen.)

Chorleiter: Sie bleiben. Der Hahn muss erst krähen.

Hinz: Ist er Rasse oder Hühnerhofhahn?

Chorleiter: Wenn wir das wüssten, wären wir schlauer. Es ist immer nur ein Hahn da. Und den hat noch keiner von uns gesehen.

Hinz: Was geschieht, wenn Sie den Hahn entdecken? In dem Moment, wo er kräht?

Chorleiter: Dann haben wir den Verräter. Der Hahn kann ihn nicht mehr warnen.

Hinz: Und der Verräter?

Chorleiter: Wird hängen. Er ist überführt. Der Hahn ist Beweis genug. (Langes Warten. Hinz vergeht vor Angst. Setzt die Kiste auf den Boden. Greift hinein und tötet den Hahn. Es wird Morgen. Der Chef kommt.)

Achtung! Stillgestanden! Zur Meldung an den Chef die Augen geradeaus! (Er meldet dem Chef.) Laut Ablaufplan in diesem Jahr bei der Vorstellung ‚Mein Hahn ist tot‘ auf Deutsch, Lateinisch und Französisch gesungen. Es meldet der Chorleiter des Musikkorps bei der Wachkom70

panie.

Chef: Besondere Vorkommnisse?

Chorleiter: Der Hahn hat nicht gekräht. (Der Chef wendet sich an Hinz.)

Chef: Herr Hinz, wie erklären Sie sich das?

Hinz: Da gibt es nichts mehr zu erklären.

Chef: Herr Hinz. Ich hatte Sie gewarnt. Denn ich wusste, dass Sie die Vorstellung nicht bis zum Schluss durchhalten würden. Hätten Sie den Hahn gleich hergegeben, wäre Ihnen und uns geholfen gewesen. So ist nur uns gedient. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen. (Chef ab.)

Chorleiter: Musikkorps bei der Wachkompanie rechts um! Ohne Tritt, marsch! Ein Lied! (Die Chormitglieder singen beim Abgehen ‚Mein Hahn ist tot‘. Hinz begibt sich zur Bank. Legt sich über die Kiste. Traummusik. Hinz erwacht. Reißt die Kiste auf.)

Hinz: Mein Hahn ist tot. (Er springt auf.) Wer wird jetzt die Verräter warnen, mich, dich, uns, alle? Lasst euch warnen. Der Hahn meldet die Verräter. (Krähend ab.)

Als das Spiel vorüber war, herrschte starke Unruhe, die sich auch bis zum Schluss des Gottesdienstes nicht legte. Danach geschah etwas Ungewöhnliches. Draußen begann plötzlich ein Krähen, das sich fortsetzte. Schließlich krähte die ganze Gemeinde. In Moskau wären jetzt Lastkraftwagen vorgefahren und hätten die Gesellschaft in die Irrenanstalt abtransportiert. Es war damit zu rechnen, dass sich das Krähen die nächsten Tage fortsetzte. Und alle, vor die es kam, wurden aufgeklärt.

Warner meinte, nur noch warten zu müssen. Der Teufel würde sich zwingend und tatkräftig melden. Warner war mit einer gewissen Eitelkeit darauf bedacht, Lob zu ernten. Vielleicht bestand dies in einer Terrine Frikassee. Aber nichts geschah.

Am anderen Morgen nach sechs Uhr erhob sich auf der Straße ein Tumult. Warner blickte verschlafen aus dem Fenster. Er sah, dass die Dorfbewohner auf dem Anger zusammengelaufen waren. Er zog sich rasch an und eilte hinzu. Man machte ihm keine Vorwürfe, obwohl das angebracht gewesen wäre. Wie sich herausstellte, waren alle Hühnerbesitzer erschienen. Allen fehlte der Hahn. Eine Frau klagte. Sie hatte mehrere Hähne besessen, allesamt seien verschwunden.

Im Laufe des Tages stellte sich heraus, dass das in allen umliegenden Dörfern geschehen war. Bald schon bildeten sich beängstigend lange Schlangen vor den Broilerbars. Dort stand hinter „Broiler“ in Klammern „frische Hähnchen“. Man speiste, bis wahrlich vom ganzen 71

Schmaus nur noch ein Bein herausragte. Das ging freilich nicht ewig so.

Bald gab es wieder die altbekannten „Gummiadler“.

Lilli vanilli Georg Warner wusste, dass er auf Dauer ohne Frauenrollen nicht auskommen würde. Außerdem benötigte er selbst ein Pendant zu dieser Männergesellschaft. Von außen durfte er nichts erhoffen, also musste er auf die Maschis setzen. Nach und nach fanden sich auch welche ein. Ihr Status war „zugehörig“, sie gehörten einfach dazu.

Am leidenschaftlichsten war Lilli vanilli. Sie nähte Kostüme, legte die Requisiten bereit, schützte den alten Lastwagen, Marke „Framo“, mit dem die Truppe unterwegs war, durch eine Plane. Sie machte sich unentbehrlich. Der Name Lilli war etwas entfremdet von Elisabeth abgeleitet worden. „Vanilli“ war etwas zweideutiger Herkunft. Sie roch nach Vanille und der Verdacht lag nahe, dass der Duft umso intensiver wurde, je näher man ihr an die Wäsche kam.

Lilli war Maschi auf dem untersten Stellwerk der Grube. Dort zog der Rauch nie ab und der Schwefel lag deutlich in der Luft. Hinzu kamen die Emissionen der Kohlefelder. Irgendwann musste sich als Gegenreaktionen jener Geruch von Vanille um Lilli gebildet haben. Wenn man ihr begegnete und von ihrer Arbeitsstelle wusste, wollte man instinktiv von dem zu erwartenden Schwefelgeruch Abstand nehmen. Stattdessen zog einen die Vanille immer mehr an. Lilli war anziehend. Mit ihrem kastanienroten Haar und ihren Sommersprossen.

Warner war nicht von ihr betört. Die Nähmaschine befand sich aber in seiner Wohnung, sodass Lilli aus und ein ging. Von ihm unbemerkt besorgte sie ihm auch den Haushalt, alles wirkte auf einmal freundlicher. Warum sie als „blöd“ galt, hatte sie Warner nicht vorenthalten. Sie hatte „der Esel im Galopp verloren“. Deshalb habe sie nie richtig lernen können. Bis zur zehnten Klasse habe sie nur Vieren geschrieben. Ab zu den Maschis.

Georg Warner – und das war der Anfang seines Nachdenkens über Lilli – kam der Gedanke, dass sie gar kein hartes Herz haben könne.

Aber harte Hände hatte sie. Sie hatte alle Sportabzeichen erworben und ließ sich durch die eifrige Näharbeit nicht davon abhalten, diverse Sport72

klubs zu besuchen, ehe sie sich nach 20 Uhr an die Nähmaschine setzte.

Sie hatte es mithilfe des Sports nach mehreren Fehlversuchen erreicht, nicht mehr in drei Schichten, sondern Normalschicht zu arbeiten. Der Sport war für Betriebssportgemeinschaften ein Aushängeschild.

Lilli verlegte sich schließlich aufs Schwimmen, schwamm lange Strecken. Bei einem kleinen Waldlauf forderte sie Warner auf, mit ihr zu „checken“. Das ging so, dass man an die Schulter des anderen sprang.

Warner meinte gegen eine Eisentür zu prallen. Es warf ihn zwei Meter weiter hin. Lilli hatte eisenharte Muskeln. Einem weniger trainierten Mann musste das zweifellos Minderwertigkeitsgefühle einjagen.

Warner war mit bildnerischen Darstellungen befasst, nicht der Muskeln, sondern des Herzens. Gern hätte er jetzt aus dem Lutherbrunnen getrunken, die Lutherrose mit Herz vor sich. Auch die Titelkupfer zu Jakob Böhmes Werken schwebten ihm vor. Da war alles leuchtend freigestellt. Er erinnerte sich der Himmelsrose Heinrich Heines beim endlichen Sieg der Freiheit, abgekupfert bei Dante, und so weiter. Er wollte das Herz Lillis in Watte packen.

Er spürte es dann auch, weich, und so liebevoll. Anderes an ihr war auch noch weich. Aber er hatte einen stahlharten Körper in Händen, der ihn bei Umarmungen oft zurückschrecken ließ. Doch dann ließ er Sanftmut walten.

Lilli triumphierte schließlich. Sie war für den DDR-Vergleich im Langstreckenschwimmen nominiert worden. Und der fand in Potsdam statt. Warner begleitete sie, was ihr recht war. Warner würde sie auch am Zügel halten. Denn die kühne Schwimmerin hatte vor, noch weiter zu schwimmen. Sie belegte einen hinteren Platz, was ihr unbedeutend erschien. Wichtiger war ihr, dass sie den See studiert hatte. Es war Sommer, sie aber sprach vom Herbst. Sie würde sich, um einen neuen Rekord zu brechen, stundenlang im Wasser aufhalten müssen. Dazu benötige sie einen Anzug. Sie blickte Georg so flehentlich an, als würde sie bei der Erfüllung dieses Wunsches nimmermehr seine Liebe vergessen.

Georgs Onkel lebte auf der anderen Seite, war im höheren Dienst des Senats von Westberlin. Dass sie sich sehen wollten, war ausgehandelt.

Der Onkel erschien. Er musterte Lilli. Dann zog er seinen Neffen verstört beiseite. „Sie duftet nach Vanille“, sagte er. Der Neffe fragte geistesgegenwärtig zurück: „Ist dir so etwas schon einmal begegnet?“ Der nickte wie abwesend. Dann beglückwünschte er Georg für die außergewöhnliche Wahl, obwohl die Westdame ihren Duft nicht so freizügig transpiriert haben dürfte wie Lilli.

Warner erklärte, weshalb sie hier seien. Das Training für Spitzenath73

leten, wie Lilli nun eine werden sollte, ging das ganze Jahr über. Deshalb benötige sie einen bestimmten Anzug. Der Onkel, der nicht von Lilli lassen konnte, ging nach Westberlin zurück. In einer Bananenkiste befand sich unter schönen Früchten der Anzug.

Es war Anfang November 1978. In diesem Monat sollte Warner noch ganz anderes erleben. Deshalb tauchten wohl auch die „Ledermäntel“ nicht auf. Lilli vanilli war nicht an ihrem Arbeitsplatz erschienen, auch nicht im Sportforum und nicht an der Nähmaschine.

Am 8. November erhielt er einen Brief. Der wäre an sich nicht angekommen, aber die kleinen Geister wollten, dass er ihn in voller Länge zur Kenntnis nahm: „Mein allerliebster Georg!

Mein Herz wird für immer Dir gehören. Nicht wegen dem, was Du unbewusst für mich getan hast, sondern weil ich dich liebe. Ich konnte aber nicht mit Dir leben. Im Alter wäre wohl mein Körper schlaff geworden und Du hättest Dich bequem auf ihm ausbreiten können. Jetzt aber musste er gestählt sein.

Ich habe dank Deiner Hilfe stundenlang im kalten Wasser zugebracht und den Wachwechsel beobachtet. Dann bin ich nach Wannsee geschwommen, habe die Minen sachte beiseitegeschoben, auch darauf hatte ich mich vorbereitet.

Was ich sonst an Deiner Seite geübt habe, ist mir sofort von Nutzen gewesen. Ich bin am Krefelder Theater in der Requisite, und das nicht nur als Näherin. Also habe ich jeden Tag Theater und so wirst Du bei mir sein. Wenn der ‚Eiserne Vorhang‘ einmal fallen sollte, werden wir wohl alt sein. Aber mein Herz wird auf Dich warten.

Deine auf Dich verzichtende, aber ewig liebende Elisabeth“ Warner war nicht zum Heulen zumute. Dass sich die Dinge so wiederholten, ließ ihn jedoch denken: „So blöd kann nur ich sein.“

Ein 9. November Georg Warner gehörte seit einiger Zeit schon dem Redaktionskollegium der evangelischen Zeitschrift „Die Kirche“ an, das für eine regionale Seite zuständig war. Der Bischof hatte das angeregt. Und so war Warner für Artikel zuständig, die sich mit „Kritischem“ befassen sollten, was 74

aber nicht extra betont wurde.

Zuletzt hatte er sich mit der Taufpraxis befassen müssen. Titel: „Die Oma hat es so gewollt.“ Er ging der Frage nach, warum mit dem Schuleintritt nur ein geringer Teil der vor sechs oder sieben Jahren getauften Kinder zur Christenlehre angemeldet wurde. Die Oma musste herhalten, die inzwischen verstorben war. Auch den Pfarrern gegenüber begegnete man noch mit Vorsicht. Der eigentliche Grund dürfte gewesen sein, dass man dem Kind Unannehmlichkeiten ersparen wollte. So begann nicht nur der Weg ihrer Bildung mit der Feigheit der Eltern. Die Kinder selbst übten sich umgehend darin. Über das Wort „Feigheit“ war lange gestritten worden. Schließlich war von falscher Rücksichtnahme die Rede, die den Kindern keine eigene Entscheidung ließ. Dem Artikel gebrach es aber nicht an Deutlichkeit.

Trotzdem war Mephistopheles mit dem Blatt bei Warner erschienen und gab ihm zu verstehen, dass ab jetzt nicht ein Jota mehr geändert würde, denn das wäre der Anfang vom Ende, auch aller anderen literarischen Arbeit. Entweder es wurde etwas so veröffentlicht, wie es dastand, oder es blieb in der Schublade. Warner solle sich einen Teufel um den Zensor scheren, sonst würde er sich eben dem in die Hand geben.

Jetzt war Warner schon seit einiger Zeit mit dem Gedenken an die 40 Jahre zurückliegende „Reichskristallnacht“ befasst. Er durfte mit behördlicher Genehmigung Zeitungen jener Zeit einsehen. Warner hielt sich als Einziger im Ort das „Neue Deutschland“, gleichwohl Parteiorgan. Es war durch das Parteideutsch schwerer Lesestoff. Auch fehlte es nicht an Hasstiraden gegenüber dem Klassenfeind. Was er aber in einem hinteren Raum des Stadtarchivs zu den Ereignissen von 1938 zu lesen bekam, war damit in keiner Weise vergleichbar. Aggressiv bis zum Äußersten wurde Hass gestreut. Die Juden seien an allem schuld, was detailreich aufgeführt wurde. Es handelte sich um eine Sprache der Vernichtung, die auf die Tat abzielte.

Georg Warner sollte sich laut Aussage des Redakteurs auf Görlitz beschränken. Er musste das Geschehen hier aber weitläufig einbinden.

Bald hatte er der Redaktion gemeldet, dass die vorgeschriebene Länge des Artikels nicht ausreiche. Er bekam weitere Zeilen genehmigt.

Am 9. November, da der Artikel in der „Kirche“ erscheinen sollte, wurde er morgens in die Redaktion bestellt. Der Redakteur schob ihm sein Manuskript über den Tisch und kennzeichnete es als abgelehnt.

Dazu sagte er: „Sie haben sich nicht an die Vorgabe gehalten, ausschließlich über Görlitz zu berichten.“ Warner hielt ihm vor, dass dies so nicht stimme, er aber unbedingt auf die Ideologie eingehen musste.

75

Er kannte den Redakteur als vorsichtig, feige aber war er nicht. So wollte er den eigentlichen Grund für die Ablehnung wissen. Der Redakteur zögerte erst, dann entschloss er sich zur Wahrheit: „Die Weisung kam von oben.“ Dabei streckte er den Zeigefinger mitsamt dem Arm weit nach oben. Die Begründung musste in etwa so gelautet haben: „In der DDR gibt es keine Betrachtung der Judenproblematik an sich, zumal der aggressive Staat Israel das vom Klassenstandpunkt her nicht zulässt. Eine Beschreibung des Schicksals der Juden kann nur unter der Voraussetzung geschehen, den kommunistischen Widerstand gegen das Nazi-Regime deutlich zu benennen und dies dann in den antifaschistischen Widerstand münden zu lassen. Das hat in Ihrem Artikel nirgendwo Berücksichtigung gefunden.“ Jede Fortsetzung des Gesprächs erschien Warner als vertane Zeit. Er kaufte sich in der nächsten Woche einige erreichbare Zeitungen, so die „Union“, „Die Kirche“ und die „Sächsische Zeitung“. Er verglich sie hinsichtlich der Berichte über die „Reichskristallnacht“ mit dem „Neuen Deutschland“. Letzeres war ausführlich mit der Siegerrolle an der Seite der „ruhmreichen Sowjetunion“ befasst. Die anderen Blätter waren nicht ganz so weitreichend. Warner bemerkte aber an dem ähnlichen Text, dass es sich um eine Vorgabe handelte. Der Artikel in der „Kirche“, Warner vermutete den Redakteur dahinter, erlaubte sich immerhin eine längere Klage über die Verbrechen an den Juden. Die zerstörten Geschäfte in Görlitz und ihre ehemaligen Besitzer waren aufgeführt. Was er selbst nur in wenigen Zeilen mitgeteilt hatte, fand längere Erwähnung. Die Synagoge von Görlitz war nicht abgebrannt. Das gelegte Feuer war von selbst verloschen. Die Synagoge überdauerte im Verfall begriffen die DDR und erstand schließlich wieder in altem Glanz.

Warner wollte sich wehren. Er entwarf mehrere Plakate. Das endgültige wollte er an die Kirchentür schlagen. Aber er hatte zu viel Text zu verarbeiten. Schließlich kam ihm die Idee, die Zeitungsartikel auszuschneiden und aufzukleben, dann sein Manuskript hinzuzufügen und in Klammern darunter zu setzen: „(wurde verboten)“.

Draußen zog die Dämmerung herauf. Plötzlich prallte ein Stein an die Scheibe. Warner ging zum Fenster. Er sah eine Gestalt, die sich gegenüber in die schmale Gasse begab. Er warf seine Jacke über und eilte aus dem Haus. Blauer Dunst empfing ihn, es stank bestialisch nach Schwefel. Durch die Gasse eilend, sah er, wie die Gestalt ein Stück weiter in einen Feldweg einbog. Warner ließ die Häuser hinter sich. Weit in den Feldern wartete die Gestalt schließlich auf ihn.

Dass er Mephistopheles vor sich haben könnte, war ihm nicht einge76

kommen. Wie Warner jetzt sah, trug er Anzug mit Krawatte. Am Revers war ein Parteiabzeichen angeheftet. So fragte Warner entgeistert: „Wo kommst du denn her?“ Mephistopheles gab sich sehr ernst und sagte: „Aus Berlin.“ Warner fragte weiter: „Und wo warst du da?“ Mephistopheles war nicht im Geringsten zum Scherzen zumute: „Auf einem Plenum des Zentralkomitees der SED. Als Abgesandter der Vereinigung Volkseigener Braunkohlenkombinate.“ Er machte eine kurze Pause, dann setzte er fort: „Und wohl auch des Teufels, der das, was er unter der Lausitz versteckt hat, komplett gehoben wissen will.“ Warner fiel es schwer zu begreifen. Das war alles zu abstrakt. Mephistopheles konkretisierte: „Das ZK hat die Restauskohlung aller Braunkohlenvorkommen beschlossen. ‚Restauskohlung‘ klingt vielleicht niedlich. Gemeint ist aber nicht, dass aus jedem Tagebau der letzte Krumen herausgebuddelt werden soll, sondern sämtliche Kohle, die noch nicht erschlossen ist, gefördert werden muss.“ Georg Warner konnte nun sagen: „Es geht also bis zum Ende.“ Mephistopheles schaute weiter: „Das wird das Ende sein. Du wolltest doch dabei sein?“ Eben diese Entscheidung hatte Warner geahnt, als er nach Deutsch-Ossig gegangen war.

Mephistopheles legte ihm die Hand auf die Schulter, so vertraulich war er noch nie gewesen. Die Dunkelheit war so weit fortgeschritten, dass Warner sein Gesicht nicht mehr erkennen konnte. Aber die Stimme war deutlich zu hören: „Georg, ich werde dir sagen, welcher Tag hier dein letzter sein wird. Der 31. August 1989.“ Er wollte nicht, dass orakelt würde, so gab er final zu verstehen: „Wo wir uns jetzt befinden, wird danach ein See sein und alles Vergangene zudecken.“ Georg Warner wandte sich um, aus den Häusern schien warmes, heimeliges Licht. „Und Deutsch-Ossig?“ entfuhr es ihm. „Wird es nicht mehr geben“, schloss Mephistopheles. Dann ging er über den Acker in die Dunkelheit. Georg Warner hatte an einem 9. November 1978 erfahren, was zu erwarten war.

Zu Hause angekommen, entwarf er ein Plakat und hing es an die Kirchentür: was wir zu erwarten haben wissen wir was uns erwartet nicht so warten wir auf das unerwartete 77

Drittes Kapitel

Kompromisslos Der Schmerz um die gewalttätig auf Bratspieße beförderten Hähne war in Vergessenheit geraten. Bis zum Frühjahr 1979 hatten Glucken für Nachwuchs gesorgt. Aus Hühnerställen und von Hühnerhöfen klang wieder fröhlich das „Kikeriki“. Allerdings war die Warnung vor dem Verrat noch nicht verblasst. Sonntag Rogate stand bevor, was übersetzt „Betet“ heißt.

Georg Warner hatte sein Zweites Examen absolviert, mit „Schwanz“.

In der letzten und 13. Prüfung, der Dogmatik, hatte es ihn getroffen.

Und das war in Betroffenheit umgeschlagen. Er hatte einen lateinischen Text zu übersetzen und auszulegen gehabt. Lateinisch ging ihm flüssig von den Lippen. Er hatte auch gleich bemerkt, dass es sich um Thomas von Aquin handelte, also die sogenannten Gottesbeweise thematisiert werden sollten. Er gab den Text wieder, der in seinem Kerngedanken lautete: „Es ist gleich, ob Gott zu Lebenden oder Toten redet, es ist immer der gleiche Gott.“ Der Prüfende, ein Dr. Schöne, war als „scharfer Hund“ bekannt, da er nur seine eigene Meinung gelten ließ. Er brachte die Prüfung zum Erliegen. Wie Warner auch argumentierte, es fruchtete nicht, er erhielt immer wieder ein „Nein“ oder ein „Falsch“. Bruder Schöne gab dabei nicht einen Impuls. Schließlich verlegte er sich aufs Lachen und Höhnen. Das klang Warner so unverwechselbar, dass er wusste, wer hier im Spiel war.

Es stand zu vermuten, dass die Wiederholungsprüfung nicht anders ausfallen würde, und dann konnte sich Warner verabschieden. Der Bischof griff ein. Er ließ Warner eine Arbeit über das Gebet schreiben, in 78

der er seine dogmatischen Kenntnisse beweisen konnte. So wurde Warner, ein mittelmäßiger Beter, der seinen Bitten nicht recht trauen wollte, zu einem Fachmann auf diesem Gebiet.

Er hatte also noch eine Rechnung mit dem Teufel offen. Die wollte er mit dem Evangelisten Lukas am Sonntag Rogate begleichen. Sein Plakat war so gestaltet, dass es die vormalig große Gemeinde des Verratsspektakels wieder aktivieren sollte. Es stand da „entweder – oder“. Dann ging ein Riss durch das Blatt, aber auf jeder der beiden Seiten waren betende Hände zu sehen. Unterstützt war dies durch Fotografien, die ebenfalls gleich waren.

Diesen schönen Maientag wollten etliche im Freien genießen. Aber es waren genug Gläubige erschienen, um zu erleben, wohin diesmal die „Reise“ gehen würde. Auf den Text des Lukas konnte Warner nicht verzichten, er war in sich meisterhaft. So muss er auch wiedergegeben werden, um Warners Aussagen Sinn zu geben: „Der Teufel führte Jesus hoch hinauf und zeigte ihm alle Reiche der Welt in einem Augenblick und sprach zu ihm: Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit, denn sie ist mir übergeben, und ich gebe sie, wem ich will. Jesus antwortete ihm und sprach: Es steht geschrieben: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.‘“ Warner stieg geradewegs ein: „Am heutigen Sonntag Rogate, dem Tag des Betens und der Anbetung, müssen wir uns die Frage gefallen lassen, wen wir eigentlich anbeten, Gott allein oder auch den Teufel. Ihr habt richtig gehört, es geht hier nicht nur um ein ‚entweder – oder‘, es geht um ein simples ‚auch‘.

Es geht um den Kompromiss, der ja eine so angenehme Seite hat. Man braucht sich nicht richtig zu entscheiden und behält alle Möglichkeiten in der Hand, ohne das Gesicht zu verlieren.“ Es war Warner daran gelegen, den Teufel nicht durch Jesus abgeschmettert darzustellen. Das war zwar schön zu hören, half aber im Zweifelsfall nicht weiter. Das Angebot des Kompromisses musste hervortreten. So ließ Warner vernehmen: „Der Teufel verlangt von uns nicht, auf den Glauben zu verzichten. Er erwartet nur, dass wir auch ihn anbeten. Dafür ist er bereit, uns Macht zu geben. Ist das stille Zufriedenheit oder Bescheidenheit, eine Art Zuneigung gar, oder was ist das? Es ist der Versuch des Teufels, die Macht zu behalten. Er ist der Herr der Welt, das heißt: die Spielart der Welt, ihrer Gedanken und Ziele, ihr endgültiger Anspruch auf den Menschen.“ Um das nicht allgemein in den Raum zu stellen, musste Warner die 79

Vollmacht Jesu bemühen: „Er hat es abgelehnt. Den Machtanspruch der Welt an seine Person.

Er hat den Kompromiss abgelehnt, die Feinheit der Diplomatie. Er hat das Wörtchen ‚auch‘, dieses kleine, simple, gestrichen und ihm das ‚allein‘ entgegengesetzt: Es steht geschrieben: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.‘ So entlarvt das Wort ‚allein‘ den Teufel und zeigt die Folgen der Versuchung auf.“ Warner ließ jetzt Zeiten hinter sich, zeigte am Beispiel der Kirche auf, wie sie dann und wann auf der einen, aber hauptsächlich auf der anderen Seite um der Macht willen den Teufel anbetete. Luther wollte er hier nicht als Apologeten bemühen, zumal er durch Verführungen der Macht den Teufel eben nicht durch den Wurf des Tintenfasses getroffen hatte.

Seine Zunge war jetzt pelzig, er sehnte sich nach dem „Brünnlein“ in Wittenberg. Dazu kam, dass ihn „kleine Kätzchen“ in der Kniekehle zu kraulen schienen. Eine seiner berüchtigten Anwandlungen kam über ihn: „Warum muss ich das gerade jetzt denken?“ Margit fiel ihm ein.

Hätte er den Teufel auch ein wenig angebetet, stünde er jetzt nicht mit Gefühlsstau vor der Gemeinde. Aber es war noch gar nichts gesagt, jedenfalls nicht das, was Georg Warner zu sagen beabsichtigte. Den Gang durch die Geschichte hatte er angetreten, um im Heute zu landen. So setzte er fort: „Es ist viel über den leidvollen Weg der Kirche in der DDR geklagt worden. Aber gerade dieser Weg der Kirche ist einer zu sich selbst geworden. Nun gibt es eine Reihe von Christen und auch Pfarrern, die den Kompromiss für gegeben halten. Sie sind dabei, Brücken über den garstigen Graben zu schlagen, um hinüberzugelangen. Sie drängen sich der Welt auf und erliegen der ihr seit jeher innewohnenden Versuchung, Anteil an der Macht zu geben, wenn die Bedingungen und Ziele akzeptiert werden. Der Weg des Christen in der Welt ist aber nur begehbar, wenn er Gott allein dient. Und nur so ist der Christ Gesprächspartner und Mitwirkender.“ Warner hatte als Predigtbeispiel einen unlängst ausgestrahlten Film gewählt, der nicht als Aufweichung der Fronten verstanden wurde, sondern in manchem gedemütigten Christen Zuversicht geweckt hatte.

Dem wollte er gleich einen Riegel vorschieben: „Der am 15. Mai ausgestrahlte Film ‚Kirche in der DDR‘ ist ein Beitrag von Marxisten. Erstmals wurde aber der Versuch unternommen, den antifaschistischen Weg der Kirche im Dritten Reich und damit eine gemeinsame Grundlage von Staat und Kirche nach dem Zweiten Welt80

krieg in der DDR aufzuzeigen.

Bedenklich wurde der Film in dem Moment, als der Eindruck entstand, dass die Evangelische Kirche in der DDR die konformistische Thüringische Landeskirche sei. Es taten sich somit etliche weiße Flecken auf der Landkarte auf, deren Existenz die DDR, was die Kirche betrifft, zu einem Zwergenstaat schrumpfen ließ.“ Warner hatte eigentlich vorgehabt, die thüringischen Kirchenoberen noch länger zur Ader zu lassen. Aber es lohnte der Mühe nicht, eben auch wegen des weißen Fleckens Görlitz mit seinem Bischof, der das Wächteramt wahrnahm. So holte Warner hervor, was gezeigt hätte werden müssen: „Es gibt genug Probleme zwischen Staat und Kirche vor Ort. Das hätte dargestellt werden müssen, um kein Zerrbild zu vermitteln. Wenn dieser Film als Tendenz für die Zukunft gelten soll, dann ist nichts gebessert. Kirche in der DDR kann nur Gott allein dienen und wird daher auch gegenüber dem sozialistischen Staat kompromisslos sein müssen.

Die Begründung hat ihren Ursprung in der Absage Jesu an den Teufel, an die Bedingungen und Ziele der Welt. Jesus Christus ist nicht den Weg zu den Herrschenden gegangen, sondern den Weg nach Golgatha.“ Jetzt holte Warner zum Rundumschlag aus, sich bewusst, dass er in Vollmacht predigte. Er fasste Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen: „Eine Kirche, die sich nicht unter das Kreuz Christi beugt, die nicht Gott allein die Ehre gibt und bereit ist zu leiden, wird der Zorn Gottes treffen. Die Wiederkunft Christi wird nichts von den gedachten Schäfchenwolken der Himmelfahrt an sich haben. Christus wird zum Gericht erscheinen. Kirche – noch vor dem Morgen wird man dich fragen: Was hast du getan, wo bist du gewesen?“ Ehe Warner das „Amen“ gesprochen hatte, erhob sich ein Wind. Seine Herkunft war Warner bekannt. Er tobte, als wolle er die Kirche zum Einsturz bringen. Ein jeder duckte sich erschrocken. Dann krachte es, als wenn der Kirchturm einstürzte. Danach Stille. Warner sprach den Segen, unterbrach und beendete damit den Gottesdienst. Zögernd trat man aus den Bankreihen und nach draußen. Dort steckte die vom Dach abgerissene Wetterfahne mit der Spitze im Kirchhof. Man hielt gebührenden Abstand. Eine Frau erinnerte an die Kirche von Nieder Seifersdorf, die der Teufel auch nicht hätte leiden können. Bei seinem Sprung nahm er aber nur die Kirchturmspitze mit. Auch hier musste ihm, zum Glück, das Gelingen seines Vorhabens verwehrt worden sein. Scheu hielt man auch zu Warner Abstand, er blieb allein zurück.

81

Er hatte vormals wahrgenommen, dass auf dem Kirchturm kein Hahn das Wetter oder Schwerwiegenderes verkündete. Worum es sich bei dem Wahrzeichen handelte, ließ sich aus der Entfernung nicht erkennen. Es erschien verschnörkelt. „Barock“ hatte sich Warner gedacht. Jetzt sah er, dass es sich um einen Walfisch handelte. Ein Wal über Deutsch-Ossig!?

Jemand stand neben ihm. Als er aufblickte, hörte er: „Nun Georg, eine so schnelle und gründliche Antwort des Teufels hast du wohl nicht erwartet. Und jetzt kannst du sie nicht deuten.“ Mephistopheles gab zu verstehen, dass er keine Kirche betreten könne. Aber er habe alles von draußen angehört. Dann fügte er hinzu, dass es ihm nicht erlaubt sei, die Bibel zu zitieren. Für das Geschehen sei aber nicht der Walfisch zu bemühen, der Jona wegen seiner Unbußfertigkeit verschluckt hatte und ihn erst, als er Buße tat, wieder freiließ. Jona hatte dann der bigotten Stadt Ninive die Buße gepredigt. Der Schlüssel liege diesmal beim Evangelisten Matthäus.

Mephistopheles wollte Warner hinsichtlich der Vergangenheit widersprechen. Der hatte in der Predigt aufklärerisch behauptet, man könne daraus etwas lernen. Mephistopheles wollte ihm das Gegenteil verdeutlichen. Er führte Georg zu einem Baumstumpf, der anderthalb Meter weit aus der Erde ragte. Warum der Baum nicht weiter unten abgesägt worden war, erklärte ein altes, eisernes Grabkreuz, das so tief in das Holz eingewachsen war, dass man es von außen nicht hatte sehen können. Mephistopheles gab zu verstehen: „Genauso ist das mit der Vergangenheit. Sie widersteht ihrer Hervorholung und ist dennoch mit der Gegenwart verwachsen. Von ihr lernt also keiner etwas, wie du es behaupten wolltest.“ Er begleitete Warner durch die Mauer, bog dann zur Straße hin ab.

Blickte diese entlang. Dann sagte er: „Vom Pfarrhaus an der Gaststätte und der Kirche vorbei ist es eine gerade Linie, an der entlang einst der Tagebau zum Stehen kommen wird. Ich hatte von einem See gesprochen. Der wird dort eine Bucht bilden, wo jetzt die Kirche steht.

Weil diese unbedingt verschwinden muss. Und das wird auch die Folge deiner Predigten sein.“ Mephistopheles ging die Straße hinab. Warner erschien es, als blühten die Bäume wie irre.

Georg Warner begab sich in sein Arbeitszimmer. Auf dem Weg dorthin war ihm das Zeichen des Jona eingefallen. Der Dichter schrieb: am tage des gerichts werden die leute von ninive 82

diese generation verklagen denn sie taten buße auf die predigt des jona hin über dieser kirche über diesem ort über dieser landschaft stand jahr um jahr das zeichen des jona wie jona drei tage und drei nächte im bauch des fisches war wird des menschen sohn drei tage und drei nächte im schoß der erde sein ich rief zum herrn in meiner angst ich schrie aus dem rachen des todes wasser umgaben mich die tiefe umringte mich und der erde riegel schlossen sich hinter mir und siehe hier ist mehr als jona

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Gelungene Überraschung In der Woche nach Rogate wurde Georg Warner zum Bischof bestellt.

Sein Dienstzimmer wirkte sonderbar leer. Auch auf dem Schreibtisch stapelten sich weder Bücher noch Akten. Der Bischof erschien ihm äußerst gelassen. Sonst pflegte er umgehend loszudonnern und die Dinge beim Namen zu nennen. Warner hatte vermutet, dass er wegen seiner Predigt und den Folgen vorgeladen worden sei. Der Bischof hätte genug Stoff gehabt, um bei seinem Eintreten gleich aufzuspringen. Mit Vorwürfen wäre nicht zu rechnen gewesen, höchstens mit Rätselraten darüber, wie der „Walfisch“ wieder auf den Kirchturm gelangen könne.

Der Bischof hätte wohl erregt verkündet, was Warner noch zur Sprache hätte bringen sollen.

Aber auch als sich Warner gesetzt hatte, schwieg der Bischof. Was mochte hier Schwerwiegendes zu verhandeln sein? Gänzlich ohne Zusammenhang sagte der Bischof: „Ich gehe.“ Wann er das zu tun gedenke, fügte er hinzu: „Am 1. Juli.“ Es musste ihm eine Idee gekommen sein: „Ich habe überlegt, was es bis dahin noch Wichtiges zu tun gibt.

Und da fiel mir ein, dass Sie noch nicht ordiniert sind.“ Er schlug den Kalender treffsicher auf und sagte: „Das wird am 24. Juni geschehen, was ja der Tag Johannes des Täufers ist. Das macht sich gut. Die Ordination wird in Deutsch-Ossig stattfinden.“ Die Wahl des Ortes war insofern seltsam, als der Bischof eine solch wichtige Handlung grundsätzlich und in Gruppe in der Görlitzer Kreuzkirche vollzog. Er erklärte sich aber nicht. Unverzüglich besprach er mit Warner den Gottesdienst. Zu predigen hatte dieser, die Predigt des Bischofs bestand dann in einer sogenannten Vermahnung, in der die Gemeinde an den Pfarrer und dieser an die Gemeinde gewiesen wurden.

Der Tag kam heran und Johannes der Täufer verlieh Warner Schwung: „Ihr Schlangenbrut, wer hat denn euch weisgemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet? Seht zu, bringt rechtschaffene Frucht der Buße! Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum: jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“ Warner hatte das „große Abendmahl“ zu predigen, zu dem sich die Geladenen mit für sie triftigen Gründen entschuldigen. An ihrer Stelle werden dann andere, von „draußen“ eingeladen. Warner ließ erst einmal die, an die das Gleichnis gerichtet war, zu Tische sitzen. Dann zer84

schnitt Jesus das Tischtuch und hob schließlich die Tafel auf. Die Bilder trugen seine Auslegung.

Er legte die Ausflüchte der sich dem Mahl Verweigernden nicht im Blick auf die Gegenwart aus. Er nannte einen anderen Grund: „Wir sind schon satt, übersatt. Trotz gepriesenen Wohlstands nagt der Pessimismus an uns, die Müdigkeit und die Lebensangst. Das braucht man keinem mehr einzureden. Und diejenigen, die die dickbäuchigen Geister des Atheismus riefen, wissen jetzt schon nicht mehr, wie sie mit ihnen fertigwerden sollen.“ Der Bischof vermahnte keineswegs. Er koppelte Pfarrer und Gemeinde nicht zusammen. Er flocht ein Freundschaftsband. Was er der Gemeinde über Warner und indirekt zu ihm persönlich zu sagen hatte, war kurz und bündig: „Der Bruder Warner will heute säen und heute ernten. Er wird aber erkennen müssen, dass mancher Same erst in der Ewigkeit aufgehen wird.“ Bei der Ordination selbst, da auf die Bekenntnisschriften der Evangelischen Kirche vereidigt wird, hatte er es durchgesetzt, dass die „Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen“ aus dem Jahre 1934 gegen den Machtanspruch des totalitären Staates Kirchengesetz wurde und den Eid mitbestimmte.

Der Bischof blieb nachdenklich. Auch beim Festmahl hielt er, der sonst ein fröhlicher Esser war, sich stark zurück. In sich gekehrt saß er am Tisch. Warner meinte, der Abschied und die eben vollzogene letzte Amtshandlung drückten ihm aufs Gemüt.

Den wirklichen Grund sollte er erst eine ganze Weile später erfahren.

Nach abgelaufener Frist wollte er sich um die Pfarrstelle Deutsch-Ossig bewerben und begab sich ins Konsistorium. Alles war neu, nicht nur der Bischof, auch die Oberkonsistorialräte hatten gewechselt. Ein forscher Mittvierziger nahm ihn in Empfang. Er wusste bereits, wer Warner war und dass er für ärgerliche Überraschungen gut war.

Warner äußerte sein Begehr. Der Oberkonsistorialrat brauste auf: „Wissen Sie denn nicht, dass man vor einer Bewerbung erst ordiniert sein muss?“ Warner hatte alle seine Unterlagen beisammen und legte die Ordinationsurkunde vor. Dem hohen Vorgesetzten verschlug es nicht nur die Sprache, auch die Augen wollten ihm den Dienst versagen. So schielte er auf Stempel und Unterschrift, als seien beide verzerrt.

Der Bischof hatte mit der Ordination Warners ein eigenes Unternehmen gestartet. Jetzt war auch klar, warum diese abseitig in Deutsch-Ossig stattgefunden hatte. Es konnte durchaus von einem letzten Liebesdienst die Rede sein. Nach längerem Suchen, die Bediensteten waren 85

aufgescheucht, fand sich in den übriggebliebenen Akten des Bischofs auch der Zwilling der Urkunde. Alles war rechtens.

Warner bewarb sich um die Pfarrstelle. Wiederum erhob sich großer Lärm, denn es wurde festgestellt, dass die Pfarrstelle für alle Zeiten geschlossen war. Von wem auch immer hinterhältig gesteuert, war es nicht unüblich, Gemeinden auf Braunkohle unversorgt zu lassen. So war garantiert, dass „Ruhe“ herrschte. Und ebendies deckte Warner auf, sodass nichts weiter übrigblieb, als die Pfarrstelle wieder zu eröffnen. Das zog sich hin. Synoden mussten beschließen. So sollte Warner erst viel später, am 1. Advent 1980 eingeführt werden, „mitten im kalten Winter“.

Brot für die Welt Gegenwärtig, im Oktober 1979, stürzte eine Flut von Parolen und großartigen Meinungsäußerungen auf die Menschen ein. Sie mussten sich an Fackel- und sonstigen Umzügen beteiligen, hatten in Betrieben und auf öffentlichen Plätzen Rednern zu lauschen, um schließlich landauf, landab an Tribünen vorbeizuziehen. Es war der 30. Jahrestag der DDR. Der Teufel feierte nicht, sondern hatte langen Werktag.

In der Thomas-Müntzer-Straße war eifrig diskutiert worden. Die „Bunten Bilder“ waren nicht mehr bunt, sondern dreifarbig, wie ja auch im anderen Teil Deutschlands, nur dass dort symbolisch ein fetter Adler Schwarz-Rot-Gold deutete, während hier Hammer, Zirkel und Ährenkranz das Bündnis der Arbeiterklasse mit den Genossenschaftsbauern und der Intelligenz bekundete. Keiner der Anwesenden war älter als 30 Jahre alt, sodass die kritische Betrachtung der eigenen Lebenszeit nur die DDR betraf.

Nach dem hohen Feiertag setzte Erschöpfung ein. Die Extras aus den Regalen verschwanden, hinter vorgehaltener Hand wurde wieder gemurrt. Etwas gab es traditionell aber wieder, das köstliche Bockbier von „Landskron“ und Eisbein. So dämmerte man dahin.

Der Schlosser „Hilde“ raffte sich schließlich als Erster auf und zitierte: „Wir wollen etwas tun, solange sich die Gelegenheit dazu bietet.“ Noch immer zog man über Land und hisste das Fähnlein der Spielleidenschaft mit B. S., Hinz und Warners allererstem Stück, „Barrieren“. Es war an der Zeit, das Angebot zu erweitern.

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Die Gelegenheit fand sich umgehend, mit der Aktion „Brot für die Welt“. Zu Advent und dann aufleuchtend Weihnachten, waren die Herzen milder gestimmt und die Hungernden wurden mit Spenden bedacht. „Der Mensch lebt nicht allein vom Brot.“ Das hatte Jesus dem Versucher mitgeteilt. In Deutsch-Ossig war es mehr um das Anbeten gegangen, mit dann bekannten Folgen. Jesus hatte sich das Wort von Moses Wüstenzug in die Freiheit geborgt. Und so war die Bibel voll von Sättigungsgeschichten. Allein in den Evangelien fand viermal die Speisung der 5 000 und zweimal die von 4 000 statt. An den Abenden der Offenen Arbeit zum Thema „Bibel“ war man schon darauf eingestellt, die Speisung von 28 000 in unterschiedlichen Varianten über sich ergehen zu lassen.

Aber Warner verblüffte die vollzählige Mannschaft, indem er sagte, er habe den Text für das neue Stück bereits gefunden. Er stehe bei Lukas und sei in hohem Maße spielbar. Er ließ es sich nicht nehmen, ihn gleich vorzutragen: „Es war ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden.

Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren und begehrte, sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre.

Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß.

Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von Ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen.

Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt. Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüber will, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.

Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.

Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie 87

hören. Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun.

Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten aufstünde.“ Als Warner endete, herrschte verständnisloses Schweigen. Dieses mystische Gleichnis musste die in solchen Gedankengängen ungeübte Gemeinde überfordern. So sagte Warner wie zur Entschuldigung, an sich sei die Fabel klar.

Jetzt erhob sich Protest. Der kam von Karl, eigentlich Karl-Heinz.

Man hätte auch „Kalle“ sagen können, aber Karl hatte einen Klassenstandpunkt. Er sagte: „Jetzt weiß ich, warum Karl Marx so viele Bücher geschrieben hat: um eben diesen Text aus der Welt zu schlagen.“ Man war darauf gefasst, vom marxistisch belesenen Karl beweiskräftige Zitate zu hören. Aber der war wegen des „Opiums für das Volk“ emotional gestimmt. So sagte er: „Da haben wir die religiöse Verwirrung in den Köpfen. Der Arme wird mit dem Himmel belohnt, dem einzigen lohnenden Ziel, das ihm nicht genommen wird. Die anderen Armen werden damit vertröstet, damit sie sich in ihr Schicksal fügen und nicht etwa darauf verfallen, die Zustände zu beheben. Georg, einen solch reaktionären Vorschlag hätte ich von dir nicht erwartet.“ Die Debatte zog sich in für und wider hin. Vor allem Nostradamus fand an diesem metaphysischen Geschehen Freude. Er gab zu bedenken, dass es in dem Gleichnis um Endgültiges ginge. Das betraf auch den seligen Lazarus in Abrahams Schoß. Aber weiterreichend gehe es nur um den Reichen. „Der kommt in die Hölle, ohne Wiederkehr. Dass ihn der Teufel holt, steht nicht da, ist aber gemeint. Es reicht hin, wenn der Tod dies besorgt.“ Karl wollte sowohl den Text als auch die Diskussion ins Lächerliche ziehen: „… und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß.“ Nostradamus ereiferte sich: „Von wem sonst?“ Ohne sich unterbrechen zu lassen, sagte er: „Wenn wir in die Grube einfahren, blickt sich jeder von uns noch einmal um. Es ist da zwar niemand zu sehen, aber wen ihr erblicken wollt, sehe ich euch an. Ein jeder sucht nach seinem Schutzengel.“ Warner war sich durchaus bewusst, dass er keine kirchlichen oder auch christlichen Leute vor sich hatte. Sie waren auch keiner Tradition verpflichtet. Aber abergläubisch waren sie, dabei überraschend vorindustriell. Das musste von den Vorfahren stammen, die seit Jahrhunderten in die Gruben gestiegen waren. Es ging immer auch die Furcht um, 88

dass für einen selbst plötzlich kein Schutzengel mehr da sein könnte.

Nostradamus ließ wieder vernehmen: „Was war, als Chrischeck, bei dem wohl der Schutzengel weggesehen hatte, unter die Ketten seiner Raupe geriet. Da hast du, Karl, gefragt, wo er jetzt ist. Und ich habe dir gesagt: ‚Er wird von den Engeln weggetragen.‘ Du hast das nicht in Abrede gestellt, sondern zurückgefragt: ‚Wohin?‘ Ich konnte dir keinen Ort benennen, habe nur die Richtung angeben können: ‚Aus dem Revier.‘“ Karl grinste plötzlich und sagte: „Jetzt wissen wir’s: in Abrahams Schoß.“ Alle lachten. Dann wurde wegen der unterschiedlichen Meinungen zu Engeln beschlossen, diese nicht in den Spieltext aufzunehmen. Der nüchterne Warner, der nur durch Faust in metaphysische Abhängigkeiten geraten war, hatte das ohnehin nicht vorgehabt.

Radl, der Vollblutspieler, hatte der Debatte nur mit einem Ohr zugehört. Er war dabei gewesen, die Personage zu sichten. Jetzt gab er ohne Zusammenhang zu verstehen: „Es kommen zu viele Leute vor oder solche, die erklärt werden müssen: Mose, die Propheten, Abraham, die Engel habt ihr ja gerade erst eliminiert. Dann schwer deutbare Orte wie Himmel und Hölle, die geradezu das ptolemäische Weltbild aufdrängen.

Wie wäre es in dem Zusammenhang mit Galileo oder Kepler? Nein, so geht das nicht.“ Warner wollte aufklären: „Es kommen nur vier Personen infrage: der Reiche, Lazarus, Vater Abraham und der Tod.“ Das wurde nicht diskutiert, denn auf einmal ließ Hilde vernehmen: „Ich spiele den Lazarus.“ Man schaute ihn wegen seines Sprachfehlers ein wenig mitleidig an. Hilde blieb standhaft: „Als Lazarus mit seinen vielen Wunden ist es egal, ob ich mit der Zunge anstoße.“ Hilde war gebucht. Nur Radl konnte den Reichen geben. Überraschend erklärte sich Nostradamus für Abraham, den Tod hätte man ihm eher zugetraut. Aber die Rolle Abrahams reichte nach seinem Verständnis weiter. Äugel sollte nun der Tod sein. Nun ja. Warner gab aber zu verstehen, dass er eine schwarze Brille zu tragen habe, dazu Frack und Zylinder wie einer vom Beerdigungsinstitut eben.

Da es um Brot für die Welt ging, wäre auch ein übertriebenes Stück konkret vernetzt. Warner sprach von einer „Moritat“. Aber, da schon Aktion, sollten alle beteiligt sein. Man wollte von Ort zu Ort ziehen und die Kirchengemeinden bespielen. Die Öffentlichkeit war für kirchliche Gruppen verboten. Sodann sollten Stände betreut werden, an denen es keine Weihnachtsdekoration gab, sondern ausreichend Informationen zu Hunger, Krieg und Flucht. Diese sollte die Gruppe erstellen und vertreten.

89

An Georg Warner war es nun zu schreiben. Dem Stück war auch später anzumerken, wie er sich durch den Anfang, das Gespräch des Reichen mit Lazarus, gekämpft hatte, die Worte tropften nur. Erst als der Reiche seinen Lohn für die Beköstigung des Lazarus einforderte, kam Zug ins Geschehen. Wie konnte es anders sein, auch hier mussten wieder die Hühner herhalten: Armer Lazarus Personen: Reicher Lazarus Abraham Tod Üppig gedeckter Tisch mit einem Stuhl. Der Reiche und Lazarus kommen Arm in Arm. Reicher: Ein bescheidenes Mahl, Lazarus. Sei mein Gast! Ich habe eine Schwäche für Arme. (Der Reiche setzt sich auf den Stuhl. Lazarus bleibt stehen. Der Reiche prüft genießerisch und mit Kennermiene die Speisen. Erinnert sich an Lazarus.) Setz dich! (Lazarus sucht nach einem Stuhl.) Auf die Erde! (Lazarus folgt dem Befehl. Der Reiche ist wieder mit den Speisen beschäftigt.) Hast du Hunger? (Lazarus nickt.) Ich auch.

(Der Reiche schlürft die Suppe. Lazarus sieht ihm zu.) Ohne mich wärst du verhungert. Weißt du meine Güte zu schätzen? (Lazarus nickt.) Antworte im Satz!

Lazarus: Ich habe Hunger.

Reicher: Du sollst mich loben. (Er wischt den Teller mit Brot aus.)

Lazarus: Ohne Sie wäre ich verhungert.

Reicher: Du lernst dazu. (Er reicht Lazarus den Teller. Dieser springt auf. Ergreift ihn hastig. Leckt ihn ab. Der Reiche sieht ihm wohlwollend zu. Seufzt.) Ach ja, die Armen. (Lazarus gibt den Teller zurück.) Bist du satt? (Lazarus schüttelt den Kopf.) Undankbarer. Willst dich auflehnen?

(Lazarus schüttelt den Kopf.) Dann red’ keinen Unsinn. (Stutzt.) Ich verplausche mich. (Er öffnet eine Pfanne, angelt sich eine Hühnerkeule. Während des Essens.) Nichts geht über Hühnerkeulen. (Zu Lazarus.)

Habt ihr auch Hühner? (Lazarus schüttelt den Kopf.) Ist ein Fehler. (Er wirft Lazarus den Knochen zu. Dieser fängt ihn auf. Stopft ihn in den Mund. Der Reiche betrachtet ihn belustigt. Haut sich auf die Schenkel.)

Der hat den ganzen Knochen aufgefressen. (Anerkennend.) Arm müsste 90

man sein. (Er schenkt sich Wein ein. Trinkt.) Du musst mir noch etwas geben. Für das Essen. (Lazarus schüttelt verstört den Kopf.) Red’ nicht.

Alles hat seinen Preis.

Lazarus: Ich hab nichts.

Reicher: Du lügst. Verlaust und verlogen. Zieh dich aus. Wird’s bald!

(Lazarus zieht hastig seine Jacke aus.) Herbringen. (Lazarus gibt dem Reichen die Jacke.) Das Hemd. (Lazarus zieht das Hemd aus. Der Reiche reißt das Hemd an sich.) Die Hose. (Lazarus gehorcht. Der Reiche nimmt die Hose. Besieht sich die Unterhose.) Kannst du anbehalten. Nicht, dass du nackt herumläufst. (Lazarus geht langsam ab.) Willst du schon gehen? So ohne Abschied? Wo wir doch Freunde sind. Komm her. (Lazarus geht zum Reichen.) Umarme mich. (Lazarus zögert. Umarmt den Reichen.) Armer Lazarus, du. (Lazarus wendet sich ab.) Wovon willst du morgen leben? (Lazarus zuckt mit den Schultern.) Siehst du, du weißt es nicht. Bist auf meine Gnade angewiesen. Setz dich unter den Tisch.

Manchmal fällt ein Krümel runter. (Lazarus setzt sich unter den Tisch.

Der Reiche nimmt am Tisch Platz. Will mit dem Essen beginnen. Wird Lazarus unter dem Tisch gewahr. Versetzt ihm einen Fußtritt.) Marsch, an die Arbeit, Faulenzer! Bewache mein Haus! (Lazarus wankt ein paar Schritte. Setzt sich.) Du sollst Wache schieben. Auf! Eins, zwei! Eins, zwei! Eins, zwei! (Lazarus geht auf und ab. Bricht schließlich zusammen.

Der Reiche geht zu ihm. Untersucht ihn. Schleift ihn an den Rand.) Das Gesindel taugt nicht mal zum Arbeiten. (Er begibt sich an den Tisch. Isst.

Abraham kommt. Geht zu Lazarus.)

Abraham: Lazarus, mein Sohn. Was tust du hier?

Lazarus: Der Tod. Endlich. Lieber Tod, erlöse mich von diesem Leben. Komm schnell, und nimm mich mit.

Abraham: Ich bin nicht der Tod. Ich bin dein Vater Abraham.

Lazarus: Geh. Du willst mich nur quälen.

Abraham: Erlösen will ich dich, Lazarus.

Lazarus: Dann bist du der Tod. Abraham: Ich bin das Leben.

Lazarus: Vom Leben habe ich genug.

Abraham: Du kennst es noch nicht. Es ist über alle Maßen schön.

Lazarus: Ich will nicht wie der Reiche leben.

Abraham: Was willst du dann?

Lazarus: Spielst du auch nicht mit mir?

Abraham: Ich bin dein Vater Abraham.

Lazarus: Dem Gott das gelobte Land versprochen hat? In dem Milch und Honig fließen?

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Abraham: Ich bin dort angekommen. (Lazarus erhebt sich.)

Lazarus: Dann gib mir eine Hütte in einem Winkel deines Landes.

Abraham: Du bist bescheiden, Lazarus.

Lazarus: Dann gib mir zwei Hütten.

Abraham: Zwei Hütten!?

Lazarus: Für meine Schwestern und Brüder. Nein, gib mir drei.

Abraham: Drei Hütten!!?

Lazarus: Die Dritte soll für den Reichen sein. Wenn er alles aufgefressen hat, wird er sie brauchen.

Abraham: Der Reiche hat es hier gut gehabt. Er wird das gelobte Land nicht erreichen. Komm, Lazarus. Ich höre den Ruf der Trommeln. Deine Brüder und Schwestern erwarten dich. (Beide ab. Der Reiche ist mit Essen beschäftigt. Der Tod kommt. Stellt sich vor den Tisch des Reichen.

Der wird seiner gewahr. Springt auf.)

Reicher: Vater Abraham. Ich wusste, du würdest mich eines Tages beehren. Nimm Platz. (Der Tod setzt sich auf den angebotenen Stuhl.

Der Reiche will ihn bewirten. Es ist nichts mehr da.) Zu dumm, Vater Abraham. Du kennst doch den Taugenichts Lazarus. Er drängte sich an meinen Tisch und hat alles aufgefressen. (Er tritt an den Tod heran.)

Vater Abraham. Hast du nichts aus dem gelobten Land mitgebracht?

Ich habe gehört, dort soll es feiste Mastochsen geben. Und Hühner, so fett, dass man die Suppe kaum essen kann. Trotzdem legen sie jeden Tag zwei Eier.

Tod: Wo ich herkomme, gibt es weder feiste Mastochsen, noch fette Hühner. (Der Reiche ist wie vor den Kopf geschlagen.)

Reicher: Ich dachte es mir gleich. Die Geschichte vom gelobten Land ist erlogen und erstunken. Trost der Armen. Deshalb habe ich hier vorgesorgt. Vater Abraham. Da du schon einmal hier bist, kannst du dich nützlich machen. Mein Haus bewachen. Lazarus, dem ich dieses hohe Amt übertragen habe, ist gestorben. Nur, um mich zu schädigen. Aber du, Abraham, wirst noch eine Weile durchhalten. Als Belohnung gibt es jeden Tag frische Krumen. Auf! Marsch, Marsch. (Der Tod bleibt sitzen.) Was, du willst nicht? Auf Befehlsverweigerung stehen drei Tage Essensentzug.

Tod: Ich bin nicht Vater Abraham.

Reicher: Nicht Abraham? Hast du’s nicht an der Tür gelesen? ‚Betteln und Hausieren verboten!‘ Ajax, Pluto, fasst! (Die Hunde bleiben aus.)

Was ist mit meinen Bluthunden?

Tod: Sie sind dir vorausgegangen.

Reicher: ‚Gassi‘ war heut schon. (Er schnuppert.) Wo kommt dieser 92

Kellermief her?

Tod: Aus deinem Grab.

Reicher: Du bist … (Der Tod erhebt sich.)

Tod: Der Tod. (Er packt den Reichen.)

Reicher: Ich möchte mit Vater Abraham sprechen.

Tod: Zu spät.

Reicher: Meine Brüder und Schwestern ...

Tod: Sie hatten ein Leben lang Zeit, sich auf diese Stunde vorzubereiten. Wie du. (Er nimmt den widerstrebenden Reichen mit.)

Reicher: Was wird von mir bleiben?!

Tod: Nichts.

Bei der ersten Probe erschien Hilde mit einem Text von Rilke. Er bedauerte, dass die Engel im Stück nicht vorkämen. Er hatte bei Rilke eine Antwort auf ihre Debatte gefunden. Die wollte er jetzt vortragen: „Ich ließ meinen Engel lange nicht los Und er verarmte mir in den Armen Und wurde klein und ich wurde groß: Und auf einmal war ich das Erbarmen Und er eine zitternde Bitte los Da hab ich ihm seine Himmel gegeben Und er ließ mir das Nahe daraus er entschwand Er lernte das Schweben ich lernte das Leben Und wir haben langsam einander erkannt …

Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht Kann er frei seine Flügel entfalten Und die Stille der Sterne durchspalten Denn er muss meiner einsamen Nacht Nicht mehr die ängstlichen Hände halten Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht Es wurde vereinbart, dieses Gedicht zu lesen, der Bibeltext war Kontrastprogramm zum Stück sowieso. Eine kurze Ankündigung sollte erfolgen, dass in unserem Spiel keine Engel erscheinen würden. Wie sie aber zu verstehen seien, würde hiermit kundgetan.

Das Spiel sorgte für Aufsehen, die dazugehörigen Stände noch mehr.

93

Auf den Weihnachtsbasaren fand sich liebevoll Gebasteltes, das in aller Bescheidenheit als Spende für die meist arme Gemeinde gedacht war.

Der Rummel des Weihnachtsmarktes fehlte, nicht einmal Glühwein war im Angebot. Dafür ersetzten warmherzige Gespräche auf die Geburt Christi hin die sonst erzwungene Atmosphäre. Die Beiträge der jungen Leute aus Hagenwerder verstörten.

Diese waren entschlossener denn je. Im Tagebau war die „Winterschlacht“ eröffnet. Unermüdlicher Einsatz war gefragt, um die nasse Kohle zu fördern. Die Bandanlagen vereisten, auch die Bagger standen im Frost still oder, was noch gefährlicher war, fraßen sich fest. Die Leute mussten länger arbeiten, als es ihre Schicht vorsah. Warner, der seine warme Wohnung nicht zu verlassen brauchte, erahnte erstmals die brutale Härte des Reviers.

Aber keiner ließ es sich nehmen, für die Armen dieser Welt auf dem Weg zu sein. Es war vereinbart worden, nach dem Spiel mit dem Hut herumzugehen. Jeder Darsteller war dabei. Das Geld wurde in zwei Teile geteilt, mit einer Wette verbunden. So sammelten der Reiche und der Tod mehr ein als Lazarus und Abraham. Das mochte aus Respekt geschehen sein. Gespendet werden konnte aber nur das, was die „Guten“ eingetrieben hatten. Über Nacht war der andere Anteil verschwunden.

Wer dahinter steckte, war Warner klar. Sie hatten mit ihrem Spiel unbeabsichtigt dazu beigetragen, dass auch Patronen in die Dritte Welt gesandt wurden.

Der Anstoß Winterzeit ist Lesezeit. Der Kalender verkündete das Jahr 1980. Es hieß vorauszuschauen und ein neues Kapitel im Kampf mit dem Teufel aufzuschlagen. Einer der größten „Teufelsaustreiber“ war Martin Luther gewesen, denn er sah oder entdeckte den Verführer in jeder Lebenslage.

Die Qualen waren nicht gering, ja eine Marter im Glauben bis hin zur Rechtfertigung des Sünders. Man kann sagen: Ohne den Teufel keine Reformation.

Mit dem neuen Jahr schien es geraten, den Blick nach vorn zu richten, auf Luthers 500. Geburtstag. Bis dahin dürften etliche neue Erkenntnisse gereift sein und auch die Auseinandersetzung mit dem Teufel dürfte 94

eine neue Dimension erhalten haben. Es wurde bereits mobil gemacht.

Der sozialistische Staat plante in großem Stil die Heimholung Luthers, sodass er auch zu einem der Ihren würde. Bisher war er nur ein Fürstenknecht gewesen, als Lichtgestalt fungierte Thomas Müntzer.

Warner war mit literarischen Ideen befasst. Die drei Hauptschriften Luthers schossen ihm durch den Kopf. Mit diesen war so gut wie alles zu belegen oder auch zu widerlegen. Warner aber zog sogleich einen seiner Protagonisten heran, weil der auch ein Spötter war, Heinrich Heine. Er hatte eine perfekte Einleitung zur Reformation geliefert, wobei er auch dem Teufel hinsichtlich des Sünden- und Geldmachens eine schöpferischere Rolle zudachte, als es Luther getan hatte: „Obgleich ich für unsern großen Meister Martin Luther den größten Respekt habe, so will es mich doch bedünken, als habe er den Charakter des Satans ganz verkannt. Dieser denkt durchaus nicht mit solcher Geringschätzung vom Leibe, wie hier erwähnt wird. Was man auch Böses vom Teufel erzählen mag, so hat man ihm doch nicht nachsagen können, dass er ein Spiritualist sei.

Aber mehr noch als die Gesinnung des Teufels verkannte Martin Luther die Gesinnung des Papstes und der katholischen Kirche. Bei meiner strengen Unparteilichkeit muss ich beide, ebenso wie den Teufel, gegen den allzu eifrigen Mann in Schutz nehmen. Ja, wenn man mich aufs Gewissen früge, würde ich eingestehn, dass der Papst Leo X. eigentlich weit vernünftiger war als Luther und dass dieser die letzten Gründe der katholischen Kirche gar nicht begriffen hat.

Die Kirche ließ Wergeld bezahlen für jeden fleischlichen Genuss, und da entstand eine Taxe für alle Sorten von Sünden, und es gab heilige Kolporteurs, welche, im Namen der römischen Kirche, die Ablasszettel für jede taxierte Sünde im Lande feilboten, und ein solcher war jener Tetzel, wogegen Luther zuerst auftrat. Unsere Historiker meinen, dieses Protestieren gegen den Ablasshandel sei ein geringfügiges Ereignis gewesen, und erst durch römischen Starrsinn sei Luther, der anfangs nur gegen einen Missbrauch der Kirche geeifert, dahin getrieben worden, die ganze Kirchenautorität in ihrer Spitze anzugreifen. Aber das ist eben ein Irrtum, der Ablasshandel war kein Missbrauch, er war eine Konsequenz des ganzen Kirchensystems, und indem Luther ihn angriff, hatte er die Kirche selbst angegriffen, und diese musste ihn als Ketzer verdammen.

Leo von Medici, wie musste er lächeln über den armen, keuschen, einfältigen Mönch, der da wähnte, das Evangelium sei die Charta des Christentums und diese Charta müsse eine Wahrheit sein! Er hat viel95

leicht gar nicht gemerkt, was Luther wollte, indem er damals viel zu sehr beschäftigt war mit dem Bau der Peterskirche, dessen Kosten eben mit den Ablassgeldern bestritten wurden, so dass die Sünde ganz eigentlich das Geld hergab zum Bau dieser Kirche.

Das begriff man nicht im deutschen Norden. Denn hier, weit eher als unter dem glühenden Himmel Italiens, war es möglich, ein Christentum auszuüben, das der Sinnlichkeit die allerwenigsten Zugeständnisse macht. Wir Nordländer sind kälteren Blutes, und wir bedurften nicht so viel Ablasszettel für fleischliche Sünden, als uns der väterlich besorgte Leo zugeschickt hatte. Das Klima erleichtert uns die Ausübung christlicher Tugenden, und am 31. Oktober 1517, als Luther seine Thesen gegen den Ablass an die Türe der Augustinerkirche anschlug, war der Stadtgraben von Wittenberg vielleicht schon zugefroren, und man konnte dort Schlittschuhe laufen, welches ein sehr kaltes Vergnügen und also keine Sünde ist.“ Besonders hatte es Warner der zugefrorene Stadtgraben mit seinem sündlosen Sporttreiben angetan. Sollte sich Heine hierbei verrechnet, ein anderes Ereignis gemeint haben, nämlich das Legen eines gefährlichen Feuers am 10. Dezember 1520? Dieses Feuer ließ Warner von nun an nicht mehr los.

Bevor er Urlaub nahm und nach Wittenberg fuhr, sollten noch einige kräftige „Bunte Bilder“ die Offene Arbeit durchlaufen, gleichsam als Verständigung für sein Vorhaben dienen. Die Anknüpfung gelang meisterhaft. Denn Warner hielt sich an Luthers Kindheit in einer Bergarbeiterfamilie. Er entfaltete den ganzen Aberglauben an Hexen, Kobolden und Berggeistern. Man stieg in gefährliche Nähe der Hölle ab.

Aber Heine meinte dazu: „Luthers Vater war Bergmann zu Mansfeld, und da war der Knabe oft bei ihm in der unterirdischen Werkstatt, wo die mächtigen Metalle wachsen und die starken Urquellen rieseln, und das junge Herz hat vielleicht unbewusst die geheimsten Naturkräfte in sich eingesogen oder wurde gar gefeit von den Berggeistern. Daher mag auch so viel Erdstoff, so viel Leidenschaftsschlacke an ihm klebengeblieben sein, wie man dergleichen ihm hinlänglich vorwirft. Man hat aber Unrecht, ohne jene irdische Beimischung hätte er nicht ein Mann der Tat sein können.“ Jetzt konnten Warners „Knappen“ endlich das loswerden, was man sich sonst nur zuflüsterte. Martin Luther war sofort einer der „Ihren“ und der Teufel sichtbar ins Bild gerückt.

Im Zug nach Wittenberg kam es Warner so vor, als würde er nach Hause fahren. Er verbot sich aber das Gefühl, denn er hatte seit drei 96

Jahren nichts mehr von Margit gehört. Auf dem Bahnhof von Wittenberg war er so gut wie am Ziel seiner Reise. Er erwog sogar kleinmütig, sich seiner selbst gestellten Aufgabe zu entledigen, um danach gleich die Rückreise anzutreten.

Er vergewisserte sich anhand verschiedener Zeichnungen, dass er nur die kurze Bahnhofstraße hinter sich lassen musste, dann erschien in Sichtweite das Collegium Augusteum, später und bis in Warners Zeit hinein Predigerseminar. Dort befindet sich an einem Deckenquerbalken in schöner alter Schrift ein Lutherspruch, der auf das Geschehen 1520 hinweist: „Ich hab einmal des Papstes Dekret allhier zu Wittenberg verbrannt und ich wollt’s wohl noch einmal verbrennen.“ Wo sich früher der Stadtgraben befunden hatte, versperrten später mächtige Festungswerke den Blick, denn Wittenberg war preußische Garnisonsstadt gewesen. Die Ursache lag im Siebenjährigen Krieg, als Wittenberg arg zerschossen wurde und auch die berühmte Schlosskirche restlos niederbrannte. Wittenberg, eine Stadt des Feuers.

Warner bezog Position, bis er sich sicher war, an eben der Stelle zu sein, wo das öffentliche Schauspiel aufgeführt worden war. Begonnen hatte alles im Sommer. In Rom wurde die Bulle „Exsurge Domine“ herausgegeben, wodurch der höchste Beistand angerufen wurde: „Erhebe Dich Herr“. Ein beträchtliches Aufgebot gegen den Mönch Martinus. Binnen 60 Tagen hatte er seine Lehre zu widerrufen. Er hat dann nicht zuerst Feuer gelegt. Das geschah durch den päpstlichen Nuntius Alexander in Löwen und Lüttich sowie in Köln mit Luthers Schriften.

Da war es bereits Herbst und die Sache schaukelte sich hoch. In Mainz gingen katholische Schriften in Flammen auf.

Jetzt brauchte nur noch Luther zum Zündholz zu greifen. Er tat das umgehend, denn nach Ablauf der Frist war er seit dem 10. Dezember ein Ketzer. Die „Zusammenrottung“ besorgte Melanchthon, der die Universitätsangehörigen zur Heiligkreuzkapelle am Elstertor bestellte.

Wozu, teilte er in seinem Anschlag auch gleich mit, um „gemäß altem apostolischem Brauch“ Bücher des Kirchenrechts und der scholastischen Theologie zu verbrennen. Maler und später auch Filmemacher ließen sich von dem Geschehen entzünden. Die Dramatik war unübertroffen. In Wirklichkeit war es so, dass Luther „zitternd und betend“ an den Scheiterhaufen trat. Er übergab die Bannandrohungsbulle den Flammen mit den Worten: „Weil du gottloses Buch den Heiligen des Herrn betrübt oder geschändet hast, so betrübe und verzehre dich das ewige Feuer!“ Erst im Nachhinein wurde die eigentliche Schandtat ruchbar, das 97

Verbrennen von Büchern des Kirchenrechts. Dies stand in seiner Bedeutung noch über dem Reichsrecht. Luther blieb also nur noch eine kurze Frist, bis er „mausetot“ war. Der Bannstrahl des Papstes erreichte ihn am 3. Januar 1521. Nun musste nur noch die Reichsacht folgen, die dann zu vollstrecken war, vorzüglich vom Territorialfürsten, der in diesem Falle Friedrich der Weise hieß.

Alte Zeiten? Um das Ausmaß dieser Freveltaten ins rechte Licht zu stellen, war Warner mit Vergleichbarem befasst. Er hätte öffentlich die Verfassung der DDR, das „Kommunistische Manifest“, dazu ausgewählte Beiträge des „Neuen Deutschland“ mit Parteitagsreden der SED verbrennen müssen. Man hätte ihn dem Teufel höchstpersönlich ausgeliefert. Die Bekennerkraft aber besaß Warner: „Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es muss uns doch gelingen …“ Warner hatte das Geschehen ausführlich rekapituliert. Er hatte so viel Stoff beisammen, dass er einige aufrührerische Szenen würde schreiben können. Jetzt lag Brandgeruch in der Luft. Der musste vom Bahnhof her kommen. Also gab sich der Teufel rechtzeitig zu erkennen. Warner ließ sich nicht dahin locken, um den nächsten Zug zu nehmen. Er entsann sich eines wirksamen Mittels, um der Versuchung zu widerstehen.

Der Weg zum Lutherbrunnen führte durch die Torhalle des Predigerseminars und so konnte er auch gleich unter der Balkenaufschrift hindurchgehen. Der Brunnen war wieder vereist. So hatte die Geschichte mit Margit begonnen. Auf Wiederholung war Warner nicht aus, so dass er nur vorsichtig trank und auf den Eiszapfen verzichtete.

Jetzt wollte er angesichts des Lutherhauses mit dem Teufel Kurzweil treiben. Luther hatte ein probates Mittel gegen ihn gefunden. Warner betrat das Lutherhaus und begab sich zu Luthers Klosett. Ein solcher Ort galt als Behausung unreiner Geister oder des Teufels. Man entleerte sich gleichsam auf diese. Luther hat dabei über wesentlichen Stücke seiner Lehre nachgedacht und sich in einer Tischrede (!) nicht gescheut, das mitzuteilen: „Diese Kunst hat mir der heilige Geist auf dieser Cloaca auf dem Turm gegeben.“ Wenn man jemanden nicht leiden kann, und Luther konnte den Teufel absolut nicht leiden, fällt einem jede Menge Ordinäres ein. Luther konnte sich dabei noch drastisch steigern: „Alle Nacht, wenn ich erwa98

che, so ist der Teufel da und will an mich mit Disputieren. Da habe ich erfahren, wenn das Argument nicht hilft ‚Christus ist ohne Gesetz über dem Gesetz‘, so weise man ihn flugs mit einem Furz ab.‘“ Das „Gedröhn“ schien für Luther ebenso ein Heilmittel zu sein: „Auch missfällt Gott die Traurigkeit des Herzens … Das weiß ich zwar, aber ich werde wohl zehn Mal am Tag anders gesinnt. Und dennoch widerstehe ich dem Satan, jage ihn auch oft mit einem Furz hinweg.“ Putzig ist hier wie anderswo, denn es gibt genug derbe Sprüche, dass der Kampf mit dem Teufel stets durch Theologie untersetzt ist, etwa in der Art: „Des Teufels größte Tücke und List ist, dass er aus dem Evangelium ein Gesetz macht. Wenn ich die zwei, Gesetz und Evangelium, wohl unterscheiden könnte, wollte ich alle Stunden sagen, er solle mich im Arsch lecken.“ Schließlich behängt er den Teufel mit seinem Unrat: „Heute, als ich erwachte, kam der Teufel und wollte mit mir disputieren und warf mir vor, ich wäre ein Sünder. Da sprach ich: ‚Sage mir etwas Neues, Teufel, das weiß ich wohl. Ich habe schon viele rechte Sünden getan: … Hast du aber nicht genug daran, du Teufel, so hab ich auch geschissen und gepinkelt, daran wische dein Maul und beiße dich wohl damit.‘“ Warner wollte nun wieder in die cloaca maximum, welche die Welt ist. Zuvor aber tat er es Luther gleich, um nicht weiter vom Teufel belästigt zu werden.

Die Beschäftigung mit ihm sollte noch ein Nachspiel haben. Anstatt zum Bahnhof zu gehen, steuerte er unbewusst die Collegienstraße hinauf. Und da erblickte er erschrocken auf gleicher Höhe die Tafel des Doktor Faustus. Schon hörte er sich bei seinem Namen rufen, „Georg“.

Das klang eher freudig. Er wandte sich um und hatte Margit vor sich. Sie hakte sich umgehend bei ihm ein und zog ihn mit sich. Es ging durch die Troggasse, kein „Mörder“ erschien. Bald waren sie in seiner alten Wohnung angelangt, Margit bewohnte jetzt seine Hälfte mit.

Ein Gespräch wollte nicht in Gang kommen. Georg Warner blockte es ab. Margit hatte von ihm wissen wollen, wie es ihm ergangen sei. Er antwortete: „Wenn du mit mir leben wolltest, wüsstest du es. So ist es für dich nur Haschen nach Wind.“ Was ihn nach Wittenberg geführt hatte, ließ sich da schon besser ausbreiten, und Warner erzählte es Margit gern. Ob sie in einem freiwilligen Zölibat gelebt hatte, fand er nicht heraus. Aber sie gab zu bedenken, dass sie verlobt seien, zeigte demonstrativ den ringgeschmückten Finger und bedeutete ihm damit, dass sie ihn noch immer liebe.

Warner hatte nichts dagegen, und so genossen sie die Zweisamkeit.

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Dass er dann selig an Margits Seite schlafen würde, bezweifelte er aber.

Denn er war wie Luther nachts mit dem Teufel befasst und fand seine Aussage an sich selbst bestätigt: „Der Teufel kommt mir oft mit seinem Disputieren so nahe, dass mir der Angstschweiß ausbricht. Heftig zornig ist er, das verstehe und fühle ich sehr wohl. Er schläft viel näher bei mir, denn meine Käthe, das ist, er macht mir mehr Unruhe, denn sie mir Freude.“ Am nächsten Morgen musste Warner die Gretchenfrage stellen. Er erhielt zur Antwort, es würde so bleiben, dass Margit nicht mit ihm leben könne. Also musste er allein abfahren. Hätte nur lieber ein schwarzer Pudel gestern „Georg“ gerufen als seine schwarzmähnige Verlobt-Geliebte.

Die Lok stand bereits unter Dampf, es war eine schöne alte D-Zug-Lokomotive. Bei der Einfahrt in den Bahnhof der sozialistischen Stadt Hoyerswerda knallte es plötzlich fürchterlich. Der Zug stoppte abrupt. Die Fahrgäste schossen von ihren Bänken. Am ärgsten warf es die durcheinander, die schon zum Aussteigen an den Türen standen.

Nachdem sich alles halbwegs entwirrt hatte, wurden auch die Weiterreisenden aus den Wagen gebeten. Warner hatte die Lokomotive vor sich. Ein Riss zog sich durch den Kessel. Es glühte. Die Lokomotive war ausgebrannt. Für Warner gab es keinen Zweifel daran, wer hier die Hand ins Feuer gehalten hatte. Die nächsten drei Stunden, bis eine neue Lok vorgespannt war, konnte er über die Warnung nachdenken. Es sollte ihm bedeutet werden, dass er mit Luther und seinen eigenen weitreichenden Ideen in Görlitz und Umgebung unerwünscht sei.

Er wollte sich mit dem Wort wehren, wofür ihm die „Starken“ in Hoyerswerda gerade recht kamen. Er hielt sich an den „Propheten“ Amos, der ein Meister in unflätigen Worten für seine Gegner gewesen war. Eigentlich aber wollte er Luther im Text würdigen, der den Leuten aufs Maul geschaut hatte, sich und seine Zeit bedachte er gleich mit: der kluge muss schweigen denn es ist eine böse zeit nur amos redet noch kein prophet kein prophetenjünger 100

ein hirte der maulbeeren zieht stopft ihnen das maul in bethel und anderswo kein maulheld artgenosse dem der den leuten aufs maul schaut stinkmorcheln plärrsäcke schluckspechte kuhärsche frevelregiment freveltaten glasklar kristallrein hüpfe quelle springe flut der das wasser im meer herbeiruft schüttet es auf den erdboden der HERR bringt verderben über den starken in seiner festen stadt

Hier stehe ich Die Nachbereitung seiner Reise gestaltete Warner in seinen Gemeindekreisen, nicht nur bei der Offenen Arbeit, sondern bis hin zu Frauenhilfe und Bibelkreis. Den Hauptstoß wollte er im Herbst vornehmen.

Obwohl es ihm in den Fingern juckte – er hatte längst die ersten Szenen für die Probung des Aufstandes im Kopf –, verbot er sich dies, denn er wollte vorher bei „seinem Volk“ den Wissensstand haben und mit allen im Gespräch gewesen sein. Hier ging es um mehr als um ein Theater101

stück.

Im April dann war der Reichstag zu Worms aufgerufen. Der „fand“ Mitte April in der Thomas-Müntzer-Straße „statt“. Aus dem Stegreif wurden anhand der Historie Fragen gestellt und beantwortet, Reden und Widerreden gehalten. Was für sich selbst bedeutsam war, wurde zitiert.

Es war zwingend notwendig gewesen, dass mit dem Bann über Luther der Kaiser gleich die Reichsacht aussprach. Der Reichstag zu Worms war bereits im Gange. Der mächtige sächsische Kurfürst Friedrich der Weise verlangte aber vom Kaiser eine Anhörung vor dem Urteilsspruch.

Die Sache zog sich weiter hin, da nach Bewilligung der Forderung auch das freie Geleit ausgehandelt wurde.

Das hatte freilich auch Jan Hus besessen. Luther hatte in Disputationen mehrmals darauf hingewiesen, dass er an der Lehre von Hus nichts Falsches erkennen könne, und so befand er sich in derselben Gefahr, als Ketzer verbrannt zu werden.

Heinrich Heine hatte mit dem triumphalen Einzug Luthers insofern recht, als ihn am 16. April 2000 begeisterte Menschen in Worms empfingen. Die „Seinen“ seien mit dem Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ eingezogen. Heine gibt es komplett wieder. Es hätte ihm anhand seiner Vorlage auffallen müssen, dass es Luther erst 1528 geschrieben hat.

Aber dieser Einzug in Worms kam ihm seitwärts in die Feder. Er sann über den Dichter Martin Luther nach, nicht ohne vorher festzustellen, dass er sich in seinen Streitschriften „plebejischer Rohheit“ überlassen habe: „Merkwürdiger und bedeutender als diese prosaischen Schriften sind Luthers Gedichte, die Lieder, die, in Kampf und Not, aus seinem Gemüt entsprossen. Sie gleichen manchmal einer Blume, die auf einem Felsen wächst, manchmal einem Mondstrahl, der über ein bewegtes Meer hinzittert. Luther liebte die Musik, er hat sogar ein Traktat über diese Kunst geschrieben, und seine Lieder sind daher außerordentlich melodisch.

Auch in dieser Hinsicht gebührt ihm der Name: Schwan von Eisleben.

Aber er war nichts weniger als ein milder Schwan in manchen Gesängen, wo er den Mut der Seinigen anfeuerte und sich selber in wildester Kampfeslust begeisterte. Ein Schlachtlied war jener trotzige Gesang, womit er und seine Begleiter in Worms einzogen. Der alte Dom zitterte bei diesen neuen Klängen, und die Raben erschraken in ihren obskuren Turmnestern. Jenes Lied, die Marseiller Hymne der Reformation, hat bis auf unsere Tage seine begeisternde Kraft bewahrt.“ Luther ist in Worms keineswegs forsch aufgetreten, wie Heine be102

hauptet. Seine Bücher waren aufgereiht. Er hatte die Verfasserschaft zu bestätigen, dann nur noch zu antworten, ob er etwas widerrufe. Er beantragte Bedenkzeit. Am nächsten Tag, dem 18. April, hatte er seine Bücher in Sektionen eingeteilt: Kampfschriften gegen das Papsttum, Streitschriften gegen Feinde, erbauliche Schriften. Einlenkend gab er zu, dass er in den polemischen Schriften heftiger gewesen sei, als es einem Mönch gezieme.

Luther hatte seine Werke geschickt aufgedröselt. Aber auch so konnte er der Frage nicht entgehen, ob er etwas widerriefe. Das „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, dürfte als richtiger Kommentar hinzugefügt worden sein. In der letztgültigen Antwort Luthers findet es sich nicht, es war der Schluss seiner Verteidigungsrede, die er in Lateinisch und Deutsch hielt. Die klare Verweigerung des Widerrufs begründete er: „Es sei denn, dass ich durch das Zeugnis der Heiligen Schrift überwunden werde oder aber durch klare Ursachen; denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es am Tag ist, dass dieselben mehrmals geirrt und wider sich selbst geredet haben … Ich bin überwunden durch die Schriften, so von mir geführt, und gefangen im Gewissen an dem Wort Gottes. Deshalb ich nichts mag, noch will widerrufen, weil wider das Gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und gefährlich ist. Gott helfe mir, Amen.“ Heinrich Heine hatte sich zur Zeit seiner Promotion taufen lassen, man unterstellte ihm das Kalkül eines Karrieristen. Heine war aber mit Leidenschaft und Überzeugung Protestant, ein glühender und ihn in Schutz nehmender Verehrer Luthers, freilich auch aus dem Pathos des verhinderten Revolutionärs heraus, dabei aber mit jüdischer Weisheit begabt. Der Luther, der auf dem Reichstag auftrat, ist von ihm nicht ohne Emphase dargestellt, vorher hat er sich befleißigt mitzuteilen, dass ein jeder auf dem Reichstag, bis hoch zum Kaiser, nur sich selbst meinte: „Doch ein Mann war dort, von dem ich überzeugt bin, dass er nicht an sich dachte, sondern nur an die göttlichen Interessen, die er vertreten sollte. Dieser Mann war Martin Luther, der arme Mönch, den die Vorsehung auserwählt, jene römische Weltmacht zu brechen, wogegen schon die stärksten Kaiser und kühnsten Weisen vergeblich angekämpft. Aber die Vorsehung weiß sehr gut, auf welche Schultern sie ihre Lasten legt; hier war nicht bloß eine geistige, sondern auch eine physische Kraft nötig. Eines durch klösterliche Strenge und Keuschheit von Jugend auf gestählten Leibes bedurfte es, um die Mühseligkeiten eines solchen Amtes zu ertragen. Unser teurer Meister war damals noch mager und sah sehr blass aus, sodass die roten, wohlgefütterten Herren des Reichstages fast 103

mit Mitleid auf den armseligen Mann in der schwarzen Kutte herabsahen. Aber er war doch ganz gesund, und seine Nerven waren so fest, dass ihn der glänzende Tumult nicht im Mindesten einschüchterte, und gar seine Lunge muss stark gewesen sein. Denn nachdem er seine lange Verteidigung gesprochen, musste er, weil der Kaiser kein Hochdeutsch verstand, sie in lateinischer Sprache wiederholen. Ich ärgere mich jedesmal, wenn ich daran denke; denn unsrer teurer Meister stand neben einem offenen Fenster, der Zugluft ausgesetzt, während ihm der Schweiß von der Stirne troff. Durch das lange Reden mochte er wohl sehr ermüdet und sein Gaumen mochte wohl etwas trocken geworden sein. ‚Der muss jetzt großen Durst haben‘, dachte gewiss der Herzog von Braunschweig; jedenfalls lesen wir, dass er dem Martin Luther drei Kannen des besten Einbecker Biers in die Herberge zuschickte. Ich werde diese edle Tat dem Hause Braunschweig nie vergessen.“

Freiheit – biblisch Warner hätte poetisch gleich überleiten können. Der 1. Mai stand vor der Tür, den Heine so gern bedacht hatte, wie den Wonnemonat überhaupt. Aber dieser Tag war nicht mehr einer für beginnende Amouren, sondern der Kampftag der Arbeiterklasse.

Warner hatte sich nach Hagenwerder begeben, um die Demonstration zu verfolgen. Der Zug ging durch die sozialistischen Neubauten, die Karl-Marx-Straße, die Friedrich-Engels-Straße und die Ernst-Thälmann-Straße. Dass Hagenwerder keine Wladimir-Iljitsch-Lenin-Straße besaß, war verwunderlich. Noch im Nachgang hätte der Teufel Bulgakows den Planer holen müssen. Aber die Görlitzer Straßenbahn fuhr nicht bis hierher. Allerdings überquerten Kohle- und Aschezüge zwar mit lautem Klingeln, aber doch überraschend die Übergänge. Es hätte daher für den Planer nicht einmal des verschütteten Sonnenblumenöls der Komsomolzin bedurft, das bei Bulgakow den Tod des Kulturfunktionärs verursachte.

Die Tribüne konnte monströs genannt werden. Immerhin musste sie den Rat des Kreises, die Leitung des Kraftwerks und die der Grube aufnehmen. Blaskapellen waren bestellt worden. Was nicht fehlen durfte, war eine Schalmaienkapelle, denn eine solche diente seinerzeit dem 104

Rotfrontkämpferbund zu strammem Marschieren.

Die Werktätigen trugen Spruchbänder, deren Losungen vorher im „Neuen Deutschland“ veröffentlicht worden waren. Warner wusste also, was ihm begegnen würde. Jeder Betriebsteil marschierte hinter einer der Losungen. Die „fetten Säcke“ der Kampfgruppen, im Klassenkampf ergraut, trugen stolz ihre Kalaschnikows. Bei der Errichtung des „Antifaschistischen Schutzwalls“, der Mauer, hatten sie sich bewährt, was ihnen zeitlichen Ruhm einbrachte. Die Sportgemeinschaften lockerten das Bild ein wenig auf. Überall wehten rote Fahnen, wurden auch mitgeführt, zudem die dreifarbigen mit Emblem. Der Frühling hatte blütenreich weiß aufgesetzt. Das wirkte aber eher so, als wolle er sich ergeben.

Es gab nur eine Überraschung, jedenfalls empfand es Warner so. Sobald der Zug an der Tribüne vorbei war, wurde gerannt. Wie als Ziel eines Hundertmeterlaufes standen dort Bockwurstbuden. Und Freibänke, die keineswegs etwas mit Freiheit zu tun hatten, sondern zu freiem Ausschank dienten. Jedem Werktätigen war ein Coupon ausgehändigt worden, mit dem er Bockwürste nach Lust und Laune verzehren oder Getränke in sich hineinschütten konnte, Bier auch, aber eben anderes: Wodka Lunikoff, Schlittenwodka (mit einem Schlitten auf dem Etikett), Kristallwodka (mit Schneekristall), allerdings ungekühlt, was den Etiketten Hohn sprach. Als Geheimtipp galt ein Klarer, „Der blaue Würger“ genannt.

Am frühen Nachmittag war der Kampftag beendet. Diejenigen, die liegenblieben, kämpften auch nicht mehr mit sich. Warner hatte nicht ein Gespräch mit seinen Leuten anfangen können. „Heute nicht“, war ihm beschieden worden. Er hatte sich jedoch ebenfalls eingedeckt, heut war kein kirchlicher Feiertag. Auf den Etiketten seiner Weinflaschen aus Rumänien tanzten Folkloregruppen.

In sein „trautes“ Heim hätte er am liebsten eine wodkabetörte Maschi abgeschleppt, so tief saß sein Frust. Die erste Folkloregruppe tanzte ins Glas. Die zweite hob bereits den Vorhang. Wie lange das gutgehen konnte, war nicht abzusehen. Da Warner der Anblick der bockwurstverschlingenden Kampfformationen noch sehr gegenwärtig war, würde er keinen Bissen herunterbringen. Also würde er dem längst niedergeschmetterten Revier gegen Abend folgen.

Warner bremste den Tanz der Folkloregruppe. Er suchte nach Worten, und das hieß bei ihm, nach Ideen. Georg Büchner musste herhalten, samt seiner Verlobten, die nach seinem frühen, unbarmherzigen Tod so gut wie alles an Briefen verbrannt hatte. Aber dieser fand sich noch: 105

„Siehst du denn nicht den neuen lichten Tag? Hörst du meine Tritte nicht, die sich wieder rückwärts wenden zu dir?

Siehe, ich schicke dir Küsse, Schneeglöckchen, Schlüsselblumen, Veilchen, der Erde erste schüchterne Blicke.“ Warner war danach, alte Liebesbriefe hervorzukramen. Aber von Margit besaß er keine. Er dachte: „Himmel, was anfangen mit diesem Tag?“ „Himmel“ gab ihm das Stichwort. Er, Georg, würde es Büchner nachtun. So schrieb er: an meiner seite ein bund himmelsschlüssel für den ersten zweiten dritten vierten fünften sechsten 7. himmel auf trockenen wiesen und in lichten wäldern im gebirge wie in der ebene anzutreffen was ihr auf erden bindet soll auch im himmel gebunden sein An Margit dachte er nicht mehr, obwohl er eben die himmlische Vollkommenheit einer Ehe geschildert hatte. Warner begab sich ernüchtert 106

in die Küche und braute sich einen Kaffee. Das wäre nicht nötig gewesen, denn die Folkloretruppe hatte erst die halbe Flasche leergetanzt.

Aber Warner spürte, dass er jetzt wach sein musste. Etwas bereitete sich vor – das Wort.

Die Tasse in der Hand, ließ er den Blick über den Schreibtisch gleiten. Dort lag immer alles parat, was er benötigte. Er langte schließlich nach Heines „Religion und Philosophie in Deutschland“. Der Reichstag musste verlassen werden.

Das tat auch Luther. Er wurde aber auf Befehl des Kurfürsten Friedrich des Weisen am 4. Mai „weggefangen“ und auf die Wartburg gebracht. Dort übersetzte er als Junker Jörg die Bibel ins Deutsche. Aus Martin war auch ein Georg geworden, ein widerstandsfähiger, denn er warf bekanntlich mit dem Tintenfass nach dem Teufel.

Warner hatte diesbezüglich den Heine’schen Text noch nicht zur Kenntnis genommen. Ihm hatte nicht an literarischen Reflektionen gelegen, er war hauptsächlich kämpferisch gestimmt gewesen. Jetzt las er: „Wie aber Luther zu der Sprache gelangt ist, worin er seine Bibel übersetzte, ist mir bis auf diese Stunde unbegreiflich. Der altschwäbische Dialekt war, mit der Ritterpoesie der Hohenstaufenschen Kaiserzeit, gänzlich untergegangen. Der altsächsische Dialekt, das sogenannte Plattdeutsche, herrschte nur in einem Teile des nördlichen Deutschlands und hat sich, trotz aller Versuche, die man gemacht, nie zu literarischen Zwecken eignen wollen. Nahm Luther zu seiner Bibelübersetzung die Sprache, die man im heutigen Sachsen sprach, so hätte Adelung recht gehabt, zu behaupten, dass der sächsische, namentlich der meißensche Dialekt unser eigentliches Hochdeutsch, d. h. unsere Schriftsprache sei.

Aber dieses ist längst widerlegt worden, und ich muss dieses hier umso schärfer erwähnen, da solcher Irrtum in Frankreich immer noch gang und gäbe ist. Das heutige Sächsische war nie ein Dialekt des deutschen Volks, ebenso wenig wie das Schlesische; denn so wie dieses entstand es durch slawische Färbung. Ich bekenne daher offenherzig, ich weiß nicht, wie die Sprache, die wir in der Lutherischen Bibel finden, entstanden ist. Aber ich weiß, dass durch diese Bibel, wovon die junge Presse, die schwarze Kunst, Tausende von Exemplaren ins Volk schleuderte, die Lutherische Sprache in wenigen Jahren über ganz Deutschland verbreitet und zur allgemeinen Schriftsprache erhoben wurde. Diese Schriftsprache herrscht noch immer in Deutschland und gibt diesem politisch und religiös zerstückelten Lande eine literarische Einheit. Ein solches unschätzbares Verdienst mag uns bei dieser Sprache dafür entschädigen, dass sie, in ihrer heutigen Ausbildung, etwas von jener Innigkeit 107

entbehrt, welche wir bei Sprachen, die sich aus einem einzigen Dialekt gebildet, zu finden pflegen. Die Sprache in Luthers Bibel entbehrt jedoch durchaus nicht einer solchen Innigkeit, und dieses alte Buch ist eine ewige Quelle der Verjüngung für unsere Sprache. Alle Ausdrücke und Wendungen, die in der Lutherischen Bibel stehn, sind deutsch, der Schriftsteller darf sie immerhin noch gebrauchen; und da dieses Buch in den Händen der ärmsten Leute ist, so bedürfen diese keiner besonderen gelehrten Anleitung, um sich literarisch aussprechen zu können.

Dieser Umstand wird, wenn bei uns die politische Revolution ausbricht, gar merkwürdige Erscheinungen zur Folge haben. Die Freiheit wird überall sprechen können, und ihre Sprache wird biblisch sein.“ Warner schmetterte es um. „… wenn die Revolution ausbricht, wird die Freiheit sprechen können – biblisch“, wiederholte er stockend. Er wusste auf einmal, dass er ans Ziel gelangen würde. Ihm war auch deutlich geworden, warum er sich so intensiv mit Luther beschäftigte und dies unter das Volk bringen wollte. Mehr ist hier noch lange nicht genug.

Er gab der Tanzgruppe den Abschied, denn um einen ganz anderen, wilden Tanz sollte es nun gehen. Was war das doch für ein gewaltiger 1.

Mai, nach ganz hinab und in ungeahnte Höhen.

Die Narren die freiheit ein narr zu sein getrieben vom geist ins grenzenlose und heimgekehrt erzählen man hätte wunder was erlebt Georg Warner hatte sich seit Beginn des Schreibens mit der Rolle des Narren auseinandergesetzt und sich dabei so ziemlich alles einverleibt.

Die Narren erblickten in närrischen Zeiten zuhauf das Licht der Welt.

Wenn es dann um die Entscheidung ging, waren sie gereift. Sie hiel108

ten der Gesellschaft nicht nur den Spiegel vor, sondern zerschlugen die Zerrspiegel. Immer auf närrische Weise.

Warner hatte sich ein eigenes Bild zurechtgelegt und geschlussfolgert: „Der Narr tritt als Einzelner auf, an dem sich das Schicksal der Gesellschaft ereignet. Darin liegt das grundsätzlich tragische Moment. Als Narr aber hat er von seiner Rolle her die Möglichkeit, die Gesellschaft zu verändern. Das Maß, in dem ihm das nicht gelingt, bestimmt seine Tragik.“ Alsbald war der Narr gefunden, Melchior Nonnenmacher. Er war Stadtpfeifer in Ilsfeld gewesen und spielte dann Graf Ludwig von Helfenstein zum Tanze auf. In Weinsberg, wo der Adel von den aufständischen Bauern gefangengenommen worden war, blies Nonnenmacher bei dessen Hinrichtung lustig die Zinke. Zuvor hatte er zu ihm gesagt: „Habe ich dir einst lange genug zu Tanz und Tafel gepfiffen, so will ich dir jetzt erst den rechten Tanz pfeifen.“ Der Oberste des Schwäbischen Bundes, Truchsess Georg von Waldburg, schwor, dass keiner, der bei Weinsberg dabei gewesen war, mit dem Leben davonkommen sollte. Nonnenmacher hat er zuallererst suchen lassen, obwohl dieser weder Anführer noch Rädelsführer gewesen war. Er hat ihn an einen blühenden Apfelbaum binden und einen qualvollen Feuertod sterben lassen.

Das alles lag noch voraus. Zwei Akte von „Nonnenmacher“ sollten im Bauernkrieg spielen, der Truchsess gegen Nonnenmacher und umgekehrt. Erst einmal galt es aber, den ersten Akt zu erstellen, somit die geistigen Bedingungen von der Reformation her zu schaffen. Und dazu bedurfte es Luthers, der ebenfalls ein Narr sein musste. Warner hatte vor, die beiden Szenen zu verselbstständigen und am Reformationstag als „Narrenweisheit“ aufzuführen. Den Sommer über hatte er zu schreiben, dann mussten bereits die Proben beginnen. Am 31. August standen die Szenen.

Narrenweisheit Personen: Luther Nonnenmacher Magister Kaufmann Heimatlos Volk 109

Markt zu Wittenberg. Luther kommt in Mönchskutte. Baut sich im Vordergrund auf.

Luther: Ich bin meinem Gott und der Welt noch eine Torheit schuldig. Die hab ich mir jetzt vorgenommen. Ich will schreien und rufen, damit jemand den Elenden seine Hand reiche. Ich will schreien von der Not, die alle niederdrückt. Weil ich ein Doktor der Heiligen Schrift bin, will ich es auf diese Narrenweise tun. (Nonnenmacher springt über den Markt. Die Schellen an seinem Narrengewand klingen. Er führt einige Kunststückchen vor. Geht mit der Kappe sammeln. Trifft auf Luther.)

Nonnenmacher: Ich bin nichts, hab nichts, will nichts.

Luther: Eine tiefsinnige Lebensweisheit. Nur wird sie dich arm lassen.

Nonnenmacher: Deshalb frage ich den Mönch, ob er mir aus seinem prallen Beutel ein Almosen geben könnte. (Luther dreht seine Taschen um.)

Luther: Wie du die Kutte auch wendest, es fällt nichts heraus. Ein Narrengewand.

Nonnenmacher: Der erste Bruder in schwarzer Kutte. Seit Melchior Nonnenmacher dieses wunderschöne Land durchzieht, hat er viele Toren getroffen. Aber keiner gab es zu. Bist ein verkappter Mönch, Bruder.

Dem Reden nach ein Lutheraner.

Luther: Ich bin ein Narr in Christo.

Nonnenmacher: Und ich ein Narr in Nonnenmacher. Wo liegt da der Unterschied?

Luther: Narren sind wir alle. Es kommt nur darauf an, dass einer weiß, weshalb er einer ist. Es hat oft ein Narr weise geredet und die weisen Leute haben sich närrisch gebärdet. Also, wer weise reden will, muss ein Narr werden. Ein Narr in Christo, Nonnenmacher. Es kommt immer darauf an, wer dir die Schellen anhängt.

Nonnenmacher: Der Klang bleibt der gleiche.

Luther: Wenn du dich selbst ernennst, klingt aus deinen Schellen nur die Lüge, so hoch du auch springst. Halte es mit der Wahrheit.

Nonnenmacher: Du willst den Narren zum Narren machen. Alle Welt lügt drauflos. Und nur, wer kräftig mitlügt, bekommt vielleicht einen Bissen ab, der vom Tisch der Herren fällt.

Luther: Das scheint dir nicht zu gelingen. Deshalb lass es lieber.

Nonnenmacher: Ich suche einen Herren, der so feingesponnen lügen kann, dass es meinem Geschmack entspricht.

Luther: Dann reise gen Ingolstadt oder noch weiter. Dort findest du mehr als eine Handvoll solcher Leute.

Nonnenmacher: Mich hat es zu meinem Leidwesen in das kalte Wit110

tenberg verschlagen. (Er stellt sich in Pose.) Im Jahre des Herrn, anno domini und so weiter, kam der Geist über mich und gebot mir, nach Wittenberg zu gehen. ‚Was soll ich da, Herr?‘ fragte ich. ‚Ein Narr werden.‘ Ich sagte mir: ‚Wenn einer schon ist, was er ist, warum soll er es dann nicht werden?‘ Luther: So werde ich dir die erste Lektion im feinsinnigen Lügen erteilen. Wie sie der Teufel selbst erdacht hat. Wir werden ein Narrengeschrei anfangen, das allen Leuten in den Ohren gellen soll.

Nonnenmacher: Und der Text?

Luther: Die Bibel.

Nonnenmacher: Du bist ein weiser Narr, Luther.

Luther: Und du ein törichter Weiser, Nonnenmacher.

Nonnenmacher: Reißen wir eine Posse, über die sogar Gott lachen muss. (Der Markt füllt sich mit Leuten. Nonnenmacher mimt den Ausrufer.) Hört, ihr braven Leute von Wittenberg. Doktor Martin Luther und ich, sein Hausnarr, geben sich die Ehre, der Welt ein noch nie dagewesenes Schauspiel in schwarzer Magie vorzuführen: Luther verbrennt die Bibel. Hört, ihr Leute. Doktor Martin Luther verbrennt in aller Öffentlichkeit die Bibel. (Die Leute laufen zusammen. Nonnenmacher steigt auf ein Fass. In der Hand hält er eine brennende Fackel.) Machen wir die Probe aufs Exempel. Prüfen wir zuerst, ob diese Flamme rein ist. Kann mir jemand einen Ablassbrief leihen? (Einer reicht Nonnenmacher einen Ablassbrief. Nonnenmacher hält die Fackel daran. Das Papier verbrennt zu schwarzer Asche. Nonnenmacher hält einen Fetzen hoch.) Hier ist der Beweis. Die Flamme ist rein. Dieser Mann dort ist ein rabenschwarzer Sünder. Auch der Ablass kann ihn nicht retten.

Magister: Der Papst hat jedem, der Ablass kauft, Loslösung der Sünden versprochen.

Nonnenmacher: Wie kann ein Sünder einem anderen so etwas versprechen?

Magister: Als Christus gen Himmel fuhr, gab er der Kirche die Macht, an seiner Stelle zu herrschen.

Luther: Die Kirche hat Christus in den Himmel gehoben, um weltlich und prächtig ihre eigene Sache zu betreiben. In ihrem närrischen Flickmantel gibt sie vor, Stellvertreter Christi zu sein. Macht zu haben über alles, was lebt. Aber allein die Taufe, das Evangelium und der Glaube schaffen einen Christenmenschen. Ich glaube an die heilige christliche Kirche heißt nicht, ich glaube an die Mächtigen der Kirche. Als wäre die Kirche in einem Menschen. Wir sind allesamt Sünder.

Magister: Wer soll uns dann unsere Sünden vergeben?

111

Luther: Christus allein. (Der Kaufmann drängt sich vor.)

Kaufmann: Dieser Mensch ist ein Betrüger. Ich habe für den zehnten Teil meines Vermögens Ablassbriefe gekauft. Wozu soll das nütze sein?

Luther: Ja, wozu? Um dein Gewissen zu beruhigen. Anstatt den zehnten Teil den Witwen und Waisen zu geben, nimmst du’s von ihnen und meinst, deine Seele freikaufen zu können. Du Narr.

Kaufmann: Ein Narr soll ich sein?

Nonnenmacher: Das hättest du nicht sagen sollen, Luther. Man muss den Leuten auf die Finger schauen und dann aufs Maul. Der Kaufmann ist ein Dieb, der das Geld liebt. Und was er am meisten fürchtet, ist der Tod. Darin offenbart sich seine Narretei. (Er wendet sich an den Kaufmann.) Du siehst blass aus, Kaufmann. Wie jener Kranke, der einst beim Arzt erschien und die Rettung seiner Seele forderte. Der Arzt wies ihn als hoffnungslos verloren ab. Zum Glück traf der Mann am Abend den großen Tetzel, kaufte einen Ablassbrief, und am nächsten Tag war er tot. Nun flattert seine Seele zwischen Himmel und Hölle, ängstigt sich, weil sie nicht weiß, ob der Ablass ihr helfen wird.

Kaufmann: Eine schreckliche Geschichte. Was muss ich tun, um dem zu entgehen?

Nonnenmacher: Dich dem Gottesurteil beugen. Leg deine Ablassbriefe auf die rechte Seite. (Der Kaufmann befolgt dies eilig. Nonnenmacher wendet sich an die Leute.) Und was ist mit euch? Meint ihr, euer Leben dauert ewig? Morgen kann euch der Krieg überraschen, die Pest zu Grabe tragen, der Hunger fressen. Gebt Ablass, hochverehrte Leute.

(Die Leute drängen sich zu Nonnenmacher. Legen ihre Ablassbriefe auf die des Kaufmanns.)

Luther: In der Bibel steht, dass der Mensch allein durch den Glauben gerecht wird. (Er reißt einige Blätter ab. Reicht sie Nonnenmacher. Dieser legt sie auf die linke Seite. Hält die Fackel hoch.)

Nonnenmacher: Wählt, liebe Leute. Freiheit eines Christen oder Knechtschaft. Glaube oder Aberglaube. Bibel oder Ablass. (Heimatlos schiebt sich in den Vordergrund.)

Heimatlos: Wir wollen frei sein und nur dem Evangelium dienen.

Kaufmann: Hungerleider. Weil du keinen Ablass kaufen kannst, öffnest du deine Taschen für ein gemaltes Himmelreich. Nieder mit dem Bundschuh. (Heimatlos wendet sich an Luther.)

Heimatlos: Luther, du kennst unsere Not. Du hast den Glauben in unsere Hütten gebracht. Aber die Not, Luther, die Not ist uns geblieben.

Gib uns zum Glauben auch die Waffen.

Luther: Christus kämpft für euch. (Heimatlos entrollt die Bundschuh112

fahne.)

Heimatlos: Wir haben ihn auf unsere Fahne gemalt. Er sitzt auf dem Regenbogen und ein zweischneidiges Schwert fährt aus seinem Mund.

Luther: Nicht mit Gewalt. Wir haben es mit dem Fürsten der Welt zu tun, der mit Gewalt nicht zu überwinden ist.

Heimatlos: Es gibt für uns keinen anderen Ausweg.

Luther: Auch wenn es groß anfängt, wird am Ende alles im Blute schweben. Je größer die Gewalt, desto größer das Unglück. Wir müssen uns dem Willen Gottes beugen.

Heimatlos: Der Wille der Herren ist der Wille Gottes. Wir werden der Gerechtigkeit beistehen. (Er geht.)

Nonnenmacher: He, Bauer Heimatlos. Welchen Haufen soll ich nach deiner Meinung anzünden?

Heimatlos: Beide. (Ab.) Nonnenmacher: Du hast eben einen deiner besten Leute verloren, Luther. Du kennst die Not der Bauern, kannst dir aber keinen Reim darauf machen.

Luther: Die Unterschiede kommen allein aus Menschengesetzen und -erfindungen. Soll ich deshalb auf die göttliche Wahrheit verzichten und mein eigenes Recht suchen? Ich würde an allen Seelen schuldig werden, die ich verraten und verführt habe.

Nonnenmacher: Sieh sie dir an, die Seelen. Dumpf und stumpf warten sie auf ihre Erlösung. Von irgendwo her, nur nicht von Gott. Heut ist Tetzel ihr Gott, morgen der Truchsess und übermorgen der Antichrist selbst. Die Bibel ist für sie ohne Sinn.

Luther: Barmherzigkeit, Nonnenmacher.

Nonnenmacher: Ich werde dir zeigen, wozu diese Masse fähig ist.

(Zu den Leuten.) Schreiten wir zum Gottesurteil, da dem Spaß bereits der Witz fehlt. Rechts liegen eure käuflichen Seelen, links eure Freiheit.

Zünde ich diesen Haufen an, so ist es um eure Seelen geschehen. Zünde ich jenen Haufen an, so ist es mit eurer Freiheit vorbei. Wählt. (Der Kaufmann geht als erster zu den Ablassbriefen. Zieht die Seinen hervor.

Die anderen folgen ihm.) Armer Luther. Du hättest nicht sagen sollen, dass du nichts wüsstest als Christus allein. (Er hält die Fackel an die Blätter. Sie verbrennen rasch. Schweigend sehen die Leute zu. Gehen auseinander. Nonnenmacher löscht die Fackel. Stochert in der Asche.) Luther, du bist ein Schelm. Die Bibel wird auf das gleiche Papier gedruckt wie die Ablassbriefe. Vorhin, die Asche des Ablassbriefes, war schwarz. Diese hier ist weiß wie Schnee. Gutes Papier.

Luther: Aus der kirchlichen Kanzlei.

113

Nonnenmacher: Wenn du mir noch verrätst, was wir da verbrannt haben, ist meine erste Lektion im feinsinnigen Lügen beendet.

Luther: Die Kirche wird mich in den Bann tun. Der Haufen Asche war die letzte Ermahnung.

Nonnenmacher: Ein gefährliches Feuer.

Luther: Dem keiner entrinnen kann, wenn er mit ihm spielt. Deshalb ist es besser für dich, du bleibst in Wittenberg.

Nonnenmacher: Ich werde meinen eigenen Weg gehen.

Luther: Es wird ein weiter Weg sein, Nonnenmacher.

Nonnenmacher: Ich bin ein Narr.

Luther: Wir sind Narren in Christo. (Beide nach verschiedenen Richtungen ab.)

Reformation gehörte zu den abgeschafften Feiertagen wie auch Bußtag. Zwei Dinge waren nicht erwünscht: dass sich etwas änderte und notwendigerweise Buße getan wurde. Umso mehr reizten Warner diese Feiertage. Am Abend gab es daher stets „Extras“. Diesmal die „Narrenweisheit“ mit entsprechender Verortung in einem zündenden Vortrag.

Die Spieler waren leidlich kostümiert, für das Feuer mussten mehrere gefüllte Wassereimer bereitstehen. Es gab zwar auch feuchte Kirchen, aber die Deutsch-Ossiger war äußerst trocken. Hier war man inzwischen mit den Ideen Warners vertraut. Dass die Narren vorgaben, die Bibel zu verbrennen und das ja bis zur Auflösung der Fall sein musste, erschreckte keinen. Als die Gruppe dann im nächsten Jahr über Land zog, wurde das Publikum doch etwas unruhig.

Bis auf Luther und Nonnenmacher ließ Warner die anderen aus den Bankreihen spielen, sodass die Leute einbezogen waren. So konnte er sich nicht nur das Volk ersparen, sondern auch kommunizieren. Die sogenannten Ablassbriefe wurden verteilt und dann durch den Darsteller des Nonnenmacher wieder eingesammelt. Der musste sich die Personen merken, um ihnen später ihren Ablass zurückzugeben.

Hier nun wurde Warner überwältigt. Keiner und keine nahm den Ablassbrief wieder an. Alle hatten verstanden. Sie wollten lieber die Freiheit. Warner wollte Wetten abschließen, wie das auf Spieltour ausgehen würde. Die Reaktion in Deutsch-Ossig würde einmalig bleiben. Aber diese Wetten verlor er gründlich. Auch andernorts wollte man frei sein.

Was für ein mündiges Christenvolk war das bereits!

Das alarmierte den Teufel in hohem Maße, sodass er seine kleinen und großen Geister rief. Als Warner zufrieden das Pfarrhaus erreichte, wurde er von besagten Herren des vormaligen Mühlenbrandes empfan114

gen. Auch diesmal war ja gezündelt worden. Sie begehrten Einlass. Es sollte aber nicht in die Wohnung gehen. Kumpfe strebte dem Keller zu.

Im hintersten Gewölbe befand sich der Gemeinschaftsraum der Spielgruppe. Kumpfe öffnete die Tür, als wenn er hier zu Hause wäre.

Was Warner zu sehen bekam, machte ihn sprachlos. Der Raum war mit Waffen aller Art gefüllt, aus der Zeit des Mittelalters. Morgensterne hingen gekreuzt an der Wand, Schwerter stapelten sich, die berüchtigten Langspieße der Landsknechte stießen an die Decke.

Kumpfe sagte trocken: „Waffen.“ Es handelte sich keineswegs um Requisiten. Er unterstellte Warner, dass er diese demnächst einsetzen wollte. Für den schreibenden kleinen Geist galt es zu notieren, dass Herr Warner Waffen besitze. Kumpfe war bestens instruiert worden. Der Hauptmann der Staatssicherheit wiederholte das, was der Teufel vor einiger Zeit besorgt geäußert hatte: „Heute schreiben Sie das – und morgen?“ Er gab Warner gleich die überraschende Antwort: „Sie werden sich bald der preußischen Geschichte zuwenden. Dabei wird die Verteidigungsbereitschaft unseres Landes in Misskredit gebracht werden.

Was Sie dann an Waffen sammeln werden, ist schon wirkungsvoller als eine Hellebarde.“ Entgegen dem ersten Besuch, da Warner nicht antworten wollte, konnte er es diesmal gar nicht, so konsterniert war er. Kumpfe hatte ohnehin nicht vor, sich unterbrechen zu lassen. Er wollte seine Logik fortsetzen: „Und dann schreiben Sie über die DDR. Thema: abermals die Freiheit. Was für Waffen brauchte man dazu?“ Obwohl das alles an den Haaren herbeigezogen war, reichte es für die Justiz aus, um einen Fall zu konstruieren. Das war Warner bewusst.

Kumpfe führte ihn aus dem Kellerraum, beiläufig zu Protokoll gebend, dass die mittelalterlichen Waffen beschlagnahmt wären. An der Haustür angelangt, sagte er nur noch, dass sie den Anfängen wehren würden. Dann zeigte er letzte Entschlossenheit: „Sollte eines fernen Tages, sagen wir 1989, ihre Sammelleidenschaft wieder erwachen, verspreche ich Ihnen, dass Sie für das, was Sie vorhaben, nicht einmal aus der Haustür kommen. Sie würden sofort eiskalt umgelegt werden.“ Die Herren verschwanden in der Dunkelheit. Warner betrachtete die Haustür. Er sollte von nun an mit einer gewissen Scheu hinaustreten.

Und von seiner Wohnung aus die gegenüberliegenden Fenster betrachten. Keine Frage, die düsteren Prognosen hinsichtlich seiner Person beschäftigten ihn.

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Viertes Kapitel

Es ist an der Zeit Es galt, das neue Jahr vorzubereiten. Im Dezember fanden sich Hilde und Radl bei Warner ein und begehrten zum Neujahrstag die Taufe.

Radl war überzeugt davon, dass das, was er bisher gespielt hatte, der Wirklichkeit entsprach. Sich taufen zu lassen, entsprach der notwendigen Konsequenz.

Bei Hilde war das anders. Er war der Wortführer mit anstoßender Zunge. Was er zu sagen hatte, musste klar ausgesprochen sein, auch knapp, eben in der Sprache der Arbeiter. In seinem Inneren aber weitete sich die Welt. Seit der Freilassung des Schutzengels trug er Rilke als eine Art Brevier bei sich, auch was den Glauben betraf, orientierte er sich an ihm.

An einem kalten Dezembertag kam er zerschlagen aus der Nachtschicht. Die Bandanlagen waren vereist, der Vorrat in den Kohlebunkern nahm bedenklich ab. Die Nacht war pechschwarz gewesen. Der Schnee stach wie Nadeln ins Gesicht. Als Schlosser musste er immer wieder in verkeilte und verdrehte Verbindungen fassen. Das ging wegen des notwendigen Gefühls nur ohne Handschuhe. Sie mussten sich auch zu Fuß vor Ort begeben und eben nach der Schicht wieder zurückschleppen. Früh um sechs saß er mit zitternder Hand vor seiner heißen Suppe. Neben ihm lag Rilke und er las: „Die Dichter haben dich verstreut (es ging ein Sturm durch alles Stammeln), ich aber will dich wieder sammeln 116

in dem Gefäß, das dich erfreut.

Ich wanderte in vielem Winde: Da triebst du tausendmal darin.

Ich bringe alles, was ich finde: Als Becher brauchte dich der Blinde, sehr tief verbarg dich das Gesinde, der Bettler aber hielt dich hin; und manchmal war bei einem Kinde ein großes Stück von deinem Sinn.

Du siehst, dass ich ein Sucher bin.

Einer, der hinter seinen Händen Verborgen geht und wie ein Hirt; Einer, der träumt, dich zu vollenden Und dass er sich vollenden wird.“ Hilde schlug das Büchlein zu und holte den Kalender hervor. In den Winterschlachten wusste man manchmal nicht mehr, welcher Tag gerade war. Richtig, Dienstag. Die Behörden waren empfangsbreit. Er ging nach Hause, in den gesichtslosen Neubau, und suchte seine Unterlagen zusammen. Pünktlich um neun Uhr stand er vor dem Wehrkreiskommando in Görlitz.

Er wurde nach seinem Begehren gefragt und sagte: „Ich möchte meine Wehrunterlagen berichtigt haben.“ Es wurde zurückgefragt, ob etwas nicht stimme. Hilde gab zu verstehen: „So ist es. Ich kann es mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren, mit der Waffe zu dienen. Ich beantrage die Berichtigung der Wehrunterlagen hinsichtlich der Ableistung des Wehrersatzdienstes als Bausoldat.“ Den Antrag legte er schriftlich vor.

Hilde wurde auf den Flur geschickt. Die Wartezeit konnte lang ausfallen, viel länger als beim Arzt, bis man sich nicht nur ein Urteil gebildet, sondern auch die Art der Behandlung abgestimmt hatte. Wider Erwarten ging es sehr schnell. Er wurde von einem Unteroffizier in einen Raum geführt. Dort saß ein Major, der den Anschein erweckte, dass er sich nicht vorstellen konnte, was in Hilde gefahren sein mochte. Er hatte freilich eine Akte vor sich liegen. Er blätterte leichthin und sagte dann: „Herr Hildebrand, Sie sind mehrfach ausgezeichneter Aktivist der sozialistischen Arbeit. Auch in der gegenwärtigen Winterschlacht sind Sie wieder zur Auszeichnung vorgeschlagen. Ist Ihnen nicht bewusst, dass 117

Sie Ihre Arbeit auch gegen den aggressiven Imperialismus verteidigen müssen?“ Hilde antwortete: „Meine Arbeit muss nicht geschützt werden. Sie besteht über Grenzen hinweg in der Solidarität. Deshalb ist es ein Bekenntnis der Arbeiter, gewaltlos zu handeln. Gegenwärtig ist Polen das beste Beispiel dafür, Solidarnosc.“ Hilde wusste, dass es gefährlich war, sich politisch zu äußern, noch dazu das Beispiel Polen anzuführen, da der Blutgeneral Jaruzelski auf die wehrlosen Arbeiter hatte schießen lassen. Hilde musste das riskieren, denn bei einer klaren Antwort konnte das Thema auch erledigt sein.

Der Major telefonierte, nahm dazu den Apparat in eine Ecke mit.

Aber Hilde hörte, dass der Name Warner fiel. Damit musste alles klar sein, denn der Major legte den Hörer auf und kehrte an den Schreibtisch zurück. Er sagte kurz und bündig, dass das Gesuch Hildes auf Berichtigung der Wehrunterlagen genehmigt sei. Dann fügte er hinzu: „Sie erhalten alsbald die ‚graue Karte‘ zur Nachmusterung. Am 2. Mai gehen Sie ab nach Prora. Feiern Sie vorher schön den 1. Mai, mit einer schmucken Maschi, denn Prora ist ein Ort, wo wir aus Ihnen einen Mann machen werden. Ich verspreche Ihnen, dass Sie sich nach den Winterschlachten zurücksehnen werden.“ Das nahm Hilde zum Anlass, um dem Major die Begründung für seinen Sinneswandel zu überreichen. Der stellte hinsichtlich der Unterlagen auch fest, dass dies noch fehle. Hilde sagte zu ihm: „Ich habe das Schreiben so gehalten, dass meine Würde als Bergmann herausgehoben wird. Der Text ist christlich zu nennen, da ich mich am 1. Januar werde taufen lassen. Allerdings stammt er von Rilke.“ Das stand dann auch darüber und der Major las: „Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister, und bauen dich, du hohes Mittelschiff.

Und manchmal kommt ein ernster Hergereister, geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.

Wir steigen in die wiegenden Gerüste, in unsern Händen hängt der Hammer schwer, bis eine Stunde uns die Stirnen küsste, die strahlend und als ob sie alles wüsste von dir kommt, wie der Wind vom Meer.

Dann ist ein Hallen von den vielen Hämmern 118

Und durch die Berge geht es Stoß um Stoß, Erst wenn es dunkelt, lassen wir dich los: Und deine kommenden Konturen dämmern.

Gott, du bist groß.“ Der Major sagte nichts mehr. Er war betroffen. So saß er ohne jede Regung und Hilde hielt es für ratsam, sich zu entfernen. In Hagenwerder, es war eben erst Mittag, fuhr er in die Grube ein. Er wollte seine Kameraden in der laufenden Schicht unterstützen. Jetzt hatte er 18 Stunden Winterschlacht vor sich.

All das erzählte er Warner erst, als die graue Karte eintraf. Auch Radl erhielt eine solche, da er ja zum Schauspielstudium zugelassen war. Vorher waren Bekenntnisse gefragt, auch wenn es sich nur um anderthalb Jahre handelte. Ein zukünftiger Schauspieler war kein angehender Arzt oder Apotheker, die „1 000“ Tage als Unteroffiziere abzureißen hatten und deshalb „Tagesilos“ genannt wurden. Das Gespräch der Nachmusterung ergab, dass Radl in der Kampfzone um Berlin als Motorisierter Schütze, vorher und nachher Panzergrenadier genannt, Dienst leisten sollte, in einer Spezialeinheit, die gemeinsam mit den sowjetischen Genossen zu üben hatte. Man könnte sagen, dass Warner ihm das aufgebürdet hatte. Und der Teufel frohlockte, dass eine Falle perfekt zugeschnappt war. Die wurde lediglich dadurch geschmälert, dass ihm die Taufe seine Opfer entzog.

Die Kirche war am 1. Januar abends sehr dunkel, nur wenige Besucher der Kerngemeinde waren erschienen. Auch die aus der Offenen Arbeit waren überschaubar. Warner wie auch die Täuflinge waren dennoch hochgestimmt.

Eine Besonderheit prägte die Kirche. Sie bestand in einem Taufengel, der sich in barockem Faltenwurf zu drehen schien. Die Anmut der Gestalt und des Gesichtes war unübertroffen. Warner war überzeugt davon, dass Meister Rodewitz eine Frau abgebildet hatte. Auch eine ganz eigene Aussage, die Warner den Täuflingen mitteilte, brachte der Engel mit. Die Aufhängung bis hoch zur Decke war von Sonne, Mond und Sternen umgeben. Wurde der Engel dann nach unten gezogen, also geerdet, begleitete ihn das All. Das bedeutet, wo ein Mensch getauft wird, befindet sich der Mittelpunkt der Welt. Schön poetisch.

Hilde ließ während seiner Taufe nicht den Blick von Warner. Er saugte gleichsam jedes Wort in sich auf. Als Warner das Wasser für Radl bereits in der Wölbung der Hand hatte, warf sich dieser auf die Knie. Das hatte 119

ihm niemand gesagt, es geschah aus eigenem Antrieb. Mit dem Taufwasser auf den üppig gelockten Kopf von Radl war es so nichts. Warner bedeutete ihm, wieder aufzustehen. Als er dann abermals anhob: „Ich taufe dich …“, war Radl wieder auf die Knie gefallen. Warner hob ihn sanft auf und sagte, dass er stehenbleiben solle, bis alles beendet sei. Das Wasser gelangte reichlich auf den Kopf, rann herunter und floss in die Taufschale zurück. Für Hilde und Radl war jetzt der Weg ins Leben frei.

Das Dokument Nach dem Taufgottesdienst war nicht zu erwarten, dass der Teufel seinem schrägen Humor abermals Genugtuung verschaffen würde. Gänzlich humorlos wartete aber Mephistopheles vor dem Haus. Der musste die Welt hin- und herdurchstreift haben, denn er hatte sich in letzter Zeit rar gemacht.

Als man im Arbeitszimmer Platz genommen hatte, stellte sich die Frage nach seinem Anliegen. Mephistopheles sagte: „Im Zusammenhang mit dem heutigen Ereignis und dem Geschehen zuvor benötige ich als dein Freund einige Angaben zu bestimmten früheren Auftritten. Sie sind mir nicht gegenwärtig, obwohl ich zugeben muss, dass es höchst fahrlässig gewesen sein dürfte, dass die Hölle sie nicht gebührend zur Kenntnis genommen hat. Aber der Teufel wollte wohl erst wissen, was aus dir wird. Immerhin waren seine kleinen und großen Geister im Bilde.“ Georg Warner war noch gedanklich mit der Taufe befasst und fragte sich, was da vorher von solch weitreichender Bedeutung gewesen sein konnte. Die eigene Taufe betreffend, konnte nur ein Umstand in Betracht kommen. Bei der Namensgebung hatte der schöngeistige Onkel aus Westberlin, der mit dem Schwimmanzug für Lilli vanilli, darauf bestanden, dass der Junge Johann Georg heißen sollte, faustisch gesprochen. Der Großvater, gleichsam sein stets widersprechender Erzeuger und Ernährer, bestand auf „Georg“. Das aber nicht, weil er dem historischen Faust Genüge tun wollte, sondern weil der Heilige Georg die alte Schlange, den Teufel, aufgespießt hatte. Und obendrein würde er in der Sankt-Georgs-Kirche getauft werden.

Mephistopheles lächelte, da Georg wohl nicht im Entferntesten da120

rauf kommen würde, was der Anlass seines Besuches war. So sagte er ohne Vorbereitung: „Ich hätte gern deinen Wehrpass“. Warner war so verblüfft, dass er aufstand, zum Schreibtisch ging, den Pass aus der hintersten Schublade hervorbeförderte und Mephistopheles mit einem Stirnrunzeln übergab.

Der schlug ihn auf und war keinesfalls mit dem Jugendbild befasst, welches einen zornigen Jüngling wiedergab. Worum es ihm ging, teilte er gleich mit, indem er die Eintragung vorlas: „‚truppendiensttauglich: Pionier‘“. Das war ihm Anlass zu einer Frage, nämlich, warum dort nicht „Bausoldat“ stehe. „Ein Pionier gehört einer regulären Einheit an und dient mit der Waffe“, gab er zu verstehen.

Warner kam sich verhört vor, weshalb er nur unwillig Auskunft erteilte: „Ich habe im Februar 1969 den Wehrdienst verweigert. ‚Pionier‘ wurde eingetragen, um einen im Kriegsfall gleich an die Wand stellen zu können, wegen Befehlsverweigerung.“ Mephistopheles ahnte, dass der Wehrpass wohl mehrmals hin- und hergeschoben worden war, und wollte wissen: „Und was folgte darauf?“ Warner antwortete widerwillig: „Es war zwingend erforderlich, die Annahme dieses Dokuments ebenfalls zu verweigern.“ Mephistopheles drehte den Wehrpass in der Hand, wobei er sich wohl fragte, wie der in die Hände Warners gelangt sein konnte. Warner gab ihm zu verstehen, dies wiederum sei eine andere Geschichte. Aber er würde um sie wohl nicht herumkommen. „1970 wurden die Widerständler, die sich an der Universität Halle-Wittenberg gesammelt hatten, zum 1. November blitzartig eingezogen und verschwanden bei den Bausoldaten. Auch Wehrdienstverweigerer ließen sich im letzten Moment noch umschreiben, Berichtigung der Wehrunterlagen.“ Mephistopheles fragte erstaunt zurück: „Und wo bist du dann gelandet?“ Warner nervte das Gefrage: „In Leipzig, zum Studium am Theologischen Seminar. Ich wurde in Halle nach 14 Tagen unter einem Vorwand exmatrikuliert, weil man mich hinsichtlich der Armee als unverbesserlich ansah. Es sollte alles unauffällig vonstattengehen.“ Warner wollte sich beeilen und setzte gleich fort: „Ich war auf Rache aus, christliche, versteht sich. Und habe ein Positionspapier ausgearbeitet, ‚Gewaltloser Widerstand in der DDR‘. Zu der Zeit war ich mit einer Bibliothekarin liiert. Die lieferte meinen handschriftlich gefassten Text bei euren kleinen Geistern ab. Dafür wurde sie mit einer Arbeitsstelle in der deutschen Bücherei in Budapest belohnt und ich hatte ein Ermittlungsverfahren am Hals, bezeichnenderweise wegen Wehrkraftzersetzung.“ 121

Mephistopheles war hellhörig geworden und führte aus: „Mein lieber Georg, du solltest darauf achten, keine Bibliothekarin mehr in deine Nähe zu lassen, weil du wohl demnächst wieder derlei Aufrührerisches in die Welt setzen dürftest. Falls es dich überkommen sollte, fahre lieber kurzerhand nach Wittenberg.“ Warner fand, dass Mephistopheles seltsam orakelte. Mephistopheles war jedoch empört, denn das mit Budapest als hoher Belohnung und die ganze miese Tour konnte sich nur der „Alte“ selbst ausgedacht haben. Es gab ein früheres höllisches Verzeichnis zu Warner, das ihm der Teufel vorenthalten hatte.

Wie dem auch sei, die Lösung von Warners Problem musste überraschend vor sich gegangen sein, ansonsten wäre er wohl für mehrere Jahre im Loch verschwunden. Der wollte jetzt auch weitererzählen, denn in der Erinnerung kam ihm das, was geschehen war, immer noch grotesk vor. Als würde er etwas einschränken wollen, wies er darauf hin, noch etwas erwähnen zu müssen: „Die Begründung zu meiner Wehrdienstverweigerung war im Gegensatz zu den üblichen Erklärungen nicht biblisch gewesen. Ich hatte geschrieben: ‚Ich bin nicht bereit, diesen Staat zu verteidigen.‘“ Mephistopheles dachte nicht ohne Hochachtung, dass Georg Warner ein großes Geschick besaß, alle Unannehmlichkeiten auf sich zu ziehen.

Es dürfte mehr als spannend zu hören sein, wer ihn aus dieser ausweglosen Klemme befreit hatte. „Frauen“, sagte Warner. Um Liebesdienerinnen hatte es sich wohl eher nicht gehandelt. „Ich wurde zum 20. April auf das Wehrkreiskommando bestellt und hatte ‚mein Testament gemacht‘. Ich gelangte vom Flur in ein Zimmer.

Blieb an der Tür stehen. Am anderen Ende befand sich ein Schreibtisch.

An diesem saß eine Frau, die so beschäftigt war, dass sie mich nicht beachtete. Ich sagte schließlich, dass ich herbestellt sei. Ohne aufzublicken, wies sie neben sich auf eine Tür. Ich durchquerte das Zimmer, öffnete die Tür und trat ein. Mir bot sich derselbe Anblick dar. Ich tat mein Anliegen abermals kund. Die Frau wies auf eine Tür neben sich …“ Mephistopheles musste lachen, sagte, dass es wie bei einem Witz zuginge, in dem dreimal das Gleiche erzählt wird. Warner verblüffte ihn damit, dass es eben so gewesen sei: „Im dritten Zimmer war nur eines anders als vorher. Es führte keine Tür weiter. Also musste etwas geschehen. Diesmal sagte ich nichts, sodass die Frau schließlich aufblickte. Sie brachte mich durch eine Frage völlig außer Tritt: ‚Wie lange studieren Sie?‘ Ich war mit Jahreszahlen befasst, brachte aber fünf Jahre nicht auf die Reihe. Mir kam plötzlich eine Idee. Eingezogen konnte man nur bis 122

zum 26. Lebensjahr werden, dann war man ‚durchgerutscht‘. So sagte ich spontan: ‚Bis 78.‘ Wie nebenher entgegnete die Frau: ‚Das ist auch egal. Sie sind nicht würdig, diesen Staat zu verteidigen.‘ Ich Narr war auf einmal mit Narrenfreiheit ausgestattet. Nun musste nur noch, Himmel, der Abgang gelingen. Die Frau hielt etwas in der Hand: ‚Hier ist Ihr Wehrpass. Der ist ein Dokument wie jedes andere. Den nehmen Sie jetzt an sich und verschwinden unauffällig.‘ Was sollte ich ‚Pionier‘ da machen? Und so hältst du eben das Dokument in deinen Händen.“ Mephistopheles knallte den Wehrpass auf die Tischkante. Dann gab er ihn Warner zurück und schickte sich zum Gehen an. Warner wollte nun doch aufbegehren und fragte, warum das Gespräch so verlaufen sei, als würde er verhört. Mephistopheles hob die Hand und sagte: „Mein lieber Georg Warner. Zum Smalltalk ist nicht die Zeit. Ich muss alles von dir wissen, sonst kann ich dir nicht helfen, was sich freilich noch ein Weilchen hinziehen wird. Die Sache muss erst hochkochen.“ Wobei die Frage im Raum stehen blieb, wer zu heizen hatte.

Der Mensch gewöhnt sich an alles Der 1. Mai kam und mit ihm der Abschiedsschmerz. Radl fand, dass alles seinen Gang ging, auch den des Fleisches, und schleppte noch eine Maschi ab. Hilde dagegen war schwer ums Herz. Er verabschiedete sich ausgiebig von seinem geliebten Revier. Auch Warner hatte etwas zu verschmerzen, nämlich den Verlust seiner wichtigsten Leute in Offener Arbeit und Spielgruppe. Vieles würde sich ändern.

Die Rekruten Radl und Hilde fuhren die meiste Zeit gemeinsam Richtung Berlin. Dann verabschiedete sich Radl, um in die berüchtigte Mot-Schützen-Kaserne Stahnsdorf einzurücken. Hilde musste zu einem Sammelpunkt in Klein Köris. Beide befanden sich in der Grundausbildung, die aber völlig unterschiedlich verlief. In der Nähe der Bausoldaten war eine Kommandantur eingerichtet, die sie samt umfangreichem Gelände zur „Pflege“ erhielten. Als der Armeegeneral zur Inspektion erwartet wurde, hatten die Bausoldaten tagelang das Gras grün anzustreichen, mit kleinen Pinseln, obwohl schon Frühling herrschte.

Was Radl betraf, so erhielt Warner einen Brief, in dem nur der erste Tag geschildert wurde. Entsetzen sprach sich darin aus. Mit dem Betre123

ten der Kaserne wurden die Rekruten nur noch angeschrien und herumgehetzt, bis sie schließlich eingekleidet ihrem ersten schneidigen Appell beiwohnten. Auf den Zimmern lernten sie sofort die EK-Bewegung kennen. „EK“ stand dabei für „Entlassungskandidat“. Es handelte sich um Soldaten, die bereits ein Jahr gedient hatten. Für das letzte halbe Jahr war bereits das Bandmaß erworben und liebevoll gestaltet worden. Der Anschnitt erfolgte 100 Tage vor Ende des Dienstes. Für die Rekruten wurde dies sofort vorgeführt und aufgerollt, mit Schikanen verbunden.

Dann erhielt jeder EK seinen „Putzfleck“. Das hieß für den Rekruten, ihn stets zu umsorgen. Stiefelputzen war dabei noch eine überschaubare Arbeit. Auch alle anderen Dienste mussten übernommen werden.

Dann gab es da noch die Vize-EKs, die eben ihre entwürdigende Stellung verlassen hatten. Sie übten sich schon einmal im Drangsalieren.

Strafen wurden von den EKs selbst festgelegt. Den Unteroffizieren und Offizieren war dieses Kastendenken höchst willkommen. Erst einmal konnte so keine Kameradschaft und damit Widerspenstigkeit aufkommen. Zum anderen befanden sich diese Truppenteile stets in erhöhter Alarmbereitschaft, was sich bei den Übungen mit scharfer Munition durch den Drill untereinander als vorteilhaft erwies.

Am Ende des Tages war Radl beim Hauptmann vorsprechen gewesen.

Er hatte ihm mitgeteilt, dass er sich das alles ganz anders vorgestellt habe und ab morgen bei den Bausoldaten Dienst tun wolle. Der Hauptmann hatte wohl mit dem einen Rekruten, der einen Koller erlitten hatte, ein Einsehen. Sein Anliegen würde aus verschiedenen Gründen nicht genehmigt werden. Er sprach von Eingewöhnung und zitierte dabei Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“: „‚Der Mensch ist ein Wesen, das sich an alles gewöhnt.‘“ Schließlich versicherte er Radl, dass es ihm hier noch gut gefallen werde.

Hilde wusste, wohin es für ihn gehen würde. Mit dem Ende der Grundausbildung fuhren Lastkraftwagen vor und man stieg auf. Alsbald versuchten die Bausoldaten herauszufinden, wohin es ging. Nach Norden! War ein vorgesehener Stützpunkt erreicht, wurde Halt gemacht. Jetzt bewegten sich nur noch die Wagen vorwärts, die wohl einem besonderen Bestimmungsort zugeteilt wurden. Der Zug trennte sich schließlich. Wer jetzt abbog, gelangte unmissverständlich nach Eggesin, wo man „Tag und Nacht“ die Schaufel nicht mehr aus der Hand legte, weil die Truppenübungsplätze zügig instandzuhalten waren.

Die Übriggebliebenen erreichten schließlich die Insel Rügen. Diese war durchaus beschaulich, was sich aber gegen Ende der Fahrt änderte.

Schließlich war da weit und breit nichts mehr. „Moor und Heide nur 124

ringsum.“ Auch „Vogelsang“ gab es nicht. Und dann erschien in langer Reihe die „Kraft durch Freude“-Siedlung der Nazis. Das war Prora.

Hilde hatte in seinem Brief die Stimmung genau erfasst.

Der nächste Brief von Radl war aus der Kaserne geschmuggelt worden. Warner kam sich vor wie ein Vater, dem sein Sohn zum letzten Mal sein Leid klagt. Radl erzählte Unglaubliches. Nach Gefechtsalarm, zu jeder Zeit und Stunde möglich, ging es mit den Schützenpanzerwagen hinaus zu den Schießbahnen, Panzer gehörten ebenfalls zur Einheit. Dann hieß es absitzen und hinter den Panzern her und ebenso zwischen ihnen hindurch. Dabei wurde scharf geschossen. Die normale Kampfausrüstung hieß Teil I. Da sie aber den Atomschlag zu üben hatten, musste auch das schwere Teil II mitgeführt werden, Planen, Gasmasken und so weiter. Radl gab an, dass man, so man stürzte, selbst nicht mehr auf könnte. Man musste nur schauen, ob sich nicht eben ein Panzer oder Schützenpanzerwagen hinter einem befand. In Teil II steckend, war durch die Gasmaskenbrille kaum noch etwas zu sehen.

Wenn dann der Atomschlag ausgerufen wurde, stand alles still, die Schützen lagen auf der Erde, für lange Zeit. Radl schilderte, wie er durch die Gasmaskenscheiben stundenlang nur den kleinen Ausschnitt von Himmel gesehen habe. Außerdem schwamm man im eigenen Schweiß, da Kampfgas geworfen wurde, damit keiner die Maske öffnen konnte.

Warner dachte entsetzt: „Der geht mir kaputt.“ Dann war von Gesang die Rede. Bevor eine brutale Übung stattfand, sangen die Sowjets in ihrer Kaserne. Dass es bald losgehen würde, war daran zu erkennen, dass die NVA-Soldaten in die sowjetische Kaserne geführt wurden. Mit dem Heulen der Sirene rannten die Russen an einer großen Tonne vorbei, griffen nach der Munition und verstauten sie im Brotbeutel. Beim Angriff waren sie dann voraus und es ließ sich durch den Rauch der Detonationen nicht erkennen, wo sich die Infanterie befand. Sie mit etwas Abstand hinterher.

Der Anlass des Briefes war ein anderer. Radl schrieb, dass er etwas loswerden müsse. Die eigenen Panzer fuhren zügig Kolonne. Sie hetzten nebenher. Auf einmal gab es einen Ruck und die Kolonne stand.

Der Panzer neben ihm fuhr sein Rohr durch Rücken und Brust des MG-Schützen, der auf dem Panzer vor ihm in der Luke stand.

Die Briefe von Hilde waren mit einer gewissen Gelassenheit geschrieben. So stellte er fest, dass er sich, wenn möglich, nicht die Fahrt des „Weißen Dampfers“ entgehen ließ. Die langgestreckten Kasernenbauten zogen sich unmittelbar an der Ostsee entlang. Der „Weiße Dampfer“ war das Fährschiff von Saßnitz nach Trelleborg und zurück. Er symbo125

lisierte den Weg in die Freiheit, der für die Bausoldaten einer der Unmöglichkeit war. So entstand der Eindruck, dass man ein Gefangener war.

Zur Arbeit gab Hilde an, dass er mit einer Schaufel bewaffnet sei. Er habe bewusst bewaffnet nicht in Anführungsstriche gesetzt, denn die Arbeit diene der Armee und sei somit kein Friedensdienst. Die Schaufel bereitete ihm auch dahingehend Schwierigkeiten, dass er niemals als Schlosser eingesetzt wurde. Es standen genug Raupen und Fahrzeuge herum, die auf eine Reparatur warteten, und es juckte Hilde gewaltig in den Fingern.

Die Arbeit geschah auf Baustellen, aber auch im zu errichtenden Fährhafen Mukran. Hier sollten einmal keine Fahrgastschiffe eintreffen, sondern er war für die Landung von sowjetischen Truppen während des atomaren Erstschlages gedacht, da die Mitte Europas schon nicht mehr befahrbar sein dürfte.

Warner wunderte sich, dass ein Brief mit solchen Informationen die Poststelle passieren konnte. Aber bei genauerem Hinsehen war dieser Fakt zwar nicht allgemein, aber immerhin bekannt. Eine Provokation wäre es gewesen, wenn Hilde geschrieben hätte, dass die Sowjets aus gutem Grund von Klaipeda aus Polen umfahren wollten. In Danzig wären sie nicht problemlos durchgekommen.

Hinsichtlich der inneren Verhältnisse teilte Hilde mit, dass die Bausoldaten eine große „Menschenmenge“ von rund 350 Leuten bildeten.

Nicht ganz so groß, aber immerhin reichlich, waren die unterschiedlichen Meinungen. Alle Konfessionen waren vertreten, wobei die Adventisten den Sabbat heiligten und somit ihre Zeit im Arrest oder mit Sonderschichten verbrachten. Die Christen stachen durch ihre Frömmigkeit verbunden mit pazifistischer Gesinnung und Dienstgehorsam hervor. Warner wunderte sich, dass sich Hilde nicht dazu zählte. Das wurde sogleich aufgeklärt.

Hilde war nicht in der Tradition geübt und eben diese wurde betont, weil es auch die einzige Form für die Glaubensausübung darstellte.

So hielt er sich zu der Gruppe der pazifistisch Gesinnten. Eine andere stellten die politischen Verweigerer dar. Warner musste sofort an seine Begründung für die Wehrdienstverweigerung denken. Hätte er sie zum Dienst bei den Bausoldaten abgegeben, wäre auch bei ihm das Christliche etwas kurz gekommen. Den schwersten Stand aber hatten diejenigen, die eine antisozialistische Einstellung vertraten. Die große inhomogene Gruppe zerfiel noch in viele kleinere Gruppen. Hilde gab zu verstehen, dass nicht die militärische Stupidität das Bedrückende sei, 126

sondern die ständigen Reibereien und Positionsbestimmungen.

Der sparsam gewählte Ausgang bestand in einer Wanderung. Es konnte nur nach Binz gehen, zehn Kilometer hin, zehn Kilometer zurück. Wenn man angekommen war, konnte man schon wieder aufbrechen.

Hilde verschwieg Warner auch nicht, dass er hier um jede Idee und um die Kreativität gebracht wurde. Es gab keine Spielarbeit, nicht einmal singen durfte man. Mehrere Posaunenchöre könnten gebildet werden. Aber die hätten nicht ins Horn stoßen dürfen. Einziges Ziel konnte sein, Tischtennis-Weltmeister zu werden. So etwas von Tristesse.

Von Radl hörte Warner lange Zeit nichts mehr, bis er schließlich quietschvergnügt mit einer Maschi im Arm Ende August vor der Tür stand. Er saß dann im Unterhemd am Tisch, darüber die sehr an frühere Zeiten erinnernden breiten Hosenträger. Er hatte keine Erlaubnis für Zivilkleidung erhalten. Scherzhaft sagte er: „Immer im Kampfeinsatz.“ Warner, der erwartet hatte, dass Radl mit den Füßen voraus die Kaserne verlassen würde, wunderte sich über dessen Gemütszustand. So sprach er die Übung mit Teil II und den Atomschlag an. Als wäre Radl erfreut, darüber berichten zu können, sagte er: „Den haben wir inzwischen als Segen begriffen. Wir warten förmlich darauf. Ich mache es mir unter der Plane bequem und schlafe in der Stille den Schlaf des Gerechten. Geweckt werde ich pünktlich, denn zwei Flugzeuge ziehen über uns hinweg, immer nur zwei. Da siehst du, Georg, welch altmodische Vorstellungen die von einem Atomschlag haben. Manchmal träume ich, dass ich nicht von den Flugzeugen geweckt werde, sondern von einem Ami, der die Plane hochhebt und mir einen Kaugummi reicht.“ Nun, es gab ja auch noch Kampfhandlungen. Auch dazu war Radl auskunftsbereit: „Unseren Hilfsschülern nehmen wir klammheimlich die Munition weg. Das kleine Problem ist nur, dass wir sie dann auch mit ihrer Waffe verballern müssen. Also, erst das eigene Magazin leer, dann noch eine Salve drauf.“ Warner interessierte nun noch die Ausübung des christlichen Glaubens. Hier schränkte Radl ein: „Is nich’. Die glauben, dass der liebe Gott ein alter Mann mit weißem Bart ist. Er hat sogar einen Altar. Dort hängt sein Bild und auf dem Tischchen davor stehen Blumen, nur Kerzen fehlen.“ Warner war begriffsstutzig. Radl stieß ihn in die Seite: „Mensch, Georg. Das ist Karl Marx.“ Entsprechend der Trostlosigkeit bei den Bausoldaten wollte Warner wissen, ob sie wenigsten singen dürften. Radl grinste und führte Lieder an, so „Die Waffe ist die Braut des Soldaten“ oder „Nero liegt im Hun127

dehaus und spricht zu dem Soldaten: Was tust du hier tagein, tagaus, kannst du mir das verraten?“ Er fuhr in eigener Auslegung fort, dass dem Hund mitzuteilen sei, dass er Soldat der Nationalen Volksarmee sei und auf Friedenswacht stehe.

Dann ließ er Gesang ertönen, teilte mit, dass das Lied vielstrophig sei, er aber nur die Quintessens wiedergeben wolle: „Von Nutten geliebet, von Jungfraun gehasst, den letzten Wehrsold verhurt, versoffen, verprasst.

Von außen vergammelt, von innen auf Draht, das ist und bleibt der NVA-Soldat.“ Die Maschi wand sich erschrocken aus seinem Arm. Warner konnte nur feststellen, was dieser Radl doch für Widerstandskraft entwickelt hatte.

Auch fraß er die ganze Zeit über wie eine siebenköpfige Raupe und bedauerte schließlich, dass Georgs Kühlschrank leer sei. Eine halbe Kiste Bier war zum Herunterspülen ausreichend. Als er ging, eine sichtlich konsternierte Maschi hinter sich herziehend, polterte er: „Georg, alter Hunne. Bleib treu auf Friedenswacht.“

Sozialer Friedensdienst Warner war nicht zuletzt durch Hildes Briefe bewusst geworden, dass der Friedensdienst der Bausoldaten nicht mehr als solcher angesehen wurde. Nach fast 20 Jahren Bestehens dieser Möglichkeit hatte sich das Bewusstsein gewandelt. Es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen, wann die ins wehrfähige Alter kommenden Jugendlichen nach einer Alternative suchen würden. Die Zeit war jetzt reif. Die Forderung nach einem Sozialen Friedensdienst lag auf dem Tisch und musste zwangsläufig diskutiert werden.

Georg Warner hatte das Papier seit Ende August auf dem Tisch, just als sich der demoralisierte Radl verabschiedet hatte. Militarisierung und soziale Belange wurden gegenübergestellt. Es musste gleich zu Anfang 128

von staatlichen Stellen als Provokation angesehen werden, dass „die sozialen Mangelerscheinungen dort, wo es um die Kranken, die körperlich und geistig Geschädigten, die Alten in Alters- und Pflegeheimen, die Suchtgefährdeten und auch um die Wiedereingliederung von Strafgefangenen geht“, genannt wurden.

Damit war Klartext geredet, denn es ließ sich konkret aufführen, wo der Soziale Friedensdienst stattfinden sollte. Warner in seiner kritischen Denkweise hinsichtlich der Reformbereitschaft des Staates sprang in der Erklärung sofort ein Satz in die Augen, der da lautete: „Das Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht vom 24. Januar 1962 mit den dazu erlassenen Folgebestimmungen ist dahingehend zu ändern.“ Über den sieben Punkten mit Unterpunkten stand „Die Volkskammer der DDR möge beschließen“. Warner wusste umgehend, wie das ausgehen würde.

Aber, wie schon Mephistopheles angedeutet hatte, die Sache musste erst hochkochen. Und dann dürfte der Strafkatalog auch mindestens sieben Punkte enthalten.

Die Herbstsynoden der Evangelischen Landeskirchen waren mit dem Thema befasst und standen dem Anliegen aufgeschlossen gegenüber.

Kunststück, es hatte ja noch nicht gekracht. Das sollte auf ganz andere Art geschehen, denn die Friedensdekade zu Bußtag stand bevor. Sie stand unter der Losung des Propheten Micha, 4. Kapitel: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie erschrecken.“ Das war biblische Utopie vom Feinsten. Verbunden wurde das mit einem Schmied, der als Geschenk der Sowjetunion als Denkmal vor dem Sitz der UNO in New York stand und ein Schwert in eine Pflugschar umarbeitete. Warner hatte zu diesem Monument seine eigene Meinung.

Einmal erinnerte ihn der Schmiedende an die stalinistische Kunstepoche, das Geschenk stammte aus dem Jahre 1959. Dann schwang er einen Hammer, der direkt von der sowjetischen Fahne abgenommen sein konnte. Wäre Faust tatsächlich ein tätiger Mensch gewesen, wie ihn Goethe gesehen hatte, und nicht der erzfaule aus Wittenberg, er hätte hier klassisch-aufklärerisch zuschlagen können. In einer plötzlichen Anwandlung stellte sich Warner Mephistopheles vor, wie er neben dem Denkmal stand, eine Sichel in der Hand. Hammer und Sichel wären ihrer Herkunft nach klar deutbar gewesen. Unten steht ein Amboss ungenutzt herum, der Schmied formt das Schwert im freien Fall 129

des Hammers. Symbolisch deutete das auf das Orakel hin „Hammer oder Amboss sein“, bei dem sich die Kommunisten mit entschiedener Bereitschaft für den Hammer ausgesprochen hatten. Keine friedfertige Aussage. Aber es wurde ja ein Schwert umgeschmiedet. Mit etwas Übertreibung hätte man wähnen können, dass es sich um ein türkisches handelte, die muslimische Welt entwaffnend.

Geschmäcklerische Bewertung hin und her. Durch den Propheten Micha geschah eine christliche Heimholung für die Friedensdekade 1981. Beides zusammen, Schmiedender und Spruch, wurden in einem Aufnäher gestaltet. Ein Schelm, wer Arges denkt. Die Schelme sollten sich aber alsbald zeigen.

Plötzlich verband sich der Aufnäher mit der Forderung nach dem Sozialen Friedensdienst und wurde zu einem Politikum von höchstem Rang. Warner beteiligte sich nicht an der Verteilung, jedes Pfarramt hatte Dutzende Aufnäher erhalten. Zwei Gründe bewogen ihn dazu.

Einmal lehnte ihn die Offene Arbeit wegen des Zitates ab. Die Leute sahen das als kirchliches Bekenntnis an. Der andere Grund lag bei Warner selbst. Wenn überhaupt, konnte man diesem Staat mit der Aktion höchstens am Lack kratzen. Ansonsten musste man selbst den Hammer in die Hand nehmen.

Ein Nebeneffekt setzte ein. Nachdem die Polizei in der Öffentlichkeit und Lehrer in den Schulen und Berufsschulen die Aufnäher unter deutlichen Drohungen abtrennen ließen und eingesammelt hatten, sprach es sich herum, dass Pfarrer Warner solche gehortet hatte. Aus dem intellektuellen Weinhübel schwappten die Jugendlichen nach Deutsch-Ossig herüber. Warner stellte sich dem und der Diskussion. Alsbald hatte sich eine zweite neue Gemeinde vor Ort gesammelt. Im Grunde genommen war das das Ende der Offenen Arbeit in Hagenwerder. Einige Getreue wie Nostradamus und Karl machten den Wechsel mit, blieben aber ob ihrer eigenen Betrachtungsweise der Dinge Außenseiter. Warner begab sich nach wie vor nach Hagenwerder, war aber wieder Georg Warner in der Bahnhofskneipe.

Die leidenschaftlichen Mädchen, die nun Deutsch-Ossig bevölkerten, hatten nichts mehr mit den geliebten Maschis gemein. Hier bereitete sich zugleich eine Frauenbewegung vor. Gelegentlich musste Warner schmunzeln, wenn er den „Schmied“ am Oberarm einer spillrigen 15-Jährigen sah. Bildlich gesprochen musste das zu Scheuermann und anderen Verkrümmungen führen. Sogleich aber verbot er sich die Ironie und dachte an Luther nach Heine, dass die Vorsehung sehr wohl wusste, auf welche Schultern sie die Last legte. Hier waren bereits Last130

trägerinnen unterwegs.

Es weihnachtet Am 1. Advent kam Warner die Idee, wieder etwas „auf die Bühne“ zu bringen. Nichts Spektakuläres, aber es sollte spektakulär enden. Er schrieb den Text vom Zimmermann Josef an einem Abend, da der Schneesturm um das Haus jagte und ihm das nötige Flair verschaffte.

Im Stück ließ er dann nur „Zugluft“ zu.

Nach der Vorstellung drängten alle in die Rollen. Warner sah die Chance, seine Kameraden der Offenen Arbeit in Deutsch-Ossig zu integrieren. So gelangte Karl mit seinem proletarischen Bewusstsein erstmals zu einer Rolle, nämlich der des Josef. Der Wortführer der drei Weisen aus dem Morgenland, Balthasar, kam Nostradamus zu. Einer der neuen Spieler sollte Ritter sein, der Warner schon zu Beginn seiner Arbeit im Konfirmandenunterricht aufgefallen war. Man nannte ihn „Don“ in Bezug auf den Ritter von der traurigen Gestalt. Was die Gestalt dieses hochaufgeschossenen Jugendlichen betraf, konnte man das gelten lassen. Traurig war er aber auf keinen Fall, sondern von deutlicher Ansage bestimmt. Für ihn kam der kritische Kaspar infrage. Und dann war da noch Annalena, die als Hoffnungsträgerin fünfmal ihre „Schwerter zu Pflugscharen“ erneuern musste. Im Stück verinnerlichte Melchior den Weg des Weihnachtssternes. Es wurde gleich mit den Proben begonnen.

Keiner in der zahlreich erschienenen Gemeinde erwartete einen bequemen Heilig Abend. Man wusste, dass es allenthalben gärte, nicht nur in Warner. Und aus diesem Grund musste Weihnachten aufsteigen. Die Lieder gaben den Ton dazu. So ließ Warner gleich adventlich singen.

Paul Gerhardt hatte strophenreich im Jahr 1648, gerade da der Dreißigjährige Krieg sein Ende fand, fragen lassen: „Wie soll ich dich empfangen?“ Wenn die Gemeinde mit Unterbrechungen bis Strophe zehn gekommen war, hieß es schlussfolgernd: „Er kommt zum Weltgerichte, zum Fluch dem, der ihm flucht, mit Gnad und süßem Lichte 131

dem, der ihn herzlich sucht.

Ach komm, ach komm, o Sonne, und hol uns allzumal zum ew’gen Licht und Wonne in deinen Freudensaal.“ Jetzt hatte der lebenserfahrene Josef mit den Schwielen an den Händen seinen Auftritt. Und auch die Weisen, die traumwandlerisch dem Stern gefolgt waren.

Josef, Zimmermann Personen: Josef, Zimmermann Weise: Balthasar Melchior Kaspar Ein Bretterverschlag. Josef ist dabei, ihn auszubessern.

Josef: Alles lässt sich ertragen: Armut und fehlendes Zuhause. Aber nicht Zugluft. Es geht gegen meine Ehre, wenn Frau und Kind frieren müssen. Zimmermannsehre. Und die lass ich mir auch in Bethlehem nicht nehmen, dieser windigen Davidsstadt. Von der nur der Prophet Gutes sagt: ‚Aus dir soll der König Israels kommen.‘ Damit der Traum einmal wahr wird, muss der Zimmermann erst Hütte und Dach bauen.

(Er schaut in den Verschlag.) Noch schläft das Kind. Aber wenn es erwachen wird, soll es aus Hütte und Dach den Traum entstehen lassen, der Wind und Wetter aushält. Dafür werde ich sorgen. (Er entfernt sich. Die Weisen kommen.)

Balthasar: Der Stern steht über diesem Haus.

Kaspar: Das ist kein Haus, sondern ein Verschlag.

Melchior: Wir haben uns nur nach dem Stern zu richten. Er führt uns zum König der Juden.

Kaspar: Könige kommen in Palästen zur Welt.

Melchior: Hier ist die Ausnahme. Streng wissenschaftlich gesehen besteht überhaupt kein Anlass, die Existenz des neugeborenen Königs in dieser, nun sagen wir, mittelmäßigen Unterkunft infrage zu stellen.

Balthasar: Wir sind nicht hierhergezogen, um eine wissenschaftliche Annahme zu beweisen. Auch nicht, um das Handeln Gottes anzuzweifeln. Wir sind hier, um anzubeten.

Kaspar: Der Verschlag, Verzeihung, die mittelklassige Unterkunft, 132

besitzt nicht einmal eine Tür. Nur Zuglöcher sind vorhanden.

Balthasar: Werfen wir einen Blick hinein. (Sie schauen in den Verschlag.)

Kaspar: Mutter mit Kind.

Melchior: Ein Neugeborenes.

Balthasar: Der König. (Josef ist mit Brettern beladen zurückgekehrt.

Lässt sie fallen.)

Josef: Schicken euch die Herbergswirte? Dieses Haus habe ich mir rechtmäßig auf eigenem Boden errichtet. Ich habe es schriftlich. Von Kaiser Augustus. Er hat befohlen, dass ich in meine Stadt gehe. Ich kannte sie vorher selbst nicht. Aber wenn der Kaiser es meint, muss wohl hier mein Eigentum sein. Bestellt das euren Wirten.

Balthasar: Wir kennen die Herren Wirte nicht. Auch Kaiser Augustus ist uns fremd. Wir kommen von weit her. Wir sind Weise aus dem Morgenland.

Melchior: Der Stern hat uns hierher geführt.

Balthasar: Darf ich vorstellen: Melchior, Kaspar. Mein Name ist Balthasar.

Josef: Josef, Zimmermann.

Kaspar: Edelmann?

Josef: Eine edle Arbeit. Sie ernährt uns. (Melchior zeigt zum Verschlag.)

Melchior: Sind Sie der Vater dieses Kindes?

Josef: Ich sorge für das Kind. Da wird es wohl so sein.

Melchior: Sie vertreten also als Diener die Stelle des Vaters?

Josef: Von welchem Vater soll ich der Diener sein?

Kaspar: König Herodes. Wir waren bei ihm. Er wusste aber nichts von einem Kind. Schon gar nicht von einem neugeborenen König. Sagte, wir sollten fleißig weiterforschen nach dem Kindlein.

Josef: Herodes? Das klingt nicht gut. Von dem ist nur Elend zu erwarten. Und es soll unser Kind sein, nach dem er sucht?

Melchior: Der Stern beweist es.

Josef: Der Stern? Steht schon eine Weile hier. Seit das Kind geboren wurde.

Balthasar: Es ist der Stern Gottes.

Josef: Er hilft mir bei der Arbeit. Damit das Kind nicht friert.

Balthasar: Es ist ein besonderer Stern. Er scheint nur, wenn der Christus geboren wird.

Josef: Das hat Maria auch gesagt. Als das Kind zur Welt kam und der Stern so hell durchs Dach leuchtete.

133

Melchior: Dann ist es wahr, was in den Büchern steht.

Kaspar: Obwohl da von einem König die Rede ist.

Balthasar: Herr Zimmermann, wir möchten das Kind anbeten.

Josef: Anbeten?

Balthasar: Anbeten heißt: Gott schauen.

Josef: Davon verstehe ich nicht viel. Ich arbeite mit meinen Händen.

Manchmal hat es einen Sinn. So wie jetzt. Dann danke ich Gott. Manchmal auch nicht. Wenn es eure Arbeit ist, Gott zu schauen, tretet ein.

Kaspar: Es fehlt der Eingang. (Josef löst einige Bretter.)

Josef: Den habe ich vernagelt, damit dem Kind nichts geschieht.

Herodes ist überall.

Balthasar: Er will auch kommen und das Kind anbeten.

Josef: Heilige Einfalt. Töten wird er es. Oben in Galiläa, wo ich herstamme, treten von Zeit zu Zeit Könige auf. Keiner hat je die Krone getragen. Der Beste wird es vielleicht bis zur Dornenkrone bringen. Je unschuldiger einer ist, desto schlimmer ergeht es ihm. Herodes fürchtet die Kinder.

Balthasar: Dann wäre es wohl besser, wenn wir ihm keine Nachricht geben?

Josef: Das einzig Richtige. Dem Kind zuliebe. Es muss erst groß werden, versteht ihr?

Balthasar: Wir werden es segnen und ihm unsere Geschenke überreichen. (Die Weisen gehen in den Verschlag. Josef verschließt den Eingang. Hockt sich auf die Erde.)

Josef: Wir kleinen Leute verstehen uns auch ohne große Worte. So hüten wir manchmal ein Geheimnis. Aber wehe, wenn es an die große Glocke gehängt wird. Das können ganz harmlose Gelehrte tun. (Er schläft ein. Schmutzig rotes Licht fällt auf den Verschlag. Josef erwacht, springt auf.) Krieg! Der Krieg gegen die Kinder. (Er reißt den Verschlag auf.) Wir müssen auf die Flucht. (Die Weisen treten heraus.)

Balthasar: Wir haben Gott geschaut und ihn angebetet.

Melchior: Wie es in den Büchern steht.

Kaspar: Es war eigenartigerweise Frieden um das Kind.

Joseph: Hier draußen tobt bereits der Krieg. Herodes! Er wird keinen verschonen. (Die Weisen nehmen die Veränderung wahr.)

Melchior: Der Stern. Es ist der Mars.

Balthasar: Der Gott des Krieges.

Kaspar: Ich habe es geahnt: Weihnachtsstern – Todesstern.

Melchior: In den Büchern steht: Er wird Frieden schaffen. (Die Weisen ab. Josef reißt die Bretter vom Verschlag, lädt sie sich auf. Beim Abge134

hen.)

Josef: Die Weisen kennen die Welt nicht. Leben zurückgezogen im Morgenland. Aber wir kleinen Leute befinden uns von unserer ersten bis zur letzten Stunde auf der Flucht.

Noch ein Liedvers, dann war Warner persönlich gefragt. Er brauchte sich zu keiner Abrechnung aufzuraffen, Weihnachten rechnete selbst ab: „Was wird in den letzten Tagen sein? Werden sie in ein ‚dies irae‘, dem Tag des Zornes Gottes, münden? Werden sich all die Befürchtungen, die uns bedrücken, bewahrheiten? Wer meint, dass sich die Erde ihrem Ende entgegen dreht, hat viele Argumente für sich: die Meinung von Wissenschaftlern, die Meinung von Militärs und Politikern. Eines aber kann er nicht für sich beanspruchen, den Glauben. Gemeint ist nicht jener, bei dem es um trügerische Hoffnungen geht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Es geht um den Glauben, dass Gott in dieser Welt und an seinen Menschen handelt, auch wenn die Mächte der Finsternis uns ihre Allmacht vorgaukeln.

In den letzten Tagen werden die Völker herzulaufen; all jene, die unterdrückt sind, all jene, die man verhungern lässt. Die Verdammten dieser Erde werden zu Gott kommen, weil er ihre Sache vertritt. ‚Er wird unter großen Völkern richten und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen.‘ Denn die großen Völker sind es, die mit Gewalt den großen Rest der Menschheit niederhalten. Gott wird sie richten, wie er durch die Zeiten die Gewaltigen vom Thron gestoßen hat, auch und gerade, wenn sie bis an die Zähne bewaffnet waren. Das Gericht entwaffnet sie zugunsten der unterdrückten Völker. Die Schwerter werden zu Pflugscharen werden und die Spieße zu Sicheln. Endlich kann in Frieden gesät und geerntet werden, denn dazu braucht man Frieden, nicht Militär.

Es ist einer der größten Irrtümer, dass das Militär jemals jemanden satt gemacht hat.

Unsere Spenden ‚Brot für die Welt‘ gehen bezeichnenderweise zuerst in Gegenden, in denen Krieg herrscht. Der Frieden, den Gott in dieser Welt stiftet, ist unbewaffnet. Nur dadurch entsteht Vertrauen.

Ein Friede, der bewaffnet sein muss, setzt den nächsten Krieg voraus, weil schon im Frieden der Krieg geübt wird, vom Kindergarten angefangen bis hin zum Feierabendheim. Erst wenn nicht mehr die Bedrohung zur Rechtfertigung aller Verteidigungsformen herangezogen wird, ist die Vorbedingung für das Reich Gottes geschaffen, werden die letzten Tage keine des Schreckens und Zornes werden.

Dann wird jeder unter seinem Feigenbaum wohnen. Das ist kein 135

Bild für ausgebreitete Idylle. Ein jeder wird das vermögen, weil er keine Furcht mehr zu haben braucht. Eine Welt ohne Furcht wäre das größte Geschenk, welches wir uns bereiten können. Aber, so meinen die Realisten, da hätten wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Mächtigen benötigen gerade die Furcht, um die Völker niederzuhalten. Womit wir wieder beim Anfang wären. Oder sollte man sagen: Hier hat sich der Teufelskreis geschlossen?

Ein Ausweg ergibt sich nur, wenn wir auf das Wort Gottes hören. Es ist uns gesagt, was in den letzten Tagen geschehen wird. Aber wann wird das sein? Wo fängt der Frieden an? Er hat schon begonnen, der letzte Tag mit seinem Frieden, längst begonnen. Mit jenem Kind in der Krippe, zu dem wir uns heute begeben. Der Evangelist Lukas hat die tiefe Wahrheit der Botschaft Gottes erfasst, wenn er die Weihnachtsgeschichte mit den Worten beginnt: ‚Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.‘ Ein Mächtiger, der Mächtigste zu damaliger Zeit, befiehlt und alle gehorchen. Das ist die ‚pax romana‘, der damalige römische Frieden, dem es nach 200 Jahren Krieg gelungen war, die Welt so zu befrieden, dass sich alle widerstandslos zählen ließen. Die römischen Adler standen von dem kälteklirrenden Germanien bis hin zum glutheißen Ägypten.

Es herrschte ein Frieden in Waffen.

Und dann geschieht im entlegenen Bethlehem der Anfang der letzten Tage. Ein Kind wird geboren, in einen Stall abgeschoben und notdürftig untergebracht. Mit diesem Kind wird Gott seinen Frieden schaffen, bis in unsere dunkle Zeit.

Die es zuerst erfahren, sind Hirten. Ihnen wird kein Befehl übermittelt. Gott ruft ihnen zu: ‚Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.‘ Mit diesem Ruf werden die Schwerter zu Pflugscharen.

Ab jetzt kann jeder unter seinem Feigenbaum sitzen. Weil nämlich das andere am Anfang steht: ‚Fürchtet euch nicht.‘ Das ist der Jubelruf zu Weihnachten. Wenn Gott in unsere Geschichte eintritt, ist die Macht der Mächtigen schon im Schwinden, haben die letzten Tage begonnen. Nicht die letzten Tage der Menschheit, sondern die Tage, da der Mensch in Frieden sein Brot essen kann. Amen.“ Nach dem Gottesdienst ging Warner lediglich in seine Wohnung, um sich warm anzuziehen. Dann legte er die 500 Meter zurück, die es bis zur Neiße waren. Als Wegführer dienten ihm die Häuser von Kößlitz und Wendisch-Ossig, die ehemals zur Gemeinde gehört hatten.

Warner stand am Fluss und schickte sein Weihnachtsgebet nach Polen. Der Teufel hatte nämlich auf die Darstellung und seine Predigt 136

bereits geantwortet. Am 13. Dezember war über Polen das Kriegsrecht verhängt worden.

Wintereinbruch Warner nahm sich wiederum vor, mit Schwung ins neue Jahr zu starten.

Als Ziel hatte er sich Prora gesetzt. Er lieh sich bei einer größeren Gemeinde eines der kleinen Autos. Ihm stand ein solches nicht zu. Mit allen anderen schleppte er sich durch die Lausitz. Erst ab Cottbus begann eine Autobahn mit Rumpelplatten. An einer Brücke auf Lübbenau zu stand die einzige Werbung: „Plaste und Elaste aus Schkopau“.

Auf der Autobahn ging die Fahrt schneller. Jetzt begann das „Büffelrennen“. Nicht nur, dass die LKWs einen Verdrängungswettbewerb begannen. Sie fuhren ebenso um die 90 Stundenkilometer. Gleiches traf auf den „Trabant“ zu. Wenn man diesen bis zur Erschöpfung gequält und einen LKW überholt hatte, setzte der bald wieder zum Sprung an.

Auf dem Berliner Ring bekam man eine Vorstellung davon, was eine Straße sein könnte.

Mit Verlassen des Rings verlor sich plötzlich der Verkehr. Abfahrten mit malerischen Namen tauchten auf. In Finowfurt setzte Schneefall ein, der Schnee rieselte nicht leise und sacht, sondern tat, was in „Schneefall“ steckte und wohl auch in den Wolken. Kaum Sicht, verschwundene Straße, Erfühlen des Untergrunds. Durch Prenzlau war es bereits eine Schlitterpartie. Auf Pasewalk zu, schon in Vorpommern gelegen, jagte der Schnee auch von der Seite heran. In Anklam hielt Warner. Bis über die Knöchel reichte die weiße Pracht. Warner ging ins Lilienthal-Museum, um sich von dem kühnen Flugpionier Trost für den weiteren „Blindflug“ zu holen. Aber eben der war ja auch abgestürzt, was für Warner Straßengraben hieß. In der Dunkelheit kämpfte er sich bis Stralsund durch. Die Brücke nach Rügen war gesperrt, jenseits derselben ging nichts mehr.

Nun hieß es, ein Hotel zu finden. Wenn man Glück hatte, kam man in einer Kaschemme unter. Denn echte Hotels waren wegen spärlicher touristischer Attraktionen und fehlenden Wettbewerbs rar. Doch Warner hatte Glück, das Wetter kam ihm entgegen. Ein Schrank, ein Tischchen, ein Bett. Herz, was willst du mehr. Die Toilette befand sich im 137

Erdgeschoss, geduscht wurde hier nicht.

Warner besaß keinen Hang zum Alkohol, er hinderte ihn schlichtweg am Denken. Jetzt saß er in der rauchigen Kneipe und dachte wehmütig an seine heimische Folkloregruppe. Er trank Bier und „Köm“, was auf Deutsch „Kümmel“ heißt. Der öffnete den Magen und Warner verspürte Hunger. Der Wirt der Konsumgaststätte teilte ihm mit, dass seine Gäste nur trinken würden. Essen könnten sie Zuhause. Der Blick in die Runde bestätigte das, aber dass einer der Kunden zu Hause noch essen würde, war zu bezweifeln. Die nötige Bettschwere ließ Warner schließlich zu seinem „Kabuff “ hochsteigen. Er war mit sich zufrieden, unter erschwerten Bedingungen bis nach Stralsund gelangt zu sein. Er nahm sich Matthias Claudius vor, brachte aber nur noch zustande: „Verschon uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.“ Georg Warner liebte seine Deutsch-Ossiger Glocken. Sie läuteten ihm den Tag ein. Wie er herausfand, waren auf die alten Glocken sinnreiche Aufschriften geprägt gewesen, „Vivos voco, mortuus plango, fulgura frango“ (Die Lebenden rufe ich, die Toten beklage ich, die Blitze breche ich), „O Rex Gloriae, veni cum pace“ (Oh König der Ehren, komm mit Frieden) und „Maria beroth“ (Maria, berate uns). Doch die Glocken waren im Ersten Weltkrieg dem Vaterland „geopfert“ worden und hatten als Sprengringe zum Verschießen und Explodieren von Granaten gedient. Das Edelmetall hätte er keineswegs wiederhaben wollen. Aber Krupp hatte dann längere Zeit nichts Ordentliches mehr zu tun. So verschickte er deutschlandweit Stahlglocken, um sein christliches Gewissen zu beruhigen. Die Deutsch-Ossiger trugen das Markenzeichen „Bochum“.

Der Klang war klarer und schärfer, aber nicht unmelodisch. Er weckte aus dem Schlaf. Jetzt schlief Warner, und es kam ihm ein Traum ein, den er am nächsten Morgen mit Schiller Gestalt annehmen lassen würde.

Was es mit der „leergebrannten Stätte“ auf sich hatte, konnte ihm nicht einmal im Traum begegnen. Aber er würde das noch erleben.

Geweckt hatte ihn kein Glockenklang, auch kein altehrwürdiger. Um acht Uhr war es noch stockfinster. Der Hunger hatte ihn wach werden lassen. Draußen fiel der Schnee. Er ging zu einem Bäckerladen und verzehrte eine trockene Semmel. Als es neun Uhr wurde und sich die Jalousie vor der Eingangstür des Konsums hob, erwarb er übersüße 138

Marmelade, sauren Käse, hier „Rügener Badejunge“ genannt, und eine Flasche Milch. Kaffee gab es nur ungemahlen, „Rondo“ etwa, und den gemahlenen lehnte er ab, „HoMo-Kaffee“, „Honeckers Mocca“. Nach dem reichhaltigen Frühstück gab er sich Schiller hin, die „Glocke“ hatte er im Kopf. Er ergänzte den Text um einige lateinische Sequenzen: „Was in des Dammes tiefer Grube Die Hand mit Feuers Hilfe baut, Hoch auf des Turmes Glockenstube, Da wird es von uns zeugen laut.

Vivos voco.

Mortus plango.

Fulgura frango.

Hört ihr’s wimmern hoch vom Turm!

Das ist Sturm!

Rot wie Blut Ist der Himmel, Das ist nicht des Tages Glut!

Dies irae, dies illa, Solvet saeclum in favilla, Quando judex est venturus.

Leergebrannt Ist die Stätte, Wilder Stürme rauhes Bette; In den öden Fensterhöhlen Wohnt das Grauen.

Dies irae, dies illa, Calamitatis et miseriae, Dies magna et amara valde.

Nun zerbrecht mir das Gebäude, Seine Absicht hat’s erfüllt.

Wenn die Glock’ soll auferstehen, Muss die Form in Stücken gehen.“ 139

Es klopfte. Kaum anzunehmen, dass es hier ein Zimmermädchen gab, das etwas zu tun gehabt hätte. So rief Warner etwas irritiert: „Herein.“ Wer erschien, war Mephistopheles. Er setzte sich an das Tischchen, das gerade so Warners Notizblock Platz geboten hatte, und legte ein Buch vor sich hin. Man soll sich nicht wundern, denn Mephistopheles grüßte selten, sondern kam gleich zur Sache. Er trug Warner vor: „‚Schweigend exerzierten die Riesen. Nur die Trommeln verkündeten die Befehle und Strafen des Königs.

Schweigend schrieben die Sekretäre in der Rechenkammer, den Amtsstuben, Fabrikkontoren, Handelsfaktoreien. Der König duldete kein Flüstern, kein Lachen, kein Fragen. Seine Aufpasser gingen umher. Hatte er die Herzen seiner Untertanen nicht für ‚Den König von Preußen‘ zu gewinnen vermocht, so wollte er doch ihre Zeit für ihn, jede Stunde.

Alles in Preußen schwieg und arbeitete, arbeitete und schwieg. Und keiner sah ein Ende oder fand eine Hoffnung, und jeder kannte nur den Hass gegen den Quäler.

Sie waren wie die Ruderer einer Galeere, die festgeschmiedet und von Geißeln bedroht sind. Preußen war eine Galeere geworden.‘“ Mephistopheles unterbrach die Lesung, um Erläuterungen zu geben: „Mein lieber Georg, hier hast du eine komplette Zusammenfassung von dem, worum es geht: einen despotischen Herrscher, die schreibende Zunft, welche an sich auf das Wort zu verzichten hat, kein Mucks ist zu hören, rund um die Uhr hat der Kopf unten zu sein. Ebenso lange sind die Spitzel unterwegs. Und schließlich sind drohend wie bedroht die Soldaten unterwegs. Immerhin wird in das Schweigen hineingetrommelt. Kein Ende, keine Hoffnung, aber wenigstens Hass. Sogar der Titel für dein Stück wird mitgeliefert, ‚König von Preußen‘, der Kettenschmied und Geißler.“ Warner erwiderte, dass er nicht vorhabe, über Preußen zu schreiben.

Jetzt verkniff sich Mephistopheles die Anrede „mein lieber Georg“. Bestimmt sagte er: „Dieses Preußen ist der DDR zum Verwechseln ähnlich.

Deshalb wird ‚Unter den Linden‘ das Standbild des Alten Fritz wieder aufgestellt. Und der reitet sinnigerweise gen Westen. Welch versöhnende Heimholung und pralle Geschichte, Luther, nun der Alte Fritz. Die aufgeklärten unter den Genossen dürften Ulbricht grollen, weil er das Schloss wegsprengen und an der Stelle einen asbestverseuchten ‚Palast der Republik‘ errichten ließ.“ Warner wollte sich jetzt, eher halbherzig, auf die Empfehlung einlassen. So fragte er nach dem Autor. Mephistopheles hob das Buch. War140

ner las den Namen, Jochen Klepper, und den nach der Darlegung von Mephistopheles verwirrenden Titel „Der Vater“. Hinzu kam, dass er von Klepper ganz andere Vorstellungen hatte. Er hatte „Unter dem Schatten deiner Flügel“ gelesen, Autobiografisches bis hin zu dem Ausweg der Selbsttötung, da seine jüdische Frau und deren von Klepper angenommene Tochter 1942 nicht mehr aus Deutschland herauskamen, sondern ein anderer Weg für sie vorgesehen war. Alles schien sich in seinem Adventslied „Die Nacht ist vorgedrungen“ auszusprechen, das Warner gern singen ließ, meist verbunden mit Bonhoeffers „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“.

Klepper war mit dem Machtantritt der Nazis als Schriftsteller wegen der „Rassenschande“ sofort ins zweite Glied gerückt. Dann schrieb er den „Vater“, als Vater seiner Landeskinder gemeint, ein nicht allzu versteckter Gegenentwurf zu Hitler. Das hätte man auf die Bühne bringen können. Aber Mephistopheles hatte den Despoten gewählt.

Nun, der Roman erschien, zumal er biblisch untersetzt war. Im Gegensatz zum Dritten Reich hatte sich die DDR noch nicht zur Veröffentlichung entschließen können. Deshalb hatte ihn Warner auch nicht zur Kenntnis nehmen können, denn er besaß keine literarischen Kontakte zum Westen, um an den „Vater“ zu kommen. Er mutmaßte zu Recht, dass in der dortigen Wohlstandsgesellschaft seine Ideen befremdlich wirken dürften. Er wurde darin, was ich bestätigen kann, bis ins Alter bestärkt.

Mephistopheles zögerte ein wenig, ob er Georg Warner die Hauptfigur präsentieren sollte. Es war besser, dass er selbst darauf kam, zumal der emotionale Schub hinsichtlich des Themas noch fehlte. Dann meinte er, einfach lesen zu sollen, denn mit dem Zitat hätte sich der Schriftsteller Warner noch herumzuschlagen. Er blätterte weit nach vorn. Dort musste sich der Anfang für die letztendliche Galeere Preußen finden.

Warner bekam zu hören: „‚Schritte knirschten. Leder ächzte. Griffe schlugen. Trommeln wirbelten: immer vollendeter wurden Strenge und Stille des Dienstes, immer sicherer und ebenmäßiger die Übung des Waffenhandwerks. Das Feuer der langen, der gewaltigen Front, der liegenden, knienden und stehenden Reihen, war ein Blitz, ein Knall. Es war nicht mehr heraus zu spüren, wer fremd und neu war in des Königs Regiment. Der Stock der Korporale hatte alle gleichgerichtet. Gleichschritt! Gleichschritt!

Rasches Feuern! Geschwindes Laden! Geschlossen anschlagen! Wohl antreten! Wohl ins Feuer sehen! Alles in tiefer Stille! Die Gleichheit war vollkommen geworden.

141

Nur einmal spürte der König einen Blick voll so tödlichen Hasses auf sich gerichtet, dass er im Abschreiten der Reihen stehen blieb und zu dem Grenadier hintrat. Der stand unbewegt und hielt das Gewehr, genau wie die anderen. Die Hände waren ihm vom Stock des Korporals zerschlagen, hatten zerfetzte Haut und blaugrüne Flecken von stockendem Blut. Der König, der auch hier nach Namen, Kost und Löhnung fragen wollte schwieg. Doch den Namen wollte er dann wissen. ‚Andreas Bleuset.‘ Der König fragte anders als sonst: ‚Was fehlt ihm?‘ ‚Die Freiheit.‘ Der König, nicht ohne Unwillen, bemerkte: ‚Man hat ihm wohl erzählt, dass ich über kecke Antworten meiner Grenadiere nicht gar so streng urteile?‘ Polterhansens Bruder senkte den Blick auf seine zerschundenen Hände, sah abermals voll Hasses auf den König und sprach deutlich, dass alle ihn hörten: ‚Nein, Majestät, aber man hat mich darauf hingewiesen, dass Eure Majestät die Wahrheit wissen wollen.‘ Der König schritt noch nicht weiter. Er sagte wider alles Erwarten: ‚Auch ich bin nicht frei.‘ Der neue Grenadier ließ von dem Herrn nicht ab, denn er sah sehr wohl, dass König Friedrich Wilhelms Augen seine Wunden an den Fingerknöcheln suchten. Er gab dem König nochmals vermessene Antwort. ‚Sie werden nicht misshandelt, Majestät.‘ ‚Auf eine gewisse Weise doch –‘ Damit wandte sich der König ab. Wenn Nöte und Bedrängung einen Höhepunkt erreichen, vermag der Mensch nur an sich selbst zu denken oder er lügt. So warf der König sich vor.

Den Korporalen und Grenadieren stockte der Atem.‘“ Mephistopheles reichte das Buch hinüber. Dann ging er. Warner blickte aus dem Fenster. Alsbald hatte der Schneefall Mephistopheles verschluckt.

In der Nacht vom 18. zum 19. Januar setzte Tauwetter ein. Als es Tag wurde, zäh, der Himmel weinte sich auf die Erde aus, startete Warner sein Gefährt. Vor dem Rügendamm staute sich eine lange Kolonne, sodass er erst gegen 10 Uhr hinübergelangte. Dann ging es stockend vorwärts. Der Seewind hatte meterhohe Schneewehen aufgetürmt, die eben erst weggeschoben wurden. Zu Mittag war er in Bergen. Dann galt es, den Jasmunder Bodden zu umfahren. Da es Sonntag war, hatte niemand rechte Lust, die Straßen freizuräumen. Man blieb zu Hause, sodass Warner durch eine menschenleere Gegend schlingerte. Und dann wurde es 142

noch leerer. Es ging bereits auf 16 Uhr zu, als er Prora erreichte. Keine Besuchszeit mehr.

Warner gelangte bis zu einem Eingangsportal aus Gitterstäben. Merkwürdigerweise war es unbewacht. Aber die Wache sollte sich noch zeigen. Denn an einem Graben herrschte Bewegung. Es konnte sich um einen tiefliegenden Schützengraben handeln oder auch um einen Abwasserkanal. Jedenfalls sah Warner, dass Schlamm hinaufgeworfen wurde. Er versuchte das zu deuten.

Die dort im Schlamm schaufelten, in auffälliger Geschwindigkeit, waren kaum noch als menschliche Wesen erkennbar. Aber sie trugen Uniform. Schärfte man den Blick, waren doch noch Spaten als Schulterzeichen erkennbar. Warner rüttelte am Tor, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ein Unteroffizier mit zwei Soldaten im Gefolge erschien.

Er fragte nach dem Begehr. Warner sagte, dass er einen langen Weg auf sich genommen habe, aus der Oberlausitz, um ein Pfarrkind zu besuchen, das hier seinen Dienst ableiste.

Der Unteroffizier war sofort hellhörig geworden. Er schickte die Soldaten weg. Er ließ sich bestätigen, dass Warner ein Pfarrer sei. Dann blickte er sich um und raunte: „Ich bin getauft und konfirmiert. Meine Großeltern waren fromme Leute.“ Fragte sich, wie er in die Uniform eines Unteroffiziers gelangt war. Er seufzte und antwortete: „Es ging alles sehr schnell, erst ein Kind, dann gleich noch eines. Wir brauchten Geld.

Ich habe mich aber mit der Söldnermentalität abgefunden.“ Blöd war der Unteroffizier nicht, verschlagen war er. So fasste Warner nach: „Es handelt sich dort im Graben wohl um eine Strafmaßnahme?“ Der Unteroffizier bestätigte es. Dazu sagte er: „Die Adventisten sind ständig dran, wegen ihrer Arbeitsverweigerung am Sabbat. Denen müssten inzwischen Schwimmhäute zwischen den Fingern gewachsen sein. ‚Da musst du durch, mein Lurch, um Frosch zu werden.‘“ Den Witz belachte er sonst, da ihn aber der Pfarrer nicht verstehen wollte, hüstelte er lediglich.

Nun sollte es um die anderen gehen, die keine Adventisten waren.

Der Unteroffizier raunte, dass sie gesungen hätten. Er habe den Text gerade noch rechtzeitig an sich bringen können, so könne er ihn auch wiedergeben: „O König von Preußen, Du großer Potentat, Wie sind wir deines Dienstes so überdrüssig satt.

Was fangen wir jetzt an in diesem Jammertal, Allwo ist nichts zu finden als Not und lauter Qual.“ 143

Warner fragte nach dem Bausoldaten Hildebrand. Der Unteroffizier war erstaunt und sagte: „Er schaufelt da vor Ihnen. Haben Sie ihn nicht erkannt? Er hat auch gesungen.“ Warner nahm die Szene jetzt anders wahr. Ein schmucker Leutnant ging in Winterkleidung auf und ab, im Rhythmus der Schuftenden schlug er mit einer Gerte an die Stiefel. Am Grabenrand standen vier ihm hörige Soldaten, die Maschinenpistolen in den Graben gerichtet. Warner kamen analog andere Bilder ein.

Der Leutnant war aufmerksam geworden. Er kam an das Tor, um zu erfahren, was es gebe. Der Unteroffizier raffte seinen Mut zusammen und sagte zum Leutnant, dass ein Mann der Kirche entsprechend der Akte von Helsinki die Garnison von Prora inspiziere.

Sofort wurden alle aus dem Schlamm befreit. Der Weg zur Kaserne war vorgeschrieben. Hilde wagte sich aber noch bis ans Tor. Da stand einer vor Warner, der sich rühmen konnte, Schichten über drei Tage am Stück durchzuhalten, ohne schlafen zu müssen. Jetzt war zu sehen, dass die Seele am Körper fraß.

Hilde rang sich ein müdes Lächeln ab, das aber unter dem schmutzverkrusteten Gesicht noch zu erkennen war. Er reichte seinem Freund Georg beide Hände durch die Gitterstäbe. Über die gesprungenen Lippen rann Rilke: „Nächtens will ich mit dem Engel reden, ob er meine Augen anerkennt.

Wenn er plötzlich fragte: Schaust du Eden?

Und ich müsste sagen: Eden brennt Meinen Mund will ich zu ihm erheben, hart wie einer, welcher nicht begehrt.

Und der Engel spräche: Ahnst du Leben?

Und ich müsste sagen: Leben zehrt Wenn er jene Freude in mir fände, die in seinem Geiste ewig wird – und er hübe sie in seine Hände, und ich müsste sagen: Freude irrt“ Hilde drehte sich abrupt um und folgte dem Kommando, das sich dahinschleppte. Warner startete den „Trabant“. Erst jetzt bemerkte er auf der Rückbank die Flasche „Rosenthaler Kadarka“, die er Hilde hatte schenken wollen. „Ist ja Teufelszeug“, bemühte er zur Entschuldigung.

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Das „Teufelszeug“ trank er dann in seiner Kaschemme in Stralsund.

Es bekam ihm nicht, denn er zählte im Geiste die Knöchelchen an Tofanas Händen. Bald war ihm fleischlich zumute, denn Tofanas Knochen waren auch wohlgestaltet überzogen. Warner leckte sich die Lippen, die Haut von Tofana schien Zuckerguss gleich.

Er ging in die verräucherte Kneipe hinunter. Kaffee gab es hier keineswegs und zu dieser Stunde erst recht nicht. So bestellte er sich „Mocca Edel“, einen Likör, den Hilde so sehr geliebt hatte, um seine Zuckerreserven aufzufüllen. Dabei hatte er einmal im Hagenwerderer Bahnhof mengenmäßig den Rekord gebrochen. „Übel, das Gesöff ist übel“, stellte Warner fest. Auch nach dem dritten Glas wurde es nicht besser, wie etwa beim Fusel, es fehlten die notwendigen Prozente.

Warner stieg wieder hinauf in seine „Herberge“. Zum „Rosenthaler Kadarka“ schielte er nur hin. Er nahm das Buch zur Hand. Mephistopheles hatte freundlicherweise Zettel eingelegt, wo er zitiert hatte. So las Warner jetzt die bedeutende Bemerkung, dass dem Grenadier Bleuset die Freiheit fehlte. Der Notizblock lag bereit, der Stift war gezückt. Warner ließ den König antworten und entwickelte den Dialog mit Bleuset: Der König: Weiß er nicht, was in Preußen die Freiheit ist? Ich werde es ihm biblisch sagen, da die Kerls offenbar Glaube und Freiheit als eins ansehen: Tut Ehre jedermann, habt die Brüder lieb, fürchtet Gott, ehret den König.

Andreas Bleuset: Wie kann einer seine Ketten lieben?

Der König: Er versteht mich nicht oder will mich nicht verstehen.

Deshalb erklär’ ich’s ihm noch einmal. Er soll seinen König nicht lieben, sondern ehren. Wenn sein König darauf angewiesen wäre, dass ihn jeder liebt, könnte er noch heute seinen Thron verlassen. Aber Ehre, die muss er von seinen Untertanen fordern. Der König von Preußen tut für seine Untertanen das Beste, auch wenn es ihnen nicht einsichtig ist.

Dafür kann er Ehre verlangen. Und bei ihm lautet die Forderung, dass er seinen König verteidigt.

Andreas Bleuset: Auf Kosten der Freiheit?

Der König: Auch der König ist nicht frei. Er möchte vielleicht ihn, Bleuset, nach Hause schicken. Auch der König von Preußen sehnt sich nach nichts anderem als nach Frieden. Und er weiß sogar, wie dieser aussehen könnte. Doch dann blickt er auf die Landkarte und muss einsehen, dass es nicht geht, dass Bleuset Soldat sein muss. Beide sind nicht frei, weder der Soldat noch der König. Aber eines können sie, einander ehren.

145

Damit war der Konflikt angelegt. Warner hatte nicht das Gefühl, sich beglückwünschen zu müssen. Für das Stück lag noch viel Konfliktpotential auf dem Weg. Jetzt sollte sich dieser lange Tag erst einmal in die Vergangenheit einreihen. Der hatte das keineswegs vor, sondern würde eine Reihe weiterer Tage aneinanderreihen, sodass sich Warner noch wundern sollte.

Kleine und große Herzen Warner beobachtete die Entwicklung in Sachen Sozialer Friedensdienst sehr aufmerksam, beteiligte sich aber selbst nicht, denn seinen ganz eigenen Beitrag wollte er noch in den Ring werfen, vermutlich posthum, aber dann länger während. Zu Ostern würde es keine fröhliche Auferstehung geben, sondern die Sache würde ein für allemal erledigt sein. Es schaukelte sich alles weiter hoch.

Nicht mehr die Pflugscharen schmiedenden Jugendlichen waren jetzt tonangebend, sondern diejenigen, die ihre Einberufung zu fürchten hatten. Die „Kirche von unten“ mit ihren Pfarrern machte mobil, unterstützt von Unbotmäßigen, die aus bestimmten Gründen nicht eingezogen worden waren, wie es auch bei Warner der Fall war. Schließlich war der Soziale Friedensdienst zu einer Reservistenbewegung geworden.

Wenigstens ein halbes Jahr lang war nach der Armeezeit noch einmal zu dienen, Reserveübungen standen an und manch Missliebiger musste sich ständig dabei einfinden, in besonderem Maße schikaniert.

Warner war nicht nach Dresden gefahren, wo eine Veranstaltung stattfand, die in der Diskussion nicht mehr steuerbar gewesen war und schließlich aus dem Ruder lief. Er ließ sich aber von einem Kollegen ausführlich berichten. Es ging darum, ob der Bekenntnisstand erreicht sei. Eine Frage, die sich auch die Bekennende Kirche im Dritten Reich gestellt hatte und mit „Ja“ beantwortete. Kirche hat ihre Existenz zu riskieren, wenn der Unterdrückung entschieden zu widersprechen ist.

Die Kirchenvertreter fanden diesmal, dass der Bekenntnisstand nicht erreicht wäre. Das sahen die Protestierenden ganz anders.

Warner begab sich mit Jochen Klepper in die Schenke von Hans Bleuset, Polterhansen genannt. Der war mit sich im Reinen: „‚Wirt Bleuset stand hinter dem Schanktisch. Die Vögel in den blan146

ken Bauern bei den Kräuterbündeln zwitscherten und hüpften, alles Zinnwerk war mit Eisenkraut geputzt, es war sauber und hübsch um den Wirt.

Vor dem Schanktisch lärmten die Zecher, und um die Bänke war Unrat und Wust.

Städte entstanden, Heere wuchsen, künftige Könige reiften heran – in Bleusets Schenke änderte sich nichts mehr. ‚Alles ist, wie es war, als du das letztemal hier weiltest, Bruderherz!‘ Der Bruder war da, der Allotriatreiber, der Faxenmacher, Erzschelm und herrliche Sänger, Polterhansens Bruderwaise, die er zur Knabenzeit bemutterte, ein mächtiger Kerl! Er war wieder heimlich gekommen!

Singt, meine Vögel! Blitzt, meine Kannen! Lärmt, sauft und würfelt, meine Zecher, lachte Polterhansens Herz. Und denkt nicht daran, dass König Friedrich Wilhelms Werber und Hurenbolde nächtens durch die Gassen streifen und das Bruderherz zu schnappen suchen. Eben waren sie hier, nun ist eine Weile Ruhe.‘“ „In dieser Nacht soll sich noch alles ändern“, dachte Warner. Polterhans und seine Schenke würden die Eingangs- und Schlussszene abgeben, auch zwischendurch hatten sich die Grenadiere dort zu versammeln, um ihre Chancen zu bedenken. Jetzt galt es, das Gespräch zwischen den Brüdern zu gestalten, bis dahin, dass Andreas Bleuset gestehen muss, dass er sich vor den Werbern nicht mehr verbergen kann.

Und schon schlägt Korporal Strickreuther zu.

Georg Warner fuhr nach Görlitz. Er war überzeugt davon, dass es ohne Lieder zwischen den Szenen nicht gehen würde. Eben war ihm ein Vers eingekommen: „Wo soll ich mich hinwenden in dieser schlechten Zeit, an allen Orten und Enden ist nichts als Hass und Streit, Rekruten fanget man, so viel man haben kann, Soldat muss alles werden, sei einer Knecht oder Mann.“ In dieser Hinsicht war der „Zupfgeigenhansel“ ergiebig. Es gab in Görlitz eine Szene, in der sich Liedermacher gemäß der westlichen Friedensbewegung versuchten. Diese Art der Nachahmung war durchaus erwünscht, zumal dort verkündet wurde: „Lieber rot als tot.“ 147

Die Kneipe, wohl der von Polterhansen Bleuset nicht unähnlich, war verraucht. Auf Dauer dürfte das der Stimme nicht guttun. Die Gäste tranken Bier und Rotwein. Bei Letzterem handelte es sich um die handelsübliche Ware „Stierblut“ und „Gamza“, gekünstelt süß war „Feuertanz“. Warner hielt sich an den „Stier“, vielleicht packte jemand einen solchen bei den Hörnern.

Ob das bei der Sängerin der Fall sein sollte, die eben auf den Barhocker rutschte, wollte Warner vorab ergründen, indem er sie vor dem ersten Ton betrachtete. Sie trug eine Schüttelfrisur Marke 20er-Jahre, also war oder wollte sie emanzipiert sein.

Ihr kariertes Hemd erinnerte dagegen an die amerikanischen Folksängerinnen. Auch der geschlitzte lange Rock, der bei Bedarf ein Bein freigab, deutete in diese Richtung. Stiefelchen steckten an den Füßen.

Wer sich so weit identifizierte, dürfte durchaus etwas von Joan Baez in der Stimme haben. Die Gitarre war zwischen sie und das Publikum geschoben. Wie Warner noch feststellen sollte, war das ihr Markenzeichen. Die Gitarre stellte eine Barriere dar. Ihr Blick ging in die Runde. Er war prüfend, aufmerksam wurde jeder Gast begutachtet. Darin musste nichts Ungewöhnliches liegen, denn ein Künstler schätzte vorher ab, wie er seine Lieder zu interpretieren hatte. Jetzt rückte sie sich noch einmal zurecht, dann sang sie: „Ich hab die Nacht geträumet wohl einen schweren Traum: Es wuchs in einem Garten ein Rosmarienbaum.

Ein Kirchhof war der Garten, das Blumenbeet ein Grab, und von dem grünen Baume fiel Kron’ und Blüten ab.

Die Blüten tät ich sammeln in einen gold’nen Krug, der fiel mir aus den Händen, dass er in Stücken schlug.

Draus sah ich Perlen rinnen und Tröpflein rosenrot.

Was mag der Traum bedeuten?

– Herzliebster, bist du tot?“ Warner war höchst zufrieden. Das war es schon einmal, das erste Lied.

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Im Fortgang der Darbietung gab es nicht so viele Fragen. Es wurde gewandert, mit ein wenig Herzschmerz. Auch hochgeschürzter sollte es zugehen. Dazu gab es ein schlankes langes Bein zu sehen. Getrunken wurde auch, um das Gemüt zu heben. Zum Schluss kam noch ein bisschen Frieden vor. Der Beifall war herzlich, man mochte die Sängerin.

Warner wartete, bis an ihrem Tisch ein Platz frei wurde. Dann ging er mit seiner Flasche „Stierblut“ zu ihr, lud sie ein, was forsch war, aber anzeigte, dass er sich mit ihr unterhalten wollte. Unverfänglich fragte er, ob sie auch in Kirchen singe. Das „Ja“ kam etwas zögernd und von einem prüfenden Blick begleitet. Warner stellte sich als Pfarrer vor. Sie fragte: „Wo?“ Warner gab Auskunft: „In Deutsch-Ossig.“ Ein kurzer Ruck ging durch die Sängerin. „Dann sind Sie Georg Warner.“ Falls diese Erstbegegnung in Wittenberg auf der Collegienstraße geschehen wäre, hätte Warner sicher hinter sich „Georg – “ gehört. Sie reichte ihm die Hand und sagte: „Melitta Schierwind.“ Wäre sie blasiert gewesen, hätte sie die Kenntnis ihres Namens vorausgesetzt. Aber was für ein Vorname, noch dazu nach einer Kaffeesorte aus dem Westen.

Jetzt hielt sich Melitta nicht bei Nebensächlichkeiten auf. Sie fragte: „Was soll ich singen, was haben Sie vor?“ Warner beantwortete zuerst den zweiten Teil der Frage: „Ich gestalte literarische Programme. Für den Herbst habe ich vor, Jochen Klepper zu würdigen.“ Prompt kam es: „Den ‚Vater‘.“ Warner schaute verdutzt, denn wie sollte dieses Buch in Melittas Hände gelangt sein. Sie registrierte sofort seine Reaktion und schickte hinterher: „Ich habe in Berlin Literaturwissenschaft studiert.“ Den Ort so schnell preisgegeben zu haben, war entweder unverfroren oder naiv. Denn an der Humboldt-Universität studierten nur Linientreue und auch die Nationale Front bezog von dort ihre Pfarrer für die „Christlichen Kreise“.

Jetzt durfte Warner aber nicht zurückschrecken, sondern musste Heikles benennen: „Ich habe vor, die Entwicklung des Landesvaters Friedrich Wilhelm I. hin zum Soldatenkönig darzustellen. Dazu benötige ich Lieder, vorzugsweise aus dem ‚Zupfgeigenhansel‘, die diesen Weg unterstützen. Der schwarze Traum, von dem Sie gesungen haben, wäre hierfür schon einmal geeignet.“ Die Gitarre war zwischen ihnen. Melitta übte ein paar stumme Griffe.

Dann sagte sie entwaffnend: „Mein lieber Warner, ich sehe Ihnen an, was Sie hören wollen. Etwa dies hier.“ Sie spielte und sang: „O König von Preußen, Du großer Potentat, Wie sind wir deines Dienstes so überdrüssig satt, 149

Was fangen wir jetzt an in diesem Jammertal, Allwo ist nichts zu finden als Not und lauter Qual.“ Die Sängerin trafen recht unterschiedliche Blicke. Der Kneiper, mit einem Wischtuch vor dem Bauch, kam angeeilt. „Mal sehen, was das wird“, dachte Warner. Mit gezwungener Höflichkeit teilte der aber lediglich mit, dass sie ihren Beitrag schon zum Besten gegeben habe. Melitta Schierwind blickte ihn strafend, beinah drohend an. Der Kneiper verzog sich und sie blickte ihm nach, als wolle sie ihn aus der Schenke jagen. Dann brach sie die Szene ab, stieß mit ihrem Glas an das Warners und sagte: „Ich bin dabei.“ Man trank sich zu. Warner rüstete zum Aufbruch. Ins Plaudern wollte er keineswegs verfallen. Nächste Woche Sonnabend wäre ein guter Tag. Ja, das wäre er. Im Pfarrhaus von Deutsch-Ossig. Es sollte unbedingt ein offizielles Treffen sein.

An besagtem Sonnabend war „Bäumchen wechsel dich“ im Gange.

Nicht Melitta erschien, sondern Annalena. Die spielte zwar auch Gitarre, die sie selbstbewusst bei sich trug, beherrschte aber erst einige Dreiklänge. Sie war sehr traurig. Warner sah sofort, dass ihr auch der fünfte Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ abgenommen worden war.

Nummer sechs wollte er ihr nicht mehr geben. Dazu erklärte er, dass die Sache durch sei. Annalena bestätigte es überraschend und schob sich an ihm vorbei in den Hausflur. Dann wartete sie auf ihn, um nach oben geführt zu werden.

Im Arbeitszimmer legte sie wortlos ein Papier auf den Tisch. Warner las die Überschrift, die da lautete: „Wir können euch nicht mehr schützen“. Man hätte darüber orakeln können, welche Partisanenbewegung der Dritten Welt dies in tiefster Verzweiflung ihren Schutzbefohlenen mitteilte. Von wem war das also zugeschickt worden, Warner jedenfalls hatte es nicht erhalten. Er schaute nach dem Absender der Friedlosen.

Da stand: „Brief an die Jugendlichen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens.“ In einem entscheidenden Gespräch am 22. März 1982 habe der Staatssekretär für Kirchenfragen dem Landesbischof und dem Kirchenpräsidenten mitgeteilt: „Wegen Missbrauches dürfen diese Aufnäher in Schulen und Öffentlichkeit nicht mehr getragen werden. Es wurde behauptet, sie seien jetzt zum Zeichen einer unabhängigen Friedensbewegung geworden; diese könne nicht geduldet werden. Sie beeinträchtige die staatliche und gesellschaftliche Tätigkeit zum Schutze des Friedens; daran werde deutlich, dass in Wirklichkeit der Frieden gar nicht gewollt werde.“ Warner musste an „seinen“ Bischof denken, der nun im fernen Mar150

burg weilte. Er hätte den Staatssekretär zusammengefaltet und als Papierflieger durch den Raum schweben lassen. Und das mit donnernder Stimme. Dann wäre er gegangen, was Drohung genug gewesen wäre.

Annalena zeigte mit dem Finger auf eine Textstelle. Dort stand, was angedroht war: „Entlassung aus Hochschulen und Erweiterten Oberschulen, Versetzung von einer Polytechnischen Oberschule in eine andere, Nichtzulassung zum Abitur, Verweigerung der Lehrstelle, Schulverbot und Hinderung am Betreten des Betriebes.“ Wenn nicht die in ihrem Gewissen tief getroffene Annalena bei ihm gesessen hätte, würde der Pfarrer Georg Warner aufgelacht haben: „Der Bekenntnisstand ist nicht erreicht?“ Hintenheraus war das Erbärmliche zu lesen. Eine Entscheidung wurde suggeriert und den Jugendlichen überlassen: „Wir müssen Euch aber sagen, dass wir nicht mehr in der Lage sind, Euch vor Konsequenzen, die das Tragen des Aufnähers jetzt mit sich bringen kann, zu schützen. Deshalb bitten wir Euch, mögliche Folgen ernsthaft zu bedenken. Ihr müsst überlegen, welche Bedeutung dieser Aufnäher für Euer Friedenszeugnis hat. Unterhaltet Euch zum Beispiel darüber, welcher Stellenwert Eurem Handeln, Eurem Verhalten und Eurem Gebet zukommt und welcher dem äußeren Zeichen. Danach entscheidet, wie Ihr Euch in der Frage der Aufnäher verhalten wollt.“ Warner kam Luther ein. Was er sich dachte, stammte nicht von ihm, hätte aber von ihm sein können: „Furz, wie groß ist dein Gebauer!“ Was hieß hier „äußeres Zeichen“? Annalena hatte ihre fünf Pflugscharen nie freiwillig abgegeben. Es war stets Gewalt angewendet worden.

Einmal wurde sie von zwei Transportpolizisten im Bahnhof Görlitz auf die Fliesen geschmettert. Warner gab den Text zurück. Er würde ihn noch Jahre im Gedächtnis behalten.

Er war nicht ratlos. Sagte Annalena, dass er ihr jetzt einen guten Text schreiben werde. Sie wäre darin Hans Gottfried Tuchscherer, preußischer Grenadier und schließlich Deserteur. Erst einmal würde sie mit ihrem Freund Andreas Bleuset in der Front stehen und den König zum Narren halten. Warner gab ihr Noten, die zu Bonhoeffers Text: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag, Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ 151

Die Schwertfechterin und Pflugkarrerin Annalena benötigte eine nähere Zukunft, die des Grenadiers und Widerständlers Tuchscherer. Sie übte und Warner schrieb, wie sie dem König zu begegnen hatte: Der König: Name?

Tuchscherer: Hans Gottfried Tuchscherer.

Der König: Wann geboren?

Tuchscherer: Am 1. April.

Der König: Nur Narren erblicken an diesem Tag das Licht der Welt.

In welchem Jahr war das?

Tuchscherer: Ungefähr 1692.

Der König: Aber dass es am 1. April war, weiß er.

Tuchscherer: Meine Mutter, ein altes Kräuterweiblein, konnte sich genau erinnern. Sie fand mich auf einer Wiese voller Märzenbecher.

Der König: Hat er etwas Ordentliches gelernt?

Tuchscherer: Schießen, Majestät.

Der König: Und das findet er lustig.

Tuchscherer: Immer, wenn ich Befehle höre, muss ich lachen.

Der König: Dann befehle ich ihm zu lachen. (Tuchscherer lacht.)

Falsch. Um diesen Befehl zu verweigern, hätte er weinen müssen. Er beherrscht sein Handwerk nicht. Sei er lieber ein guter Soldat als ein toter Narr.

Warner las Annalena den Text vor, in die Hand geben würde er ihn niemandem. Annalena beherrschte nun auch ihr erstes Lied. Warner bemerkte, wie sie die Gitarre schulterte und auch sonst leicht mit ihr umging. Kein Vergleich zu der ausgebliebenen Liedermacherin. Warner begleitete Annalena auch hinunter und aus dem Haus. Sie ging beschwingt zur Bushaltestelle. Warner dachte, wie klein doch eine Frau sein und welch ein großes Herz sie haben könne.

Von der Liebe ein Lied Die Liedermacherin erschien doch noch, nicht an einem Sonnabend, sondern an einem Mittwoch nach Feierabend. Sie tat so, als sei ihr verspäteter Auftritt die einfachste Sache der Welt. Die Gitarre hatte sie be152

reits umgehangen und so Abstand hergestellt. In Warners Arbeitszimmer blickte sie sich um, allerdings nicht neugierig, sondern wieder mit ihrem prüfenden Blick. Seine selbstgebaute breite Couch interessierte sie dabei nicht. Der alte Schreibtisch zog den Blick an. Was mochte sich darin verbergen? Die Bücher erregten keine Aufmerksamkeit. Es fanden sich in den Regalen keine vom Klassenfeind. Obwohl da der komplette Böll vertreten war, handelte es sich durchweg um Made in GDR. Ja, Böll hatte durch „Katherina Blum“ die Kulturfunktionäre erfreut.

Warner besaß freilich einen kleinen „Giftschrank“ anderenorts. Darin befand sich auch „Der Vater“ und nebenbei der „Zupfgeigenhansel“, den er keinesfalls auf den Tisch legen würde. Die Literaturwissenschaftlerin musste sich schon des eigenen Forschungsmaterials bedienen.

Und eben darum schien es zu gehen, denn Melitta Schierwind entschuldigte ihr Ausbleiben am Sonnabend dadurch, dass die Untersuchung möglicher Texte mehr Zeit in Anspruch genommen habe als gedacht. Pfarrer Warners Vorhaben sollte nicht daran scheitern, dass unbedacht fragwürdige Lieder eingebaut würden. Warner hätte am liebsten schlagfertig geantwortet, dass seine Vorhaben nie scheiterten, höchstens anders interpretiert wurden.

Die Schierwind saß jetzt hinter ihrer Gitarre. Sie deutete Liedtexte.

Dazu bemerkte sie, dass ein Text durchaus reif für den Index sein könne, aber durch einen Vers in die richtige Richtung wies. Sie führte „Wo soll ich mich hinwenden“ an. Darin gäbe es eben jenen Vers, der Kritik an imperialistischen Kriegen übe. Warner dachte: „Welch offenbarungsträchtiges Attribut. Gut studiert, Frau Schierwind.“ Der war daran gelegen, den Vers zu offerieren. Die Gitarre durfte mitspielen, sie sang: „Der König hat beschlossen zu zieh’n in fremdes Land, viel’ Krieger werden erschossen, getötet durch Feindeshand.

Das ist der Kriege Lauf, Regenten steigen auf …“ Warner gab zu bedenken, dass Friedrich Wilhelm I. außer um Pommern keine Kriege geführt habe. Zu diesem Zweck wurden Armeen unterhalten, die im Frieden sündhaft teuer waren, weil das Ergebnis ausblieb.

Die Schlachten schlug dann der Alte Fritz. Hier machte Warner einen Fehler. Er sagte: „Um das Wesen des gerade herrschenden Militarismus zu verdeutlichen, dürfte nicht der ‚Vater‘ im Titel erscheinen, er müsste 153

lauten: ‚König von Preußen‘.“ Die Schierwind horchte auf.

Dann wechselte sie abrupt das Thema: „Ist Ihre Frau in Ihr nicht ungefährliches Vorhaben eingeweiht? Sie könnte sich ängstigen.“ Warner kam fast die Galle hoch und er dachte: „Mein liebes Fräulein, so eine Frau hätte ich mir niemals zugelegt. Eine solche wüsste schon vorher, warum sie nicht mit mir leben kann.“ Aber aus ihm selbst unklaren Gründen betrieb er Versteckspiel. So konstatierte er: „Ich bin nicht verheiratet, nur verlobt. Und die Verlobte wird sich und mich nicht ängstigen können, denn sie lebt in Wittenberg.“ Der Schierwind entfleuchte ein „Ach“, was einen amüsanten Unterton hatte. Melitta hatte Lockstoff ausgestreut.

Umgehend wollte sie deshalb zum Thema zurückkehren. Problematisch sei „O König von Preußen, du großer Potentat“. Es schildere das Soldatenleben, aber schon mit der zu erwartenden Konsequenz der Verweigerung und Auflehnung. Sie sang: „Und kommt das Frühjahr an, dann ist die große Hitz’, Da muss man exerzieren dass ei’m der Buckel schwitzt.

Da muss man exerzieren von Morgen bis Mittag, Und das verfluchte Leben, das währt den ganzen Tag. Vom exerzieren weg, geht’s wieder auf die Wacht, Kein Teufel tut nicht fragen ob man gefressen hat.

Kein Branntwein in der Flaschen, kein weißes Brot dabei, Ein schlechtes Tabakrauchen, das ist der Zeitvertreib.

Und kommt ein’ frisch’ Parad’, tut man ein’ falschen Schritt, So hört man es schon rufen der Kerl muss auf den Glied!

Patronentasche runter, den Säbel abgelecht, Und tapfer drauf geschmissen, bis er sich nicht mehr regt.“ Bis dahin war es Soldatenalltag gewesen. Die Schierwind senkte die Gitarre, als wolle sie nicht mehr spielen. Dann zitierte sie eben die Stelle im „Vater“, an der schon Mephistopheles eingesetzt hatte. Ihre sonst undurchdringlichen Gesichtszüge veränderten sich. Es schien, als überkomme sie tief verborgene Traurigkeit. Fast tonlos sagte sie: „Dieses Lied ist von unüberbrückbarem Hass geprägt. Alle hassen sich. Wohin das führt, liegt auf der Hand.“ Entschlossen legte sie wieder Hand an die Gitarre und sang: 154

„Ihr Herren nehmt’s nicht wunder, wenn einer desertiert, Wir werden wie die Hunde mit Schlägen strapaziert; Und bringen sie uns wieder, sie hängen uns nicht auf, Das Kriegsrecht wird gesprochen: Der Kerl muss Gassen lauf ’!

Und wenn wir Gassen laufen, so spielet man uns auf Mit Waldhorn und Trompeten, dann geht es tapfer drauf.

Da werden wir gehauen von manchem Musketier Der eine hat’s Bedauern, der and’re gönnt es mir.“ Melitta endete. Sie nickte wie zur Bestätigung. Dann sagte sie: „Das Lied erzeugt Angst. Nicht bei den Soldaten, sondern bei den Mächtigen.“ Warner fragte zurück: „Sind Sie dann auch noch dabei?“ Melitta antwortete: „Ich bin es.“ Das Lied war angenommen. Sie forderte Warner auf, den letzten Vers wiederzugeben, um seiner selbst willen, denn in gewisser Weise sei er auch so ein Soldat, der seinen Lohn nicht empfangen werde. Georg Warner tastete sich in den Text hinein, der insofern richtig war, als ich ihm im Alter fast mit dem Bettelsack behangen begegnete: „Und werden wir dann alt, wo wenden wir uns hin?

Die Gesundheit ist verloren, die Kräfte sind dahin.

Und endlich wird es heißen, ein Vogel ohne Nest!

Geh, Alter, nimm den Bettelsack, bist auch Soldat gewest!“ Melitta Schierwind wollte nicht weiterdeuten. Sie rüstete zum Aufbruch. Gitarre voran. Unten im Hausflur hielt sie plötzlich, betrachtete das Gewölbe. Schlug einige Töne an und lauschte fasziniert, wie diese durch den Raum drangen. Dann lachte sie auf. Sie schien das Thema verfehlt zu haben, denn sie empfahl Warner, Shakespeare als Vortrag zu wählen. Sie würde ihn mit Sonetten der „dark lady“ unterstützen. Sie hatte gleich eines parat und rief „Von der Liebe ein Lied“: „So hasse mich denn, wann du willst; gleich nun, Jetzt, da die Welt mich kreuzt in meinen Taten: Mit dem Verdruss des Glücks mir wehzutun, Und trifft nicht spät mich mit verspartem Schaden.

Ach komm, wenn ich entronnen diesen Dolchen, 155

Im Nachtrab schon bezwung’ner Sorgen nicht!

Lass keinen Regentag auf nächt’ge Stürme folgen, Dass ich versiech’ am vorgemischten Gift.

Willst du mich lassen, lass mich nicht zuletzt, Wenn schon die andern kleinen Schmerzen schweigen: Im Anlauf komm! Dann auf einmal versetzt Das Glück den schärfsten mir von seinen Streichen; Und Qual, die jetzt wie Qual mir scheint, entweicht, Zerschmilzt, wenn dein Verlust sich ihr vergleicht.“ Gesungen war heut viel worden. So etwas aber nicht. Melitta fragte: „Georg?“ Der antwortete: „Melitta?“ Sie nickte und entfernte sich.

Warner eilte nach oben. Er zog die linke untere Schublade des Schreibtisches auf, weit. Man konnte dabei meinen, schon bis ans Ende gelangt zu sein, aber dahinter war immer noch Platz. Von dort holte er das Manuskript „König von Preußen“ hervor. Er schrieb zwei Szenen, in denen Korporal Strickreuther die Grenadiere bis aufs Blut schindet, mit Worten und Werken. Tuchscherer verabschiedet sich schließlich, nicht, weil er den Drill nicht mehr aushält, sondern weil er bewusst entkommen will. So darf auch Annalena singen: „Hab mein’ Befehl selber unterschrieben, Mein Weg ist nicht der vom Regiment, Damit mein letzter Marsch, ihr meine Lieben, Nicht mit meinem letzten Stündlein end’.“ Nun, der Krieg steht vor der Tür. Tuchscherer, wieder eingefangen, wird der Folter unterzogen, bis er sich beispielhaft kriegsfreiwillig meldet und so Korporal Strickreuther die Möglichkeit gibt, dass auch die anderen es tun müssen.

Warner überlegte, ob er das gleich schreiben solle. Aber die Klärung der Verhältnisse hatte ihn doch erschöpft. Er hielt die Adresse von Melitta in der Hand, Langenstraße. Sie wohnte gleich im Haus neben der Redaktion der „Kirche“.

Um es kurz zu machen: Sie sangen, sie tanzten, sie warfen ihre Kleider ab, sie fanden sich beieinander und übereinander im Bett wieder.

Wäre doch Mephistopheles erschienen. Aber der hob sich seinen Auftritt auf. Ich will hier auch nicht schweigen, wobei mir vorgeworfen 156

werden könnte, die Pointe zu verderben. Es kam trotzdem alles ganz anders. Und die Schlingpflanze Melitta zog Georg tief hinab ins Wasser, ohne dass der Lutherbrunnen erreichbar war. Dann schlang sie ihm den Strick um den Hals. Ich hätte gern wiedergegeben, was mit der Gitarre geschah. Die wanderte freilich mit in das Bett. Ich hätte mir gewünscht, dass sie ein scharfes Schwert gewesen wäre, über das sich nicht so leicht hinwegrollen ließ.

Das Verhängnis Der Frühling machte sich nur zögernd bemerkbar. Dann fiel Frost in die Blüten. Der Staat hatte vernichtend zugeschlagen. Warner konnte sich erst einmal nicht tiefgreifend damit beschäftigen, denn er hatte eine schwere Beerdigung vor sich. Die erschien ihm endlos, denn ihn quälten außerdem die Ereignisse. Warner war auch immer noch der Gleiche, er brachte es nicht zur Routine, sondern starb jedes Mal mit. Dass es anders als aus seinen Predigten nichts zu zitieren gibt, liegt daran, dass Warner gleich nach der Beerdigung den Text verbrannte, damit er hinsichtlich der persönlichen Auslegung nicht in falsche Hände gelangen konnte.

Angekommen auf der Couch in seinem Arbeitszimmer, klappte er sofort nach hinten um, besaß keine Kraft mehr, um aufzustehen, und schlief umgehend ein. Ein Traum ließ ihn hochschrecken, der aber keiner war. Die Wahrheit wurde nicht unter der Hand weitergereicht, sondern stand im „Neuen Deutschland“.

Als Grund für die Ablehnung des Sozialen Friedensdienstes wurde nicht die Änderung des Wehrdienstgesetzes genannt, sondern behauptet, der Friedensdienst stelle eine Durchbrechung der Verfassung dar.

Was das für Warner persönlich bedeutete, war ihm in der ganzen Tragweite noch nicht bewusst. Das wehrdienstpflichtige Alter wurde von 26 Jahren auf 35 angehoben. Georg Warner war eben 30 geworden.

Er raffte sich auf, griff in den hintersten Teil des linken unteren Schreibtischschubs und holte das Manuskript hervor. Den Schreibtisch ließ er unbedacht offen. Dann ging es Zug um Zug. Der Böhmische Bruder und Herrnhuter Christian David war ein weiterer Protagonist seines Stückes. Er war mit seiner Bibel nach Preußen geflohen, weil dort 157

Glaubens- und Gewissensfreiheit herrschte. Eingebracht hatte es ihm den Dienst für den König von Preußen: Vierter Aufzug Die Grenadiere schleppen sich auf den Exerzierplatz. Tuchscherer fehlt.

Die Grenadiere nehmen Aufstellung. Stehen. Stützen sich aufeinander.

Strickreuther erscheint feldmarschmäßig gerüstet.

Strickreuther: Grenadier David. (David tritt vor. Strickreuther zeigt ihm einen Taler.) Wessen Bildnis trägt der Taler?

David: Das des Königs. (Strickreuther entziffert die Umschrift.)

Strickreuther: Ein guter Herr und treuer Knecht wird hier belohnt und dort gerecht. (Er steckt ihn David zu.) Bleuset. (Dieser rührt sich nicht.) Grenadier Bleuset. (Andreas Bleuset tritt vor. Strickreuther hält ihm einen Taler hin.) Hört er den Ruf des preußischen Adlers?

Andreas Bleuset: Ich höre keinen Adler schrei’n. (Strickreuther liest ihm die Kehrseite des Talers vor.)

Strickreuther: Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler. Das ist Preußen. Er darf für sein Vaterland kämpfen, da er es für seinen Landesvater nicht tun will. (Er zwingt Bleuset den Taler auf. Verteilt an die übrigen Grenadiere Geld.)

Andreas Bleuset: Wo ist Tuchscherer?

Strickreuther: Grenadier Tuchscherer ist euch mit leuchtendem Beispiel vorangegangen und hat sich kriegsfreiwillig gemeldet.

Andreas Bleuset: Das ist nicht wahr.

Strickreuther: Grenadier Tuchscherer. (Zwei Grenadiere schleppen den feldmarschmäßig gekleideten Tuchscherer herein. Werfen ihn auf die Erde. Tuchscherer bleibt regungslos liegen.)

Andreas Bleuset: Mörder! (Er will sich auf Strickreuther stürzen. Die Grenadiere halten ihn zurück.)

Strickreuther: Das nenn ich freiwillig. Brav, meine Grenadiere. (Er hält Davids Bibel in der Hand. Schlägt sie vorn auf.) ‚Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.‘ (Er reißt die Seite heraus.) Aus freiem Willen hat er es getan und erwartet einen solchen auch von Grenadier David.

(Dieser rührt sich nicht. Strickreuther tritt die Seite in den Dreck. Schlägt die Bibel am Ende auf.) ‚Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.‘ (Er reißt auch diese Seite heraus. Wartet.) Er will sie nicht sehen, dein Knecht David. (Der ‚neue Himmel und die neue Erde‘ enden unter Strickreuthers Stiefelabsatz.) Was wird von seiner Bibel bleiben, wenn ich umseitig so fortfahre?

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David: Psalm 22 – ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ Grenadier David meldet sich kriegsfreiwillig.

Strickreuther: Extrakost als Vorspeise auf das himmlische Manna.

(Er trägt Bleusets Vogelbauer herein.) Diesen Zaunkönig fing er auf der Niederschlesischen Heide. Aber die Schlesischen Kriege stehen doch noch aus. Möchte Bleuset den Zaunkönig nicht befreien? Nein? (Er schießt in das Vogelbauer.) Die Amsel ging ihm in der Mark Brandenburg ins Netz. (Er wartet.) Schade um den gelbblühenden Ginster, der sich so bitter auf dem dürftigen Sandboden ernährt. (Er schießt in das Bauer.) Und die Nachtigall weinte, in jener Mainacht von Potsdam.

Andreas Bleuset: Freiwillig. (Die Grenadiere geben Bleuset frei. Dieser liegt am Boden.)

Strickreuther: Sonderausgang für die Kriegsfreiwilligen. (Die Grenadiere laufen freudig davon, gefolgt von Strickreuther. Tuchscherer bleibt liegen. Bleuset erhebt sich. Nimmt sein Gewehr, um sich zu töten. Feuert dann aber in das Vogelbauer. Mit den toten Vögeln ab.)

Melitta Schierwind war unbemerkt eingetreten und stellte sich mit der Gitarre hinter Warner. Als dieser sie bemerkte, legte er schnell den Arm um seine Aufzeichnungen wie jemand, der seinen Banknachbarn am Abschreiben hindern will. Aber die Schierwind hatte genug gesehen.

Sie begab sich an den Tisch. Warner hatte nur noch die letzte Szene vor sich. Die wollte und musste er jetzt schreiben. Mit dem Arm verdeckte er weiterhin das Geschriebene: Fünfter Aufzug Hans Bleusets Schenke. Die Grenadiere feiern Abschied. Etwas abseits David, in seine Bibel vertieft. Sie sind alle feldmarschmäßig gekleidet, einschließlich Andreas Bleuset, der die Schenke betritt.

Hans Bleuset: Ich weiß alles, Andreas. Der Zaunkönig, die Amsel.

Andreas Bleuset: Sieh’ genau hin. (Er stellt das Bauer auf den Schanktisch.)

Hans Bleuset: Sie sind tot, alle.

Andreas Bleuset: Erst war der Käfig das Zeichen für Preußen. Jetzt sind die toten Vögel darin das Sinnbild für das Massengrab, zu dem Preußen werden wird. Es wird ein Krieg kommen, in dem wird der Teufel alle seine Jungen austreiben. Und ich fürchte, er hat schon begonnen.

(Trommelschlag. Marschschritte, die sich nähern. Strickreuther erscheint.

Verteilt an die Grenadiere Blumen, die sie sich an die Gewehrläufe ste159

cken. Die Schenke gerät unter Beschuss. Strickreuther fällt als Erster. Die anderen folgen ihm, je nach Hoffnung und Verzweiflung. Totenstille.)

Warner drehte die Blätter um und legte sie auf das Gesicht. Dann wandte er sich Melitta zu: „Warum fragst du nicht, was ich da schreibe?“ Sie antwortete: „Ich kann es mir denken. Bleuset hat im ‚Vater‘ noch das Zeughaus anzuzünden, was ihm dann Gassenlaufen bis zum Tod einbringt.“ Warner dachte kurz nach, bevor er sich äußerte: „Du hast recht, Andreas Bleuset muss sterben.“ Es trat eine Pause ein. Melitta erhob sich und sagte: „Hast du vergessen, dass ich heute einen Auftritt habe? Ich wollte dich abholen.“ Warner entschuldigte seine Vergesslichkeit. Dann gab er zu verstehen, dass er noch etwas erledigen müsse, er komme später nach. Melitta ging. An der Tür drehte sie sich um: „Also dann, bis wir uns wiedersehen.“ Sie schloss die Tür. Warner hörte sie die Treppen hinunter- und aus dem Haus gehen. Sie strebte der Bushaltestelle zu.

Erst jetzt bemerkte Warner, dass der Schreibtisch offen und der Schub herausgezogen waren. Er verstaute den „König von Preußen“ weit hinten und schloss den Schreibtisch. Der Bus fuhr eben vorbei. Aber der nächste aus Hagenwerder würde bald folgen.

In Görlitz in der Künstlerkneipe war Warner verwundert, Melitta nicht anzutreffen. Sie war bisher nicht erschienen. Das blieb auch so, bis alle Vorträge zu Ende waren. Warner begab sich zu ihrer Wohnung.

Es wurde ihm aufgetan. Melitta entschuldigte sich mit plötzlichem Unwohlsein. So wurde Warner an der Tür abgefertigt und trat den Heimweg an.

In den nächsten Tagen ließ er sein Stück ruhen. Bei einem Gang zum Konsum traf er auf einen Genossen, der sonst leutselig mit dem Pfarrer umging. Jetzt sagte er: „Ich bin schwer enttäuscht von Ihnen, Herr Pfarrer.“ Warner war sich nicht bewusst, weswegen das so sein könnte, und fragte. Der Genosse erzählt ihm, dass er auf einer Parteiversammlung in Zittau gewesen sei, wo man Warner als Rädelsführer für all diese unseligen, aggressiven „Friedensinitiativen“ genannt habe. Warner lachte und entgegnete: „Das habe ich mir schon immer gewünscht, berühmt zu werden, ohne dafür etwas getan zu haben.“ Wieder in seiner Wohnung angekommen, stieß er überraschend auf Mephistopheles, der am Tisch saß. Er hatte die Beine lässig von sich gestreckt. Warner wartete auf das „Mein lieber Georg Warner“. Es kam nicht. Stattdessen bat ihn Mephistopheles, etwas vorgelesen zu bekommen. Er müsse doch mit seinem „König von Preußen“ weit gelangt sein.

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Warner zögerte erst, dann meinte er, vor Mephistopheles keine Geheimnisse haben zu müssen.

Er öffnete den Schreibtisch, zog den Schub heraus. Nichts. Er tastete im Schub herum, fasste tief hinein. Nichts. Er räumte den Schub aus, dann zog er ihn gänzlich heraus. Mephistopheles fragte hintergründig: „Fehlt etwas?“ Warner stand entgeistert da. Dann teilte er mit: „Mein Manuskript ist verschwunden.“ Mephistopheles hob die Stimme: „Ich hatte dich eindringlich vor Weibspersonen gewarnt, vor allem vor Bibliothekarinnen.“ Warner schwante etwas und zögernd fragte er, ob denn Melitta Schierwind Bibliothekarin sei. Mephistopheles hielt damit nicht hinter dem Berg: „Dies und vor allem anderes. Sie war Offizierin im besonderen Einsatz. Die darin enthaltene Feindberührung fand mit dir statt.“ Warner musste sich setzen: „Wo ist sie jetzt?“ fragte er tonlos.

Mephistopheles gab ironisch Auskunft: „In Budapest, an der deutschen Bücherei, aber gleich als Leiterin. War ja auch Zeit, dass du Nachschub liefertest.“ Warner sprang auf, holte eine Tasche hervor und warf Sachen hinein. „Wohin willst du denn?“, erkundigte sich Mephistopheles. „Nach Budapest“, antwortete Warner hastig. Da bekam er zu hören: „Mein Lieber, wenn du ins Ausland fahren willst, auch ins sozialistische, musst du deinen Wehrpass abgeben.“ Warner eilte zum Mittelschub, wo sich dieser nicht sonderlich verborgen finden lassen musste. Er war nicht mehr da.

Warner knallte den Schub zu und lehnte sich gegen den Schreibtisch.

Den vorwurfsvollen Blick tat Mephistopheles ab, indem er klarstellte: „Mein lieber Georg Warner, der Teufel will dich. Du weißt, wen der Teufel holen will, den holt er auch.“ Mephistopheles ließ eine Pause entstehen, dann ließ er Luft an seine Aussage: „Es sei denn, du inszenierst umgehend und bringst das Stück schneller auf die Bühne, als sich der Teufel und seine kleinen und großen Geister drehen können.“ Georg Warner hob ratlos die Schultern, denn es fehlte ihm der Text.

Im Handumdrehen ließ sich der nicht rekonstruieren, jedenfalls nicht in der Qualität des verlorenen. Mephistopheles öffnete seine enge Jacke.

Sie war wie ein Gehrock geschnitten. Unter der Weste holte er einen Packen Papier hervor. Wie viel Heimlichtuerei! Dann lächelte er nicht sanft, sondern schelmisch, und überreichte Warner das Bündel. Der besah es sich, blätterte schließlich. Mephistopheles kommentierte: „Da ich beizeiten ahnte und bald wusste, was hier gespielt wird, habe ich deinen Text nach und nach abgeschrieben. Heute musste ich mich bei den letzten beiden Szenen arg beeilen, aber du hattest dich zum Glück etwas kürzer gefasst. Die Offizierin hat den Ort nämlich nicht verlassen, 161

sondern sich auf die Kleine Seite zurückgezogen, von wo aus sie deine Abfahrt unbemerkt beobachten konnte.“ Warner war von Mephistopheles’ Schriftbild beeindruckt. Der Text flammte geradezu auf. Mephistopheles verabschiedete sich von Georg nicht ohne Genugtuung. Falls das alles ohne Hölle überstanden werden würde, versprach er Warner eine Reise nach Wittenberg. Vor seinem Abgang erbat er sich noch ein Passfoto von Georg. Der holte zerstreut eins aus dem mittleren Schub des Schreibtisches. Dass er darauf lächelte, nahm er nicht zur Kenntnis.

Jetzt jagte er den Text mit etlichen Durchschlägen durch die Schreibmaschine. Zuvor hatte er sich über eine unverfängliche Telefonnummer darüber verständigt, dass es heute noch „Bunte Bilder“ geben würde.

Am Abend erschien die Kerntruppe. Annalena hatte bereits geahnt, worum es gehen würde. Sie brachte jemanden mit und stellte ihn Warner als ihren verlässlichen Freund vor. Er hätte sie mehrmals beschützt und sich nicht ungefährlich mit der Polizei eingelassen. Das war ein Kerl wie ein Baum, der entweder gezwungen war, sich tief zu Annalena herabzubeugen oder sie hochzuheben. Der sollte ohne Zweifel Korporal Strickreuther sein. Don war als Andreas Bleuset sein Gegenspieler.

Nostradamus wollte die Bibel lesen und verteidigen. Wirt Bleuset kam einem jungen Mann aus dem Ort zu, bedächtig und geeignet als Polterhans. Er war nicht kirchlich gebunden, bildete aber mit Don ein unzertrennliches Gespann. Den König sollte ein Fragesteller spielen, der die Gewohnheit hatte, sich selbst zu antworten. Das wirkte äußerst theatralisch. Von Statur war er eher ein „Fritz“, denn ein „Friedrich Wilhelm“.

Majestätisch wirkte er, weil er mit einer schweren Maschine von 350 PS durch die Gegend fuhr. Man nannte ihn daher den „kleinen Cowboy“.

Ja, und dann waren noch genügend Grenadiere vorhanden. Das waren schwierige stumme Rollen, denn die Grenadiere waren stets gegenwärtig und kommentierten das Geschehen durch ihr Verhalten. Eine erste Leseprobe begann sofort. Dann wurden die Sonnabende lang. In der Woche ließ Warner die Darsteller einzeln kommen und vertiefte ihren Part.

Die Drähte liefen schließlich heiß, zu spät. In der Berliner Normannenstraße wusste man, dass man nur noch reagieren und nicht mehr agieren konnte. Hauptmann Kumpfe erschien bei Warner, im Gefolge hatte er die bereits bekannten Untergebenen. Einer hatte zu wachen, der andere zu protokollieren, wobei zum Bedauern von Kumpfe immer nur seine Rede aufgezeichnet werden konnte. Er machte sich auch jetzt keine Illusionen. Kumpfe legte den Text des „Königs von Preußen“ auf 162

den Tisch. Der war maschinell erstellt, stammte aber nicht aus Warners Schreibmaschine.

Kumpfe blätterte, dann sagte er einführend, der König und Andreas Bleuset würden sich unterhalten. Er bemühte eine Stelle, die Warner nicht als schwerwiegend empfunden hatte, nämlich die Antwort Bleusets auf die Folgerung des Königs, niemand sei frei.

Andreas Bleuset: Und wer sagt dem König von Preußen, dass er recht hat? Er sich selbst oder seine Untertanen?

Hauptmann Kumpfe schlussfolgerte dazu: „Dieses Stück stellt die Machtfrage. Und die Machtfrage ist durch die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse beantwortet. Das heißt: Niemand braucht dieses Stück oder seine Aufführung. Es ist alles geklärt.“ Im Stillen ärgerte sich Kumpfe. Er hatte lediglich den Text aus der Normannenstraße wiederzugeben. Sollten die Machtmenschen dort doch einmal ihre Hintern aus den Sesseln heben und einem wie Warner begegnen. Dann wüssten sie, wie schwer es war, „Schirm und Schild der Partei“ zu sein. Kumpfe kam sich auf einmal wie ein Polizist vor, der auf Streifendienst geschickt wurde. Dieser Warner wollte sich nie mit ihm, dem intelligenten Hauptmann, messen. Auf einmal forderte er von seinem Schreiber, dass das Folgende nicht aufgeschrieben werden würde, und sagte resigniert: „Inszenieren Sie, spielen Sie nur. Ich werde aus der Ferne beobachten müssen, wie das ausgeht. Mir sagt man nicht alles. Ich habe von dem besonderen Einsatz der Schierwind nichts gewusst, habe sie sogar observieren lassen.“ Dann ging er und zog seine beiden Gesellen mit sich.

Wenn Warner etwas gesagt hätte, wohl dann, was für eine undankbare und nicht belohnte Aufgabe der Hauptmann hätte.

Die Aufführung des „Königs von Preußen“ ging in der vollbesetzten Kirche von Deutsch-Ossig am 18. Juli 1982 über die Bühne. Das Publikum erwartete die Rechtfertigung seines Friedensdienstes. Was da vonstattenging, war allerdings beklemmend. Nach all den Drangsalen konnte man beinahe froh sein, dass im Stück endlich Krieg herrschte.

Die Grenadiere samt Korporal hatte Warner „preußischblau“ ausgestattet. Die Sportnation DDR trug Blau. Von der Farbe waren die Trägerunterhemden. Arme und Schultern mussten frei sein, sodass stets die Anspannung der Muskeln beim Exerzieren und Präsentieren zu sehen war. An den Beinen waren blaue Fußballerstutzen über Jeans gezogen. Als Gewehre dienten solche aus dem Spielzeugladen, was höchst wirkungsvoll den militärischen Anspruch „von der Wiege bis zur Bah163

re“ unterstrich. Diese Gewehre waren weit wirkungsvoller, als es ein Schießprügel hätte sein können.

Der Regisseur Georg Warner hatte sich einen Schlussakkord ausgedacht. Er hatte aus dem Waterloo-Film die Kanonade herausschneiden lassen: Abschuss, Flug der Geschosse, Einschläge. Auf der Empore waren Lautsprecher installiert, ebensolche befanden sich unter den Kirchenbänken. Dann lief das Inferno über Band ab. Zutiefst erschreckend.

Korporal Strickreuther hatte nicht nur an die Grenadiere Blumen verteilt, sondern auch das Publikum damit bedacht. Jetzt ging Annalena mit dem Lied vom Schwarzen Traum die Blumen einsammeln.

Lange Zeit regte sich keine Hand. Erst als die „toten“ Grenadiere aufstanden, war das Spiel beendet. Hier und da erklang Beifall, der sich schließlich zum rhythmischen Klatschen steigerte. Schließlich wurde gerufen, nicht „Bravo“, sondern die Losungen der DDR-Friedensbewegung.

Es gab keine Premierenfeier. Warner notierte noch zuhauf Bitten um Auftritte, sondierte sie auch gleich, verglich im Kalender und sagte zu.

Ein heißer Sommer war angesagt. War Georg Warner bei so viel Öffentlichkeit bereits gerettet? Er gab sich keinen Illusionen hin. Die Antwort des Teufels würde noch erfolgen. Er öffnete eine der Flaschen mit der Folkloretruppe. Aber die tanzte nicht mehr. Der billige rumänische Wein war zu Essig geworden.

Am nächsten Tag lag im Briefkasten eine kleine, unscheinbare graue Karte. Wer eine solche erhielt, wusste, was auf ihn zukam. Georg Warner wurde zu einem Dienstag Mitte August zum Wehrkreiskommando bestellt, 17.45 Uhr. Merkwürdige Uhrzeit. Egal. Am 1. November würde er eingekleidet werden, aber nicht mit einer Uniform, sondern im Knast.

Der Sommer wurde „heiß“. Das Publikum zog dem „König von Preußen“ hinterher. Man stand schließlich in den Gängen. Aber für Warner lief die Zeit ab. Der besagte Augusttag kam heran und zeigte sich trübe, zum Nachmittag hin gab es Nieselregen. Als sich Georg Warner in der sechsten Stunde zum Wehrkreiskommando bewegte, einem klotzigen Bau aus Feldsteinen, der einst für die Landstände der Oberlausitz errichtet worden war und jetzt in einem Park von Buchen lag, sank frühe Dämmerung herab.

Vor dem Schlagbaum stand ein Häuschen, nicht größer als eine Imbissbude. Darin saß eine äußerst dicke Frau mit Männerbart. Sie schien das Einlassgebäude gänzlich auszufüllen. Warner konnte durchaus devot auftreten. Er schob die graue Karte durch das kleine Fenster. Die 164

Frau, als wäre sie in ihrer Ruhe gestört worden, sagte barsch: „Es ist niemand mehr da.“ Warner hüstelte und gab tonlos zu verstehen, dass er zur Nachmusterung bestellt sei. „Papperlapapp“, entgegnete die Frau, „hier steht: ‚Überprüfung der Wehrunterlagen‘.“ Das war bedeutungsvoll, siehe das berühmte Grau. Die Frau wollte jedes weitere Gespräch abkürzen. Sie schob ein Dokument durch den Schalter und sagte: „Das ist Ihr Wehrpass. Es ist keine Truppendiensttauglichkeit eingetragen.

Sie dürfen sich als Spaziergänger fühlen. Und jetzt verschwinden Sie unauffällig.“ Warner nahm den neuen Wehrpass an sich und eilte davon. Hinter sich hörte er schallendes Gelächter. Er blickte sich um, und es schien ihm, als wackele die ganze Bude. Jetzt hatte er mordsmäßigen Durst und steuerte die nächste Kneipe an. Dort stürzte er einen halben Liter Bier in einem Zug hinunter. Dann öffnete er den Wehrpass. Sein unlängst übergebenes Passfoto lächelte ihn an. Und ihm gegenüber saß plötzlich Mephistopheles, mit seinem sanften Lächeln.

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Fünftes Kapitel

Mediales Vergnügen Das Versprechen von Mephistopheles an Warner, Wittenberg zu bereisen, sollte eingelöst werden, aber nicht als touristische Unternehmung.

Georg Warner wurde gebeten, in die Redaktion der „Kirche“ zu kommen. Der Redakteur empfing ihn mit einem breiten Grinsen, indem er sagte: „Da haben Sie ja gewaltig auf sich aufmerksam gemacht, Bruder Warner. Am Ende werden Sie als Schriftsteller noch unverzichtbar.“ Warner fragte sich, was hinter der Lobhudelei stecken mochte. Der Redakteur erkannte sofort, dass Warner nicht an einer Plauderei gelegen war. So kam er gleich zur Sache: „Sie wissen, dass im Jahr vier kirchliche Sendungen im DDR-Fernsehen ausgestrahlt werden dürfen.

Ein Dauerthema ist dabei die Diakonie, um zu zeigen, wo die Kirche sich nützlich zu machen hat. Die Weihnachtssendung verbreitet so viel Frieden, dass man vor lauter Umarmung keine Luft mehr kriegt.“ Warner antwortete darauf, ob er dazu beitragen solle, diesen Mattscheibenzustand zu ändern. Es würden ihm spontan Themen einfallen, für die vier Sendungen nicht ausreichen würden. Der Redakteur gab ironisch zurück: „Zehn sind geplant, und zwar im Jahr ‘83, zu Luthers 500. Geburtstag. Für eine der Sendungen unmittelbar nach dem Geburtstag des Reformators sind Sie als Autor des Drehbuches vorgeschlagen worden. Es handelt sich dabei um die zehnte Folge, in der die europäische Dimension der Reformation dargestellt werden soll. Ein schwieriges Thema, ‚europaweit‘.“ Ehe sich Warner irgendwie inhaltlich äußerte, wollte er wissen, wer wen vorzuschlagen hatte. Er erhielt als Antwort: „Das Redaktionskol166

legium für die kirchlichen Sendungen. Der Beauftragte des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Kundmann, wird sich mit Ihnen in Berlin unterhalten. Dann sollten Sie, so Sie den Bedingungen zustimmen, gleich nach Wittenberg weiterreisen. Ordnen Sie bis dahin Ihre Vertretung.“ Warner gab zurück: „Das wird Totensonntag sein. Zu Totensonntag bin ich äußerst gern in Wittenberg.“ Der Redakteur runzelte die Stirn. Dieser Warner besaß einen äußerst schwarzen Humor. Er gab jetzt dem „schwarzen“ Bruder Adresse und Telefonnummer des „leisetretenden“ Bruders Kundmann und dachte: „Das mag etwas werden.“ Georg Warner hatte den Zeitpunkt bewusst so gewählt. Denn in der Friedensdekade bis Bußtag, da alles wieder hinter Kirchenmauern und in Gemeindesälen verschwunden sein würde, wollte er Feuer unter dem Kessel machen, damit es überall im Land zu sehen sei und manch einem Hören und Sehen verging. An zehn Tagen wurde dann landauf, landab der „König von Preußen“ gespielt, sodass sich auch die Spielgruppe am Ende nur noch nach Frieden sehnte.

Einer freilich konnte nicht genug bekommen, auch wenn er seine wiedergewonnene Freiheit als Grenadier ausleben musste. Zum Reformationstag war Hilde zurückgekehrt, mit Radl im Schlepptau, der dies unbedingt nötig hatte, denn eine gewaltige „Fahne“ umwehte ihn. Er trug ein Halstuch als Erinnerungsstück, auf dem Panzer und anderer militärischer Unrat abgebildet waren. Eine silberne Schützenschnur lief von der Schulter bis unterhalb der Brust. Radl war also Scharfschütze geworden, wohl wegen doppelter Leistung, indem er erst die eigene Munition, dann die der Hilfsschüler verballerte.

Hilde trug als Auszeichnung einzig den Spaten, der ihn auf die Schulter gedrückt hatte. Jetzt war er an das Jackett geheftet, eben dort, wo bei anderen der Handschlag des Parteiabzeichens zu erblicken war. Radl verabschiedete sich gleich nach dem Wochenende, denn er durfte noch an der Schauspielschule ins Erste Semester einsteigen. Bei Hilde reichte es nur dahin, der ersten kaputten Raupe ein paar Grimassen zu schneiden.

Warner wartete nach Bußtag ab, ob er wegen des zehnfachen warnenden Beschusses von Kirchen als unwürdig angesehen wurde, ein offizielles Drehbuch zu schreiben. Aber alles blieb still. So reiste er am Freitag vor Totensonntag ab, seinen Unwillen gegen Berlin unterdrückend.

Er musste auch „Unter den Linden“ entlang und war entsetzt über die Dimension des Reiterstandbildes von „Fritz“ und der ihn umgebenden Generäle. Nun ja, auch diesen König hatte er gemeint und dem Ganzen einige Risse zugefügt.

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Kundmann besaß ein weiträumiges Büro und schaute aus dem Fenster gen Westen. Ob das ein meditativer Ausblick für einen angestellten und stets durch die Zensur bedrohten kirchlichen Medienvertreter war, dürfte bezweifelt werden, zumal die Mauer drohend das Bild zerschnitt.

Als Kundmann das Büro betrat, die Sekretärin hatte Warner hineingeführt, erwies er sich als wohlgepflegter Fünfziger mit geschmeidigen Bewegungen, zu denen auch ein tadelloses Benehmen gehörte. Warner wurde eine weiche Hand gereicht, aber Kundmann ging sofort auf Distanz. Diese sollte ihn wohl in jeder amtlichen Lebenslage schützen. Da er ein Mann des Textes war, stellte sich Warner vor, dass er einen solchen zu „Wir können Euch nicht mehr schützen“ verfasst hätte. Feiner, viel feiner. Er hätte durch seine Diktion schon alles glattgebügelt.

Sie nahmen an einem kleinen runden Tisch in Sesseln Platz. Der Kaffee stand schon bereit. Der musste gleicher Herkunft sein wie das Gebäck, denn so viel Fantasie zur Herstellung besaß die Lebens- und Genussmittelindustrie der DDR nicht. Kundmann sah einen Augenblick lang gedankenverloren in den Raum, als wüsste er nicht recht, wie er beginnen solle. Dann bemühte er eine vorauszusetzende Anknüpfung: „Wie Ihnen bekannt, wird der mit Ihnen gestaltete Beitrag international sein. Wir haben daher in den Ländern der Reformation die Erwartungshaltung abgefragt. Hinsichtlich der BRD kam heraus, dass sie sich nicht dargestellt wissen wollte, Luther sei deutsch genug. Aber eine Empfehlung wurde ausgesprochen. Ein emeritierter Bischof aus Marburg schlug Sie für das Drehbuch vor.“ Bingo. Da dürfte es den Herren schwerfallen, in Warners Text einzugreifen, Kundmann mit seiner Selbstverpflichtung zur Vorzensur als auch denen, die mit dem Seziermesser herangingen. Warner würde dem Bischof die Texte rechtzeitig zukommen lassen.

Und eben die Zensur bemühte Kundmann sogleich: „Jede kirchliche Sendung entsteht in kirchlicher Eigenverantwortung. Wir sind aber nicht diejenigen, die sie produzieren. Da waltet dann Fachwissen, wobei immer die besten Leute am Werke sind, selbstverständlich mit Klassenbewusstsein.“ Kundmann verschluckte sich an einem Westkeks und hätte ob des quälenden Hustens eigentlich den Faden verlieren müssen. Es fehlte danach tatsächlich eine Passage, die er mit verschluckt hatte. Wäre Kundmann ein Kumpeltyp gewesen, hätte ihm Warner auf den Rücken geklopft. So aber musste er warten, bis die Sekretärin mit einem Glas Wasser herbeieilte. Als die Luftröhre wieder frei war, entschuldigte sich Kundmann, das passiere ihm sonst nicht. Warner dachte, dass er es jetzt 168

schon schwer mit ihm hätte, zumal er sich selbst noch nicht geäußert hatte.

Es schien, als sollte nun der praktische Teil angesprochen werden: „Was Sie im Drehbuch schreiben, ist im jeweiligen Abschnitt mit ‚Vorschlag‘ zu kennzeichnen, so bleibt offen, ob diesem gefolgt wird.“ Sofort war der kompromisslose Warner gefragt: „Herr Kundmann, ich schreibe meine Texte, ausschließlich ich, in denen ich dann nicht sehen will, dass darin herumgemalt wurde. Ich selbst werde auch keine ‚Verbesserungen‘ vornehmen, es sei denn, sie sind grammatikalischer oder syntaktischer Natur. Sollte bei Aufnahmen, denen ich beizuwohnen habe, die Umsetzung strittig sein, werde ich meine Regieabsicht mitteilen.

Wie Sie sicher wissen, inszeniere ich auch treffend.“ Kundmann nickte, als ginge es um ein Einverständnis. Das bestand aber darin, Warner einen Vertrag vorzulegen und zu erläutern: „Sie liefern ein fertiges Drehbuch ab. Dafür werden Sie mit kenntlich gemachter Summe entlohnt. Damit ist Ihre Arbeit beendet. Ich respektiere Ihre Entscheidung, dass nichts geändert werden darf. Dies wird sogleich als Zusatzbestimmung mit aufgenommen werden. Es ist unser Risiko, wenn wir dann das Drehbuch verwerfen müssen.“ Jetzt wurde es Warner zu viel: „Ich habe nicht vor, Feuer an die Schlosskirche von Wittenberg zu legen. Ich will argumentieren und vermitteln.

Auch das gefährliche Feuer von 1520 wird keine Rolle spielen. Darüber habe ich nämlich schon geschrieben und die Szenen aufgeführt. Wie ich aber voraussehe, werden die Hussiten noch züngeln wollen. Da gibt es dann eine Szene mit Luther in Für und Wider.“ Der Vertrag wurde ergänzt, Kundmann und Warner unterschrieben ihn. Der Medienbeauftragte lehnte sich zurück, war merkwürdigerweise mit sich zufrieden. Es war, als wolle er sich privat geben: „Sie kennen Wittenberg?“ Warner lehnte sich ebenfalls zurück: „Ich bin dort am Predigerseminar gewesen, höchst aufmerksam. Ich werde Ihnen Lucas Cranach liefern, die Stadtkirche. Das Kamerateam wird genug abzulichten haben.“ Kundmann wurde fast aufgeräumt: „Sie heißen Georg mit Vornamen? Sie sollten über den Doktor Faustus schreiben, allerdings nicht im Drehbuch.“ Bei seinem Abgang wollte Warner ihn erschrecken. Er mimte Rumpelstilzchen und rief aus: „Das hat dir der Teufel gesagt.“ Die Sekretärin kam hereingeschossen, sodass Warner hinzufügte: „Und Ihnen auch.“

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Ein anderer Dreh Warner verließ mit Schwung den Bahnhof von Wittenberg. Er war ja hierhergekommen, um eine wichtige Arbeit zu vollbringen. Zügig steuerte er dem Lutherhaus zu. Am Lutherbrunnen hing ein Schild „Kein Trinkwasser“. Warner dachte: „Was scheren mich Salmonellen, Kolibakterien und Pestizide. Die Reformation hat die Kraft der Selbstreinigung.“ Dann trank er, und das Wasser schmeckte so köstlich wie immer.

Auf der Collegienstraße wartete er hinter Faustens Haus auf den Ruf. Aber es geschah nichts. Er ging durch die Troggasse zu seiner ihm verbürgten Herberge. Dort wurde er jetzt überrascht. Die Wohnung war ausgeräumt, ein paar Kisten standen noch herum, an denen sich Margit zu schaffen machte. Ihre Begrüßung war ernüchternd. Auch wollte sie gleich etwas loswerden, den Verlobungsring. Sie betrachtete sich als entlobt.

Damit wurden mir etliche Bedenken genommen. Als ich schrieb, dass Georg Warner, wenn auch hinterhältigen, so doch Spaß mit Melitta gehabt hatte, musste ich damit rechnen, dass gesetzliche christliche Leser den Roman für immer aus der Hand legten: „So ein Bigamist, der Warner.“ Er war zwar nur verlobt und hatte davon sehr wenig gehabt, aber immerhin. Zu dem Zeitpunkt dürfte sich aber Margit bereits offiziell von ihm getrennt haben, wobei sie es nicht für nötig fand, ihm das mitzuteilen.

Nun, bei allem zu verschmerzenden Unglück hatte er für die nächsten Tage ein Dach über dem Kopf. Dieser Erwartung machte Margit einen dicken Strich durch die Rechnung. Die neue Mieterin würde gleich einziehen. Es handelte sich um Wohnungstausch, sie würde in eine geräumige Neubauwohnung in Piesteritz ziehen. Warum die geräumig sein musste, lag auf der Hand. Warner hatte Verständnis dafür, denn Darben war nicht jedermanns Sache. Außerdem verdiente ein Ingenieur doppelt so viel wie ein Pfarrer.

Warners Gehalt betrug 624 Mark. Um seine Finanzen offen zu legen, sei gesagt, dass sechs Schafe die Pfarrplantage und den Kirchhof abgrasten. Arbeit machte das freilich auch und er brauchte Heu und Rüben für den Winter. Aber die Wolle und Lämmer liefen im Ertrag auf ein 13.

Gehalt hinaus. Dann war da noch die DM-Bruderhilfe, die zwangsweise innerhalb der Verwandtschaft umgetauscht wurde. Miete und Feuerung waren frei. Hin wie her, Warner kannte keinen Pfarrer, der den Beruf um des Geldes willen ergriffen hatte. Dieser Umstand hob die Motiva170

tion beträchtlich.

Jetzt aber musste er sich um ein Hotel bemühen, dessen Preis in der Lutherstadt beträchtlich über dem der Kaschemme von Stralsund liegen dürfte. Als Warner wieder vor „seinem“ ehemaligen Haus in der Jüdenstraße stand, beratschlagte er mit sich. Es blieb ihm nichts anderes, als die Collegienstraße bis hinauf zur Schlosskirche abzuwandern.

Er machte einen Bogen und ging das Unternehmen von unten her an.

Es hätte ihm sicher gutgetan, wenn er sich an eine zwar knochige, aber eben auch fleischliche, kuschelige und zudem abenteuerliche Begebenheit erinnert hätte. Denn eben als er an dem vermutlich stummen Haus des Doktor Faust vorbei war, hörte er hinter sich: „Georg!“ „Potz Teufel“, dachte er, bevor er sich umdrehte. Da stand in altem, vollendetem Glanz Tofana vor ihm. Die fragte nicht, was er hier tue, sondern sagte gleich enthusiastisch: „Du bist dabei, berühmt zu werden.“ Er antwortete lässig: „Kunststück, berüchtigt bin ich schon.“ Tofana klettete sich an ihn, und Warner tat die Vertraulichkeit gut.

Er bemerkte, dass sie seine Schritte lenkte und von der Collegienstraße abbog. Schließlich zog sie sein Ohr an ihren Mund und fragte flüsternd: „Soll ich dir zeigen, wo ich am Blinddarm operiert wurde?“ Georg nickte erwartungsvoll. Sie zeigte auf einen Gebäudekomplex. „Dort, wo das rote Kreuz am Haus ist.“ Beide schütteten sich aus vor Lachen.

Es war das altehrwürdige Diakonissenkrankenhaus von Wittenberg.

Tofana nahm Georg mit auf ihr Zimmer, hieß ihn auspacken. Er gab ihr zu verstehen, dass hier strenge Sitten herrschen dürften. Tofana gab entrüstet zurück, dass sie alt genug sei. Dann warf sie blutige Steaks in die Pfanne und bemerkte, dass Georg in der Speisegaststätte des heutigen Abends wohl wieder den Appetit verlieren würde. Der ahnte gleich, wohin es gehen würde, ließ es sich aber bestätigen: „Nach Pratau. Dort wird heute einer dem Teufel seine Seele übergeben.“ Dass Tofana zu einem so frühen Zeitpunkt dabei sein sollte, ließ Fragen aufkommen.

Tofana wendete die Steaks und warf ein, dass die Ehe nicht so lange dauern würde. Sie hätte sich vorausschauend als Anästhesieschwester eintragen lassen.

Bei Tisch erzählte Warner von seinem Auftrag und Vorhaben. Tofana fiel ihm ins Wort: „Sagte ich’s doch, du wirst berühmt.“ Dann kam sie auf das Wesen der Reformation zu sprechen, das nach ihrer Meinung in der Bekämpfung der Sünden bestand. Etwas resignierend fügte sie hinzu: „Ich bin katholisch geblieben, Hölle hin, Hölle her. Aber ich werde wohl noch konvertieren.“ Das ließ Warner derart aufhorchen, dass Tofana sich weiter erklären musste. Sie schlug einen Flüsterton an: „Sieh 171

mal Georg, mein Sündenregister ist gewaltig, auch wenn mein Tun einem guten Zweck dient. Wenn ich konvertiere, könnte ich ein neues Leben anfangen, denn nach eurer Lehre wird der Mensch allein durch Gnade gerecht. Deshalb bin ich so gern in Wittenberg.“ Warner entgegnete spröde: „Ich bin nicht lutherisch, sondern uniert, nach unserem preußischen König, der als Calvinist mit seinen lutherischen Untertanen eine Union eingegangen ist.“ Tofana wollte auf einmal belehren: „Lieber Georg, dein Ruhm wird schmelzen und du wirst nur noch berüchtigt sein. Todunglücklich und einsam wirst du dich dann nach lutherisch Sachsen begeben und nach altem, noch bestehendem Reichsrecht automatisch lutherisch werden. Ich werde dann zu dir kommen, verjüngt, da mir ja meine Sünden vergeben sind.“ Warner wurde ob so viel Prophezeiung unwillig: „Wer hat dir das gesagt?“ Tofana tat wie nebenbei kund: „Der Teufel. Er betreibt manchmal das Spiel ‚Spieglein, Spieglein an der Wand‘. Das Ergebnis hinsichtlich deiner Möglichkeiten muss ihn erschüttert haben.“ Es war anscheinend Märchenstunde. Die unterbrach Tofana, weil sie die Stunde nicht als solche ansah, sondern für gekommen hielt. Zweifel lagen in ihrer Stimme: „Georg, liebst du mich?“ Zugegeben, Warner hatte in der Erinnerung an Tofana, und die kam ihm oft, ein Ziehen in seinem Herzen bemerkt, aber solch eine Frage hatte ihn nicht bedrängt.

Tofana blickte tiefernst: „Wenn ich meinen Job, der heute beginnt, erledigt habe, wird deine Entlobte plötzlich und der Zeitenwende geschuldet auf den Gedanken verfallen, dass sie doch mit dir leben kann. Wenn du mir nicht beteuerst, dass du dieser Anfechtung widerstehen wirst, wird es nicht um einen Blinddarm gehen, dann werden beide, Margit und der Ingenieur, wegen Pilzvergiftung eingeliefert.“ Warner sagte erschrocken: „Ich werde widerstehen.“ Tofana war das nicht genug: „Schwöre.“ Warner kam dem nach. Tofana forderte: „Sonst soll mich der Teufel holen.“ Das war Warner zu viel. Tofana ließ nicht ab. So gab ihr Warner abschließend zu verstehen: „Der Teufel holt mich so oder so nicht, wenn, dann Gott. Auch wenn Gott und Teufel zum Verwechseln ähnlich scheinen sollten. Lass es Zeit werden, so oder so.“ Das als „Medium“ gestaltete Mahl war beendet, Tofana zog sich zurück. Als sie wieder erschien, stockte Warner der Atem. Sie hatte sich als Zigeunerin verkleidet und ihre Verführungskünste waren nicht zu übertreffen.

Erst jetzt fiel Warner ein, dass heute Totensonntag war. Er rief sich diesen ereignisreichen Tag, an dem vor sechs Jahren alles angefangen hatte, ausführlich ins Gedächtnis. Ihm war bewusst, dass es an dem Tag 172

auch mit Tofana begonnen hatte. An den jetzt herabgelassenen Schranken vor Pratau sicherte Tofana. Sie blickte in beide Richtungen, ob nicht plötzlich ein Zug erschien. Dann zog sie Warner rennend über die Gleise.

In der Schenke „Zum Freischütz“ war es wie seinerzeit. Das Ambiente stimmte. Auch der Wirt war noch derselbe, wobei zu sehen war, dass sich von dem Pärchen in der Mitte nur Margit vor ihm fürchtete. Der Ingenieur strotzte vor Selbstbewusstsein. Er hatte sein Diplom als Chemiker gemacht und damit die Alchimie komplett hinter sich gelassen.

Jede Metaphysik war ihm fremd.

Nun ist es ausgemacht, dass eine Frau eine andere sofort als Rivalin wahrnimmt, auch wenn man ihr den Verflossenen ohne Regung „auf den Bauch binden“ könnte. Warner und Tofana saßen diesmal tatsächlich in der Ecke, die sich Warner damals so gewünscht hatte. Tofana gab sich bis über die Ohren verliebt. Sie schob Georg mit einem Löffelchen das Dessert in den Mund. Bei jedem zweiten blickte sie triumphierend zu Margit.

Im Gegensatz zu der aufgetakelten Tofana war Margit kleinbürgerlich gekleidet, Rüschenbluse, darüber eine geblümte Weste, kleines Kettchen, die Haare mit einem blassblauen Band zusammengebunden. Dass sie nicht wegen des Ingenieurs, der sich wohl ein Heimchen am Herd versprach, falsch gekleidet und ungeschminkt erschienen war, sondern weil sie eine Herausforderung gar nicht vermutete, lag auf der Hand.

Der Wirt kümmerte sich nicht um das jung verliebte Paar. Tofana hatte signalisiert, dass ein Dessert ausreichen würde. Nur Wein erbat sie.

Und da stand die neueste Importware mit dem dreieckigen schwarzen Etikett vor ihnen, „Pinot noir“, dessen Geschmack Warner nie wieder vergessen sollte. Es gab ihn späterhin nur zu der Zeit, da auch die Melonen aus Bulgarien geliefert wurden.

Jetzt wurde es spannend. Der Wirt legte die Speisekarte vor, samt Federkiel. Niemand erklärte dem Ingenieur den Text. Tofana lächelte vergnügt und bedeutete mit einem Kopfnicken, wie sie Georg Warner das Leben gerettet hatte. Bevor der Ingenieur bestellte, belustigte ihn die Aufforderung am Ende der Speisekarte. Er zückte seinen teuren Füllfederhalter. Der Wirt kam angesaust und stellte klar, dass das Ritual eingehalten werden müsse. Der Ingenieur stach sich mit der Feder in den Finger.

Georg Warner ertrug das auch aus christlichem Verantwortungsgefühl heraus nicht. Er erhob sich und trat an den Tisch: „Bevor Sie unterschreiben, sollten Sie sich bei Goethe versichern. Dort unterzeichnet 173

Faust im Beisein von Mephistopheles den Kontrakt mit dem Teufel, der sagt: ‚Blut ist ein besond’rer Saft.‘“ Der Ingenieur musterte den bis dahin unbeachteten Gast und sagte: „Ich folge der Maxime: ‚Wer immer strebend sich bemüht, den werden wir erhöhen.‘“ Dann setzte er seine blutige Unterschrift unter die Speisekarte.

Draußen erhob sich ein ungeheurer Wind, der sich nicht wieder legte.

Freilich war Faust an dem Abend nicht gegen die Wände zu knallen.

Das Paar speiste schließlich, wobei Margit die Gabel mehrmals hin- und herschob, bevor sie sie zum Mund führte. Der Ingenieur aß mit großem Appetit. Er hatte den Lendenbraten gewählt, Margit das Ragout.

Warner fand, dass die Entlobte nicht mehr länger zu quälen sei. Die angebrochene Flasche stürzte er in langen Zügen herunter. Draußen empfing sie Schneefall, gemäß Warners liebgewordener Totensonntagserfahrung. Wenn er bei Schnee den Friedhof nach der Andacht verließ, hatte er einen Strauß Gerbera, allertiefste Bückware, als Dank für das vergangene Kirchen- und Arbeitsjahr in den Händen. Was für ein Jahr war das gewesen!

Georg Warner fiel plötzlich etwas ein, was sich Tofana mitzuteilen lohnte: „‚Den Ehestand hassen, sich in selbigen nicht einlassen, nie verehelichen‘, das hat der Ingenieur unterschrieben.“ Tofana schritt eingehakt neben Georg her und erklärte: „Du erinnerst dich, dass Mephistopheles den Doktor Faustus stets streng darauf hingewiesen hat, dass er den Kontrakt einzuhalten habe. Sollte der Herr Ingenieur in den Ehestand treten, auch wider besseres Wissen, wird der Teufel dem ein Ende bereiten. Wann es ihm beliebt, werde ich erfahren.“ In dem Zimmer im Diakonissenkrankenhaus fielen sie nicht übereinander her. Tofana lauschte mit aufgestütztem Arm der Erzählung Warners, wohl wissend, dass er sich ihr in die Hände geben wollte.

Es steht geschrieben Das Malen von Altären ist eine ernste Sache, weil es dabei um kein geringeres Thema als die Erlösung des Menschen durch Christus geht.

Das war bildhaft zu verkündigen. In Wittenberg ließen es die beiden Cranachs nicht ohne den Verkündiger geschehen. Luther und seine Mitreformatoren gelangten auf die Altargemälde.

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Allerdings ist nur die Mitteltafel des Altars in der Stadtkirche von Warners verehrtem Feingeist Lucas dem Älteren gestaltet worden. Christus sitzt dem Abendmahl vor. Auch die biblischen Akteure sind vertreten: Johannes, Petrus und Judas. Die anderen Jünger sind Wittenberger Reformatoren. „Ach, der gute Lucas“, dachte Warner. Der Kelch mit dem Wein wird einem bärtigen Luther gereicht, eben dem, der als Junker Jörg die Bibel übersetzt hat. Links neben Luther sitzt sein Buchdrucker Lufft. Dieser Ausschnitt allein hätte für die Zeitenwende gereicht.

Warner kam es in Abständen an, den Griffel aus der Hand zu legen, wenn er auf Texte stieß, die ihm niemals eingekommen wären. Er beruhigte sich erst, wenn er von diesem oder jenem eigenen meinte, dass das auch keinem anderen eingefallen wäre. Zum Glück war er kein Maler.

Denn das Genie des Lucas angesichts dieser Abendmahlsrunde hätte ihm unweigerlich den Pinsel für immer aus der Hand gewunden. Wie durchweltlicht war hier die entscheidende geistliche Stunde!

Die beiden Flügel des Altars erregten bei ihm keinen andächtigen Schauer, viel zu statisch in der Darstellung und ohne tiefgreifende Aussage. Das einzige Verdienst Lucas Cranachs des Jüngeren bestand wohl darin, Melanchthon taufen und Bugenhagen die Beichte abnehmen zu lassen. Aber die Predella, der untere Teil des Altars, hatte dem Jüngeren einen genetischen Schub versetzt. Jeder Konfirmand konnte das Bild beschreiben. Christus hing mit geistbewegtem Lendentuch mittig am Kreuz und blickte auf die versammelte Gemeinde. Rechts stand Luther auf der Kanzel und zeigte auf Christus. Die „Verkündigung vom Kreuz“ ging durch Christus hindurch zur Gemeinde.

Das würde Warner unbedingt in sein Drehbuch aufnehmen und beschreiben. Aber beginnen würde er mit Junker Jörg und seinem Buchdrucker. Er musste dabei aufpassen, dass ihm nicht zu viel Text einkam.

Ein Umschnitt sollte geschehen, hin zur Wartburg, in das kleine Übersetzungszimmer. Und der Wurf mit dem Tintenfass durfte nicht fehlen.

Seinen Widersacher soll man niemals aus den Augen lassen oder, wie der Bischof gesagt hatte: „Solange ich eine Sekunde schneller denke als mein Gegner, bin ich Sieger.“ Was den Wurf des Tintenfasses angeht, hat der Teufel seither große Angst vor Tinte und noch mehr vor Druckerschwärze. (Heine) Jetzt sollte wieder Luther in der Abendmahlsrunde erscheinen, wie er fragend blickt. Denn Judas hat schon den Geldbeutel in der Hand. Ein Kameraschwenk daher links herum, bis Christus erfasst ist. Der Jünger Johannes liegt an seiner Brust und er tröstet ihn. Petrus, der auf ihn einredet, hört er nicht. Dann die Einstellung mit der Predella und dazu 175

Luther: „Durch das Wort ist die Welt erschaffen worden, durch das Wort ist die Kirche erhalten, und der Antichrist, sosehr er seines mit Gewalt bekommen, wird ohne Gewalt fallen.“ Georg Warner hatte noch in der Stadtkirche diese erste Szene seines Drehbuches aufgeschrieben. Es ging einen Tag nach Totensonntag schon auf Advent zu. In einer Bretterbude verkaufte eine eingemummte Frau Glühwein. Dunkelbraune Bratwürstchen hatten längst den Höhepunkt der erträglichen Garzeit überschritten. Warner vermutete, dass das Glühen im Glas von „Feuertanz“ herrührte. Aber warm dürfte das Gesöff mit behandelter Zitrone allemal sein. Man musste nur die unzähligen Kerne ausspucken.

Mit dem Getränk begab er sich auf den Hof des Meisters, hockte sich auf einen Teil des herabgestürzten Mauersimses. Die Dämmerung senkte sich herab. Warner war mit einem schwerwiegenden Umstand seines Drehbuches befasst. Erst zum Schluss, mit der Aufzeichnung des Luther-Zitats, war er sich darüber bewusst geworden. Dass der Antichrist, anzunehmen war der Teufel mit all seinen kleinen und großen Geistern, das Seine mit Gewalt gewonnen hatte, war klar. Aber an Warner fraß immer wieder der Zweifel, ob er ohne Gewalt fallen würde.

Das wollte er darstellen, bei aller schöngeistigen Raffinesse, die ihm noch einfallen würde. Und das ging nur, wenn er eine Szene schrieb, mit Luther und … Er wusste es nicht, dachte aber an die, zu denen Luther immer wieder hingedrängt wurde, um ihn als Ketzer brandmarken zu können, Wiclif und Hus. In der Stadtkirche war Warner auch vor jenem Machwerk des jüngeren Cranach stehengeblieben, das mit „Im Weinberg des Herrn“ betitelt war, bereits nach dem Sieg der Reformation 1560 gemalt. Fünf Jahre vorher hatte der Augsburger Religionsfrieden für die Anerkennung der Lutherischen gesorgt. Der jüngere Cranach aber war weiterhin mit dem schleichenden Gift befasst. Mitten durch den Weinberg geht der Riss.

Rechts befinden sich die rechtschaffenen Evangelischen. Vorn häckelt und pflanzt Vater Luther. Dieser Teil des Weinbergs trägt Früchte. Auf der anderen Seite, bei den Katholischen, herrscht Ödnis, nichts wächst.

Hier ist nicht nur Verderbnis im Gange, sondern die Verderber sind selbst bei der Arbeit.

176

Warner hatte allen Ernstes darüber nachgedacht, ob er dieses Gemälde an den Anfang seines Drehbuches stellen sollte. Die Aussage seines Textes wäre die gewesen, dass es heute anders sei. Die Ökumene und damit die Gemeinschaft mit den Katholiken wäre betont worden. Aber dem Eindruck des Bildes wäre kein Wort gewachsen gewesen.

Georg Warner war gegenüber dem jüngeren Cranach misstrauisch geworden. So ging er in die Stadtbibliothek und lieh sich dessen „gesammelte Werke“ aus. In Tofanas Zimmer hatte er genug Zeit zum Studium, denn sie war in der Spätschicht. Beim Blättern tauchte genug von dem auf, was der jüngere mit dem älteren Cranach gemein hatte, Porträts und Altäre.

Plötzlich war ihm, als wenn er sich die Finger verbrannte. Eine Hexenverbrennung in Wittenberg 1540 war ihm in die Hände gefallen. Zu sehen war, dass die Opfer bereits tot waren. Dass sie bei einer Verbrennung noch erkennbar waren, dürfte schwer möglich sein. Vier Personen saßen erhöht jeweils auf einem Balken, der durch eine Eichenbohle getrieben war. Sie waren angekettet, hatten aber die Arme frei. Diese waren bis zum Schluss heftig in Bewegung, ebenso die herabhängenden Beine.

Warner war diese Hinrichtungsart bekannt. Nonnenmacher und der radikale Bauernführer Jakob Rohrbach waren so zu Tode gebracht worden. Sie waren an Bäume gekettet worden, sodass sie innerhalb des aufgeschichteten, brennenden Holzstoßes brüllend umherlaufen konnten, bis sie schließlich qualmend und geröstet zusammenbrachen. „Schmäuchen“ nannte man dies.

Lucas Cranach der Jüngere hatte sich erdreistet, das sehr real auf einem Holzschnitt festzuhalten, und das obendrein nicht, um zu protestieren, sondern um abzuschrecken. Unter den Opfern war daher ihr schändliches Tun als Text festgehalten. Der Hexenbekämpfer Cranach hatte diesen Holzschnitt angefertigt, um ihn als Druck zu verwenden, sodass er vielmals verteilt wurde.

Zu erfahren war einleitend, dass die Obrigkeit dazu bestimmt sei, die Guten zu schützen und die Bösen zu strafen, festgestellt nach der lutherischen Zwei-Regimenter-Lehre von der Schwertgewalt. Die dargestellten vier Personen wurden wegen mannigfaltigen bösen Missetaten mit Feuer gerechtfertigt. Namen nannte Cranach nicht, nur dass es sich bei zwei Personen um eine alte Frau und ihren Sohn handle.

Die Gerichtsakten sind ausführlich. Als maßgebliche Hexe wurde Prista Frühbottin angegeben, dazu ihr Sohn Dictus. Zeisigk und Schiele waren mit ihr im Bunde. Sie hatten sich auch dem Teufel ergeben, die 177

Frühbottin obendrein mit ihm gebuhlt.

Dass es sich um ein erpresstes Geständnis handelte und die Tat des Weidevergiftens fingiert war, geht aus der Anklage hervor, die auch Cranach anführte. Die männlichen Verurteilten waren Abdecker, sie zogen toten Tieren die Felle ab, die dann wohl die Frühbottin verkaufte.

In dem überheißen Jahr verreckte das Vieh auf der Weide. Wie immer zu Katastrophenzeiten wurden Schuldige gesucht. Sonst wurden die Juden ausgemacht. Aber in Witteberg waren sie seit Langem vertrieben.

Die Verdächtigen zu finden, lag nahe, da die Abdecker ja das Vieh häuteten. Vergiftet wurde dies durch ein Pulver, dass die Frühbottin hergestellt und auf der Weide verstreut hatte. Das herzustellen, hatte sie auch ihren Mittätern beigebracht. Auch das klang nach unter der Folter erzwungenem Geständnis.

Im Letzten startete Cranach der Jüngere mit seinem Flugblatt einen Aufruf, noch mehr der Hexen und Hexer aufzuspüren. Er nannte hierfür als schädliche Rotten die unterste Sozialstufe: Bettler, Schinder (Abdecker), Henkersknechte, eben auch Hirten. Den Segen spricht er auch noch: „Gott, der allmächtige, behüte alle christlichen Herzen vor des Teufels Listen, Anschlägen und Anfechtungen.“ Warner war verstört, auch wegen seines Drehbuches. Der Film sollte von der Ausbreitung der Reformation handeln. Vielleicht hatte sich auch dieses ausgebreitet: Hexenverbrennungen, Judenverfolgungen, Massenhinrichtungen an Aufständischen, Massaker an Täufern?

Tofana kam von der Spätschicht. Warner war schon mehrmals in den Schlaf gefallen, bald aber wieder hochgeschreckt. Jetzt ging er mit Tofana zu Bett, aber eben auch mit Lucas Cranach dem Jüngeren. Sie war nun so etwas wie seine „Käthe“, aber Luther hatte ja auch dem Teufel näher gelegen als Cranach, genau wie jetzt Warner.

Um Mitternacht fuhr er hoch. Er stürzte auf den Flur, riss den Feuerlöscher von der Wand, rannte mit ihm zurück in das Zimmer und setzte ihn in Betrieb, um ein vermeintliches Feuer zu löschen. Mit einem Schrei sprang Tofana aus dem Bett. Warner ergriff sie und rannte, sie im festen Griff, aus dem Krankenhaus. Es ging die Collegienstraße hinab, sie im dünnen Nachthemd, Warner mit nacktem Oberkörper. Die Straße war menschenleer. Warner eilte mit Tofana durch den Torbogen des Predigerseminars hin zum Lutherbrunnen. Dort steckte er sie hinein.

Tofana konnte sich endlich aus seinem Griff befreien. Sie herrschte ihn an: „Bist du ein Täufer oder hältst du mich für eine Täuferin? Wenn du mich schon aus dem Feuer retten wolltest, musst du mich nicht obendrein auch noch ersäufen.“ 178

Tofana stieg aus dem Lutherbrunnen. Jetzt bemerkten beide, dass es kalt war. Bis zum Diakonissenkrankenhaus hatte sich Tofana so weit abgekühlt, dass sie grübelte, wie sie die nächtliche Fantasiewelt Warners zur Ruhe bringen könne. Erst aber galt es, das Werk der Verwüstung durch den Feuerlöscher zu beseitigen. Die Wäsche war zu waschen, das Deckbett war verdorben. Den Feuerlöscher würde Warner morgens unbemerkt in der Elbe verschwinden lassen. Was nicht niet- und nagelfest war, wurde gestohlen. Bei einem Feuerlöscher wäre es auch nicht ungewöhnlich.

Jetzt entdeckte Tofana die Ursache für den nächtlichen Ausbruch Warners. Sie bedeutete ihm, dass er sich vor dem Schlafengehen nicht mit Schundliteratur beschäftigen solle. Warner entschuldigte sich kleinlaut. Er würde in Zukunft nur noch Liebesgedichte lesen. Tofana blickte noch einmal auf die aufgeschlagene Seite, dann gab sie zu verstehen: „Ich habe Lucas Cranach in der Hölle getroffen.“ Warner entfuhr es: „Welchen?“ Tofana fragte mürrisch zurück: „Von welchem reden wir denn hier? Den Jüngeren. Er saß dort auf einem Balken.“ Tofana schlug das Buch zu und beförderte es auf die Toilette. Dann durfte Georg zu ihr unter die Decke. Wer wen wärmte, war anfangs nicht klar.

Die Fenster Georg Warner war adventlich gestimmt, als er Ende der Woche zur Schlosskirche aufbrach. Die Sonne schien, ein wenig Dunst vergoldete die Ansicht. Warners Gemüt hob sich stets, wenn er der Schlosskirche zustrebte. Sie war und blieb der Mittelpunkt der Reformation.

Dabei war nichts mehr so wie einst. 1760 war sie samt angrenzendem Schloss in Schutt und Asche gelegt worden. Auch die berühmte Tür des Thesenanschlags war dabei verbrannt. Jetzt gab die neue Tür die 95 Thesen in Bronze wieder. Einmal hatte ein allzu eifriger Historiker bei einer Stadtführung Amerikanern erklärt, dass der Thesenanschlag nicht verbürgt sei. Er wurde empört zur Ruhe gebracht und ihm mitgeteilt, dass man eben wegen dieser Tat die weite Reise unternommen habe.

Vor dieser arg jungen Tür herrschte stets andächtiges Erschauern. Für Warners Drehbuch war sie nebensächlich. Bevor der zehnte und letzte Film gesendet würde, war sie schon gänzlich ausgebeutet worden.

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Ach ja, die Preußen. Wenn sie im Siebenjährigen Krieg richtig auf den Deckel bekamen, dann von den Österreichern oder Russen. Die zusammengewürfelte Reichsarmee war ihnen in allen Belangen unterlegen.

Darin versuchten vor allem die Franzosen ihre Interessen durchzusetzen. Plötzlich erschien 1760 die Reichsarmee vor den Toren Wittenbergs und schloss die Preußen ein. Es war bereits die Zeit der Pyromanen. Keine endlosen Belagerungen mehr. Durch die Entwicklung der Kanonen war es möglich, eine Stadt im Umlauf der Uhr einzuäschern.

Und man tat das hinsichtlich der Liebe zur Kriegstechnik mit Wollust.

Freilich musste man hohe Gebäude zur Zieleinrichtung benutzen. Und ein solches war die Schlosskirche.

Zehn Jahre später stand sie in spätbarocker Gestaltung da wie neu.

Nach den Befreiungskriegen und noch einmal gewaltigem Beschuss, hatten sich die Preußen Wittenberg „verdient“. Die Hochburg der Reformation, das Bethlehem der lutherischen Lehre, wurde zur Garnisonsstadt mit Festung. Die altehrwürdige Universität wurde nach Halle verlegt und stattdessen das Predigerseminar eingerichtet, das noch Warner so schnöde behandelte. Das Leiden der Vikare begann.

Warner rekapitulierte das eben jetzt, denn man sprang über die Geschichte einfach hinweg, die deprimierender nicht sein konnte, und fand sich beim hammerschwingenden Luther ein. Als einen Akt der Deutschen Einheit 1871 ließ Kaiser Friedrich Wilhelm I. die Festungswerke abreißen. Dann ging es an eine gänzliche Neugestaltung der Schlosskirche, am Reformationstag 1892 in Gegenwart von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht.

Warner hatte das Gefühl – auch die Sonne verbarg sich hinter einer Wolke –, von preußischem Verfolgungswahn heimgesucht zu sein. Wie wohltuend war da der Verfall der Schlosskirche unter den Neupreußen.

Aber man werkelte bereits.

Jetzt betrat er die Schlosskirche und fand wieder, was er bereits kannte, jetzt aber schärfer ins Auge fasste. In die Fenster waren die europäischen Reformatoren eingelassen. Er würdigte in seinen Aufzeichnungen jeden, beschrieb das Land und den Weg der Reformation. Der Regisseur des Films sollte sich bedienen können. Wie das geschehen konnte, gab er im Drehbuch an. In der Woche hatte er sich mit den Matrikeln der Lutherzeit befasst. Die überwiegende Zahl der Studenten kam aus Ungarn. Die in das Studentenverzeichnis eingetragenen Namen und Herkunftsorte sollten im Film durchlaufend erscheinen. Der Reformator in Ungarn war Matthias Dévai gewesen.

Warner war stets mit der Stoppuhr unterwegs. Die Zeit für die Auf180

nahme trug er am Rand des Drehbuches in Sekunden ein. Bildeinstellungen hatten eine gefällige Dauer. Warner hätte aber nie gedacht, dass ein gewichtiger Text schon nach 20 Sekunden zu Ende sein konnte.

Er wusste, wen er zu suchen hatte. Den Hussiten und Böhmischen Bruder Johann Augusta. Den Text entwarf er sofort, denn Augusta musste die Szene zur Gewalt bestimmen, die ihm vorschwebte: „Johann Augusta ist Hutmacher gewesen. Er kam von der frühen reformatorischen Bewegung her, die um 1400 von Jan Hus ausgegangen war. 1532 wurde Augusta Bischof der Böhmischen Brüderunität. Er besuchte Luther in Wittenberg. Auch wegen dieser Verbindung politisch verdächtigt, wurde er 16 Jahre eingekerkert. Unbeugsam versuchte er durch Briefe und Schriften aus dem Gefängnis heraus die kleine, verfolgte Brüderkirche zu leiten.“ Die Verfolgung sollte in der Szene die Kernaussage sein. Schon durch Augustas hussitische Herkunft war davon auszugehen, dass er der Gewalt auch Gewalt entgegensetzen wollte.

Am Abend stand Warner der Sinn nach einem Milieuwechsel. Es ging nicht nach Pratau, sondern in die Bahnhofsgasstätte, wo es als Krönung nur Beefsteak mit Kartoffelsalat gab. Aber er wurde beglückt. Da dem Strandgut in Bahnhofsgaststätten nicht einfiel, Wein zu trinken, gab es ein schmales Kontingent an „Pinot noir“. Warner leerte zwei Flaschen, während er Tofana damit unterhielt, was ihm alles auf Bahnhöfen begegnet war, dem Hagenwerderer eingeschlossen. Auch die Jochdemontage Stößen kam vor, allerdings ohne Erklärung, zu welchem Zweck er dort Schienen von Schwellen getrennt hatte.

Tofana schleppte Georg schließlich ab. Was für ein Kerl und was für ein Gewicht – ein Kesselschmied. Schließlich konnte sie ihn auf dem Bett abwerfen. Nach Mitternacht tastete sie um sich. Georg lag nicht mehr neben ihr. Sie war schon auf eine Attacke gefasst. Da sah sie ihn am Fenster stehen, mit weit aufgerissenen Augen. Er stammelte entsetzt: „Die Schlosskirche brennt.“ Als sie neben ihm stand, sagte sie das einzige Richtige: „Es gibt keine Preußen mehr.“ Warner antwortete wach: „Ach so. Da muss ich mich wohl getäuscht haben.“ Tofana verjagte weitere Träume, indem sie seinen Kopf an ihre Brust bettete.

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Kampfstimmung Georg Warner hätte die geplante Szene auch zu Hause gestalten können.

Aber der „Stallgeruch“ würde sich mit hineinschreiben. So begab er sich ins Lutherhaus, wies seinen Auftrag vor und erbat sich, in der Lutherstube schreiben zu dürfen, was in Begleitung geschah. Die Dame saß unauffällig hinter ihm.

Warner schaute auf den Tisch und sah im Geiste Luther vor sich. Der las, wie konnte es anders sein, in der Bibel. Sie musste in der Mitte aufgeschlagen sein. Und so das geschah, langte man bei den Psalmen an.

Luther dürfte also, ohne dass das mitzuteilen war, Psalm 31 gelesen haben: „Neige deine Ohren zu mir, hilf mir eilends!

Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest!

Denn du bist mein Fels und meine Burg, und um deines Namens willen wollest du mich leiten und führen.“ Johann Augusta betritt hastig das Zimmer. Warum weiß er, aber Luther nicht. Die kleinen und großen Geister des Teufels sind ihm bereits auf den Fersen. Luther missdeutet den plötzlichen Auftritt. Und in gewissem Sinne musste es rasch weitergehen: Der böhmische Bruder Personen: Martin Luther Johann Augusta Luther sitzt an seinem Tisch, hat die Bibel aufgeschlagen, liest. Augusta tritt hastig ein. Verschließt die Tür. Luther blickt erstaunt zu ihm hin.

Luther: Ich bin das Kommen und Gehen gewöhnt. Aber weshalb wirfst du die Tür hinter dir ins Schloss? So versperrt man sich den Rückzug. (Augusta begibt sich nach allen Seiten sichernd zu Luther.)

Augusta: Warst wohl nie auf der Flucht, Luther?

Luther: Fliehen gehört nicht zu meinem Geschäft. Ich folge dem 182

Evangelium. Und wer folgt dir?

Augusta: Im Moment keiner. Ich bin Johann Augusta, ein Böhmischer Bruder. (Luther springt erfreut auf.)

Luther: Sei willkommen, Freund, Bruder. (Augusta wendet sich ab.)

Ich weiß, man hat euren Jan Hus gegen päpstlich und kaiserlich Wort verbrannt und euch in Verbitterung und Krieg getrieben. Aber euch wird Gerechtigkeit widerfahren.

Augusta: Wann, Luther? Wann?

Luther: Das Licht des Evangeliums ist aufgegangen und wird auch eure Lehre läutern. Ich finde an Hus und seinen Artikeln nichts Irriges.

Das muss noch nicht die Wahrheit sein, aber sie wird offenbar werden.

Augusta: Wir sind als Ketzer verschrien. Was unserem Hus geschah, kann täglich jeden von uns treffen. (Er holt einen Dolch hervor. Legt ihn auf die Bibel.) Deshalb haben wir selbst zu den Waffen gegriffen. (Luther weicht zurück.)

Luther: Und werdet es nicht zu Ende bringen.

Augusta: Wir wurden auf diesen Weg gezwungen. (Er setzt sich auf Luthers Platz.) Von eurem Gelehrtenstuhl her mag das anders aussehen.

Luther: Die Blickrichtung ist die gleiche, nur der Blick ist etwas schärfer. (Er nimmt ein Buch vom Tisch. Eine Fabel soll seine Sicht veranschaulichen.) Ein Wolf ging, um sich am frischen Wasser zu laben. Er stellte sich an eine Quelle und genoss deren Reinheit. Ein Lämmchen kam daher und trank bescheiden am Unterlauf des Baches. ‚He‘, rief der Wolf, ‚du trübst mir das Wasser!‘ ‚Wie kann ich‘, entgegnete das Lämmchen, ‚da der Bach bergab fließt.‘ ‚Das tut nichts zur Sache‘, knurrte der Wolf, ‚gefressen wirst du doch.‘ Und er tat es mit Genuss. (Luther legt das Buch aus der Hand.) Eine alte Fabel. Mir scheint, die Welt hat sich seither nicht zum Besseren gewendet. Die Großen fressen die Kleinen.

Augusta: Wäre es dann nicht an der Zeit, dass sich die Kleinen gegen die Großen zusammentun?

Luther: Sich vereinigen ja, aber um der Wahrheit willen. Diese Welt muss durch das Wort überwunden werden, sonst brauchten wir nicht nach der Wahrheit zu suchen. Das Faustrecht würde regieren. Wer den anderen mit Gewalt überwindet, soll ihn verbrennen. So wären die Henker die gelehrtesten Doktoren.

Augusta: Da liegt noch ein weiter Weg vor uns. (Er erhebt sich. Geht.

Luther sieht ihm nach.)

Luther: Es ist ein kurzer Weg bis zum Evangelium, aber ein weiter unter dem Kreuz. (Er klappt die Bibel zusammen, in der der Dolch liegt.

Mit der Bibel ab.)

183

Es war eines der kürzesten Stücke, die Warner geschrieben hat. Zu dehnen war da nichts, alles war klar. Sonderlich lang musste das Drehbuch nicht mehr ausfallen. Er war auf dem Höhepunkt angekommen. Er schlug noch ein Interview vor, rund um die Schlosskirche, in dem Touristen sich zu äußern hatten, weshalb sie nach Wittenberg gekommen seien. Wohl kaum in der Absicht Johann Augustas.

Am 2. Advent wollte Warner wieder vor seine Gemeinde treten. Das war der Sonntag mit Texten zu Johannes dem Täufer, an dem er stets Ärgernis erregt hatte. In Gedanken war er schon mit der Predigt befasst. Er würde Johannes in aller Vollmacht schildern. Auch mit Flavius Josephus kundtun, dass man schon aus weiter Entfernung am Jordan das reuevolle Klagen und Weinen hörte. Markig war Johannes zu vernehmen, der die Schafe von den Böcken schied. Und dabei verwies er auf den, der nach ihm kommen würde, noch weitaus gewaltiger. Auf einmal spürte der Täufer jemanden hinter sich, eigentlich nicht jemanden, sondern etwas, die Sanftmut und Vergebung. Er drehte sich abrupt um. Da stand der, welcher sein Nachfolger werden sollte, Jesus. Und Johannes entfuhr es: „Was, du!?“ Das konnte im Fortgang nur noch heikel werden.

Am Abend las Warner brav Gedichte, von Rilke. Tofana wollte etwas vorgelesen bekommen. Er reichte ihr den Band hinüber und sagte, dass das aufgeschlagene Gedicht von einer Frau gelesen werden sollte. Tofana übernahm den Part: „Ich möchte jemanden einsingen, bei jemandem sitzen und sein.

Ich möchte dich wiegen und kleinsingen und begleiten schlafaus und schlafein.

Ich möchte der Einzige sein im Haus, der wüsste: die Nacht war kalt.

Und möchte horchen herein und hinaus in dich, in die Welt, in den Wald.

Die Uhren rufen sich schlagend an, und man sieht der Zeit auf den Grund.

Und unten geht noch ein fremder Mann und stört einen fremden Hund.

Dahinter wird Stille. Ich habe groß die Augen auf dich gelegt: und sie halten dich sanft und lassen dich los, wenn ein Ding sich im Dunkel bewegt.“ 184

Tofana legte groß die Augen auf Georg, die grünen Sprenkel blitzten feucht. In der Nacht schlief Warner fest und Tofana unruhig. Im Traum plagten sie Ahnungen, die sich am Morgen bestätigten.

Als Warner packte, weinte Tofana, als wollte sie sich auflösen. Sie verwünschte alle Schläuche, die zu ihrem Handwerk gehörten. Schließlich brach es aus ihr hervor: „Ich kann und will mit dir leben, Georg.“ Der brachte immerhin noch „später“ hervor. Sonst hätte sich Tofana wohl an sein Bein gehangen und sich hinter ihm her schleifen lassen.

Der Zug fuhr ein, Warner bestieg ihn ohne Bedauern. Tofana stand am Zug, seufzend und schütternd. Warner hatte das Fenster heruntergelassen. Zu sagen gab es nichts mehr. Der Zug fuhr an. Tofana rannte neben ihm her. Der Zug gewann an Fahrt. Georg Warner sah noch, dass zwei Pudel hinter Tofana her hetzten, der eine war weiß, der andere schwarz.

Der Dolch Bei einem Wetter, da man lieber zu Hause bleibt, tat das auch Warner und schrieb das Drehbuch ab. Einen Durchschlag erhielt der Bischof im fernen Marburg. Als er die Sendungen in den Briefkasten steckte, blickte er ihnen gespannt hinterher. Mal sehen, was das wird.

Es geschah lange nichts. Er erhielt von Kundmann nicht einmal die Bestätigung, dass das Drehbuch eingegangen sei. Ende März entschloss er sich daher zu einem Brief, in dem er gleich den Finger in die Wunde legte. Denn der Medienbeauftragte mit starkem Hang zur Vorzensur und damit zum vorauseilenden Gehorsam dürfte sich vor allem an der Spielszene gestört haben. Warner mutmaßte nicht, sondern tat so, als sei der Dreh beschlossene Sache: „Ich habe die Spielszene ‚Der böhmische Bruder‘ genannt. Inhaltlich geht es um die Frage nach der Gewalt. Luther hat sie im Zusammenhang mit Hus in einer der drei Hauptschriften der Reformation gestellt, ‚An den christlichen Adel deutscher Nation‘. Die Szene soll den Vorreformator Hus mit einbeziehen, um die Kontinuität von Reformation aufzuzeigen. Sie soll, wie schon erwähnt, Luthers Stellung zur Gewalt im Rahmen der Reformation verdeutlichen. Und sie soll die Situation eines Augusta und seiner Kirche erhellen.“ 185

Nicht ohne Ironie legte Warner die Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ bei. Einmal diente ihm das zur Beweisführung für die Szene, zum anderen brauchte Kundmann nicht erst zu suchen. Und schließlich bedurfte auch sein christlicher Stand der Besserung.

Warner musste diesmal nicht lange warten, denn er hatte im Medienbeauftragten den Löwen geweckt, sodass der sich deutlich positionierte. Neben anderen Bemerkungen und Einwänden zum Drehbuch ging Kundmann besonders auf die Szene ein. Es gehört bei Kritikern zu den Lieblingsaufgaben, sich gleich auf den ersten Satz zu stürzen, um das Folgende von vornherein herunterzuziehen. Er kritisierte an der Begrüßung Augustas durch Luther, der das „Kommen und Gehen gewöhnt“ sei, dass der Anlass für die Begegnung zu gering sei, da Luther von Menschen aus aller Welt besucht werde. Geschah Warner solch eine Kritik, sagte er sanftmütig: „Bitte weiterlesen.“ Wie sich herausstellte, hatte es Kundmann auch getan, wohl eher widerwillig. Er hielt sich noch eine Weile bei Formalitäten auf, um dann seinen Pfeil abzuschießen: „Frage der Gewaltanwendung … das wird angedeutet, mag auch im historischen Rückblick durchgehen; wir können aber keine ‚Friedensdiskussion‘ im historischen Kostüm bringen.“ Warner dachte empört: „Was maßt sich dieser Pate an?“ Er beruhigte sich aber schnell wieder, denn damit hatte sich Kundmann bloßgestellt.

Absichtlich hatte Warner diese Szene in den Kontext der DDR-Friedensbewegung gebracht. Kundmann wollte sie deshalb in keiner Weise bringen. Damit war seine Haltung klar. Aber bei engagierten Kirchenleuten dürfte das keine Begeisterung auslösen.

Georg Warner lichtete den Brief ab und sandte die Kopie dem Bischof. „Das wird den Paten aus Hemd und Hose stoßen, sodass nur noch die Schuhe stehen bleiben“, dachte Warner grimmig. Griff der Bischof ein, so war das hinsichtlich der Lutherehrung ein Störfeuer gegen das „gute Verhältnis“ von BRD und DDR. Jetzt mussten erst einmal die diplomatischen Drähte glühen. Das dauerte bis Ende Mai. Da schrieb Kundmann kurz angebunden: „Wir besorgen Ihnen für vier Personen vom 18. bis 19. Juni in Potsdam Nachtquartiere. Produktion der Szene am 18. Juni im Kloster Lehnin zwischen 17 und 22 Uhr.“ Nach freundlichem Gruß und Unterschrift stand: „PS: Ich werde nicht dabei sein.“ Wahrscheinlich wollte man diese „Friedensdiskussion“ nicht in der Lutherstube in Wittenberg drehen, sondern im tiefsten Brandenburg.

Die Frage war auch nicht gestellt worden, wie man ohne Auto aus der 186

Oberlausitz nach Lehnin gelangen würde, mit Bahn und Bus wohl als Tagestour.

Auffällig war bei der Datierung, dass nur 14 Tage Zeit für eine fernsehgerechte Aufnahme blieben. Warner mutmaßte zu Recht, dass der Dreh an mangelnder Qualität scheitern sollte. Er bestimmte Don als Augusta und den kleinen Cowboy, der sich als König von Preußen durch überraschende Wendungen in seinem Spiel hervorgetan hatte, als Luther. Wie er mit seinem schweren Motorrad die Kurven schnitt, so gekonnt kurvte er auch durch die Aufführungen.

Jeden Abend war Probe. Den Text hätte man sicher nach zwei Proben intus gehabt. Aber es galt, immer mehr zu vertiefen. Auf der Bühne blieb stets der Abstand zum Zuschauer erhalten. Der Film aber lebte von Schnitten, plötzlichen neuen Einstellungen und Nahaufnahmen.

Die Mimik zum Gesprochenen musste auf die Sekunde stimmen. Auch galt es, Perspektivwechsel zwischen Luther und Augusta zu bedenken.

Letzterer saß dann auf Luthers Stuhl. Luther ging umher und deklamierte die Fabel. Warners Regie bestand darin, seine Spieler auf unerwartete Einwürfe vorzubereiten, die zur Improvisation zwangen. Das war vonnöten, um Forderungen des Regisseurs und Kameramanns der Sendung spontan nachkommen zu können.

Am 18. Juni fuhren sie mit dem Zug von Görlitz nach Potsdam. Warner hatte Kundmann nicht mitgeteilt, dass sie nur zu dritt seien und er sich bei der Personage verzählt hatte, indem er Quartier für vier Leute orderte. In Potsdam mussten sie warten, bis der Bus nach Lehnin fuhr.

In der Tasche mit den Kostümen und Requisiten befand sich die Kleidung von Don und Cowboy. Warner war nicht auf „historische Kostüme“ bedacht. Er deutete nur an. So hatte Luther den ärmellosen Umhang eines Kreuzträgers, der den Armen Bewegungsfreiheit ließ.

Augusta hatte Warner einen grobleinenen Überwurf zugedacht.

Der Koffer wurde geöffnet und begutachtet. Was fehlte, war der Dolch, der vor dem Verschließen des Koffers noch vorhanden gewesen war. Jetzt fiel es Warner ein. Da der Zug nach Potsdam um Westberlin zu fahren hatte, war Transportpolizei erschienen und hatte das Gepäck kontrolliert.

Man traf am Nachmittag im Kloster Lehnin ein. Warner sah, dass im Park Kinder Indianer spielten. Und die hatten tatsächlich einen Dolch bei sich, um skalpieren zu können, wie sie sagten. Den bat er sich aus.

Am Griff waren schmale bunte Plastikbänder aufgezogen. Das sollte niemandem auffallen. Die verschwundene Waffe hatte eine Rehpfote als Griff gehabt. Nun, Dolch ist Dolch.

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Der Raum, in dem der Dreh stattfinden sollte, war an Nüchternheit nicht zu übertreffen, nicht einmal überwölbt. Das hätte auch ein Studio bieten können. Vielleicht war jemandem lediglich an dem Vermerk gelegen, der Dreh habe im altehrwürdigen Kloster Lehnin stattgefunden.

Immerhin, ein „historischer“ Tisch und Stuhl standen da. Und rundum Scheinwerfer.

Eine der fünf Damen, die hier aufgereiht standen – hauptsächlich weibliche kleine Geister des Teufels befassten sich mit Warner – war die Dramaturgin. Das Drehbuch vor die Brust geklemmt, wollte sie die beiden Darsteller in Empfang nehmen, doch Warner wies sie barsch hinaus. Er sagte gelassen, er sei der Autor und Regisseur der Szene. Ohne ihn käme kein Satz in die Mikros.

Jetzt trat der Meister ein, der zugleich die Kamera führen würde. Er stellte sich Warner mitten im Zwist mit der Dramaturgin vor. Es wird hier kein Name genannt, denn Warner arbeitete Jahre später lange mit ihm als Drehbuchautor zu Industrieabbrüchen. Freunde wurden sie keine. Denn der preisgekrönte Dokumentarfilmer, ausgezeichnet mit dem Heinrich-Greif-Preis, mutmaßte immer, Warner sei mit schuld an seinem Los nach dem Mauerfall, soziale Untergänge der einst Vollbeschäftigung garantierenden DDR ablichten zu müssen.

Jetzt ordnete er einfach an. Stellte die Dramaturgin ruhig und ließ für Warner einen Stuhl holen, der sich dann in einiger Distanz zu den Spielern befand, aber immerhin noch vor den Damen. „Luther“ nahm Platz, eine schöne alte Bibel wurde vor ihm aufgeschlagen. Der Heinrich-Greif-Preisträger war mit Kameraeinstellungen befasst. Dann sagte er zu Warner, er solle das Spiel beginnen lassen.

Alles lief perfekt. Der Kameramann und Regisseur schaute gelegentlich auf und schien höchst zufrieden. Unmittelbar hinter sich hörte Warner einen Ausruf: „Wie die spielen!“ Ihm wurde klar, dass man mit einem stümperhaften Laienspiel gerechnet hatte.

Der Heinrich-Greif-Preisträger war in seinem Element. Er forderte die Spieler nur gelegentlich zu bestimmten Nuancen auf. Auch mussten die Blickkontakte für den Schnitt stimmen. Der die Fabel lesende Luther bereitete entgegen Warners Befürchtungen keine Schwierigkeiten. Auf der Bühne musste nach vorn gespielt werden, der Film hatte andere Möglichkeiten.

Dann kam die Krise. Augusta legte Luther den Dolch auf die Bibel.

Es schien, als schrecke der Heinrich-Greif-Preisträger hinter der Kamera zurück. Er nahm die Kopfhörer für den Ton ab, drehte die Kamera weg und wandte sich an Warner: „Solange die DDR besteht, hat nie 188

ein Messer auf der Bibel gelegen.“ Warner musste prompt reagieren. So fragte er: „Haben Sie die Bibel gelesen?“ Der Heinrich-Greif-Preisträger bejahte es. Warner führte an: „Dann werden Sie wissen, wie viele Messer in der Bibel vorkommen.“ Der wohl anders angewiesene Preisträger antwortete: „Da haben Sie recht.“ Und dann drehte er in verschiedenen Einstellungen den Dolch auf der Bibel. Es sei vorweggenommen, dass das bei der Ausstrahlung der Sendung das Hauptmotiv war. Man hörte Augusta und Luther nur und sah den Dolch auf der Bibel. Nach einer Stunde war die Aufnahme im Kasten. Der Heinrich-Greif-Preisträger fragte in die Runde, wobei er vor allem die fünf Damen meinte, ob noch Fragen seien. Sie hatten keine. So sagte er, dass ihm auch im Nachgang keine zu stellen wären.

Klappe zu. Warner nahm heimlich den Dolch an sich und suchte die Kinder auf, damit sie bei gutem Licht noch „skalpieren“ konnten.

Veröffentlichungen Was im Revier geschah, wurde auch andernorts registriert. So meldete sich im Sommer der Chefdramaturg des „Theaters der Bergarbeiter“ Senftenberg bei Warner. Der für das Treffen vorgeschlagene Ort verblüffte ihn. Stoll war im Dorf neben seinem Heimatort Daubitz aufgewachsen. Seine Eltern lebten auf dem Gelände des Sägewerks, wo Warner als Jugendlicher dreimal seine Sommerferien verbracht hatte. Das Treffen schilderte der Chefdramaturg später in „Theater der Zeit“: „Das letzte Mal begegneten wir uns in diesem heißen Sommer in Quolsdorf, dem Wohnort meiner Eltern. Warner kam, um mir die Reinschrift seines ‚Nonnenmacher‘ zu übergeben. Als meine Mutter den Gast in die Wohnstube führte und ich sagte, dies sei der Pfarrer von Deutsch-Ossig, sah ich auf ihrem Gesicht ein ungläubiges Staunen. So schwergewichtig bäurisch, mit langen Haaren und dickem Schnurrbart, eher einem Zimmermann oder Kesselschmied ähnelnd, hatte sie sich einen protestantischen Pfarrer nicht vorgestellt.“ Stoll erklärte sich sogleich, indem er den „König von Preußen“ auf den Tisch legte. Er sagte, Warner brauche nicht misstrauisch zu sein, denn das Stück sei nach seinen fulminanten Auftritten in Umlauf. Er machte kein Hehl daraus, dass er den „König“ inszenieren wolle. Aber 189

es sei nun einmal grenzwertig. Bei Luther hingegen gehe dieses Jahr alles. Allerdings nur bis Dezember, dann sei das Lutherjahr vorbei. Bis dahin den „Nonnenmacher“ veröffentlicht zu bekommen, würde für das bemerkenswerte Revolutionsstück ein Gewinn sein.

Jetzt wurde Stoll konkret: „Ich habe mit dem Verlagsleiter von ‚Theater der Zeit‘ gesprochen. Er wird das Stück veröffentlichen. Sie schicken es ihm und schlagen mich für das Vorwort vor.“ Er machte eine Pause, um dann fortzusetzen: „Ich werde auch den ‚König von Preußen‘ besprechen. Den Text kann ich Ihnen schon vorab mitteilen.“ Er holte Notizen hervor und las: „Geschichte hat es dem schreibenden Pfarrer angetan. Eines seiner Stücke heißt ‚König von Preußen‘, gearbeitet nach Motiven des Romans von Jochen Klepper. Mittelpunkt der Auseinandersetzung ist hier eine Szene zwischen Friedrich Wilhelm I. und dem Deserteur Bleuset, in der beide ihr Verhältnis zur Freiheit und Unfreiheit zu bestimmen versuchen. Wie sich erweist, ist auch der Herr gegenüber dem Knecht nicht absolut frei. Auch er steht in einem durch das System seiner Herrschaft hervorgerufenen Zugzwang. Also gute Hegel’sche Gedanken im Kopf dieses Lausitzer Pfarrers.“ Stoll sah Warner fast mitleidig an, um festzustellen: „Ich habe mich mit Ihrer Biografie befasst. Sie haben immer gerade so noch die Kurve gekriegt. Auch hinsichtlich des Schreibens.“ Er hatte das nächste Zitat bei der Hand: „‚Wenn man den Ärger, den man mit der Aussage eines Stückes erzielen kann, für einen Gradmesser des Erfolges hält, dann war Warner bisher ziemlich erfolgreich.‘“ Dieser fand, dass sich der Chefdramaturg ziemlich weit vorwagte.

Jetzt war ihm daran gelegen, den Pfarrer und den Autor miteinander zu verbinden, was auf einen fulminanten Vergleich hinauslief: „‚Aber das alles scheint den Pfarrer Georg Warner nicht restlos auszufüllen, da ist eben noch ein Drang in ihm, der das Bindeglied zwischen Verkündigung des Evangeliums und direkter Menschenhilfe darstellt; die Passion des Stückeschreibens. Dass Pastoren Schriftsteller werden, die Theologie mit der Poesie ins Gerangel kommt, ist so neu nicht: Herder, Kloppstock, Wieland, Jean Paul, Mörike, Goes bezeugen, das ist gute deutsche Tradition. Und je weiter man zurückgeht in der Geschichte des Protestantismus, desto fließender werden die Grenzen. Oder wer könnte mit allerletzter Gewissheit sagen, wo bei den großen Vorfahren meines stückeschreibenden Pfarrers – Luther und Müntzer – der Prediger aufhörte und der Agitator, der Dichter, der Kämpfer begann?‘“ Stoll sah jetzt auf dem Gesicht Warners mehrere Fragezeichen. Das größte betraf den Chefdramaturgen selbst: Wie er diesen Text durch190

bringen wollte. Stoll setzte noch einmal bei der Lutherehrung ein: „Lieber Herr Warner. Wenn eine höchst wohlwollende Kampagne wie die Lutherehrung läuft, kriegen Sie alles durch. In dem Falle noch bis Dezember. Herrscht dagegen auch im Inneren ‚Kalter Krieg‘, es sei an das vergangene Jahr erinnert, geht gar nichts, nicht einmal Märchen bekommen Sie veröffentlicht. Deshalb werde ich jetzt einen direkten Bezug andeuten: ‚In Warners Stücken fließt Blut, werden Menschen vernichtet oder zu schlechtem Leben verurteilt, wird um das harte Gesetz der Geschichte kein eleganter Bogen geschlagen. Dieser Kanzelmensch ist dabei alles andere als ein Kanzelprediger; er weiß, dass der Mensch des Menschen Bruder, der Hilfe des Menschen bedarf. Dem versucht er nachzukommen, auch als Verfasser von Stücken, wobei ihm das Wort Hoffnung den Griffel führt. Von Revolution ist der Begriff nicht meilenweit entfernt – im Gegenteil.“ Warner musste feststellen, dass hier einer seine Stücke bis in den letzten Winkel verstanden hatte. Blieb noch die Frage nach dem Eigennutz. Stoll hielt auch damit nicht hinterm Berg: „Ich möchte Ihre Stücke aufführen. Da nützt es nichts, naiv zu tun und sich hinterher ein Aufführungsverbot einzuhandeln. Es müssen gleich Klarheiten geschaffen werden, entweder – oder.“ Warner verabschiedete sich zufrieden. Einen Tag vor Heilig Abend sollte er die Zeitschrift „Theater der Zeit“ in den Händen halten, mit Vorwort und einem „Nonnenmacher“, an dem kein Jota verändert war.

Warner stellte sich jedes Jahr mit seiner Spielgruppe dem Vergleich mit anderen kirchlichen Theatergruppen. Die Arbeit in Sachsen war überragend, vermittelt durch „Spielen und Gestalten“. Ansonsten wies die Landkarte viele weiße Flecken auf. Warners Gruppe trat für die „Mittelstelle für Werk und Feier“ mit Sitz in Eberswalde an. In den Herbstferien fand das Treffen in Magdeburg statt. Warner hatte vereinbart, dass sie Kurzstücke aufführen würden, denn der Leiter der „Mittelstelle“ beabsichtigte, noch im Jahr 1983 mehrere davon herauszugeben, als „Spieltexte zum Kirchenjahr“. Warner schrieb noch eifrig, sodass es am Ende 15 Stücke wurden. Wie der „Nonnenmacher“ erschienen auch sie als „Weihnachtsgeschenk“.

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Sechstes Kapitel

Der Flieger Die Friedensdekade kündigte sich an. Warner zog diesmal nicht durch die Landschaft, sondern hatte sich nur eine Vorstellung vorgenommen.

Der „König von Preußen“ in Zittau war ein Muss. Dort befand sich die Offiziershochschule der Landstreitkräfte, zum Teil auch in Löbau, aber das war weniger spannend. Zittau lag im Schatten des gleichnamigen Gebirges, sodass Platons Höhlengleichnis allgegenwärtig war. Warner hätte am Bußtag seine Totensonntagspredigt von einst hervorholen, sie den Offiziersanwärtern (die reichlich erscheinen würden, was war sonst schon los in Zittau) passend interpretieren und dann zu „Preußen“ überleiten können.

Nicht nur die Studenten der Offiziershochschule waren „scharf “.

Seine Truppe war es auch. Heut würde in der Klosterkirche überscharf gespielt und scharf geschossen werden. Dabei war aber nicht raus, wer getroffen werden würde.

Warner ging eben über den Platz der Klosterkirche, als er hinter sich den Ruf „Georg“ hörte. Sollte sich, da er wohl für längere Zeit nicht mehr nach Wittenberg reisen würde, der selige Faust in dem Gemäuer der Kirche eingenistet haben? Er drehte sich ruckartig um. Vor ihm stand ein großgewachsener Mann mit einem sehr langen Vollbart. Die Widerständler trugen ihr Haar bis über die Schultern, die sogenannte „Matte“. Wer noch mehr protestieren wollte, ließ den Bart in dieser Art wachsen, auch eine „Matte“. Die Worte sollten wohl besonders bedeutungsvoll wirken, gesprochen „beim Barte des Propheten“.

Warner blickte den Rufer irritiert an, denn er kannte ihn nicht. Der 192

stellte sich auch nicht vor, sondern ließ Georg rätseln. Plötzlich brach es spontan aus Warner hervor: „Der Flieger.“ Zur Bestätigung wurde er geknufft. Also mussten sie einander gut gekannt haben.

Daubitz lag unmittelbar am Rande des größten Truppenübungsplatzes der DDR. Hier wurde mit allem geschossen, was es gab. Ruhe war selten, denn von jedem Standort fuhr man hierher zur Übung. Viele Jahre später sollten Wölfe die Schützenlöcher besiedeln. Auch aus der Luft kam seinerzeit Unterstützung. Der Flugplatz Rothenburg besaß die längsten Landebahnen der DDR, sodass auch Transporter aufsetzen konnten. Die sowjetischen Freunde griffen von Cottbus her ein.

In Rothenburg waren Kampfflieger stationiert. Sie hatten sich die Welt nicht nur aus der Luft anzuschauen, sondern jagten in 50 Metern Höhe über den Ort, um dann im Wald in ein künstlich errichtetes Dorf zu feuern. Dieses wurde danach wieder aufgebaut. Deshalb lagen im Wald auch genügend Bausoldaten, die neben den üblichen Arbeiten wie Schützengräben ausheben oder das Gelände planieren auch noch zu anderem herangezogen wurden, wovon noch zu reden sein wird.

Allgemeiner Treffpunkt war seinerzeit die Schenke von Franz. Außer dem Ort Heide war bei Ausgang nur Daubitz zu erreichen. Warner fiel ein, welche Ähnlichkeit der Wirt mit dem Polterhans gehabt hatte.

Bei beiden ging es friedlich zu. Franz besaß Instinkt. Den hatte sich der ehemalige Fleischer angeeignet, als er 1953 wegen Schwarzschlachtens ins „Gelbe Elend“ von Bautzen eingeliefert wurde. Franz erkannte jeden kleinen höllischen Geist schon am Gang, bevor er die Gaststube betrat.

Er besaß dann genug schauspielerische Grimmigkeit, um den ungebetenen Gast wieder hinauszukomplimentieren. So wusste jeder, dass bei Franz die Luft rein war, vom dicken Tabaksqualm einmal abgesehen, und man sich ohne ein Blatt vor dem Mund unterhalten konnte.

Franz hatte seine Kneipe, Privatbesitz, für seine Gäste genau eingeteilt. Vor dem Tresen stand ein Tisch für die ortsansässigen Trinker.

Dahinter, in der rechten Ecke, umlief eine Couchgarnitur einen großen runden Tisch. Der war für die unermüdlichen Doppelkopfspieler bestimmt. Dann kam der Kachelofen. Auf der anderen Seite wieder ein runder Tisch mit Couchgarnitur. Daran saßen vorzugsweise die Bausoldaten. Franz wollte die Truppengattungen nicht gemischt wissen. So hatten die Flieger ihren ausladenden Tisch mit gepolsterten Holzstühlen in der Mitte der Schenke. Wer fernsehen wollte oder Laufkundschaft war, wurde neben der Tür platziert, wobei der oben angebrachte Fernseher wegen alsbald eintretender Genickstarre wenig Sehgenuss bot.

Mot-Schützen, kurz „Mucker“ genannt, wie Radl einer gewesen war, 193

bevorzugten den „Krug“ von Heide, wo es rustikal zuging.

Georg Warner saß als Student oft mit den Fliegern zusammen, die im Gegensatz zu den Bausoldaten in Zivil erschienen. Er hätte sich wohl eher bei den Bausoldaten aufhalten müssen. Obwohl sie wussten, dass Warner Theologie studierte, blieben sie lieber unter sich und flüsterten trotz der Franz’schen Freizone miteinander. Nur, wenn die Kneipe halbwegs leer war, duldeten sie Warner an ihrem Tisch.

Der Flieger hieß schon zu der Zeit „Maler“. Er stellte kleine holzgerahmte Ölbilder her, die von faszinierender Farbigkeit waren. Das kam daher, dass er keine gemischten Farben benutzte, sondern nach Vorbild der Renaissance nur reine Farbigkeit gelten ließ. Sein Hauptmotiv waren Bäume. Das begründete er damit, dass er aus dem Erzgebirge stammte. „Alles Steppe“, sagte er. Nach dieser gefragt, gab er Warner fast erbost zurück: „Noch nichts vom Waldsterben gehört?“ Seine Bilder verschenkte er, sodass Georg im Laufe der Zeit auch zu dreien gelangte, die dann im Pfarrhaus an exponierter Stelle im Eingangsbereich hingen.

Dass der Maler ihm abhandenkam, lag daran, dass auch eine zehnjährige Dienstzeit als Kampfflieger einmal zu Ende ging.

Die Flieger wurden pünktlich um elf Uhr abends von ihrem Hauptmann abgeholt, der keine Runden am Himmel drehen musste. Warner musste bei seiner Freundlichkeit und Güte an einen Seelsorger denken.

Der Hauptmann wartete auch geduldig, bis ausgetrunken war. Wer noch großen Durst hatte, durfte sich zum Schluss gleich zwei Gläser Bier bestellen.

Das alles ging Warner innerhalb kurzer Zeit durch den Kopf, als er dem Maler in Zittau begegnete. Der Maler wollte ebenfalls in die Klosterkirche, sodass sie zusammenblieben. Warner fragte, was er hier in Zittau zu tun habe. Der antwortete, er sei Maler, um dann hinzuzufügen: „Was ich male, wird dich verwundern. Ich lade dich in mein Atelier ein, gleich um die Ecke in der Pfarrgasse.“ Beim Eintritt in die Kirche stellte Warner fest, dass die Hälfte der Besucher uniformiert war. Ihn belustigte ein Gedanke: „Wie wäre es, wenn wir heute den ‚König von Preußen‘ nur probten, mit ständig wechselnder Besetzung der Grenadiere?“ Aber es sollte mehr als Ernst werden.

Warner begab sich zur vorderen Bankreihe. Der Maler nahm neben ihm Platz, was schon einmal ein deutliches Zeichen an die Versammelten war.

Jetzt sollte der Pfarrer nach Glockengeläut die Gemeinde begrüßen.

Warner kannte ihn nicht, denn das lutherische Sachsen war für einen unierten Pfarrer tiefstes kirchliches Ausland. Dort hatte er nach Mei194

nung der Lutheraner nichts zu suchen. So tiefgreifend konnte die unterschiedliche Abendmahlslehre wirken. Der König von Preußen hatte seinen Untertanen und eben auch Pfarrern das calvinistische Verständnis beigebracht. Kein Mysterium der Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi. Das Abendmahl war zum Gedächtnis gestiftet worden. Wenn man das dann bemüht hatte, ging es nicht auf die Knie, sondern raus aus der Kirche aufs Pferd. Das ist Preußen! Deshalb hatte der Bischof das Wächteramt der Kirche über den Staat gestellt und Warner den „König von Preußen“ geschrieben.

Jetzt betrat der Pfarrer die Bühne. Georg Warner klappte der Kiefer herunter und es entfuhr ihm: „Der Hauptmann – “ Der Maler sah ihn von der Seite an und lächelte verschmitzt. Hauptmann Alf, pardon, der Pfarrer, begrüßte Georg Warner herzlich und verwendete auch das „du“.

Dass er ein wenig überrascht sein dürfte, stellte er nicht in Abrede. Seine Gegner fasste er auch gleich ins Auge, wies dabei auf den Maler: „Man nennt uns hier die bekehrten Roten. Was eine solche Bekehrung bewirkt, wirst du uns gleich für die Unbekehrten darstellen.“ Warner sprach seine Einleitung. Es kam ihm vor, als hörte er sich aus weiter Entfernung. Annalena sang „ihren“ Traum. Auch alle anderen Lieder erklangen, die Warner einst zusammen mit der Bibliothekarin ausgewählt hatte. Warner hatte noch weiter zugespitzt. Annalena trug erkennbar Uniformteile. Wenn schon, dann wollte Warner heute endgültig berüchtigt werden.

Das Spiel, obwohl er es in aller Schärfe wahrnahm, lief an Warner vorbei. Er war in die Vergangenheit eingetaucht. In Franz’ Schenke waren die Themen der Flieger eigenartig und der Theologiestudent gefragt. Sie waren meist religiöser Natur. Handelten von dem, was zwischen Himmel und Erde gedacht wurde. Und da war kein anderer als der Evangelist Johannes gefragt. Der Maler blickte aufmerksam, gab aber wenig von sich. Wortführer war ein blasser junger Mann, ob seiner Flugkünste „Schneidewind“ genannt. Wie Warner im Laufe der Zeit mitbekam, waren die Flieger samt und sonders „höhere Semester“. Schneidewind hatte von zehn Jahren nur noch wenige Monate abzudienen. Was neben einer profunden Kenntnis der Religionen auffiel, war sein Behauptungswille, den er mit erhobenem Zeigefinger unterstrich. In Warner stieg es mitunter beklemmend auf, dass jener schneidige Flieger dem Himmel näher war als der Erde.

Etwas anderes vermittelte sich ebenfalls und wurde verdeckt bestätigt.

Die Kampfflieger hatten die Fliegerkrankheit, wie sie, dort oft tödlich, bei den Stuka-Piloten im Zweiten Weltkrieg ausbrach. Diese erlitten 195

zum Teil psychische Erkrankungen und wurden deshalb dem Euthanasieprogramm unterworfen. Bei einem Sturzflug zieht die Erde magisch an und man sehnt sich nach dem Himmel. Der Maler warf hier ein: „So viel Fantasie besitze ich zum Glück nicht.“ Eines Tages, Warner war früh in der Schenke erschienen, saßen die Bausoldaten allein im Raum. Entgegen der sonst üblichen Distanz wurde er an den Tisch gebeten. Franz ging unruhig umher, als wenn die Wände Ohren hätten. Aber die Bausoldaten ließen von ihrem Flüstern nicht ab. Warner sah, dass sie schmale Bänder um den Kopf trugen.

Vorn auf der Stirn waren Kürzel zu lesen. Es sah aus wie bei einem Kamikaze-Einsatz. Der Wortführer, der sich nicht vorstellte, senkte den Kopf und sprach vor sich hin: „Wir gehören zu einem Himmelfahrtskommando.“ Sie hatten Blindgänger auf einem Lastkraftwagen zu entsorgen, wovon ein Teil noch scharf war oder bereits gezündet, aber noch nicht explodiert. Der Wortführer deutete auf einen Kameraden neben sich: „Das ist Johannes, der aus der Apokalypse. Sonst ist er Schlossermeister und besitzt goldene Hände. So kann er die Zünder von den scharfen Granaten trennen.“ Warner blickte ihn an. Er hatte die erste Jugend bereits hinter sich. Lakonisch gab er zu verstehen: „Ich bin 36, vorher durchgerutscht.

Durch das verschärfte Wehrgesetz wurde ich mit 35 gezogen, habe vier Kinder.“ Das war alles, was er zu seinem Ruhm vorzubringen hatte.

Warner las auf seinem Stirnband „Offb. 1, 1–3“. Das sagte mehr aus, als wenn er geredet hätte. Der dahinter stehende Text aus der biblischen Offenbarung des Johannes lautete: „Dies ist die Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen soll: und er hat sie durch seinen Engel gesandt und seinem Knecht Johannes kundgetan, der bezeugt hat das Wort Gottes und das Zeugnis von Jesus Christus, alles, was er gesehen hat. Selig ist, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und behalten, was darin geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.“ Verstohlen blickte Warner auf das Zeichen des Wortführers. Es stand da „Offb. 2, 10“, ausgedeutet: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“ Der junge Warner erschauerte. Der Blick des Bausoldaten war derart ruhig, als wenn er schon alles hinter sich hätte. Der neben ihm sah ihm ähnlich: „Mein Bruder“, sagte er. Der hatte ebenso „Offb. 3“ auf seinem Band, Vers 11: „Siehe, ich komme bald; halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!“ Der Vierte in der Runde schien etwas entrückt. Auch betete er unter dem Tisch den Rosenkranz. Das Ende von Offenbarung 3 stand als Kürzel auf seinem 196

Stirnband, Vers 20: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.“ Georg Warner hatte viel gelesen, eben auch von Strafkompanien. Die hier hatten mit ihrem Leben abgeschlossen und erwarteten nichts als den Himmel. Widerwärtig war, dass sie tagtäglich mit äußerster Konzentration gegen den möglichen Tod zu kämpfen hatten. Jetzt betraten die Doppelkopfspieler die Schenke. Der Wortführer bedeutete Warner, dass er sich entfernen solle. Er begab sich in die Runde der Spieler und verlor an dem Abend so viel, wie er es sich als Student nicht leisten konnte.

An einem Tag im Sommer, Warner hatte Ferien, war weithin eine gewaltige Explosion zu hören. Dann jagten Krankenwagen durch den Ort. Am Abend traf Warner bei Franz auf einen Zivilbeschäftigten, der einen Korn nach dem anderen in sich hineinschüttete, ohne umzufallen. Er sagte vor sich hin: „Es war grässlich. Alle zerrissen. Wie im Krieg hingen auch noch Fetzen in den Bäumen. Es war grässlich.“ Gegen Ende des letzten Manövers waren wahllos alte Granaten verschossen worden.

Und die dürften auch „goldenen Händen“ widerstanden haben.

Einige Tage später meinte Warner, eine Halluzination zu haben. Aber Franz empfing ihn beglückt. Am Tisch saßen die Bausoldaten. Warner steuerte auf sie zu und konnte nur spontan sagen: „Ich dachte, ihr seid tot.“ Der Wortführer ließ ihn sich nicht setzen, sondern gab zu verstehen: „Wir hatten Urlaub. Im Übereifer hat der Offizier, der wenigstens auch dabei war, die Granaten durch Unkundige beräumen lassen.“ Warner setzte sich an den Tisch der Doppelkopfspieler, ohne nach den Karten zu greifen.

Das Sommermanöver war noch nicht vorüber. Warner befand sich vormittags auf dem Weg zum Konsum. Plötzlich kamen Fahrzeuge mit überhöhter Geschwindigkeit die Straße heruntergeschossen. Einer meinte, warnen zu müssen, hielt kurz an und leierte die Scheibe herunter, um zu rufen: „Ein Panzer ist aus dem Wald gekommen und hat rechts und links die Straßenbäume rasiert.“ Dann düste er ab. Jetzt sah Warner tatsächlich einen Panzer heranrollen, aber was hieß „rollen“. Er fuhr in Schlängellinie. Wenn er nach rechts geriet, nahm er die Strommasten mit, was jedes Mal durch die reißenden Drähte einen Feuerbogen ergab. Warner wunderte sich, dass der Panzer den Strom nicht ableitete.

Vor dem Konsum, keine 20 Meter entfernt, hielt der Panzer mit übertriebenem Ruck. Jetzt sah Warner, dass vorn auf der Haube jemand selig 197

zu schlafen schien. Die Luke öffnete sich und ein gänzlich verdreckter Soldat kroch heraus, was ihm bis zur Bodenberührung sichtliche Schwierigkeiten bereitete. Eine leere Wodka-Flasche Marke „Lunikoff “ rollte herab und zerschellte. Steifen Schrittes begab sich der Unteroffizier zum Konsum und wand sich mühsam die Treppenstufen hoch.

Bald kam er mit neuen Wodka-Flaschen im Arm zurück.

Die Militärpolizei kam heran, die kühne Fahrt musste aufgefallen sein. Der diensthabende Offizier redete beschwichtigend auf den Unteroffizier ein, dass alles nicht so schlimm sei. Als er nach der Gestalt vorn auf dem Panzer gefragt wurde, hörte Warner ihn lallen, das sei der Kommandeur: „Er konnte nicht mehr. So haben wir ihm frische Luft verschafft.“ Der Offizier stellte nur fest, dass Besoffene und Kinder einen Schutzengel hätten. Dann wurde auch die übrige Besatzung aus dem Panzer gezogen und in einen vergitterten Wagen befördert. Der Erste hielt dabei tapfer seine Schnapsflaschen fest. Jetzt hatten sich auch Dorfbewohner vorgewagt. Einer sagte: „Das gibt viele Jahre Schwedt.“ Warner dachte: „Arme Schweine.“ Das Finale des Manövers sollten die Kampfflieger bestimmen. Warners kleine Schwester hatte von den Überflügen ein Trauma behalten.

Sie lief bei Anflug stets schreiend ins Haus. Späterhin schaute sie, bevor sie hinausging, stets nach dem Himmel. Auch vor Vögeln fürchtete sie sich. Jetzt war aus der Ferne ein unerhörtes Röhren zu vernehmen.

Warner fing seine Schwester ein und steckte sie in den Keller. Dann lief er hinaus. Die Kennzeichen der sowjetischen Delta-Jäger waren Warner bekannt. In einem saß der Maler, die vorgeschriebene Höhe von 50 Metern einhaltend. Ihm folgte Schneidewind, 30 Meter über der Erde. Der Kirchturm von Daubitz hätte ihm nicht im Wege stehen dürfen. Aber auch so reichte es. Hinter dem Waldrand stieg eine Feuersäule auf.

Georg Warner ging zum frühen Abend in die Schenke. Dort saß der Maler allein. Er nippte nur gelegentlich am Bier. Dann schaute er Georg unverwandt an. Der setzte sich. Der Maler nahm einen größeren Schluck, um dann zu sagen: „Was meinst du, Georg, was man von ihm als Einziges gefunden hat? Den Zeigefinger.“ Jetzt saß der Maler in der Kirche neben ihm. Die Geschosse flogen und schlugen ein. Aus den Lautsprechern dröhnte und krachte es. Den Offiziersanwärtern wurde die Realität des Krieges vermittelt. Abzusingen war noch der „Choral von Leuthen“, „Nun danket alle Gott“. Man stand in Gruppen beieinander und diskutierte, die Studenten der Offiziershochschule bezogen Warner immer wieder ein. Einer trat an ihn heran und sagte: „Herr Warner, ich wünsche Ihnen, dass eine Zeit kommt, in 198

der dieses Stück nicht mehr gespielt werden muss.“ Er tat auch gleich kund, dass er Warner im Pfarrhaus von Deutsch-Ossig besuchen würde. So war es dann auch, wobei er keine weltpolitischen Themen anriss, sondern die Stille des Pfarrhauses mit seinen vielen Büchern genoss.

Schließlich meinte er, mit Warner so weit vertraut zu sein, dass er darum bat, seinen Wartburg unterstellen zu dürfen, um schneller bei seiner Familie zu sein. In die Kaserne durfte er ihn nicht mitbringen. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass er später den Angriff der Armee auf die Leipziger Demonstranten wirkungsvoll verweigerte.

Alf verabschiedete sich von Warner, nicht ohne ihn zu bitten, ein hoffnungsvolles Weihnachtsstück zu schreiben, das er hier im dritten Gottesdienst aufführen könnte. Der Pfarrer wusste wohl, dass Warner einer Ermutigung bedurfte. Mit dem Maler vereinbarte er ein baldiges Wiedersehen.

Georg Warner war auf dem Rückweg von Zittau so erschöpft, dass er an die Rache des Teufels nicht mehr denken konnte. Die fiel gründlich aus und sollte Warner für ein Jahr isolieren. Hauptmann Kumpfe erwartete ihn bereits und teilte ihm mit, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren angestrebt worden sei, wegen „Verunglimpfung des Unteroffiziersstandes“. So hatte sich Korporal Strickreuther doch noch gerächt.

Die Beschreibung des „Königs von Preußen“ in „Theater der Zeit“ sollte erst noch erscheinen. Aber dass Warner nun geächtet war, verbreitete sich in Windeseile. So bedauerte auch Stoll, dass er den „König“ nun nicht mehr aufführen würde können.

Rembrandt Georg Warner war die nächsten Tage über mit den vielfältigen Begegnungen beschäftigt, auch mit der so vieles öffnenden und erklärenden Begegnung mit der Vergangenheit. Kumpfes abendlichen Besuch zu Bußtag hatte er nur nebenbei registriert. Erklärt werden sollte ihm dieser am Totensonntag. Mephistopheles erschien, nachdem Warner am Nachmittag auf dem Friedhof der Verstorbenen des vergangenen Kirchenjahres gedacht hatte. Diesmal erhielt er als Dank für die geleistete Arbeit rosa Nelken. Zu der Zeit dufteten Blumen noch. Als Warner im Schneegestöber vom Friedhof weit außerhalb im Grubenbereich heim199

wärts ging, wünschte er sich etwas, vorzugsweise Tofana.

Es erschien aber niemand dergleichen, sondern Mephistopheles. Der war nachdenklich gestimmt und verwies auf den Besuch Kumpfes. Er wollte den Auftritt nicht sonderlich hervorheben, sondern die Hintergründe: „Mein lieber Georg, es wollen welche zu deinem Leidwesen Karriere machen. Die Anzeige wegen Verunglimpfung des Unteroffiziersstandes kann nicht von erbosten Offiziersanwärtern aufgesetzt worden sein, dazu war die Zeit zu kurz. Sie war bereits vorbereitet.“ Er sog den Duft der Nelken tief ein. Das sollte schon als Zeichen dienen, wer Karriere zu machen beabsichtigte. Die Stelle für Kirchenfragen beim Rat des Kreises war neu besetzt worden. Obwohl es damals noch keine Models gab, entsprach die Dame ganz und gar diesem Profil. Die Karriere sollte sie nicht an die deutsche Bücherei in Budapest führen, sondern in eine Führungsstelle beim Rat des Bezirkes. Sie fühlte sich dazu berufen, das Ärgernis des „Königs von Preußen“ aus der Welt zu schaffen. Warner hatte dann etliche Sitzungen im Rat des Kreises, um aus der Anzeige herauszukommen. Dabei tätschelte die Dame je nach Bedarf einen seiner Oberschenkel, um Zustimmung zu ihren Analysen zu erlangen.

Jetzt war zu erwarten, dass Mephistopheles Warner riet: „Georg, du wirst, was das Schreiben betrifft, isoliert werden. Irgendwann wird dir dabei kein vernünftiger Dialog mehr einfallen. Halte dich an deine neuen, alten Freunde in Zittau. Da der Maler das nächste Jahr bestimmen wird, solltest du das Weihnachtsstück, das Pfarrer Alf haben will, über einen Maler schreiben.“ Mephistopheles hatte genug gesagt und ging.

Bevor Warner über Maler nachdachte, schaffte er die Nelken in den Abfall. Sie stanken plötzlich. Auf seinem breiten Sofa für zwei liegend, das ihm nur einmal das Vergnügen der Zweisamkeit beschert hatte, mit Lilli vanilli, ließ er Maler und Gemälde an sich vorüberziehen. Kämpferisch kam ihm Pieter Bruegel ein. Der hatte den „Kindermord“ von Bethlehem nach Flandern verlegt. Später sollte er dieses dramatische Stück noch schreiben. Aber Alf wollte ja etwas Optimistisches geliefert bekommen.

Die ersten Adventsfeierlichkeiten, auf die jede Gruppe, ob jung, ob alt, bestand, gestaltete er mit den Bildern von Roger van der Leyden. Die Offene Arbeit hatte ihren Abend vor dem Täufersonntag. Dass Werner geächtet war, hatte sich inzwischen herumgesprochen. Annalena blickte ihn besorgt an. Georg Warner fiel es wie Schuppen von den Augen. So hatte die Geertje Rembrandts diesen angeschaut. Obwohl Warner noch keinen Strich getan hatte, kündigte er bereits für den Abend des Zwei200

ten Advents Proben an. Dann schrieb er, nur unterbrochen von dem Gottesdienst: Rembrandt malt die Heilige Familie Personen: Rembrandt Geertje Bettler Jude Zweifler Hure Holländische Stube. Rembrandt steht hinter der Staffelei, malt. Seine Haushälterin Geertje tritt mit heißem Tee ein, reicht ihm diesen. Rembrandt lehnt ab.

Geertje: Wie erträgst du nur diese Kälte, Rembrandt? Um dich herum ist es froststarr, herrscht ewiger Winter.

Rembrandt: Das Feuer wärmt nicht mehr, es ist erloschen. Die nach uns kommen, werden sich fragen, warum wir Holländer so viele Winterlandschaften gemalt haben. Und werden zu dem Schluss gelangen, dass zu unserer Zeit die Winter lang und die Sommer kurz waren. Die Kälte unserer Herzen wird keiner erkennen.

Geertje: Krank vor Einsamkeit bist du, Rembrandt. Geh’ wieder unter die Menschen. Schau’ sie dir an, und du wirst neue Bilder finden.

Rembrandt: Die Bibel ist voll davon. Wenn sie mir keine Geschichte mehr erzählt, gehe ich in die Anatomie des Doktor Tulp. Dort offenbart sich das Leben in seiner letzten Schönheit.

Geertje: Wenigstens heute solltest du den Tod vergessen.

Rembrandt: Soll ich die Heilige Familie malen? (Er läuft in den Hintergrund. Zerrt einige Bilder hervor.) Hier ist sie, die Heilige Familie.

Meine Familie. Saskia, die Kinder. Sie sind tot. Dem Josef, der sie beschützen sollte, unter der Hand weggestorben. Das ist für mich Weihnachten. (Geertje ab. Rembrandt tritt in den Vordergrund.) In den Jahren nach Saskias Tod und dem seiner Kinder geriet Rembrandt in eine tiefe Krise seines Schaffens. Nicht die künstlerische Qualität seiner Bilder wurde angegriffen, nur sein Herz. (Der Bettler schiebt sich herein.)

Bettler: Ein Almosen für einen vom Schicksal geschlagenen Mann.

Rembrandt: Der Bettler kommt zum Bettler. Das ist die Ironie des Lebens. Ich habe nichts zu verschenken, absolut nichts.

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Bettler: Ich möchte kein Geld, Herr. Nur einen Teller Suppe. Mich an diesem Tag bei guten Menschen aufwärmen.

Rembrandt: Bin ich der barmherzige Samariter? Er ist an mir vorübergegangen wie die anderen auch. Wir liegen beide auf der Straße, besitzen nichts als das nackte Leben.

Bettler: Etwas wird der Herr doch übrighaben. (Auf Rembrandts Gesicht wird ein böses Lächeln sichtbar. Er geht zu den Farben, nimmt eine volle Tube, reicht sie dem Bettler.)

Rembrandt: Hier. Das Gelb ist übrig. Du kannst damit Sonnen malen, strahlendes Licht. Alles, was lebt. (Geertje kommt. Erfasst das Vorgefallene. Rembrandt schneidet ihr das Wort ab.) Meine Haushälterin Geertje wird dich hinausbegleiten.

Geertje: Du hast kein Herz mehr, Rembrandt.

Rembrandt: Ich habe ihm die gelbe Farbe geschenkt, das Wichtigste, was ein Maler besitzt.

Geertje: Weil du sie nicht mehr benötigst. Du willst dich selbst zerstören und niemand kann dich aufhalten. (Geertje mit dem Bettler ab. In demütiger Haltung tritt der Jude ein.)

Jude: Meister Rembrandt. Ich möchte für dich Porträt sitzen, mit Goldhelm oder ohne.

Rembrandt: Mir ist die gelbe Farbe ausgegangen. Und außerdem wird heute nicht gemalt. Aber das kannst du nicht wissen. Ihr Juden habt das Jesuskind in der Krippe liegenlassen.

Jude: Frau und Kinder frieren.

Rembrandt: Ich nicht, mich wärmt das Weihnachtslicht.

Jude: Jesus war auch ein Jude. Er kam im Stall zur Welt, mitten im Winter. Und er fror wie wir. Meister Rembrandt könnte meine Familie malen.

Rembrandt: Bist du toll? Ich lasse mir diesen Tag nicht durch euch heimatloses Volk verderben.

Jude: Besser heimatlos, als deine Kälte teilen. (Frierend ab. Der Zweifler huscht herein, stellt sich hinter Rembrandt. Der malt.)

Zweifler: Mich zermürbt der Zweifel, Rembrandt.

Rembrandt: Das ist dein Geschäft, Zweifler. Dein Wissen hat dir den Glauben zerstört.

Zweifler: Sicher ist der Glaube etwas Überholtes. Aber das Wissen bringt keine Befreiung. Es ist eigenartig. Erst wenn ich deine Bilder sehe, finde ich Ruhe. Du kennst ein Geheimnis, das sich mir verschließt.

Nennen wir es Glaube.

Rembrandt: Dann schau dir dieses Bild an. Was siehst du?

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Zweifler: Winter.

Rembrandt: Was noch?

Zweifler: Krähen.

Rembrandt: Die Krähen haben eine bestimmte Bedeutung.

Zweifler: Sie suchen unter dem Schnee die Saat. So sind sie Vorboten des Frühlings, mitten in dieser eisklirrenden Landschaft.

Rembrandt: Was ist mit deinen Augen? Das sind Todesvögel. (Der Zweifler weicht zurück.)

Zweifler: Ich dachte, du feierst Weihnachten.

Rembrandt: Unsinn, ich und du erst recht, wir wissen, dass die Geschichte vom Krippenkind nur eine schöne Legende ist. Etwas für Frauen und Kinder, für ein starkes Gemüt.

Zweifler: Wer soll es haben, wenn nicht Rembrandt?

Rembrandt: Es ist abhanden gekommen. Ich bin mutlos. Kann dir also nicht helfen. (Der Zweifler zieht sich verstört zurück. Es dunkelt.

Geertje bringt eine Kerze. Rembrandt setzt sich vor das flackernde Licht.

Spielt mit der Flamme. Versucht, sie auszulöschen. Die Flamme widersteht seinen Bemühungen. Brennt jetzt ruhig und still. Rembrandt erhebt sich, geht durch den Raum. Betrachtet sein Bild. Reißt es mit einer raschen Bewegung von der Staffelei.) Geertje! Lauf so schnell du kannst dem Zweifler hinterher. Hol auch den Juden, und sieh, ob der Bettler noch in der Stadt ist.

Geertje: Rembrandt …

Rembrandt: Ich will ein Bild malen. (Er überlegt.) Doktor Tulp erzählte mir die merkwürdige Geschichte, dass in seiner Anatomie eine Hure ihr Kind zur Welt gebracht hat, weil sie keinen Ort zum Bleiben fand. Wenn die beiden noch leben, führ sie her. (Geertje geht. Rembrandt spannt neue Leinwand auf. Ordnet die Farben. Der Zweifler tritt lautlos ein. Rembrandt eilt ihm entgegen.) Heute ist dein großer Tag, Zweifler.

Ich werde dein Bild malen. (Er stellt ihn im Hintergrund auf. Der Zweifler lässt es verständnislos mit sich geschehen. Der Bettler kommt. Bleibt abseits stehen. Rembrandt zieht ihn in die Stube.) Der Bettler soll seine Suppe erhalten und noch viel mehr. Vorhin, ich konnte dir nichts geben.

Aber jetzt trägst du das Licht unter deinen Lumpen. Die gelbe Farbe. Ich bitte dich, gib sie mir wieder. (Der Bettler holt zögernd die Farbe hervor. Überreicht sie Rembrandt. Dieser bedeutet ihm, seinen Platz einzunehmen. Der Jude stellt sich hinter die Gruppe.) Vergib mir. Ein eitler Maler ist kein Mensch. Ich möchte dich als Menschen malen, mit den Leiden deines Volkes. (Rembrandt postiert ihn zwischen Zweifler und Bettler.

Geertje erscheint.) Sie sind tot?

203

Geertje: Man hat die Hure an den Schandpfahl gestellt. Das Kind war schon im Waisenhaus. (Rembrandt stürzt hinaus. Geertje folgt ihm. Die Gruppe schließt sich fest zusammen. Einer stützt den anderen. Rembrandt führt eine verstörte Frau mit ihrem Kind herein.)

Rembrandt: Keine Angst, dir geschieht nichts, im Gegenteil. Du wirst meine Maria. (Die Hure hockt sich auf den Boden, beugt sich schützend über das Kind. Rembrandt begibt sich zur Staffelei. Betrachtet die Gruppe. Sein Blick bleibt an der Hure hängen. Er geht zu ihr.) Ich werde für euch sorgen. Ihr bleibt bei mir. (Mit der Hure geht eine Veränderung vor sich. Rembrandt nimmt seinen Platz hinter der Staffelei ein.) Ja, so ist es gut. (Bevor er zu malen beginnt.) Geertje, koch einen Kessel Suppe.

(Lächelnd.) Mehr hab ich nun wirklich nicht. (Während er malt, öffnet sich jeder zum Bild hin. Rembrandt vollendet es.) Die Heilige Familie.

(Sie tritt hinter die Staffelei. Der Jude prallt zurück. Der Zweifler geht nah heran. Der Bettler legt seine Hände ineinander. Die Hure presst das Kind an sich.)

Zweifler: Das bin ich. Dort hinten stehe ich. Mit meinen Zweifeln.

Aber das Licht dringt bis zu mir.

Jude: Die Leiden, Rembrandt, viele Hundert Jahre lang. Sie werden von dem Licht aufgesogen. Unsere Passion in diesem Judenkind.

Bettler: Meine leeren Hände. Die gelbe Farbe hat sich in Licht verwandelt. Es blendet mich, aber es wärmt trotzdem. (Die Hure hat sich in ihr Kind verkrochen.)

Rembrandt: Darf ich die Heilige Familie zu Tisch bitten, an meinen Tisch. (Sie gehen hinaus, immer noch das Bild betrachtend.)

Bei der Probe waren die Spieler schnell gefunden, da sie sich eifrig anboten. Die Rolle Annalenas war klar. Dass Don den Rembrandt spielen würde, lag nahe. Auch Hilde würde dabei sein. Ein Zweifler konnte ruhig etwas mit der Zunge anstoßen. Außerdem war Hilde fast annähernd ohne Beschäftigung, denn der Winter war mild, die Grube diesmal kein Schlachtfeld. Nostradamus beanspruchte für sich den Juden. Dass Karl sich anbot, überraschte etwas, aber der Bettler entsprach seiner Überzeugung. Hinsichtlich der Hure hatte Warner Bedenken. Eine eher vornehme Jugendliche aus Weinhübel erklärte sich bereit, weil sie fand, die Rolle sei großartig gestaltet. Nachdem das Stück einmal durchgelaufen war, bemerkte Karl: „Das ist ein echter Rembrandt und ein noch viel echterer Georg Warner. Eine Hure zur Jungfrau Maria zu machen.“ Heilig Abend wurde das gemütvolle Stück erst in Deutsch-Ossig dargeboten, um neun am Abend ging es nach Zittau. Wie ein Raum doch 204

ganz anders wirken konnte, wenn darin „Rembrandt“ gespielt wurde und nicht wie gehabt der „König von Preußen“. Das lag nicht nur an dem Weihnachtsbaum. Neben Warner saß der Maler. Eine Pastorin gestaltete den Gottesdienst. Der Maler wies zum Altar und sagte: „Meine Frau.“ An seiner Seite hatte er keinen kleinen Jesusknaben, sondern ein Mädchen.

Nach dem Gottesdienst waren alle beglückt, denn mit der „Heiligen Familie“ hatte ihnen Warner noch eine andere Botschaft zukommen lassen als vor einem Monat. Nun ja, Weihnachten ist nicht Bußtag. Einige Offiziersanwärter waren auch erschienen. Der Offiziersschüler, der Warner gelegentlich besuchte, sagte, es sei zu wünschen, dass dieses Stück alle Jahre wieder aufgeführt werde. Sie waren nicht wie die anderen in Urlaub gefahren, sondern zum Wachdienst eingeteilt worden.

Dass auch auf Rache gesonnen wurde, war nicht anzunehmen. Aber Rembrandt musste sich beim König von Preußen infiziert haben. Er wurde diesem beigegeben, wohl im Verdacht, er sei ein verkappter Grenadier oder habe einen Aufstand der Herzen ausgelöst.

Im Atelier Warners Neujahrsdrang führte ihn jetzt und dann den Winter über an freien Tagen, zu denen vorrangig der Montag zählte, nach Zittau. Alles war trüb und grau, die Kraftwerke Hagenwerder, auf halbem Wege Hirschfelde und über der Neiße das polnische Turow sorgten mit ihrem Ausstoß dafür, dass es nie richtig Tag wurde. Warner hatte Mephistopheles einmal gefragt, wie er sich die Atmosphäre in der Hölle vorzustellen habe. Der beschrieb sie nicht wortreich, sondern verwies auf diese Landschaft.

Dann war Warner in dem seufzenden Zittau angekommen, durch das er höchstens durchfuhr, wenn er ins Gebirge wollte. Zittau stand auf Braunkohle. Der Tagebau Olbersdorf wurde gerade aufgeschlossen, war versteckt und von der Straße her nicht einsehbar. Man ließ Zittau gezielt verfallen, damit der spätere Abriss leichter hingenommen werden konnte. So glotzten Warner leere Fensterhöhlen an. Aus den Dachrinnen hing Gras. Schutt überall. Warner befand sich wohl an einem der dreckigsten Orte des Landes. Es waren an diesem Montagmorgen 205

nur wenige Menschen unterwegs, schweigend und schlurfend, bis zur nächsten Ecke hatte sie der Industrienebel verschluckt.

Das Atelier des Malers in der Pfarrgasse hatte ein ebensolches Ambiente wie die anderen Häuser. Rein gar nichts passte zu der Vorstellung, die man gemeinhin von einem Atelier hatte, vor allem keine Fenster, um viel Licht hereinzulassen. Entsprechend dunkel war es innen. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke. Als weitere Lichtquellen waren Steh- und Tischlampen auszumachen, mit denen wohl die Leinwände ausgeleuchtet wurden. Mehrere Staffeleien waren in dem großen Raum verteilt. In der Mitte stand ein wuchtiger, ausgezogener Tisch, mit Flaschen aller Art darauf, Tropfkerzen waren aufgesteckt. Andere Flaschen sämtlicher erreichbarer Sorten enthielten Rotwein. Alle waren geöffnet und mehr oder weniger gefüllt. Wie Warner später feststellte, wurde hier nicht getrunken, sondern nur gelegentlich ein Glas gefüllt. So hatten einige Weine schon kräftig ausgeatmet, sodass Warner gelegentlich meinte, es handle sich um Etikettenschwindel und Essig sei in den Flaschen.

Der Maler hatte den „lieben Georg“ herzlich und aufgeräumt empfangen. Er war von Natur aus ein Gemütsmensch ohne große Gefühlsschwankungen. Keine Umgebung konnte ihn einschüchtern. Geredet wurde wenig, wenn, dann spontan. Es handelte sich eher um Bemerkungen. Eine solche fiel jetzt. Der Maler hatte Warner vor eine Staffelei geführt und die dazugehörige Lampe angeknipst. Jetzt sah er einen Baum, der keine Äste besaß, sondern übergroße aufgeplatzte Blüten. „Der Baum des Lebens“, tat der Maler kund, „wie er sich im Paradies befindet.“ Verschmitzt setzte er fort: „Ich male etwas, was es nicht gibt und doch gibt. Zumindest habe ich es noch nicht gesehen.“ Er griff nach der Palette, auf der sich reine Ölfarben befanden. Hin und wieder machte er einen Strich, trat dann zurück und betrachtete das Bild lange. Warner schien er vergessen zu haben.

Der machte sich nach den ersten Eindrücken zur weiteren Erkundung auf den Weg. In Regalen und aufgeschlagen auf dem Fußboden befanden sich Bücher, die alle ein Thema zu behandeln schienen, die Gotik.

Warner blätterte hier und da, fand bei Altargemälden heraus, dass der Maler diesen Stil bemühte. Der blickte jetzt über die Schulter und warf ein: „Ich gestalte einen Altar nach gotischem Vorbild, in ebensolchen Ausmaßen und Tafeln.“ Dass es sich dabei um einen „Olbersdorfer Altar“ handeln sollte, hatte der Maler bei ihrer ersten Begegnung erwähnt.

Rätselhaft war, warum dieser Ort einen Altar benötigte.

Abseits stand ein Tischchen, auf dem ein fertiges Blatt lag, die 206

Pastellstifte waren noch nicht weggeräumt. Warner wäre fast zurückgeprallt. Da stand eine Kirche an einem Abgrund. Unter derselben tat sich die Erde auf. Es quollen ihre Gedärme hervor. Abgestuftes Schwarz bestimmte die Darstellung, dadurch wirkte die Erde noch schwärzer. „Kohle“, kam es Warner ein. Er hörte auf einmal die jetzt unerträglichen Geräusche eines Tagebaus. In einer Art apokalyptischem Anflug griff Warner zu Papier und warf einen Text darauf: Wenn der Bagger die Erde aufreißt, klingt es wie Weinen, schluchzt die Erde wie ein verlassenes Kind, das keinen Vater mehr hat, wehrlos ausgesetzt schreit die Erde zu Gott im Himmel, dass einer sie hört.

Wenn der Rauch über Schornsteinen steht, klingt es wie Stöhnen, brennt die Erde wie ein loderndes Mahnmal, an dem keiner gedenkt, gespenstisch steigt die Erde zu Gott im Himmel, dass einer sie hört.

Wenn die Grube sich weiter ausdehnt, klingt es wie Donner, regt sich die Erde wie durch unsichtbare Hand, die alles zerschlägt, brüllend drängt die Erde zu Gott im Himmel, dass einer sie hört.

Das war der erste Text zu einem Requiem, der „Totenmesse für die Natur“. Warner faltete den Zettel zusammen und barg ihn in seiner Jacke.

207

Dann begab er sich zum Maler, rückte sich einen Stuhl zurecht. Er sah ihm beim Malen zu, wie es auch weiterhin der Fall sein sollte, wenn er ihn besuchte. Jetzt hatte eine Blüte Farbe entfaltet, die gleichsam aus dem Baum zu leuchten schien. Welch Kontrast: hier der Baum des Lebens, bei Warners Texten war es eher der Baum der Verderbnis, der im Paradies „Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen“ hieß.

Bevor Georg sich verabschiedete, gab es noch Wein, auf dem Korkteilchen schwammen. Der Maler teilte ihm mit, dass sie beim nächsten Treff einen Ausflug unternehmen würden, mit der schönen alten Bimmelbahn. Die fuhr ins Gebirge. Aber zum Wandern dürfte es nicht gehen, denn die Bahn fuhr an Olbersdorf vorbei.

Warner suchte den Busbahnhof auf, zu dem er durch den ganzen alten Stadtkern musste. Hier senkte sich bereits zum frühen Nachmittag die Dunkelheit herab. Auf dem Marktplatz standen noch Weihnachtsbäume, die mit ihrem trüben Licht Stimmung verbreiten sollten. Auf der Heimfahrt sah Warner alles mit anderen Augen. Fast schreckhaft wartete er, dass erst das Kraftwerk Turow Asche speiend auftauchte, dann Hirschfelde. Schließlich ging es auf Ostritz zu durch toten Wald, der in der Dämmerung wie eine Versammlung von Gespenstern wirkte.

Dann wurde er der drei Kraftwerke von Hagenwerder und ihrer Rauchwand ansichtig und es schien, als sollte es dahinter nichts mehr geben.

Am Abgrund Da es sich bei der Ausflugsattraktion um eine Kleinbahn handelte, war ein richtiges Dampfross vorgespannt. Die Wagen hatten vorn und hinten Trittflächen, von denen aus man die Waggons betrat. Es war auch möglich, sich während der Fahrt außen aufzuhalten und sich den Wind um die Nase wehen zu lassen, wenn es nicht gerade der von der Lok war. Das nasskalte Wetter lud aber nicht dazu ein. Der Maler hatte eine Skizzenmappe bei sich, Warner wohlweislich einen Schreibblock.

Hinter Zittau ging es bereits aufwärts, sodass man lange die schöne Silhouette der Stadt sehen konnte. Der Weg führte durch Felder und an Olbersdorf vorbei, das sich bald langgestreckt im Grund zeigte. Dort lag das ursprüngliche Dorf. Weiter oben befanden sich die Siedlungen mit neuerer Bebauung.

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Bald nachdem sie ausgestiegen waren, strebte der Maler der Kirche zu. Warner wurde deutlich, warum der Altar für sie gotisch sein sollte, denn sie war im neugotischen Stil erbaut. „Nicht für diese“, verbesserte der Maler kurz, „eine Neugotische ist nicht erhaltenswert. Da steht es um die Deutsch-Ossiger Kirche schon anders.“ Warner verstand nichts.

An der Kirche hatte sich der Maler mit dem Pfarrer verabredet, den Warner durch die Kirchengrenzen bedingt nicht kannte. Er mochte einige Jahre älter sein. Auffällig war an ihm ein tiefer Ernst. Er redete nicht, schloss die Kirche auf und blieb dann im Hintergrund. Große Kunst gab es hier keine. Ein neuer Altar würde sich gut ausnehmen.

Kunst hin, Kunst her, jede Gemeinde hing an ihrer Kirche und entdeckte Besonderes. Vor allem erinnerte man sich an diejenigen, mit denen man beisammengesessen hatte.

Der Maler schob Georg bald, ohne etwas zu sagen, vor sich her und aus der Kirche. Er bedankte sich beim Pfarrer, der kurz nickte, die Kirche abschloss und sich entfernte. Hinter der Kirche tat sich eine große Baugrube auf, wie Warner meinte. Zu einem Teil war sie zerwühlt. Es folgten Markierungen und es sah aus, als sei die Erde bis zu hölzernen Umfassungen aufgeschoben worden. Plötzlich sah Warner oberhalb Grabsteine stehen. Er stoppte seinen Schritt und blickte den Maler fragend an. Der sagte, als wäre ihm das Bild vertraut: „Das ist der Olbersdorfer Friedhof. Die Toten werden umgebettet. Das geschieht nur nachts.“ Sie gingen am Rand der Grube weiter. Warner erblickte zu seinem Entsetzen auf der Sohle lauter Knöchelchen, die der Regen herausgewaschen hatte. Der ehemalige Friedhof war zu Ende. Keine drei Meter weiter griff man in die Luft. Es tat sich die Erde auf. Scheinbar in Spielzeuggröße fuhren unten Lastkraftwagen hin und her. Schaufelbagger waren im Gange, die mit nur einem Hub eine Tonne bewegten. Großgeräte wie der Abraumbagger vor Deutsch-Ossig gab es hier noch nicht. Nur einer, der wie ein viereckiger Kasten aussah, war dem „Eisenschwein“ in der Grube Berzdorf ähnlich.

Den Blick musste man bewusst abwenden, denn wenn man zusah, wie der Tagebau entstand, drohte man zu erstarren. An der rechten Seite war zu sehen, dass das Dorf wie an einer Schnur gezogen der Tagebaukante folgte. Bald würde es auf breiter Front vorwärtsgehen, nämlich dann, wenn der Friedhof beräumt war.

Warner hatte noch nicht bis zu Ende begriffen. Das sollte im Dorf geschehen. Sie gingen die Straße entlang. Leere Häuser, aus den eingeschlagenen Fenstern wehten weiße Gardinen, als wenn man sich er209

geben wollte. Dann hier und da ein Haus, das noch bewohnt war, der Vorgarten verzweifelt instandgehalten. Es gab auch Häuser, an denen die Abrissbirne schon einmal „geübt“ hatte.

Dann stockte Warner der Schritt und der Atem. Vor einem Haus stand Polizei. Heraus kam eine Familie, voran der Großvater mit grimmigem Schritt, die Großmutter hinter sich herziehend. Dann der Sohn, Statur und Gang nach ein Bauer. Jeder trug rechts und links einen Koffer. Zuletzt folgte eine Frau mit zwei Kindern an der Hand. Sie weinte herzzerreißend. Die nun ehemaligen Bewohner des Hauses wurden auf einen Lastkraftwagen gehoben, der sich bald entfernte. „Mein Gott, wo bin ich hier und was geschieht hier“, dachte Warner.

Der Maler meinte, sich seiner annehmen zu müssen: „Im Jahr 1984.

Und die Leute werden in das Neubaukastell gebracht, das du von Ferne gesehen hast. Der Volksmund hat den Hügel ‚Golan-Höhen‘ genannt.“ Als sie das sterbende Dorf verließen, hielt der Maler noch einmal an und konnte oder wollte Georg nicht mehr schonen: „Das Schicksal von Olbersdorf liegt dem von Deutsch-Ossig zwei Jahre voraus. Du wirst das Tag für Tag und Jahr um Jahr wegen deiner Leute aushalten müssen, Georg.“ Ein wenig aber wollte der Maler ihn noch ermutigen. Es ging über die Bahngleise. Die Kleinbahn würde ebenfalls verlegt werden, hinauf zur Straße und darüber hinweg in eine schicke Olbersdorfer Eigenheimsiedlung. An deren Ende befand sich eine Baugrube. Hier würde das Gemeindezentrum entstehen, für das der Maler den Altar gestaltete. Er gab einen Kommentar ab: „Ich weiß also, was ich malend zu deuten habe. Für dich ist es zwingend notwendig herauszufinden, was du jetzt schreiben musst.“ Die Bahn kam nostalgisch angedampft. Warner hatte das Gefühl, dass er jetzt ein anderer war als bei der Herfahrt. Er empfand, vorher ein leichtfüßiger Clown in einer Komödie gewesen zu sein, jetzt war er ein Narr in einer sich lang hinziehenden Tragödie. Der Teufel erschien ihm plötzlich übermächtig.

Bevor es in das Atelier ging, betrat Warner einen Konsum und kaufte eine Flasche „Feuertanz“. Der süße Wein würde beizeiten drehen, im Gegensatz zum „Essig“ des Malers. Aber der fand erst einmal keinen Korkenzieher. Er zeigte Georg ein Pastell. Bäume blühten wie irre.

Durch den Ort aber ging eine Menschenmenge wie zu einer Beerdigung. Und alle waren von einer schwarzen Fahne umweht. Georg wollte den Titel wissen. Der Maler zuckte die Achseln: „Vielleicht ‚Notblühen‘.“ Warner schoss hervor: „‚Lausitzer Landschaft mit blühenden Bäumen‘.“ 210

Der Maler postierte ihn vor dem „Baum des Lebens“. Malte eine Blüte, die dunkelrot aufbrach. In Warner begannen sich die Bilder des Tages zu mischen. So gelangte er zu einem Text für seine Totenmesse: Auf der Höhe die Eiche beringt sich im wechselnden Waldbestand.

Zeit, die nicht davonläuft, und Zeit, die ihr bleibt.

Im Frühling als Letzte die Knospen öffnend, im Herbst noch rostig rot dem Schnee trotzend.

Im tiefen Tal der Mensch rechnet sich ab von künftigen Generationen.

Zeit, die ihm davonläuft, und Zeit, die vergeht.

Im Frühling als Erster den Bestand sichernd, im Herbst schon fahlgelb sich winterfest machend.

Auf der Höhe die Eiche, sie fällt unter den Schlägen des Mittsommers und offenbart ihre Jahresringe.

Im tiefen Tal der Mensch, er stirbt im Atem des ersten Frühreifes und vergeht ins Namenlose.

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?

Jetzt fand der Maler auch den Korkenzieher, damit Georg zu milderem „Feuertanz“ gelangen konnte. Der war jetzt noch wortkarger, als es der 211

Maler sein konnte. Er trank in kleinen Schlucken, weniger wegen des Genusses als aus Erschöpfung, und sah zu, wie eine wulstig aufblätternde dunkelrote Blüte entstand. Die Flasche gesellte sich schließlich mit eigenem Maß zu den anderen ohne Kerzen.

Warner fuhr heim. Der Schlaf mied ihn. Texte kamen ihm ein, so der von der Himmelfahrt des Elia und des Bäume verbrennenden Täufers Johannes. Er stand auf und blinzelte über weißes Papier. Dann zog er mit dem Stift seine Runden: Unter dem Blätterdach der Erde verbrauchst du den Lebensatem der Bäume.

Und ein jeder Baum, der keine Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.

Was meinst du, was mit dir geschieht, der keine Blätter trägt, geschweige denn Früchte?

Im feurigen Wagen wird deine Himmelsreise zur Höllenfahrt werden.

Georg Warner begab sich eine Weile nicht mehr nach Zittau. Er wanderte gedankenverloren durch seine nähere Umgebung. Der Januar blieb trüb und klatschig. Von Tag zu Tag beobachtete er den Vortrieb, machte Eintragungen über dessen Tempo. Stand jeden Tag auf dem Friedhof, um sich mit dem Vergleich Olbersdorf im Kopf zu vergewissern, was sich abspielen würde. In seinen Berechnungen kam er tatsächlich auf zwei Jahre. Dann würde er den Winter zu ganz anderem Zweck hier verbringen. In der Nacht schlug das Wetter um. Frost fiel ein, Schnee rieselte herab. Am Morgen waren die Bäume zauberhaft bereift. Alles war zugedeckt.

212

Spannungen Der Weg nach Zittau diente nach dem Schneefall der Nacht zur Beobachtung. Als Warner abfuhr, war der Schnee noch weiß, bis Zittau hatten die Kraftwerke ihn schwarz-grau eingefärbt.

Der Maler schien in der Zwischenzeit die Eindrücke ihrer Fahrt nach Olbersdorf verarbeitet zu haben. Ein Querformat stand auf der Staffelei. Das, was Warner zu sehen bekam, war eine abstrakte Darstellung.

Den unteren Rand bildete eine geschwungene Ebene. Auf dem tiefsten Punkt lag eine Kugel. Sie musste vorher hin- und hergerollt sein, rechts und links nach oben, bis sie jeweils ihren Schwung aufgebracht hatte. Schließlich war die Bewegung immer kürzer geworden. Zu sehen war nur, dass sie jetzt gänzlich stillstand. Warner war an die Erde erinnert. Das teilte er dem Maler zögernd mit. Der schaute auf das Bild, als wenn er sich vertan hätte. So sagte er bestimmt: „Das ist die Grablegung Christi.“ Zu dieser Aussage, auf die wohl niemand außer ihm gekommen wäre, gab er keine Erklärung ab.

Jetzt löste er sich von dem Bild, begab sich zu jenem Tischchen, da seine Pastelle zu finden waren. Dargestellt war eindeutig das Krematorium von Zittau. Ein roter Teppich war davor ausgerollt. Zu dem Titel, dass dies das Krematorium sei, konnte sich der Maler nicht entschließen. Er zuckte die Achseln und sagte: „Beerdigung erster Klasse.“ Nur wegen des roten Teppichs hätte man das gelten lassen können. Aber aus dem Krematorium stieg Rauch, der sich nach allen Seiten hin ausbreitete. Und jetzt sah Warner, dass sich in den Aschewolken Köpfe befanden.

Man hätte an die wiederbelebten sterblichen Überreste von Olbersdorf denken können, die nach der Bergung verbrannt wurden.

Das Bild musste einen Titel erhalten. Das Krematorium war prunkvoll im Jugendstil errichtet worden. Und da das real gemalt war, schlug Warner es auch vor, „Jugendstil“. Dabei konnte durch die Köpfe auch anderes assoziiert werden.

Der Maler ging wieder zur Staffelei, Warner holte seinen Notizblock hervor. Er sah aus der Entfernung, dass sein Freund dabei war, rechts und links im freien Raum neben der Kugel runde Sterne aufzutragen.

Also hatte Warner mit der Deutung der Erde nicht so falsch gelegen.

Jetzt ließ er es selbst finster-feurig werden: Als die Sonne ihren Schein verlor 213

und der Mond sein Gesicht, harrte die gemarterte Kreatur ihrer Erlösung.

Wälzte der Wal sich aus verpestetem Schlick zum rettenden Ufer.

Brach der Elch Bahn sich durch verrottete Rodung zur neuen Erde.

Stürzte die Taube sich aus verdorrtem Geäst in den Himmel.

Gras trieb brennend über verbrannte Erde.

Der Mensch ist in seinem Leben wie Gras.

Der Maler hatte inzwischen umgeräumt. Nach der Größe des zu erwartenden Altars hatte er die bisher fertigen Tafeln aufgehängt. Das Hauptbild und der linke Flügel fehlten noch. Unten befand sich als Predella die Kugel mit den schwarzen Sternen. Über dem noch leeren Zwischenraum, wohl als Altaraufsatz, erschien nun der Bezug zur „Grablegung Christi“. Es handelte sich bei dem Dargestellten um helle Sterne. Sie bildeten nach Aussage des Malers die Konstellation bei der Geburt Christi, mit einem Doppelstern in der Mitte.

Rechts befand sich jetzt der „Baum des Lebens“. Warner entdeckte etwas, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Der Baum stand im oder hinter dem Wasser, was sich dadurch vermittelte, dass sich der untere Stamm mit kräftigem Wurzelansatz spiegelte. So war nicht mehr nur der Anfang gemeint, sondern eben auch das Ende. Hierzu gehörte die Offenbarung: „Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, der im Paradies Gottes ist.“ Es war auch das Ende der Offenbarung hinzuzuziehen, da der auf dem Thron Sitzende Johannes die Ewigkeit sehen lässt: „Und er zeigte mir einen Strom lebendigen Wassers, klar wie Kristall, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes; mitten auf dem Platz und auf beiden Seiten des Stromes Bäume des Lebens, die tragen zwölfmal Früchte, jeden Monat bringen sie ihre Frucht, und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker.

Selig sind, die ihre Kleider waschen, dass sie teilhaben an dem Baum des 214

Lebens und zu den Toren hineingehen in die Stadt. Draußen sind die Hunde und die Zauberer und die Unzüchtigen und die Mörder und die Götzendiener und alle, die die Lüge lieben und tun.“ Als Georg am späten Nachmittag den Maler verließ, trat der mit vor die Tür. Der Schnee war im Tauen begriffen, sodass der zarte Duft von Feuchtigkeit in der Luft lag. „Bald wird es Frühling“, bemerkte der Maler, „warten wir bis Ende Februar, dann beginnt die Freiluftsaison. Ich benötige einige Skizzen hin zum Gebirge.“ Georg fühlte sich bis dahin nicht ausgeladen, er hatte ja auch selbst mit seinem wachsenden „Requiem“ zu tun.

Unterwegs Bisher hatte Georg Warner Texte entworfen, die zwar nach einem gewissen Zusammenhang geordnet werden konnten, aber noch kein Ganzes ergaben. Jetzt war er dabei, sich mit Requiem-Dichtungen zu befassen. Benjamin Britten hatte bei seinem „War“-Requiem eine freie Textfassung vorliegen. Die eigentliche Idee aber kam Warner durch Pendereckis „Auschwitz-Requiem“. Das bestand zwar hauptsächlich aus dem „Dies irae“, dem „Tag des Zorns“, aber die Texte waren in den lateinischen Messtext eingeschoben. Dieses Verfahren würde gleich eine Ordnung ergeben. Das „Requiem“ Mozarts besaß zwar einen innigen lyrischen Text, fast ein wenig süßlich, aber da es Fragment geblieben war, entstand zu den letzten Absätzen hin ein sprachlicher Bruch. Warner war sich bewusst, dass er zum lateinischen Text auch die deutsche Übersetzung liefern musste. So verwarf er Mozarts Fassung. Schließlich wurde er fündig. Verdi hatte die umfangreichste Variante zu bieten, die über die eigentliche Requiem-Fassung hinausging, in die Messteile aus der großen Messe aufgenommen waren. Bei dieser Arbeit war Warner zu dem Entschluss gelangt, das Requiem vertonen zu lassen. Aber er wähnte sich eben erst auf der Hälfte.

Ende Februar erwachten die lauen Lüfte. Als sich auch noch die Sonne zeigte, machte sich Warner morgens auf den Weg nach Zittau. Der Maler bescheinigte dem „lieben Georg“, dass er den richtigen Riecher gehabt hätte. Er drückte ihm eine ältere Staffelei in den Arm. Der Maler verstaute Ölfarben und Pinsel. Auch Leinwand wurde unter den Arm 215

geklemmt. Es ging mit dem Bus nach Olbersdorf.

Der Maler suchte das eben entstehende Gemeindezentrum auf. Warner brachte die Staffelei nach Süden hin in Stellung. Der Maler zeigte Georg, was er zu gestalten gedachte. Genau der Blick, den die Gemeinde hatte, wenn sie aus dem Fenster schaute, sollte sich auf dem Altar wiederfinden. Es handelte sich um den „Töpfer“ und den „Ameisenberg“.

Den Maler faszinierte die dazwischenliegende Schlucht, über der er sein Hauptmotiv zu gestalten gedachte. Warum die Skizzen in Öl zu halten waren, begründete er mit der eigentümlichen Färbung des Gebirgswaldes. Die Fichten vermittelten ein seltsam eingemischtes Blau. Das konnte am Nordhang liegen, auch an den dortigen Lichtverhältnissen, die wechselnd verschiedene Tönungen ergaben. Es galt die für die Tafel notwendige Farbgebung zu finden.

Georg Warner schaute erst dem Maler eine Weile zu. Der wechselte öfter die Leinwände, um dann aber auch eine frühere Skizze wiederaufzustellen. Warner sann über Vergänglichkeit nach. Das Gebirge vor ihm vermittelte eher etwas von den „ewigen Bergen“ der Oberlausitz. Warner dachte flächig. Der letzte Wintersturm hatte im Großen Nonnenwald bei Deutsch-Paulsdorf für Kahlschlag gesorgt. Als er sich dort aufgehalten hatte, waren Brandstellen zu erkennen gewesen, wo Reisig und Äste verbrannt waren. Dieser Eindruck drängte ihn jetzt zur Metapher: Verstockt ihr Herz, auf den Kahlschlag gebracht sind ihre Gedanken; und im Unterholz wuchert der Efeu vergangener Tage.

Stumpf ihr Blick, zu Holzkohle erloschen sind ihre Gefühle; und über dem Land liegt noch Birkenduft des letzten Frühlings.

Entleert ihr Sinn, vom Quellwasser geschieden sind ihre Hoffnungen; 216

doch aus dem Erdreich treibt ein Spross zukünftige Triebe.

Etwas bleibt immer übrig.

Ein quätschiges, unangenehmes Tuten drang von unten an ihre Ohren.

Dann folgte eine Explosion von der Grube her. An solche war Warner gewöhnt. Einmal in der Woche, manchmal einen halben Tag lang, wurden vor Deutsch-Ossig Findlinge gesprengt. Aber dieser Schlag war anders. Georg wie auch der Maler schraken zusammen und wendeten sich reflexartig der Stelle zu, wo der Donner entstanden war. Eine Staubsäule stand in der Luft. Mit dem Südwind trieb sie durch das alte Olbersdorf.

Der Maler blickte Georg an, als wollte er ihn fragen, was geschehen war. Dann rannte er los, die Staffelei ließ er stehen, Georg lief ihm hinterher. Die Tute meldete sich wieder, wahrscheinlich, um Entwarnung zu geben. Es ging über die Straße, das Feld, die Kleinbahn. Und da lag sie, ein Schutthaufen, die Kirche von Olbersdorf. In einiger Entfernung stand die Gemeinde wie eine Mauer. Der Maler lief ins Dorf, erschien bald wieder, stolperte den Trümmerberg hinauf. Dort entrollte er ein schwarzes Tuch und schwenkte es wie wild über seinem Kopf. Er kam Warner wie ein Feldherr vor, der die entscheidende letzte Schlacht verloren hat.

Dampf zeigte sich in der Ferne. Die nostalgische Kleinbahn kam angerollt. Der Maler verließ seinen Hochstand, zog Georg am Ärmel hinter sich her. Sie erreichten den Zug. Als der sich in Bewegung setzte, fiel Warner ein, dass sie die Staffelei und alles andere zurückgelassen hatten.

Der Maler sagte gereizt: „Die Staffelei war sowieso alt und die Pinsel waren schon eingetrocknet. Und außerdem, die Skizzen stimmen jetzt nicht mehr.“ Als sie in Zittau angekommen waren, empörte sich der Maler: „Wie sieht es denn hier aus!“ Er goss den Inhalt sämtlicher Flaschen in den Ausguss. Bei einer stutzte er. Darauf stand als Abfülljahr 1981. Die Flaschen aus den Bruderstaaten des sozialistischen Südens waren nur einmal erhältlich, nämlich ein Jahr nach der Abfüllung. Diese hier musste also in den Dämmerzustand verfallen sein. Die Flaschen wanderten in den Müll, hinzu gesellten sich die mit den Tropfkerzen. Der Maler warf sich in einen alten, schon aufdrieselnden Sessel und war mit sich zufrieden, als hätte er eben die Vergangenheit beseitigt. Er wurde sich seiner bequemen Lage bewusst. Er schnappte den Sessel und stellte ihn vor die 217

Tür. Dann fasste er Georg an den Schultern und sah ihn fest an, dazu sagte er: „Georg, wir verreisen.“ Um das zu erklären, holte er Leinwände und die zwei Tafeln für den Altar hervor. Das bedeutete: „Ich brauche Firnis.“ Dass der Maler sich oft unschlüssig erklärte, war für sein Gegenüber wenig hilfreich. Warner fragte nicht, was es mit dem Firnis auf sich habe, sondern: „Wohin soll es denn gehen?“ Jetzt gab der Maler bestimmt zurück: „Nach Mecklenburg. Das wird auch dir guttun.“ Warner war, entgegen sonstigen Gewohnheiten, in diesem Jahr noch nicht verreist. Er regelte seine Vertretung.

Mitte März ging es mit dem Zug von Görlitz aus nach Ludwigslust und von da in die Wälder. In der Jagdhütte war der Maler wohl schon mehrmals gewesen. Sie besaß einen Kanonenofen, sodass auch die Abende bei einer Petroleumlampe angenehm waren. Am Tage begab sich Georg hinter dem Maler her zu Lärchen. „Der Saft steigt“, gab er kurz zu verstehen. Er hatte Lärchen angebohrt und mit einem Pfropfen versehen. Den zog er heraus und ließ das Harz in kleine Behälter rinnen. Warner wartete geduldig, bis er sein Tun erklären würde. Eines Abends tat er es, die Reinheit seiner Beute lobend: „Mein lieber Georg, vor allem die Tafeln müssen imprägniert werden, mit Firnis. Aus Lärchenharz kann Firnis werden und den Untergrund imprägnieren. Eine alte Technik, man muss nur darum wissen.“ Georg fragte ihn, ob die heimatlichen Lärchen nicht den gleichen Erfolg zeitigten. „Dachte ich auch“, stimmte der Maler zu, „aber da sind schon so viele Umweltgifte drin, dass der Firnis zu schwach ist.“ Der gelegentliche Umgang mit den Pastellstiften wurde in der Jagdhütte zum Hauptzweck. Der Maler mochte den abendlichen Frühlingsdunst, wenn sie ins Dorf gingen, um in der Schänke zu essen. So entstanden stimmungsvolle Pastelle. Warner verständigte sich jetzt mit dem Maler darüber, dass er das Requiem veröffentlichen wolle, mit den Pastellen. Der Maler zögerte seine Zustimmung keinen Moment heraus.

Die hier entstandenen Bilder sollten hinzu, um eine auch notwendige Ruhe zu erzeugen. Am Ende malte er noch „Leerer Strand“. Der Maler bedauerte, dass sie nicht bis zum Meer gekommen waren. Das habe er vorgehabt.

Nach einer Woche Urlaub verabschiedeten sie sich in Görlitz „auf bald“. Warner schlug nach so viel klarer frischer Luft der neblige, stinkende Smog aufs Gemüt. Am Palmsonntag, da des Einzuges Jesu in Jerusalem gedacht wurde, konnte er nicht umhin, den großartigen Beitrag der Menge mit Palmzweigen und ausgebreiteten Kleidern gleich dahin 218

zu deuten, dass diese Menge am Karfreitag schreien würde: „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“ Entgegen der Ordnung hatte er Psalm 23 vom guten Hirten zur Einleitung gewählt. Der sollte ihm zu einem Sehnsuchtsszenarium verhelfen, als „Kyrie“, „Herr, erbarme dich“: Gott der paradiesischen Landschaft, der Serengeti und des Yellowstone-Parks.

Weit entfernt von den grünen Oasen rufe ich zu dir.

Kyrie eleison.

Christe eleison.

Kyrie eleison.

Mein Haupt ist bestreut mit Asche, unter Schornsteinen bringe ich meine Tage zu, und die Sonne sehe ich nicht einmal an Sonntagen.

Meine Speise besteht aus Ölsardinen, jedes Mahl ist ein Geschenk geborstener Tanker, und an den Geschmack von unverdorbenem Fisch kann ich mich nicht mehr erinnern.

Meine Kinder leben von Medikamenten, ohne Schutzstoff sind sie nicht lebensfähig, und die Grippe habe ich ihnen nun auch erspart.

Gott der paradiesischen Landschaft, der Serengeti und des Yellowstone-Parks.

219

Weit entfernt von den grünen Oasen rufe ich zu dir.

Kyrie eleison.

Christe eleison.

Kyrie eleison.

Du hast die Erde geschaffen, aus dem Chaos hast du sie ins Licht gehoben, das Land vom Wasser getrennt.

Du hast wachsen lassen alles, was die Erde tragen kann.

Du hast dem Tag die Sonne gegeben und der Nacht den Mond und das Kreuz des Südens.

Du hast es wimmeln lassen von Tieren im Meer und die Erde mit ihnen bevölkert.

Du hast den Menschen nach deinem Ebenbilde gemacht.

Gott der paradiesischen Landschaft, der Serengeti und des Yellowstone-Parks.

Weit entfernt von den grünen Oasen rufe ich zu dir.

Kyrie eleison.

Christe eleison.

Kyrie eleison.

Sei mir nahe, wie du es versprochen hast.

Salbe mein Haupt 220

mit dem Duft von Blumen, decke mir einen Tisch vor den Augen der Ölscheichs, sei barmherzig mit meinen Kindern, damit ich ein Leben lang Wohnung habe in deiner schützenden Hand.

Kyrie eleison.

Das mit den Kindern mochte von Warners Seite her etwas befremdlich erscheinen. Schließlich hatte er keine eigenen. Aber er hatte in dieser Gegend so viele Kinder getroffen, die schnauften, röchelten und dann auch gelegentlich abhusteten, dass er nicht umhin kam, Mitleid zu haben.

Zugegeben, Warner war seit einiger Zeit arg beschäftigt, auch mit sich selbst. Die Spielgruppe war aber auf Tour, bedurfte seines Beistandes nicht mehr. Wenn sie im Keller des Pfarrhauses zusammentraf, gesellte sich Warner zu den Spielern, aber nur um zuzuhören. Auch das Programm der Offenen Arbeit hatte sich verselbstständigt. Aktivposten waren die alten Bekannten. Hilde hatte den Literaturpart übernommen. „Bibel“ verantwortete Nostradamus, wobei der die reichhaltigen apokalyptischen Bücher bevorzugte. Eben war man mit dem Buch „Daniel“ befasst. Und Platten legte jeder auf.

Warner übernahm jetzt einen Abend, an dem alle drei Themen ins Gespräch gebracht wurden. Er stellte sein noch unfertiges Requiem vor.

Die Thematik war nicht fremd, sodass ein lebhaftes Gespräch in Gang kam. Warner verschwieg nicht, dass die meisten Impulse für die Texte aus Olbersdorf kamen. Hilde und Nostradamus blickten sich an. Nostradamus meinte: „Vielleicht hast du auch schon die Zukunft gesehen.“ Hilde ergänzte zum Verständnis: „Georg, es bereitet sich Unerklärliches vor. In der Grube gibt es immer wieder Erdstöße, manchmal so stark, dass eine Lok aus den Schienen springt, der Arm des Abraumbaggers bis zu einem Meter beiseite schwenkt, die Böschungen in Bewegung scheinen.“ Nostradamus pflichtete bei: „Meine Zeit und die deines Requiems kommt.“ Warner wollte seine Absicht noch etwas vertiefen, zumal er unmittelbar zu den Empfindungen der Kumpel nichts beitragen konnte. Er erläuterte, dass in früheren Zeiten das Ende der Welt in Farben geschil221

dert wurde: Blau für die Sintflut, Rot für den Weltbrand, Grün für die neue Erde, also für die Hoffnung. So habe er das Requiem folgendermaßen betitelt: „Grünes Requiem. Totenmesse für die Natur.“ Als man sich trennte, gab Georg Hilde den Auftrag, nach Musikern in Grube und Kraftwerk zu forschen. Als sich alle verabschiedet hatten, blieb Karl zurück. Er bat Georg um ein Gespräch. Sie setzten sich wieder. Karl begann: „Ich habe meine Einberufung in der Tasche.“ Warner gab zurück: „Ich verstehe.“ Karl hängte gleich an: „Nichts verstehst du“, um erklärend einzuleiten, „ich habe das nicht verschweigen wollen, sondern für nicht zu wichtig gehalten. Mein Standpunkt ist bekannt.

Jetzt ist es mir doch auf die Füße gefallen oder besser auf den Kopf.“ Karl plagte kein schlechtes Gewissen, aber über das, was vor ihm lag, war ein Gewissen erwacht.

Als wollte er es kurz machen, sagte er: „Ich werde nicht irgendwo hin eingezogen, sondern zum Wachregiment ‚Feliks Dzierzynski‘, drei Jahre, was dabei Pflicht ist. Ich werde also mit striktem Schießbefehl an der Berliner Mauer stehen, die ich, ehe ich dich kennengelernt habe, für den ‚Antifaschistischen Schutzwall‘ hielt.“ Warner war perplex. Karl stand auf, reichte ihm zum Abschied die Hand und sagte im Gehen: „Das ist alles.“ Am nächsten Tag zog es Warner hinaus. Er ging am Grubenrand hinauf bis nach Jauernick, dann wandte er sich an der entstehenden Kippe vorbei Richtung Schönau-Berzdorf. Die Entwässerungspumpen liefen.

Auf den angrenzenden Wiesen sprangen Lämmer. Plötzlich erhielt er einen solchen Stoß, dass es ihn von den Beinen hob. Wo mochte der hergekommen sein? Warner blickte sich um, ob er eine Wurzel übersehen hatte. Der Kiesweg verlief eben. An Hildes Bemerkung dachte er nicht.

In Schönau-Berzdorf, nach über zehn Kilometern, wurde ihm deutlich, dass er zu Fuß nicht nach Zittau gelangen würde. Dieses Ziel hatte er sich vorgenommen. Er lief noch eine ziemliche Wegstrecke, bis er auf dem Bergfrieden von Ostritz angelangt war. Zittau erreichte er nach dem Mittag. Dort bestieg er die eben abfahrbereite Kleinbahn.

Die Trümmer der Olbersdorfer Kirche waren verschwunden, mehr noch, ein Abraumbagger zog schnurgerade seine Bahn bis hinter das alte Dorf. Folglich musste auch dort der Abriss geschehen sein. Die Arbeit des Baggers hatte durch ihre Exaktheit etwas Unausweichliches.

Was auch immer sich auf seinem Weg befunden hatte oder befand, war unwiederbringlich verloren.

Das musste auch der Maler feststellen wollen, denn Warner traf ihn 222

mit Blick von der ehemaligen Kirche aus und Pastellstiften hantierend.

An ein zufälliges Treffen wollte Warner nicht glauben, vielmehr hatte sie beide der gleiche Instinkt zusammengeführt. Der Maler sagte: „Nach der Landnahme.“ Auf seinem Pastell war aber kein Bagger mehr zu sehen, nur eine Landschaft, über die sich eine Kettenspur hinzog und am Horizont weiterzureichen schien. Nichts hatte den Bagger aufhalten können. Zur rechten Seite hin war noch ursprüngliches Land – der Bagger würde zurückkehren. Links ging es in die Grube. Der Himmel wölbte sich blassblau schräg darüber. Es war, als ob er abgerutscht sei.

Der Maler teilte Georg mit, dass sich im Atelier eine fertige Arbeit befinde, die mit dieser hier zu kombinieren wäre. Die Dimensionen des Raubbaues seien ganz andere.

Wieder in Zittau angelangt, konnte Warner keinen Zusammenhang erkennen. Das Bild war gänzlich anders als das von der durchquerten Landschaft. Es war dunkel gehalten. Nur am Himmel blitzte ein Schwert, das bedrohlich an ein Kreuz erinnerte. Erst jetzt entdeckte Warner, dass ein ebenso heller Schein auf der Erde lag. Obwohl alles stillzustehen schien, wies die Spitze so voraus, als herrsche Bewegung. „Ein Flugzeug“, sagte der Maler. Warner hatte etwas anderes wahrgenommen.

Der Maler beließ ihn dabei und nahm die Deutung auf: „Eine unheilige Trinität von Flugzeug, Richtschwert und Kreuz. Aber wer sollte, wenn erst die Bombe gefallen ist, noch Grabkreuze errichten? Denk an den eingebrannten Schatten von Hiroshima.“ So erhielt das Pastell auch den Titel „Der Schatten“. Der Maler hängte jetzt beide Bilder nebeneinander und ließ Georg gewähren. Der begann mit der Landschaft, um dann die Dimensionen des Tuns bis zum Finale zu führen. Es wurde ein „Dies irae“, ein „Tag des Zorns“: Als wir die Erde aufrissen, fanden wir: Eisen, Kohle, Gold auch und schließlich Uran.

Aus Eisen bauten wir Waffen, Kohle trieb den Frontzug voran, Gold finanzierte die Rüstung, Uran sicherte den Endsieg.

Seitdem leben wir in der Endzeit, treiben der neuen Eiszeit zu, der Zusammenbruch 223

ist alltäglich geworden.

Gott sprach: Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende.

Als wir anfingen, das A zu buchstabieren, ging Gott, der Anfang war das Ende, N leuchtet am Horizont, strahlender Tod. Glaube tut not.

Glaube, dass doch nicht geschieht, was lange geplant ist, auszulöschen, was immer auch lebt?

Die Menschenrechte sind tot, tot auch sind wir, lebendig verbrannt, die Erde hat uns wieder.

Wir können es nicht mehr selbst tun, das andere, die Rettung.

Wir müssen neu Buchstabieren lernen: Statt Atom Anfang, statt Neutron Nazareth.

Der Maler hatte inzwischen den fertigen Mittelteil des Altars eingefügt.

Die bewaldeten Berge schwangen sich am unteren Bildrand in verschiedenen Grünabstufungen empor. Aus der Schlucht glimmte Abendrot.

Den oberen Teil bildete ein geschwungenes Blatt Papier, man war an zwei Buchseiten erinnert, die leer oder noch nicht beschrieben waren.

In dessen Mitte hockte ein Säugling. Die Füße steckten in einem Lendentuch, das sich seitwärts ebenso schwang wie auf dem Altar der Wittenberger Stadtkirche von Cranach dem Jüngeren gemalt.

Die Deutung in der Vertikalen war gegeben. Oben die Weihnachtskonstellation der Sterne, dann das der Geburt zustrebende Jesuskind, 224

unten seine zu erwartende Grablegung. Rechts der Baum des Lebens.

Und links? Dort wurde jetzt ein Baum angebracht. Er sah aus wie einer, der auf einem Schlachtfeld steht, zerschossen und zerrissen. Zwei Ă„ste streckten sich gleich Armen aus dem Bild. Sollte das gemeint sein, dann fehlte der Kopf. Es schien, als wenn noch Adern und Sehnen herausragten.

Der Altar war vollkommen. Der tote Baum verband sich mit der im Tod stillstehenden Erde. Der Baum des Lebens galt als VerheiĂ&#x;ung und gab den oberen Sternen einen Sinn. In allem Christus nahe Olbersdorf, so mit der Landschaft auch den toten Baum beteiligend. Und der musste nun auch den Gekreuzigten symbolisieren. Warner war ergriffen davon, wie sich die Motive zu einer Aussage vereinigten: Leben, Sterben und Auferstehen – in Christus.

225

Siebtes Kapitel

Zeichensetzung Georg Warner hatte die Abschiedsszenen auf dem Bahnsteig, wenn die künftigen Rekruten zu den Kasernen aufbrachen, stets gemieden. Davon hatten ihn auch die Bilder vom freudenreichen Aufbruch in den Ersten Weltkrieg abgehalten. Das war der Anfang von dem gewesen, was heute immer noch, zwar nicht jubelnd, in die Waggons zwang.

Diesmal machte er eine Ausnahme. Der Abschied von Karl war doch wenig tröstlich gewesen, zumal er dahin fuhr, wo nicht nur zu Übungszwecken geschossen wurde. Karl war zwar erstaunt, Georg auf dem Bahnhof zu begegnen, zugleich aber war er dankbar. Neben ihm befand sich eine kleine, zierliche Frau. Fast geniert sagte Karl: „Das ist meine Frau Birgit.“ Dann fügte er zur Seite gewandt hinzu: „Da keiner eine Angetraute hatte, nicht einmal du, wollte ich mich damit auch nicht hervortun.“ Warner reichte der Frau die Hand. Diese schaute ihn neugierig an.

Wahrscheinlich wusste sie nichts von Karls Mitwirken in der Offenen Arbeit, in der Spielgruppe und in der Kirche. Dadurch war ihr auch Witziges entgangen. Birgit studierte Warner und fand, dass er als Clown oder Narr durchgehen wollte, was aber beiden, auch Karl, der sich seit einiger Zeit darin übte, nicht gelang. So sagte sie spontan: „Wie ein Witzbold sehen Sie nicht gerade aus.“ Danebenliegen konnte sie nicht, obwohl ihr kecker Satz ihr sofort unangebracht erschien, denn Karl gab gewichtig zu verstehen: „Das ist Pfarrer Georg Warner.“ Birgit entfuhr es: „Oh.“ Der ungekünstelte Ausruf kam daher, dass sie sich nicht vorstellen konnte, was ihr klassenbewusster Karl-Heinz mit einem Pfarrer 226

zu schaffen hatte.

Karl musste einsteigen. Georg Warner wollte die Zweisamkeit des Ehepaares nicht stören. Er blickte noch einmal den Bahnsteig entlang und prägte sich die Abschiedsszenen ein. Diese waren militärisch umrahmt. Militär- und Transportpolizei patrouillierte auf und ab.

Noch vor dem Abend würden die jungen Männer Uniformen tragen.

Diesmal nahm er den Zug Richtung Zittau, der ihn bis zum Bahnhof Deutsch-Ossig, außerhalb, in der Nähe des Friedhofs, bringen sollte.

Noch im Zug entstand ein Text: Sohn, du gehst für die Fehler deines Vaters in den Hass, in den Krieg, in den Tod. Ich bringe dich dar als Opfer meines Wollens, meiner Träume, meiner Hoffnung auf dem Altar des Todes, weil Gott es will.

Vater, du denkst deine Fehler sind der Hass, der Krieg, der Tod. Dein Fehler ist das Opfer, nicht deines Wollens, nicht deiner Träume, nicht deiner Hoffnung.

Dein Fehler ist, dass Gott es will.

Einer muss sterben, verderben.

Du oder ich.

227

Es ist das Sterben Der Liebe.

Töten wir das Tier in uns.

Georg Warner ging nicht gleich nach Hause. Er begab sich auf den Friedhof. Auf seinem Weg befand sich ein großes Silo. Die Bäume blühten. „Notblühen“, dachte Warner. Vom Friedhof aus blickte er Richtung Grube und stellte sich eine imaginäre Linie vor. Der Boden unter seinen Füßen ruckte. Ein Grabstein fiel um. Die Toten schienen ihrer Exhumierung durch die Auferstehung zuvorkommen zu wollen.

Vom Friedhof aus maß Warner immer dreißig Schritt. Das war der jeweilige Vortrieb geradeaus. Bis zum Bahnhof waren es 300 Meter. Das hieß, zehn Mal musste der Bagger unterwegs sein, um ihn zu erreichen.

Etwa drei Monate würde er brauchen. Aber vor Deutsch-Ossig ragten Altkippen aus den 50er- und 60er-Jahren zwischen Weinhübel und Hagenwerder auf, hinter dem Bahnhof und der ersten Bebauung von einem Straßentunnel unterbrochen. Sie waren ein Hoffnungsträger der Deutsch-Ossiger, die sagten: „Da kommen sie nie durch.“ Es erschien auch unsinnig. Immerhin würde es drei Jahre dauern, bis sich die Bagger durchgefressen hatten.

Wieder zu Hause angekommen, fand Warner einen Brief des Bischofs im Kasten. Er hielt ihn, was das Requiem betraf, stets auf dem Laufenden. Der Bischof lobte die Konsequenz und Ehrlichkeit der Darstellung, auch die Textsicherheit. Seiner Theologie entsprechend war er weniger an dem „ängstlichen Harren der Kreatur auf Erlösung“, wie es im Römerbrief hieß, interessiert als an dem, was der Mensch selbst zu seinem Untergang beitrug und welche Hoffnung ihn erhalten konnte.

Dennoch schlug er Warner ein Naturgleichnis für den Eingangstext vor. Warner hatte ihm geschrieben, dass bis hierher, es fehlten ja in seinem vor 14 Tagen abgeschickten Brief noch die letzten Texte, eine Zuordnung erkennbar sei. Aber kein Text würde sich für eine verallgemeinernde Einleitung eignen. Alle wären konkret auf den Punkt gebracht.

Der Bischof schlug die Jotam-Fabel aus dem biblischen Buch Richter vor. Warner war sogleich bei der Sache. Abimelech ließ sich zum König von Israel wählen. Seine erste Tat bestand darin, seine Brüder zu töten.

Nur Jotam entging ihm. Der stieg auf den Gipfel des Berges Garazim und verkündete im Bild von den Bäumen, die einen König salben wollten, dass sie mit Abimelech einen der schlimmsten Tyrannen gewählt hätten. Georg Warner brachte das in Bild und Text: 228

Im Wald rankt sich der Dornbusch um jeden Baum.

Aber die Wipfel wissen nichts davon, strecken sich der Sonne entgegen.

Wir sind waldreich, jedem Reich seinen König.

Blätterfall teilte es den Wurzeln mit, machten sich mitsamt Baum und Krone auf, einen König zu salben.

Wer Öl hat, soll auch König sein.

Der Ölbaum sprach: „Soll ich euer König sein und euch dienen?

Mein Öl lassen, das Götter und Menschen an mir preisen?“ Wer süß ist, soll auch König sein.

229

Die Feige sprach: „Soll ich euer König sein und euch dienen?

Meine Süße lassen, die Götter und Menschen an mir schätzen?“ Wer Wein hat, soll auch König sein.

Der Weinstock sprach: „Soll ich euer König sein und euch dienen?

Meinen Wein lassen, den Götter und Menschen an mir loben?“ Der Wald lichtete sich, keiner wollte König sein.

Nur allein Der Dornbusch willigte ein. „Ist’s wahr, ich euer König?

Bergt euch in meinem Schatten.

Ich bin euer König.

Wenn nicht, gehe Feuer vom Dornbusch aus und verzehre die Bäume des Waldes.“ 230

Im Wald rankt sich der Dornbusch um jeden Baum …

Und fertig. „Grünes Requiem. Totenmesse für die Natur“ war geschrieben. Warner antwortete dem Bischof sogleich, dankte ihm für den bestens umsetzbaren Vorschlag. Tat den Text und die anderen noch fehlenden in einen Umschlag und beförderte ihn zur Post.

Abschied Noch einmal zog es Warner nach Zittau. Die Tür zum Atelier war offen. Der Maler befand sich aber nicht darin. Als Warner den halben Raum durchquert hatte, blieb er wie angewurzelt stehen. Der Altar hatte sich scheinbar grundlegend verändert. Der Aufsatz und die sogenannte „Grablegung Christi“ unten waren sichtbar. Über den gesamten Mittelteil zogen sich zwei kahle Bäume hin, die sich ineinander verästelten.

Werden oder Vergehen? Am Horizont schwang sich ein Regenbogen über die Darstellung. Also doch Werden!?

Der Maler trat ein, ganz profan trug er eine Tüte Semmeln und eine Flasche Milch bei sich. Er blieb neben dem scheinbar entrückten Georg stehen. Folgte dessen Blick. Es fiel ihm ein, dass dieser beim Malen der rückwärtigen Tafeln nicht zugegen gewesen war. Auch hatte er ihm wohl nicht mitgeteilt, dass gemäß seines Vorbildes ein gotischer Flügelaltar während der Passionszeit geschlossen blieb.

Der Maler begab sich zum Altar und öffnete diesen behutsam. Das wirkte wie eine Offenbarung. Warner löste sich aus seiner Erstarrung.

Er schloss den Altar, öffnete ihn sogleich wieder. Dann schaute er hinter die Seitentafeln, als wollte er sich vergewissern, dass die Bäume noch vorhanden waren. Je einer befand sich auf einer Seite. Er klappte den Altar wieder zu, als hätte er Freude an diesem Spiel gefunden. Trat nun aber zurück. Auf ein Blatt Papier warf er den tatsächlichen Schlusstext des „Grünen Requiems“:

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Fährmann Charon fährt die Toten über den Styx in die Unterwelt.

Randvoll geschlagen das Boot voll lebloser Schwimmer, die mit dem Strom ihrem Schicksal entflohen.

Fährmann Noah fährt die Lebenden über das Chaos zu neuen Gestaden.

Haushoch bevölkert die Arche mit Inselbewohnern, die an den Strom des Lebens glaubten.

Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt; der soll das Zeichen des Bundes sein zwischen mir und der Erde.

Die zwei Bäume konnten Blühen und Grün ansetzen. Warner öffnete den Altar abermals und für sich endgültig. Der Maler hatte eine Flasche entkorkt. „Rosenthaler Kadarka“ floss in zwei Becher. Nun ja, auf den Abschluss beider Werke konnte getrost angestoßen werden. Der Maler gab Georg aber zu verstehen, dass es der Abschiedstrunk wäre. Alsbald würde er in die Nähe von Schwerin übersiedeln, wo seine Frau eine neue Pfarrstelle übernahm.

Georg Warner kam ein, wie sich einst Homer und ein gewisser Flavius Rufus vor den Toren Tangers verabschiedet hatten. Sie sagten sich nicht „Lebenwohl“.

232

Rutschung P Am nächsten Tag, es herrschte üppiger warmer Frühling, die Bienen summten in den Bäumen, die Vögel sangen, Warners Schafe, er war eben mit der Sense beim Grasmähen, hüpften umher. Plötzlich erstarb das Singen der Vögel, das Summen der Bienen. Die Schafe standen vollkommen regungslos, als würden sie auch das Atmen unterlassen.

Es war ein Geräusch zu hören, als wenn ein Diskus die Luft schneidet, über alles hin. Dann war es, als wenn die Luft in der Ferne angesaugt würde. Das Geräusch war nicht klar zu definieren. Es handelte sich um ein Grunzen, Schnauben, Brüllen, als würden alle Tiergattungen zur Schlachtbank getrieben. Dann gab es einen Schlag wie von einer überdimensionalen Uhr. Ein Rauschen folgte, dem sich eine Bodenbewegung wie eine Welle anschloss, die noch das Entfernteste in die Luft hob.

Warner schnellte in die Höhe und stürzte eben so schnell zu Boden. Fast wäre er dabei in die Sense gestürzt. Er blickte auf. Nein, der Himmel stand wie ehedem über ihm.

Jetzt ertönten die Sirenen. Warner rannte an seinen immer noch bewegungslosen Schafen vorbei über den Hof und auf die Straße. Alle Einwohner befanden sich dort, vom Schrecken getroffen. Rauch stieg auf. Einige Öfen hatten ihr Feuer ausgespuckt und das Haus angezündet. Die Feuerwehren, die nach und nach eintrafen, hatten reichlich mit Löschen zu tun. Wie von Einwohnern, die von der Bahnhofstraße herbeigeeilt kamen, zu hören war, war der Mittagszug aus den Schienen gesprungen. Es hatte Verletzte gegeben. Und schon sausten Krankenwagen mit Martinshorn heran und die Bahnhofstraße hinunter. Polizei war von Anfang an auf dem Plan.

Von der Grube her zogen jetzt stahlblaue Rauchwolken heran. Die nahmen einem den Atem. Es war, als wenn ein riesiger Ofen, in dem das Kohlenfeuer nur schwelte, geborsten wäre. Mephistopheles stand neben Warner und sagte mit Kennermiene: „Die Hölle hat sich aufgetan.“ Er begleitete Warner ins Haus. Im Gegensatz zu allen anderen war er vor Ort gewesen. Er wollte nur den ersten Eindruck wiedergeben: „Unterhalb von Jauernick ist eine gewaltige Rutschung abgegangen. Zig Tonnen, die sich in ihrem Gewicht so schnell nicht bestimmen lassen, sind vom Granit abgerissen. Die alten Bäume, die oben standen, kannst du jetzt als Miniaturen bewundern.“ „Und der Rauch?“ fragte Warner. Mephistopheles ging in die Küche.

Die heutige Nachspeise Warners kam ihm gerade recht. Er brachte die 233

Puddingschüssel in die Stube und sagte: „So wird es anschaulich.“ Er drückte auf die eine Seite des Puddings. Sofort hob sich die andere. „Das nennt man Aufpressung“, bemerkte er sachkundig, als wenn er Bergbauingenieur wäre. Daraus folgte, dass das Kohleflöz gehoben wurde und mit Luft in Berührung gekommen war. Durch die Reibung hatte es sich entzündet. „Das wird tief nach unten gehen“, meinte Mephistopheles, ohne als Prophet gelten zu wollen. „Das in den Griff zu bekommen, und wie ich aus Erfahrung weiß, hat der Mensch noch nie die Hölle beherrscht, wird ein halsbrecherisches Abenteuer. Halt dich bereit, Georg. Es wird nicht allzu lange dauern, bis man dich vor Ort haben will.

Auf meinen Beistand darfst du dann nicht hoffen, siehe Hölle.“ Warner schien es fast so, als würde Mephistopheles eine gewisse Schadenfreude bestimmen.

Die Rutschung bekam einen Namen, der nur in einem Buchstaben bestand, „P“. Der wurde symbolträchtig und sollte das Geschehen im Tagebau Berzdorf über zehn Jahre bestimmen. Letztendlich diente P dazu, vor Deutsch-Ossig eine ebensolche Rutschung zu prophezeien, was als Begründung dafür diente, dass der Ort fallen sollte und das Gelände bis zum darunterliegenden Granit abzutragen war. Auf der Höhe der Kirche verlief der Granit oberhalb, nach Osten senkte er sich hin zu einer Mulde, in der die Neiße floss. Alles, was auf und über dieser Kuppe lag, also die Kirche und das Oberdorf, waren somit sicher.

Georg Warner neigte später dazu, alle seine literarischen Arbeiten mit einem Zusatz zu versehen, „Rutschung P“, denn auch alles, was er schrieb, war bedroht. Die Bezeichnung „P“ war allerdings selbstverständlich. Alle bisher abgegangenen Rutschungen hatten dem Alphabet nach Buchstaben erhalten. Eben war man bei P angelangt.

Allerorten herrschte Aufregung und Empörung. In Hagenwerder kochte die Stimmung hoch. Die Lautstärke in der Bahnhofsgaststätte hätte bei Messungen einen beträchtlichen Lärmpegel ergeben. Der schlug Warner entgegen, als er eintrat. Er versuchte, die dichtgedrängte Menge zu überblicken. Etliche standen, da der Platz nicht ausreichte.

Auch seine Leute saßen dichtgedrängt. Hilde rutschte so gut es ging beiseite, damit Georg sitzen konnte.

Warner merkte bald, dass es zwei Parteien gab, die miteinander stritten. Die einen waren vorn in der brennenden Kohle eingesetzt. Sie empörten sich über die unmenschlichen Bedingungen, denen sie ausgesetzt waren: Hitze, Stickluft und ständigen Erdverschiebungen. Von „lebensgefährlich“ redete schon keiner mehr, so allgegenwärtig war die Bedrohung.

234

Vorgerückt war das „Eisenschwein“, jener kastenförmige Bagger. Hilde gehörte nicht zur Besatzung, war dem Bagger aber als Instandhalter zugeordnet, sodass er sich auch vor Ort befand. Nostradamus bediente eine Gurtbandanlage, die Abraum oder Kohle aus dem Tagebau schaffte.

Er berichtete Georg, dass die Rutschung die gesamte Anlage in Schlangenlinie weggeschoben hatte. Damit war ein wichtiges Transportmittel im weiteren Tagebauvorfeld ausgefallen. Lastkraftwagen mussten das jetzt bewerkstelligen. In der Rutschung waren es Kettenfahrzeuge, deren Kraftstoffleitungen wie auch der Tank ständig gekühlt werden mussten.

Am gefährlichsten lebten die Raupenfahrer, sie mussten die rauchende und bei Luftzufuhr entzündliche Kohle aufschieben. Es wurden zwar wirkungsvolle Maßnahmen ergriffen. So war mit Beginn der Rutschung in einem noch ruhigen Abschnitt eine tiefgegründete Stahlbetonwand errichtet worden. Als die Rutschung P sie erreichte, wurde sie jedoch wie Spielzeug weggeschoben.

Die andere Partei bestand aus den Kumpeln, die bei angenehmer Arbeit das Ganze aus der Ferne betrachten konnten und auch im Eigeninteresse das Geschehen herunterspielten. Dazu gehörten ebenfalls die Kraftwerker, die sich schon immer für den Adel des Industriestandortes hielten und die Bergleute lediglich als Zulieferer ansahen. Sie warnten sogar, dass die Unfähigkeit der „Idioten in der Rutschung P“ den Nachschub an Kohle gefährden würde. Warner hatte das Gefühl, es könne zu einer Massenschlägerei kommen.

Der Wortführer derer, die sich als Opfer fühlten, war Vincent. Er stand immer wieder auf, um sich Gehör zu verschaffen. Einmal stieg er sogar auf den Tisch. Vincent war der verantwortliche Baggerführer auf dem „Eisenschwein“. Er ließ es sich nicht nehmen, den Provokateuren, wie er sie nannte, „klaren Wein“ einzuschenken. Schließlich brachte ihn bei einem Seitenblick der lesende Nostradamus aus der Fassung. Er nahm ihm das Buch weg, klappte es mit einer heftigen Bewegung zu, knallte es auf den Tisch und rief: „Lass doch endlich das dämliche Buch in Ruhe!“ Dann setzte er sich und schwieg. Warner sah, um welches Buch es sich handelte, die Bibel. Und was Nostradamus las, war ihm auch klar, die Apokalypse. Wie zur Bestätigung hörte er Nostradamus sagen: „Und die sieben Engel mit den sieben Posaunen hatten sich gerüstet zu blasen. Und der erste blies seine Posaune; und es kam Hagel und Feuer, mit Blut vermengt, und fiel auf die Erde; und der dritte Teil der Erde verbrannte, und der dritte Teil der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte.“ Vincent geriet wieder in Kampfstimmung. Er herrschte Warner an: 235

„Und wer bist du. Ich habe dich hier noch nie gesehen. Hau ab, hier gibt’s nichts zu spitzeln.“ Jetzt war es Hilde zu viel. Er blaffte zurück: „Das ist Georg Warner, der Pfarrer von Deutsch-Ossig.“ Vincent blinzelte.

Dann sagte er auch für sich selbst überraschend: „Entschuldigung.“ Auf einmal schien er einen Lichtblick zu haben. Er sagte zu Warner: „Wir brauchen einen Zeugen.“ Er stand auf und teilte seinen Entschluss der versammelten Mannschaft mit. Durch Fuchteln der Arme hatte er sich Ruhe verschafft: „Wir benötigen einen neutralen Beobachter, der in die Rutschung P gehen muss. Ich schlage Pfarrer Warner vor. Sein Urteil über die Bedingungen dort wird gültig sein. Wer dafür ist, hebe die Hand.“ Das geschah erstaunlich reichlich. Nostradamus streckte sich, griff die Bibel mit dem ersten Satz des Johannes-Evangeliums auf: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ In der Gaststätte zog halbwegs Ruhe ein, zumindest der Streit legte sich. Georg fragte Hilde irritiert, was er jetzt tun solle. Der antwortete: „Abwarten.“ Und das konnte Warner am besten in seinem Pfarrhaus. Er besorgte sich alle erreichbaren Angaben zur Rutschung P. Einige Tage später klingelte es an der Haustür. Den Besucher hatte Warner beinahe erwartet. Hauptmann Kumpfe sagte zu ihm: „Herr Pfarrer, ich bitte Sie, mit mir zu kommen.“ In die Stasizentrale sollte es wohl nicht gehen, denn dahin wäre er nicht gebeten worden mitzukommen. Kumpfe war mit seinem Lada erschienen. Die Stasi fuhr dieses schnittige sowjetische Modell, das an einen Wagen des Klassenfeindes erinnerte. Wenn ein solcher gesichtet wurde, wusste man Bescheid.

Aber diese Zurschaustellung der Staatssicherheit gehörte zur Demonstration ihrer Allmacht.

Es ging in Richtung Hagenwerder. Hinter Tauchritz stand der Mehrstöcker der Tagebauverwaltung. Dort lag auch die Einfahrt zur Grube.

Kumpfe hielt am Schlagbaum, seine sonst unentbehrlichen beiden Genossen hatte er diesmal nicht dabei. Durch das Fenster reichte er seine „Erkennungsmarke“ dem Pförtner, ohne etwas zu sagen. Er hatte bisher auch zu Warner kein Wort gesprochen. Sie wurden in Empfang genommen. Mit einem robusten Grubenfahrzeug ging es weiter.

Sie näherten sich der Rutschung P und Warner wusste, was der „Ausflug“ bedeutete. Der Wagen musste immer wieder Aufschüttungen ausweichen. Einen Weg gab es nicht. Sie fuhren an einer zertrümmerten Bandanlage vorbei. Große Betonbrocken lagen herum, als hätte sie jemand wahllos verstreut. Erster Rauch kam ihnen entgegen, der Warner 236

bereits in die Nase stach. Dann ging es zu Fuß weiter, wobei der Pfarrer den Eindruck gewann, dass der Führer sogar den Weg durch ein Moor gefunden hätte.

Jetzt musste sich Warner am Ort des Geschehens befinden. Der Rauch war so dicht, dass man das „Eisenschwein“ wie durch dichten Nebel nur als Schemen erkennen konnte. Doch Nebel gab es hier nicht, Warner wurde durch giftige Dämpfe gewürgt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich sein Taschentuch vor Mund und Nase zu halten. Überall züngelten Flammen hoch, mit denen Raupen befasst waren. Wenn sie die Fläche weithin freigeschoben hatten, brach hinter ihnen sofort wieder die Erde auf und das Geschiebe begann von vorn. Genauso hätte Sisyphos auf einer Raupe sein zweckloses Tun verrichten können.

Es ging die Eisenleiter zum Bagger hoch. Im Inneren meinte Warner, sich übergeben zu müssen. Vincent war heran und reichte ihm eine Flasche Milch, stieß mit ihm an. Die Milch beruhigte tatsächlich etwas die von der ätzenden Luft gereizten Schleimhäute. Warner sah, dass hier Milch in Kästen aufgereiht stand. Vincent ließ es sich nicht nehmen, darauf zu verweisen, dass dies das einzige Heilmittel sei, das man für die Kumpel übrig habe. Jetzt entdeckte er Warners Begleiter. Die feine Lederjacke gab ihm sogleich Auskunft. Barsch sagte er: „Nichts mit Milch.

Die ist für die Kumpel. Auch sind Sie nur der Zeuge des herbestellten Zeugen.“ Vincent nahm Warner mit in den Führerstand. Der war erstaunt, wie viele Leute sich auf dem Bagger befanden. Er wusste nicht, was für eine Menge verschiedener Aufgaben hier zu erfüllen war. Vincent bemerkte sein Erstaunen und sagte: „Bäcker und Fleischer.“ Diese gängige Redewendung hatte er noch nie gehört. Sie rührte daher, dass es gelernte Fleischer oder Bäcker auf den Bagger zog, weil sie hier wesentlich mehr verdienten als in ihren ursprünglichen Berufen.

Vincent nahm vor seinen Hebeln und der Schalttafel Platz. Warner sollte sich neben ihn auf den Drehhocker seines Assistenten setzen. Über Mikrofon gab Vincent Anweisungen. Das „Eisenschwein“ begann zu arbeiten. Und da sah Warner voller Entsetzen, dass die Schaufeln glühten. Sie griffen in zwar gerutschtes, aber noch nicht aufgerissenes Erdreich. Was Warner erblickte, war zugleich faszinierend und schaurig.

Links neben dem „Eisenschwein“ stand eine Raupe still, die sonst wohl sofort das zur Seite gerollte Material wegschob. Warner entdeckte, dass sich Hilde an ihr zu schaffen machte. Plötzlich zog sich ein Riss durch den Boden, der sich im Nu verbreiterte. Die Raupe sackte bis 237

über die Ketten ein. Vincent, dem nichts entging, hatte einen Fluch auf den Lippen. Mit Blick auf den Pfarrer sagte er nur: „Ach, du heiliger Strohsack.“ In rascher Folge ertönten Kommandos. Das „Eisenschwein“ drehte sich schließlich. Der Arm, über den sonst der Abraum hinter dem Bagger lief, schwenkte herum.

Die Raupe war jetzt schon bis zur Hälfte des Fahrerhauses im rauchenden Boden eingesackt. Der Raupenfahrer und Hilde standen auf dem Dach. Wie Zirkusartisten ergriffen sie den vorbeischwebenden Baggerarm. Die Raupe versank im Boden. Beide krochen jetzt bis zum Führerhaus, von dem aus der Ausleger gesteuert wurde. Nach wenigen Minuten stand Hilde vor Georg, der kreidebleich geworden war. Hilde sagte fast lässig: „Schön, dass du gerade jetzt gekommen bist. Ich habe nämlich heute Geburtstag.“ Er fragte in die Runde der Männer, die ihn angafften: „Gibt’s denn hier nichts zu trinken?“ Es wurde ihm eine Flasche Milch gereicht und er stieß mit Georg und Vincent an. Dazu verkündete er siegesgewiss: „Alles wird wieder groß sein und gewaltig.

Die Lande einfach und die Wasser faltig, die Bäume riesig und sehr klein die Mauern; und in den Tälern, stark und vielgestaltig, ein Volk von Hirten und von Ackerbauern.

Und keine Kirchen, welche Gott umklammern wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern wie ein gefangenes und wundes Tier – die Häuser gastlich allen Einlassklopfern und ein Gefühl von unbegrenzten Opfern in allem Handeln und in dir und mir.“ Hilde hatte mit Rilke besonders Vincent bedacht. Der hatte keine Vision gehabt und schaute Hilde verständnislos an. Hilde gab ihm zu verstehen: „Du musst mehr Milch trinken. Seit den Tagen an der Mutterbrust ist Milch ein besonderer Saft. Wenn du die heutige Ration ganz allein geleert hast, mit Blick in die Rutschung P, wird dir ein Quellen vor Augen treten, die Vision vom Danach.“ Hilde wollte nach seiner Schlossertasche greifen, die jedoch nicht mehr da sein konnte. Es war, als wenn ihm das Geschehene eben erst bewusst wurde. Er murmelte vor sich hin: „Schluss für heute“, und nahm auch den traumatisierten Raupenfahrer mit, ohne ihn zu fragen, 238

ob er ebenfalls Überstunden abzufeiern hätte.

Auch Warner hatte genug gesehen. Die Fahrt ging zurück, mit einem verbissenen Kumpfe. Der war wieder einmal mit der Undankbarkeit befasst. Während er sich unermüdlich zum Schutze der Republik abmühte, aalten sich die Genossen in der Grube in ihren Hängematten. „Wie auf dem Urlauberschiff ‚Fritz Heckert‘“, fiel es Kumpfe noch treffend ein. Er habe in seinem Diensteifer sämtliche Rutschungen von A bis P vorausgesehen. Warner einen Bericht abzufordern, war zwecklos, aber der wäre schön gewesen, denn er hätte den hochmütigen Pfarrer persönlich aktenkundig gemacht. So musste er Warner bei der Grubenleitung abliefern. Das dort entstehende Sitzungsprotokoll des Betriebes dürfte für den Pfarrer unverfänglich sein.

Warner wurde in einer Baracke, nicht in jenem Hochhaus, empfangen. Die Grubenleitung wollte bergmannsverbunden erscheinen. Neben dem Betriebsleiter saßen am Tisch noch der Chefingenieur und der zuständige Vorgesetzte für die sozialen Belange. Auch der Kaderleiter wurde ihm vorgestellt. Warner dachte erbost, dass man dann gleich hätte Kumpfe an den Tisch bitten können.

Den Unterschied zwischen kirchlichen und bergmännischen Befragungen konnte er gleich feststellen. Hier gab es nicht die krümeligen Plätzchen, sondern Hackepetersemmeln. Ein dunkles Bier aus Eibau, dem vor Feiertagen Warner öfter nachjagte, wurde dazu kredenzt. Warner konnte leider nur aus Höflichkeit daran nippen.

Was er schilderte, war zwar nicht neu, aber kam eben von einem neutralen Beobachter. Den gesundheitlichen und sozialen Zuständen vor Ort widmete er sich längere Zeit, um dann aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen. Er nannte sie menschenunwürdig. Als hätte das der Betriebsleiter schon immer geahnt, blickte er seinen Sozialbevollmächtigten durchdringend an. Der musste daran schuld sein.

Jetzt ging es um das Fallbeispiel, das dazu dienen konnte, die Tortur in der Rutschung P zu beenden. Warner schilderte den Untergang der Raupe. Auch auf die Personen kam er zu sprechen: „Vor meinen Augen wäre beinahe einer meiner besten Freunde versunken, der Schlosser Hildebrand. Sie können sich vorstellen, wie ich auf einmal die Lebensgefahr für alle Kumpel begriffen habe.“ Ratlosigkeit herrschte. Warner tat kund, dass er technisch gänzlich unbedarft sei. Deshalb wolle er ein schlichtes Bild bemühen. Er erzählte von einer Puddingschüssel. Wenn man in dieser auf die eine Seite drückte, hob sich die andere. Der Grund dafür sei, dass der Schüsselrand jede Ausdehnung verhindere. Die Genossen waren perplex. Der 239

Betriebsleiter verstand das Puddingbild sogleich.

Jetzt kamen „Schwenker“ auf den Tisch, so hießen Schnapsgläser, die einen festen Fuß besaßen, wie geschliffenes Kristall aussahen und sich nach oben hin öffneten. Bei der Auswahl der Spirituose war man seinen Arbeitern verbunden. Der Schnaps hieß „Kumpeltod“ und lag in seinen Prozenten knapp unter denen von „Primasprit“. Man stieß an. Der Betriebsleiter bemerkte, dass es sich auf einem Bein nicht gut stehen ließ.

So wurde das andere Bein auch noch belastet. Warner konnte sich auch des Gaumenreizes des schwarzen Bieres nicht entziehen. So stellte er fest, dass es sich durchaus mit der Spirituose vertrug.

Der Betriebsleiter brachte ihn selbst zur Tür. Dort sagte er im Vertrauen: „Herr Pfarrer Warner. Ich habe mich intensiv mit der Rückung der Kirche im tschechischen Most befasst. Fürchten Sie nicht um Ihre Kirche. Wir schieben sie notfalls bis Weinhübel.“ Kumpfe setzte Warner wieder vor dem Pfarrhaus ab. Dann düste er davon. Georg Warner begab sich in die Küche, holte aus dem Kühlschrank eine Schüssel Pudding. Da er im Haus Geräusche hörte, langte er nach einer zweiten. Dann ließen er und Mephistopheles sich den Pudding schmecken.

In der Grube wurden alle Geräte samt Mannschaften aus der Rutschung P abgezogen. Man überließ sie sich selbst. Im Hinterland aber begann emsiges Treiben. Die Spannung wurde aus dem Baufeld genommen, indem hinter den in Bewegung geratenen Massen ausgebaggert wurde. Und schon war die Rutschung P ein zahmer Tiger, den es dann im Laufe der Zeit nur noch zu erledigen galt.

Der Schrecken aber war noch allgegenwärtig. Der Brandgeruch blieb und erinnerte an das Geschehen. Warner hatte sich mehr vorgenommen als nur zu erinnern. In seiner Pfingstpredigt wollte er aufzeigen, worum es allumfassend ging. Der Unanschaulichkeit des Heiligen Geistes begegnete er zu jedem Pfingsten dadurch, dass er in Varianten von dem alten und dem neuen Geist der Welt redete. Diesmal war zwingend die Schöpfung ins Auge zu fassen: „Unsere eigene Bewegung hin zur Veränderung reicht nicht hin, wir müssen bewegt werden. Der Heilige Geist weht in die Welt hinein, erreicht alle Menschen guten Willens und richtet sie aus, in die weite Welt zu gehen. Die Gemeinschaft aller Gläubigen ist die Ökumene, zu Deutsch: der bewohnte Erdkreis.

Nun ist unsere Welt im Zeitalter der Ökumene sehr klein. Sie besteht aus der DDR. Selbst am letzten noch erreichbaren Reiseziel, in der ČSSR, sind wir ungebetene Gäste. Ich möchte den Kreis noch enger zie240

hen. Unsere Welt ist die Umgebung des Kraftwerks Hagenwerder und des Tagebaus Berzdorf.

Worin liegt unsere Pfingstbotschaft? Zuallererst und vor allem in der Verkündigung der Ehrfurcht vor der Natur als Gottes Schöpfung, dass er mit der Natur und dem Menschen Frieden geschlossen hat: ‚Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt; der soll das Zeichen des Bundes sein zwischen mir und der Erde.‘ Ökumene im Industriegebiet Hagenwerder ist nicht nur die Erde, die wir bewohnen. Der ganze Naturraum ist von Geschöpfen bevölkert. Die gesamte Natur harrt der Erlösung. Von der Schöpfung und Erlösung her hat sie eine ökumenische Stimme. Was wir hören, sind ihre Klagelaute: im Mahlen der Bagger, im Aufschrei der Erde, im lautlosen Aufsteigen des Rauchs aus den Schornsteinen und der Rutschung P. Sie bedarf des Bruders, des Menschen, da sie der Zerstörung wehrlos ausgesetzt ist. Wenn wir ihr keine Brüder sind, wird es uns ergehen, wie es in der Schöpfungsgeschichte erzählt ist. Kain erschlug seinen Bruder Abel und die Erde trug ihn nicht mehr. Unstet und flüchtig, ohne Heimat, musste er sein.

Vielleicht haben wir den Brudermord an der Schöpfung schon vollzogen. Die Erde speit uns aus. Ich empfinde den Boden unter meinen Füßen bereits als lieblos. Er trägt nicht mehr. In der Luft ist kein Duft von Blumen mehr. Und steige ich im Isergebirge die Klamm hinauf, dann gelange ich nicht in den Wald, in dem ich leben möchte zur schönen Sommerzeit. Dann bin ich in einer gespenstischen Landschaft mit grauen, toten Bäumen. Und wende ich mich um, sehe ich das allgegenwärtige Kraftwerk Hagenwerder.

Spätestens hier könnte der Einwand erfolgen, der immer wieder ins Feld geführt wird. Wenn ein Wirtschaftsexperte diese meine Predigt hörte, würde er umgehend die Notwendigkeit der Energieerzeugung darlegen. Die unschönen Nebenwirkungen sind dabei in Kauf zu nehmen. Auch wir wollen es warm haben und so weiter. Deshalb ist es notwendig, Natur in Anspruch zu nehmen.

Mit welchem Recht, frage ich. Wohlstand entsteht durch Entwicklung, dem Drang, immer mehr haben zu wollen. Lässt sich denn daraus ein Recht ableiten? Mit der Natur wird der Lebensraum des Menschen vernichtet. Notwendigerweise? Dann befinden wir uns auf dem gefährlichen Weg, dass aus Notwendigkeit Leben vernichtet werden muss, bei der Rechtfertigung der Rüstung zum Schutze unserer Errungenschaften, damit bei der Rechtfertigung des Krieges, bei der Rechtfertigung des Todes dieser Welt, des bewohnten Erdkreises, der Ökumene.

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Glaube tut Not. Glaube an Gott, der diese Welt ins Leben rief, Glaube an Christus, der sie erlöste, Glaube an den Heiligen Geist, der diese Welt hin zum Reiche Gottes in Bewegung setzt. ‚Ich glaube an die heilige christliche Kirche‘ heißt hier, ich glaube, dass Kirche der Zerstörung entgegenwirken kann. Das ist mit der Bitte um den Heiligen Geist verbunden.

Unsere Pfingstlieder sind darin heutige Botschaft, dass sie die Bitte um den rechten Glauben durchgehend aussprechen. Ich mag mittlerweile auch ihre blumige Sprache, dass Herz und Lippen angezündet werden sollen. Damit beginnt nämlich die Revolution des Heiligen Geistes, in den Herzen, wo die Liebe zu Gott, zu den Menschen und zur Natur geweckt wird. Nur wem das Herz voll ist, geht der Mund über.

Unsere Pfingstbotschaft für die Ökumene ist eine, die von Herzen kommt. Sie richtet sich nicht gegen jemanden, sondern an alle Menschen. Sie ist eine Botschaft vom Leben und Überleben. Die resignierte Frage: ‚Was können wir schon ausrichten?‘ verbietet sich. Die paar Jünger in der Pfingsterzählung der Apostelgeschichte konnten nach menschlichem Ermessen mit ihrer Verkündigung auch nichts ausrichten. Aber der Heilige Geist konnte es in ihnen durch ihre Bitte und ihr Vertrauen. Die weltweite Kirche haben sie nicht erlebt, aber ihre Nachfahren.

Auch das wandernde Gottesvolk des Alten Testaments ist nicht im gelobten Land angekommen, aber seine Nachkommen. Es ist nicht so, dass man das erreicht, wofür man kämpft, im Gegenteil. Aber das Wort der Bibel ist immer Wort der Zukunft. Heute gesprochen, wirkt es durch den Heiligen Geist in die Zukunft hinein. Heute unsere Pfingstbotschaft in unsere Welt hineingesprochen, von der Notwendigkeit des Glaubens, wird morgen Früchte tragen. Und es kann sogar sein, dass mancher Same, den wir in das Herz eines Menschen säen, erst im ewigen Leben Frucht bringt. Amen.“

Kasjan aus Krassiwaja Metsch Gleich nach Pfingsten traf bei Warner ein Brief ein, von Radio DDR II, das Hörspiele sendete. In fast bittendem Ton war die Rede davon, dass Herr Georg Warner einen hörspielfähigen Text zuschicken solle.

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Hintergrund war die Veröffentlichung von „Nonnenmacher“. Dieser sei ohne Frage ein brisantes Stück zu Revolution und Bauernkrieg. Ihn in ein Hörspiel umzuwandeln, würde dem Text aber viel von der Ursprünglichkeit nehmen, da „Hören“ eine andere Dramaturgie verlange als „Sehen“.

Georg Warner war ein Mensch, der stets innerhalb seiner Themen den Ausgleich suchte. So hatte er sich unmittelbar bei Beginn der gemeinsamen Arbeit mit dem Maler Luft durch vermeintliche Idylle verschafft. Er las Iwan Turgenjews „Aufzeichnungen eines Jägers“. Das waren Kurzgeschichten. Mit steigendem Interesse hatte Warner zu einigen Erzählungen Kommentare verfasst. Die würden ihm jetzt, da er die Möglichkeit zu ergreifen gedachte, ein Umweltthema zu gestalten, die Konzeption liefern.

Wie meist bei Warner sollte es sich um eine Gratwanderung handeln.

Hauptperson sollte der Waldhüter Jermolai sein, da er immer wieder vorkam und die einzelnen Episoden zusammenhielt. Auf der einen Seite Kahlschlag und Zwangsumsiedlungen, auf der anderen noch Wald.

Die Grenze dazwischen verschob sich aber ständig zu Ungunsten der Natur und des darin lebenden Menschen. In der Natur war der Waldhüter mit einem Jäger unterwegs, der nach langer Zeit zurückgekehrt war und sein Zuhause noch als heil in Erinnerung hatte. Warner schrieb sogleich eine Szene mit der frühen Liebe des Jägers, Lukerja, weil das seinen Charakter erklärte und zugleich von überwundenem Leid erzählte: Lukerja Personen: Jäger Jermolai Lukerja Jermolai und der Jäger verlassen den Wald und bewegen sich auf ein Vorwerk zu.

Jäger: Mannshohe Brennnesseln. Hier können wir ungesehen nächtigen.

Jermolai: Letztes Jahr war das ein unansehnlicher, aber sauberer Ort. Wenn die Hand des Menschen fehlt, wachsen die Nesseln. (Schon entfernt.) Halt dich näher an mich, Jäger. Sonst verirrst du dich. (Der Jäger schlägt sich durch die Nesseln. Erreicht das Vorwerk, tritt ein.)

Lukerja: Pjotr Petrowitsch. Komm’ doch näher, bitte. Erkennst du 243

mich nicht?

Jäger: Lukerja!

Lukerja: Ekle dich nicht vor mir. Tritt näher. Ich kann nur noch flüstern. Wie bist du in diese verlassene Gegend gelangt?

Jäger: Mit Jermolai.

Lukerja: Dieser Taugenichts. Wollte, dass du mich so siehst, eine lebendige Reliquie. Erinnerst du dich an meine weiße Haut? Sie ist bronzen geworden wie bei einer einbalsamierten Toten. Und mein Zopf. Er reichte bis zur Erde. Aber ich konnte das Haar nicht mehr kämmen.

Und erst meine Stimme. Ich war ja Vorsängerin und führte den Reigen an. Soll ich dir ein Lied singen?

Jäger: Bitte nicht.

Lukerja: Fürchtest du dich vor meiner Stimme?

Jäger: Lied reimt sich schlecht auf Leid.

Lukerja: Du sollst mich nicht bedauern. Mitleid ist schwerer zu ertragen als Einsamkeit.

Jäger: Besucht dich manchmal jemand?

Lukerja: Ein kleines Mädchen sieht nach mir, eine Waise. Und Jermolai mit seinen Waldgeschichten. Einmal war Wassja Poljakow da. Ich war mit ihm verlobt, nachdem du gegangen warst. Wassja hatte mich gerufen, vor sieben Jahren war es. Oder ich meinte, er habe mich gerufen. Da bin ich die Treppe heruntergefallen. Seitdem bin ich gelähmt.

Wassja hat dann eine andere geheiratet. Was sollte er auch mit mir? Er hat eine gute Frau und Kinderchen. Er hat es mir erzählt. Und ich habe ihm tapfer zugehört. Aber als er fort war, musste ich weinen. Pjotr Petrowitsch, wisch’ mir doch bitte die Träne ab. – Und du bist Jäger geworden?

Jäger: Zu etwas muss man wohl taugen.

Lukerja: Jäger sind schlechte Menschen. Sie schießen Schwalben.

Jäger: Ich töte keine Schwalben.

Lukerja: Dort gegenüber haben sie genistet, und ich habe zugesehen, wie sie ihre Jungen aufzogen. Aber dann sind sie weggeblieben. Es heißt, ein Jäger habe sie getötet. Was hat er nur von einer Schwalbe? Ihr Jäger habt kein Herz für die Natur. Singt eine Nachtigall, müsst ihr sie umbringen, nur, um zu spüren, wie ihre Zunge schmeckt.

Jäger: Wenn ich auf die Jagd gehe, treffe ich immer nur auf Menschen.

Einen Hasen haben wir bisher erlegt. Und der führte uns geradewegs zu Tschertopchanow.

Lukerja: Vielleicht war es das Häschen, das einmal hier herein gehoppelt kam. Es sah mich an. Dann machte es Männchen, um mir zu 244

zeigen, wie lebendig es sei. Das ist ja nun vorbei.

Jäger: Wir hatten schlicht und einfach Hunger. Außerdem war es kein Häschen, sondern ein Hase.

Lukerja: Ein andermal ist es ein Mensch. Es gibt nur Jäger und Gejagte. Ich stelle mich vor die, die gehetzt werden. Ich leide für sie. Einmal erschienen meine verstorbenen Eltern vor mir. Sie verneigten sich bis zur Erde. Als ich sie von ihrem merkwürdigen Tun abhalten wollte, erklärten sie mir, dass ich durch mein Leiden auch für sie gebüßt hätte.

Sie kämen, um mir im Namen der Verstorbenen zu danken. Danach verneigten sie sich wieder und gingen still hinaus. Und ein Mann, der viel gelesen hat, erzählte mir die Geschichte eines Mädchens, das mir ähnlich gewesen sei. In ihrem Land herrschte Krieg. Es war von den Türken erobert worden. Das Mädchen stellte sich an ihre Spitze, nahm ein langes Schwert und legte einen schweren Harnisch an. Die Türken wurden vertrieben und man wollte sie zur Königin machen. Sie aber stellte sich den Türken und wurde verbrannt. Sie hatte wohl ein Gelübde getan. Ihr Leben zu geben für ihr Volk. Nicht durch ihre Tat, sondern durch ihr Opfer war es nun für immer frei.

Jäger: Und du bist nun die russische Jeanne d’Arc? Lukerja: Ich bin Lukerja. Stehe nicht an der Spitze eines Heeres, sondern bin mit meinem Leib gebunden. Pjotr Petrowitsch, erweis’ mir einen Dienst. Ich möchte gern ein wenig ausruhen, bevor der große Schlaf kommt. Eine Pilgerin hat mir einmal ein Pulver gegeben, danach konnte ich wunderbar schlafen.

Jäger: Morphium.

Lukerja: Ich hatte einen Traum. Auf einer endlosen Straße zogen Menschen dahin, ernst und schweigsam. Sie hielten Kerzen in den Händen. Unter ihnen war eine große, schwarzgekleidete Frau. Ich erkannte sie und schrie vor Freude auf. Sie aber sagte, dass sie mich nicht mitnehmen könne. Aber sie tröstete mich. ‚Nach dem Petrifasten‘, hat sie gesagt. (Jermolai ist eingetreten.)

Jermolai: Es tagt, Jäger. Der Sonntag zieht herauf.

Lukerja: Worauf wartest du, Pjotr? Nein, küss’ mich nicht. (Lächelnd.)

Siehst du nicht, wie hässlich ich bin?

Jäger: Leb’ wohl, kleine Frau, Lukerja: Glück auf den Weg, Jäger. Ich wünsche allen Menschen Gesundheit. (Der Jäger mit Jermolai ab.)

Die Arbeit Warners zog sich den Sommer über hin, gestaltete sich aber zügig, da die Episoden den Stoff überschaubar machten. Am Anfang 245

stand die Begegnung des Jägers mit Jermolai in der Schenke „Zur Bleibe“. Bei einem Sängerwettstreit studieren sie das Milieu. Während der Jäger vom Gesang begeistert ist, bleibt Jermolais Seele „staubtrocken“.

Die sich hier prächtig herausgeputzt haben, sind morgen wieder Leibeigene. Da ist es besser, rechtzeitig in den Wald aufzubrechen. Jermolai nimmt den Jäger mit, sozusagen auf einen argen Weg der Erkenntnis.

Tschertopchanow wurde bereits erwähnt. Der Altadlige verkümmert auf seinem verpfändeten Gut. Keine Frau hat sich mit ihm eingelassen.

So nahm er sich eine Zigeunerin. Diese zieht die Sehnsucht in die Ferne.

Jermolai und der Jäger werden Zeuge dieser Abschiedsszene. Tschertopchanow, im Grunde ein herzensguter Mensch, stiehlt sich danach aus dem Leben, eimerweise Wodka trinkend.

Es folgten noch zwei Szenen mit Liebesleid. Warner wollte in Fortsetzung zu Tschertopchanow aufzeigen, dass in dieser versehrten Gegend keine Beziehungen Bestand haben konnten. So lastete Einsamkeit auf der Seele der Menschen. Das fand seinen Höhepunkt in Lukerja. An einem Sonntagmorgen verlassen Jermolai und der Jäger das Vorwerk.

Hier schloss Warner eine Szene an, die in aller Kürze Wesentliches zur Sprache bringen sollte: Maxim Personen: Jäger Jermolai Maxim Bauern Jäger: Wir gelangten auf einen neuen Kahlschlag. Hier lagen kürzlich gefällte Espen traurig auf der Erde, mit ihrer Last zerdrückten sie das Gras und das niedrige Gesträuch; an manchen hingen die noch grünen, aber schon toten Blätter welk von den regungslosen Zweigen herab, an anderen waren sie schon verdorrt und zusammengeschrumpft. Die frischen, goldweißen Späne, die haufenweise um die hellen, feuchten Stümpfe lagen, strömten einen eigentümlichen, bitteren Duft aus. In der Ferne, näher zum Wald hin, hallten dumpfe Axtschläge, und von Zeit zu Zeit sank, sich tief verneigend und die Arme ausbreitend, ein dichtbelaubter Baum zu Boden. (Nach dem Fallen eines Baumes ein Schrei.

Stimmengewirr. Ein Bauer läuft auf Jermolai zu.)

Bauer: Den Unternehmer Maxim hat ein Baum gefällt.

246

Jermolai: Lebt er noch?

Bauer: Ich soll nach dem Popen laufen.

Jermolai: Dann bring’ auch den Arzt mit. (Bauer ab.)

Jäger: Was suchen die am Sonntag mit ihren Äxten im Wald?

Jermolai: Der Feiertag ist Maxim und seinen Bauern gleichgültig. In ihren Wäldern ist eine neue Zeit angebrochen. Machet euch die Erde untertan: Kahlschlag. Sehen wir, ob noch Hilfe möglich ist.

Bauer: Barmherzigkeit, Jermolai.

Jermolai: Was soll ich diesmal sein, Arzt oder Pope? Braucht ihr Spitzwegerich gegen die Blutungen oder ein Vaterunser für seine Seele?

Bauer: Es hat ihm Arme und Beine zerschmettert.

Maxim: Den Popen holen … Der Wald … Das ist die Strafe … Den Popen. Jermolai … wird mir nicht vergeben.

Jermolai: Ich bin nicht Gott, Maxim. Dein Glück.

Maxim: Vielleicht muss ich … noch nicht – sterben.

Jermolai: Das haben sich die Bäume auch zugeflüstert. Und du hast gesagt: ihr müsst.

Maxim: Vergib uns unsre Schuld … Jermolai, du.

Bauern: Wir vergeben sie unsern Schuldigern.

Maxim: Da kommt er.

Jermolai: Es ist der Schatten einer Linde, der über dein Gesicht streicht. (Maxim stirbt.) Legt ihn auf eine Bahre aus grünen Ästen.

Jäger: War das nötig, Jermolai?

Jermolai: Es ist gut, wenn er auf einem Stück Hoffnung hinausgetragen wird.

Jäger: Du hast ihn alleingelassen, im Sterben. Ohne Trost. Hättest sagen sollen: Du stirbst noch nicht. Und er wäre ruhiger aus dem Leben gegangen.

Jermolai: Er war immerhin ein Mensch. Hatte ein Recht auf seinen Tod. Jäger: Der wäre ohnehin gekommen.

Jermolai: Aber wie? Als Lüge. Maxim hat viel Schuld auf sich geladen.

Als Waldhüter musste ich ihm seine Schuld vor das innere Auge rücken.

Der Tod ist hart, aber das Leben ist es auch.

Warner bekam bald mit, dass und wie sein Text diskutiert wurde. Es geschah durch ein Kollegium, dem der Regisseur, der Dramaturg und die Verantwortlichen für Schnitt und Ton angehörten. Kontakt zu Warner hielt der Dramaturg. Von Anfang an bemängelte er die Episodenstruktur des Hörspiels, weil sie für dieses Genre untypisch sei. Der Verweis 247

auf die durchgängig auftretenden Hauptakteure Jermolai und Jäger genügte nicht. Die Hörer müssten sich bei neuer Handlung stets auf neue Figuren einstellen.

Das war aber kein entscheidender Einwand. Zu bestimmen hatten die Ideologen. In dem Vertrag, der Warner zugesandt worden war, stand gleich als Erstes „Kulturpolitischer Anspruch“. Und der begann mit den Worten: „Im zaristischen Russland …“ Damit war gesagt, wo das Hörspiel konsequent anzusiedeln sei und dass es die Ausbeutung im zaristischen Russland klar herausstellen sollte.

Der Dramaturg war auch hierbei die einzige für Warner fassbare Person. Er ließ aber durchblicken, dass die Vorgaben nicht von ihm stammten, sondern er sie nur übermittle. Damit schlug er sich auf Warners Seite. Das konnte für ihn nicht gefährlich werden, denn ein auswegloser Fatalismus beherrschte ihn.

Jedenfalls gab es zum Manuskript einen ausführlichen Briefwechsel über das zaristische Russland. Georg Warner hat mir für dieses Buch einen üppigen Ordner zur Verfügung gestellt, der als DDR-Kommentar zu seinem Schreiben hätte gelten können, wenn das darin Enthaltene nicht vollkommen absurd gewesen wäre.

An und für sich konnte man sich nie so gut verstecken, dass die eigentliche Absicht, siehe „König von Preußen“, nicht zutage trat. Warner wurde hier und da aufgezeigt, dass er die zaristische Unterdrückung hinterhältig verlassen habe. Er konterte dann stets, indem er die im „Dunkeln“ zum Verstummen brachte. Er bearbeitete einen großen Meister der Literatur, der durch seine Kritik an der Leibeigenschaft schließlich sein Leben im Exil verbringen musste, fern des geliebten Russlands. Dahinter kamen sie nicht, dass Warner Turgenjew verwandt war. So war das, was der Pfarrer in seiner Zeit zu sagen hatte, auch das, was Turgenjew ausgedrückt hatte.

In Russland ist man durch die Leibeigenschaft an die Scholle gebunden. Da kann man nicht „herumziehen“. Außer, man entwickelt einen Traum. Oder geht. Im Jahr 1984 waren schon Etliche in der DDR auf dem Sprung nach Westen. Seit dem Aufbegehren gegen den König von Preußen, „Wo soll ich mich hinwenden in dieser schlechten Zeit“, hatte sich das bei Warner festgehakt. Nun wussten sie es. Für Warner war das keine Alternative. Für ihn galt: „Bleibe im Lande und wehre dich täglich.“ Er akzeptierte diesen für seine Zeit zutiefst demokratischen Willen. Dem wollte er jetzt Vorschub leisten, mit Kasjan aus Krassiwaja Metsch, zugleich der Schluss des Hörspiels: 248

Kasjan Personen: Jäger Jermolai Kasjan Jäger: Judiny bestand aus sechs niedrigen und kleinen Hütten. Als wir in die Siedlung kamen, begegneten wir keiner lebenden Seele; nur ein einziger schwarzer Köter mit gestutztem Schwanz sprang bei meinem Kommen eilig aus einem gänzlich ausgetrockneten Trog, in den ihn vermutlich der Durst getrieben hatte. Ich trat an die erste Hütte heran, öffnete die Tür zum Hausflur und rief nach den Bewohnern – niemand antwortete mir. Ich rief noch einmal; das hungrige Miauen einer Katze ertönte hinter der zweiten Tür. In einem Verschlag blökte ein Kalb; eine lahme Gans watschelte mir aus dem Weg. Ich ging hinüber in die zweite Hütte. Auch dort war keine Menschenseele. Ich trat auf den Hof hinaus … Du baust auf mein mitfühlendes Jägerherz, Jermolai. Ich soll diesen armseligen Kreaturen den Fangschuss geben.

Jermolai: Du wolltest den Wachtelkönig jagen.

Jäger: Wenn er so beschaffen ist wie die Haustiere, werde ich ihn kaum verfehlen.

Jermolai: Wild genug ist diese Gegend, für Haustiere etwas zu wild, aber zum Jagen wie geschaffen. Menschen hält es hier nicht lange.

Jäger: Da liegt einer auf der Erde.

Jermolai: Kasjan aus Krassiwaja Metsch.

Jäger: Du sagst das so selbstverständlich, als läge er immer am Boden.

Jermolai: Mal hier, mal dort. Er lauscht auf die Stimme der Erde.

Früher, bevor er nach Judiny zwangsumgesiedelt wurde, bebaute er sie.

Vom Acker vertrieben, wurde er zum Erdmenschen. Tauscht mit der Erde Geheimnisse aus.

Kasjan: Wohin schwanden sie, dein erhabenes Wort, deine stolze Kraft und dein Herrschermut? Wo ist jetzt deine grüne Macht nur hin?

Jermolai: Er trauert dem Wald hinterher. Bis vor Kurzem stand er noch.

Jäger: Und die Vögel? (Kasjan springt auf.)

Kasjan: Du schießt Vögel? Bediene dich. Die vier Linden beherbergen den ganzen Wald.

Jäger: Ich suche jagdbare Vögel.

Kasjan: Sieh an, wie feinsinnig du bist. Unterscheidest die Tiere des 249

Waldes. Das hast du den Kaufleuten voraus, die die Wälder geschlagen haben, Kahlschlag. Jagst nur zum Vergnügen.

Jäger: Ich bin kein Wilderer. Den Wachtelkönig kann man essen.

Kasjan: Was willst du?

Jäger: Du isst doch auch Gänse und Hühner.

Kasjan: Die Haustiere sind für den Menschen bestimmt. Der Wachtelkönig aber ist ein freier Vogel des Waldes.

Jäger: Die Tiere waren einst alle wild, bis der Mensch sie zähmte.

Kasjan: Es gelang ihm nur bei denen, die dafür bestimmt waren. Sie hatten die Seele eines Knechtes in sich. Du hast dich in der Siedlung umgesehen. Alle Tiere hier warten auf die Hand des Menschen, sind krank, da er sich ihrer nicht annimmt. Die Tiere des Waldes brauchen den Menschen nicht. Sie sind frei. Der Mensch aber erträgt die Freiheit nicht. Er knechtet seinesgleichen. Und weil ihm das nicht genügt, zieht er in den Wald, mit Axt und Flinte bewaffnet. Er vernichtet die Wälder, er tötet die Geschöpfe unter Gottes freiem Himmel. Er wird darin fortfahren, bis es keinen Wald mehr gibt, von kleinen Inseln abgesehen, auf denen er mit Tausenden seiner Art die freie Zeit totschlagen wird. Mit dem Sterben der Natur wird er die letzte Vorstellung von Freiheit verlieren. Er wird in die Steinhöhlen zurückkehren, aus denen er einmal aufgebrochen ist. Glücklich wird er sich darin preisen, weil sie seiner Lebensart entsprechen. Vielleicht wird ihn ein Ahnen beschleichen, vom Grund seiner Seele her. Wo hinter einer Grabplatte Bäche rauschen, aus denen man trinken konnte, Korn wächst, das essbar ist, ein Wind weht, der sich atmen lässt. (Eine Nachtigall schlägt an.)

Jäger: Du bist mir ein Philosoph. Redest von den freien Tieren unter dem Himmel und hältst Nachtigallen im Käfig.

Kasjan: Ich töte sie doch nicht.

Jäger: Aber du nimmst ihnen die Freiheit. Ist das nicht ihr Tod? Kasjan: Ich verschenke sie. Hole sie von weit her, an die hundert Werst, aus Krassiwaja Metsch.

Jäger: Und du kannst nicht dorthin zurückkehren?

Kasjan: Die Herrschaft hat so entschieden, da wird es wohl richtig sein. Es ist keine Gerechtigkeit mehr im Menschen. Aber sie nicht zu suchen, wäre unmenschlich. So bin ich gewandert, nach Romjon und Simbirsk, der berühmten Stadt, zu Moskaus goldenen Kuppeln, an die Oka, die Amme, und zur Zna, der Liebsten, und zu Mütterchen Wolga.

Viele Menschen habe ich getroffen. Und viele gingen in Bastschuhen wie ich, suchten das wahre Leben. Und in Kursk war ich, wo die Nachtigallen so singen wie nirgends auf der Welt. Dahinter beginnt die Steppe, 250

grenzenlose Weite. Und sie reicht, habe ich mir erzählen lassen, bis an die warmen Meere. Dort lebt der Vogel Gamajun. Er singt, wie es keine Nachtigall vermag. Dort gibt es weder Herbst noch Winter. Und an den Bäumen hängen goldene Äpfel. Jeder Mensch lebt in Zufriedenheit und Gerechtigkeit. Dorthin breche ich jetzt auf. (Er geht.)

Jäger: Ob er jemals bei seinen goldenen Äpfeln ankommt?

Jermolai: Ist das so wichtig? Kasjan hat das Elend hinter sich gelassen und ist in eine bessere Welt aufgebrochen. Auf seine Art, die nicht die unsere ist.

Jäger: Woher willst du das wissen?

Jermolai: Wir sind Waldhüter.

Jäger: Es gibt nichts mehr zu behüten.

Jermolai: Doch. Den Menschen.

Jäger: Dahinten geht der Letzte.

Das dürfte es gewesen sein, könnte man meinen. War es aber nicht, denn das Kollegium trat erneut zusammen. Warner war so, als hätte es die tief angelegte Aussage verstanden. Wie der Dramaturg berichtete, wobei zu fragen ist, ob er das tun sollte, hatte eine aberwitzige Diskussion stattgefunden. Man diskutierte darüber, wer von den im Hörspiel agierenden Personen, die Leibeigenen eingeschlossen, die Gegend auf Nimmerwiedersehen verlassen dürften. Kasjan wurde als nicht besonders wertvoll eingestuft, durfte also, wie geschrieben, gehen. Lukerja lag im Sterben. Ihr Fall erledigte sich von selbst. Maxim war schon tot. Was sollten dann seine leibeigenen Holzfäller noch?

Der Kommission wurde deutlich, dass es bereits erhebliche Lücken gab, die von anderen noch weiter gerissen werden dürften. Am Ende würde die Gegend menschenleer sein. Der Regisseur besaß Realitätssinn und war willens, das hinzunehmen, für eine bessere Zukunft, wenn sich dort andere, Leistungsfähigere ansiedelten. Aber sofort stellte sich die Frage, ob es eine solche Zukunft im zaristischen Russland überhaupt geben konnte.

Georg Warner war auf die Lösung derart gespannt, als hätte das Kollegium das Hörspiel geschrieben und nicht er. Erst einmal kamen die Männer auf das Naheliegendste. Jermolai und der Jäger mussten bleiben. Alles andere ergab sich dann. Das waren die Hoffnungsträger, wobei der Jäger noch nicht ganz begriffen hatte, was eigentlich seine Aufgabe war.

Jetzt traten die Ideologen auf den Plan und wählten die radikalste Lösung: Alle können gehen, es würde ihnen niemand eine Träne nachwei251

nen. Einzig Jermolai müsste bleiben. Die Kommission fragte vorsichtig nach, ob nicht auch der Jäger bleiben sollte. Es klang wie im Brustton der Überzeugung, dass er zu verschwinden habe und zwar schleunigst.

Denn er sei die Ursache für eine Reihe von Missverständnissen gewesen.

Warner wurde aufgefordert, den Schluss des Hörspiels in diesem Sinne zu ändern. Der Dramaturg stand vor der heiklen Aufgabe, ihm das schmackhaft zu machen, zumal er wusste, dass Warner nie Texte änderte. Aber, welch glückliche Wendung! Er willigte ein. Für die neue Fassung erweiterte er den Schluss nach dem letzten Satz des Jägers. Der folgt nämlich Kasjan. Jermolai schickt ihm eine Frage hinterher: „Wir sehen uns wieder?“ Und Schluss, diesmal tatsächlich. So geschah es, dass ein Hörspiel über das zaristische Russland in der DDR mit einer Frage endete. Es blieb dem Hörer überlassen, ob man sich wiedersah oder nicht. Warner hat nie erfahren, wie viele Hörer ihren eigenen Schluss zogen und einen Ausreiseantrag stellten.

Bleibt noch zu beantworten, wieso der kompromisslose Warner bereit war, seinen Text zu ändern. Ganz einfach, die Idee der Ideologen traf konsequent das, was er beabsichtigt hatte. Falls es sich hier um ein Märchen gehandelt hätte, müsste ein Böser bestraft werden. Im wirklichen Leben ist es manchmal auch so. Der Dramaturg wurde entlassen, wegen Faulheit.

Gesendet wurde das mit den herausragendsten Schauspielern besetzte Hörspiel im März 1985. Es gab nur die Uraufführung, wie vorab bereits mitgeteilt wurde. Bis dahin geschah Etliches, wie noch zu berichten ist.

Später, als sich die Zeitenwende vollzogen hatte, sollte der „Waldhüter“ in die Länderprogramme wandern und wurde eifrig zur Nacht gesendet. Anscheinend hörten viele Schlaflose Hörspiele, denn Georg Warner wurde mehrfach darauf angesprochen. Ihn irritierte dabei, dass sich sowohl im zaristischen Russland als auch im freiheitlichen Folgestaat der DDR nicht sonderlich viel geändert hatte.

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Grünes Requiem Georg Warner hatte Hilde eine Durchschrift des „Grünen Requiems“ überlassen. Als die Rutschung P abgegangen war, wandte sich ein Diplom-Ingenieur aus dem Kraftwerk namens Stichalowski an Warner. Es sei an der Zeit, sich zu Wort zu melden. Damit meinte er die Umweltsituation in Grube und Kraftwerk. Er würde das „Grüne Requiem“ vertonen und auch zur Aufführung bringen.

Sie trafen sich in Hagenwerder. Warner wunderte sich, dass ein diplomierter Kraftwerker nicht in dem verglichen mit Hagenwerder idyllischen Görlitz-Weinhübel wohnte. Der sagte trocken: „Da hab ich’s nicht so weit zur Arbeit.“ Gesprochen im tiefsten Oberlausitzer Dialekt. Wenn Stichalowski nicht reden wollte, tat er es auch nicht. Einmal bat Warner ihn, zu dem Dargestellten etwas beizutragen. Er erhielt zur Antwort: „Was soll ich denn dazu sagen?“ Als später die Aufführungen begannen, suggerierte ihm Warner, er solle sich ein Auto anschaffen. Da bekam er zu hören: „Ich kauf ’ mir doch kein Auto, bloß damit die Leute sagen: ‚Der Stichalowski hat ein Auto.‘“ So erfuhr Warner erst nach und nach den Werdegang des Ingenieurs. Trotz gutem Abitur war ihm der Studienplatz verweigert worden.

Er war Pfarrerssohn und auch sonst nicht auf der Linie. Beruflich erklomm er dann die höchste Stufe der Qualifikation, den BMSR-Mechaniker-Abschluss. In jahrelangem Fernstudium hatte er es schließlich zum Diplom-Ingenieur gebracht. Er arbeitete jetzt in der Steuerung des Kraftwerkes, was bei all den Zurücksetzungen verwunderlich war. Aber im Energiezentrum Hagenwerder stand die Leistung an erster Stelle.

Auf dem kulturellen Sektor hatte Stichalowski weniger Glück. Seine Band-Gründungen scheiterten an mangelnden Spielgelegenheiten. Er hatte sich dem Soul-Rock verschrieben, wobei Elemente des Jazz und des weißen Blues einflossen. Die Kulturfunktionäre fanden, dass dies „amerikanische“ Musik sei. Sicher, aber was gab es dagegen einzuwenden? Sie enthalte ekstatische Elemente, die sich der Deutung entziehen würden. In der DDR sei aber alles eindeutig, sozusagen sozialistischer Realismus. Stichalowski kam auf etwas Unverfängliches. Es wurde nur noch instrumental gespielt, ohne Gesang. Das ging nun gar nicht. Das ekstatische Element trete nun noch deutlicher hervor.

Der begnadete Bassgitarrist spielte von da an als Gast in diversen Bands, worunter auch renommierte waren, die nicht konform gingen.

Warner fragte Stichalowski, was er denn so könne. Der nahm die Bass253

gitarre zur Hand und spielte: dam ta, da dam ta; dam ta, da dam ta – und so fort. Das war der schlichte Bass zu „Kreuzberger Nächte“, die ja auch lang waren. Weit nach „Mitternacht“ bat ihn Warner aufzuhören.

Er war jetzt ratlos. Aber Stichalowski wollte ihn ermuntern: „Ich kenne so etwa drei Griffe, die beherrscht kein anderer.“ Dann legte er los, in einem unwahrscheinlichen Tempo. Warner hörte heraus, dass einige Saiten gerissen wurden. In den Läufen wechselte plötzlich der Rhythmus. Pausen waren ein markantes Zeichen der Spielkunst.

Stichalowski hatte jetzt vor, das Unternehmen „Grünes Requiem“ zu erklären: „Was ich spiele, ist ein Liedbass. Es bedarf daher keiner Rhythmusgitarre. Hinzu kommt eine Liedgitarre, die im Wechsel mit dem Bass agiert. Der entsprechende Musiker sitzt im Kraftwerk auch an verantwortlicher Stelle. Er muss die Filter dichthalten, meist aber hat er sie auszuschalten. Da ist es an der Zeit, dass er sich dazu äußert.“ Jetzt geschah ein Einspiel. Das „Grüne Requiem“ begann: „im wald (kurze Pause) rankt sich der dornbusch um jeden baum (lange Pause.

Wiederholung)“. Dann wurde gerockt: „aber die wipfel wissen nichts davon (Rhythmuswechsel) strecken sich der sonne entgegen (Aufnahme des Einleitungsmotivs in anderer Tonlage) wir sind waldreich jedem reich seinen könig (der „könig“ wurde hochgezogen und alleingestellt)“.

Stichalowski bemühte Warners Vorstellungsvermögen. Hier würde ein Saxophon den Hauptpart übernehmen. An anderer Stelle wäre es eine Flöte, so es denn melodisch sein solle. Der entsprechende Musiker würde beide Instrumente spielen. Die Verbindungen hätte insgesamt ein „Taster“ herzustellen, am Keybord. Stichalowski wollte auf eine Besonderheit seiner Musik hinweisen: „Der Schlagzeuger muss ein Zählmeister sein und den ganzen Laden zusammenhalten. Der Bass läuft mit dem Schlagzeug mit. Da ich aber solo spiele, kommt das Grundmotiv nur davon. Noch eins ist wichtig. Ich komponiere für jedes Instrument extra. Sonst ist üblich, die Musik von einem Instrument her zu entwickeln, vorzugsweise von der Liedgitarre oder vom Keybord.“ Warner vermutete, dass Stichalowski in der Komposition schon weit gelangt war. Der bestätigte es: „Die ‚paradiesische Landschaft‘ nach dem ‚Dornbusch‘ wird von einer klassischen Gitarre begleitet. Nur der Sänger interpretiert diesen lyrischen Text. Überhaupt – Lyrik. Ich habe mich schon gefragt, ob der gesamte Requiem-Text überhaupt in Musik umsetzbar ist. Man muss über die Lyrik drüberkommen. Ich hab’ das Problem zu lösen versucht, indem ich mit der Musik etwas anderes aussage als im Text steht. ‚Als wir die Erde aufrissen‘ klingt somit nicht tragisch. Es geht mit Optimismus in die Erde, bis hin zum Endsieg. Dann 254

wird es mulmig. Es gibt aber auch Stücke, bei denen ich voll in den Text muss. So bei ‚unter dem Blätterdach der Erde‘ und dem ‚brennenden Gras‘. Da bläst das Saxophon so, dass Mond und Sonne ihren Schein verlieren.“ Damit Georg Warner eine Vorstellung von der Musik bekomme, nannte Stichalowski artverwandte Gruppen und Musik: „Chick Korea“, „Earth, Wind and Fire“, „Jethro Tull“, „John Mayall“.

Nun stand noch die Frage im Raum, wie die Band heißen solle. Georg Warner hatte sich dazu schon Gedanken gemacht: „Mayflower“-Band. „Nach dem Schiff “, ergänzte er. Die „Mayflower“ hatte 1620 Auswanderer nach Amerika gebracht, die vor der Landung eine Art Grundgesetz verfassten. „Gut“, antwortete Stichalowski, „aber bedenke bitte, dass ‚Mayflower‘ nicht nur der Name für die Band sein kann. Es ist Programm. Und das solltest du ausführen.“ Die Band probte in der Deutsch-Ossiger Kirche, wo am 16. September 1984 die Uraufführung stattfinden sollte. Warner begab sich nur gelegentlich zu den Proben, ohne sich auch nur einmal zur Musik zu äußern. Für ihn stand fest, das Konzert der „Mayflower“-Band würde unübertrefflich sein.

An jenem 16. September, es war ein Sonntag, war in der Kirche von Deutsch-Ossig kein Platz mehr frei. Nun würde es die gültige Antwort auf das immer sichtbare Geschehen der vergangenen zwei Jahre geben.

Auf dieses Ereignis wurde Georg Warner noch viele Jahre später angesprochen. Das „Grüne Requiem. Totenmesse für die Natur“ versetzte in den Bekenntnisstand.

Warner gestaltete das „Programm“. Aufgeführt waren Autor, Komponist und die Musiker. Warner wollte seiner Interpretation auch im Andenken an den Bischof eine Richtung geben und anzeigen, dass der einstige Weg nach Barmen auch der heute gültige gegen den Machtanspruch des totalitären Staates sei: „‚Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.‘ (Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen) ‚Im Herbst des Jahres 1620 fuhr von Plymoth aus jenes Schiff über den Ozean nach Amerika, das unter dem Namen ‚Mayflower‘ (Maiblume), genauer durch die Menschen, die es an Bord hatte, weltgeschichtliche 255

Berühmtheit erlangte.

Der Stapellauf der deutschen Bekennenden Kirche im Jahre 1934 hat nur wenig mit der Ausfahrt der englischen ‚Mayflower‘ gemein. Die deutschen Pastoren waren keine Puritaner, die Bekennende Kirche keine Separation und die Barmer Erklärung kein Manifest oder Grundgesetz wie der ‚Mayflower Convenant‘. Aber das Schifflein der Bekennenden Kirche war genauso von Havarien bedroht wie die historische ‚Mayflower‘, und die in diesem Schifflein saßen, waren auch keine allen Wettern trotzenden Seebären; es gab dort viel Angst und Verzagtheit, manche waren absolute Nichtschwimmer und fühlten sich nur in Rettungswesten leidlich sicher, ganz zu schweigen von denen, die viel lieber umgekehrt wären oder auch tatsächlich umgekehrt sind.

Der Weg nach Barmen gleicht heute jener stillen Straße, auf der der Kämmerer aus dem Mohrenland auf seinem Wägelchen, das Prophetenwort buchstabierend, einher rumpelte, und von der es in der Apostelgeschichte heißt, dass sie ‚öde‘ ist; just die richtige Stimmung, um Geschichte und Gegenwart in eins auf sich wirken zu lassen.‘ (Karl Kupisch, ‚Der Weg nach Barmen‘) Das ‚Grüne Requiem‘ ist ein Gebet auf der Grenze zwischen Leben und Tod. Es ist ein Bedenken, ‚dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden‘. Der Beter des 90. Psalms, aus dem dieser Vers stammt, bedenkt Tod und Leben in einer radikalen Klage und einer sich in die Zukunft, zum Leben hin öffnenden Bitte. Im ‚Grünen Requiem‘ wird dieser Art alttestamentlichen Betens gefolgt, finden hauptsächlich Texte des Alten Testaments Verwendung. Es ist ein Bedenken von der Schöpfung her und für die Schöpfung. Grün ist ihre symbolische und liturgische Farbe, deshalb auch die besondere Kennzeichnung des Requiems.“ Es folgten dann auf den Handzetteln die einzelnen Teile des „Grünen Requiems“ mit jeweils inhaltlichen Ausführungen.

Georg Warner hatte bereits nach den ersten Klängen den Eindruck, die Kirchenmauern würden flüssig und der Raum weite sich über Tal und Berg, Grube und Schornsteine. Mittendrin der Mensch, der diese Totenmesse verursachte und zugleich das Opfer war, das sich nun wehren musste.

Und diese Menschen saßen hier bis zu den Emporen hinauf dichtgedrängt beieinander. Georg Warner war an Totensonntag erinnert, jenen in Marzahna, an dem alles mit einer Predigt begonnen hatte. Wie damals hatte sich eine Gemeinde zusammengefunden, die erlöst werden wollte.

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Die Musik klagte und weckte Hoffnung. Sie strömte auf der Suche himmelwärts, um dann herabzukrachen. Sie verengte die Brust und gab den Horizont frei. Sie stellte unausweichliche Fragen und gab konsequent Antwort. Das Requiem war kein Text mehr, sondern mit und aus dem Text gewordene Musik.

Die Gemeinde wurde mitgenommen auf Höllen- und Himmelfahrt.

Das war in der Achterbahn der Gefühle und in den körperlichen Bewegungen wahrnehmbar. Als das fulminante Konzert, richtiger: der Gottesdienst, zu Ende war, klatschte niemand. Die Kirche leerte sich schnell. Auf den Gesichtern war aber zu lesen, dass es jeder und jede eilig hatte, zum Ort ihres Zeugnisses zu kommen. Auch mit der Band war nicht mehr viel zu reden.

Nur die Bausoldaten, die sich durch die Wälder hinter Görlitz Ausgang verschafft hatten und dann an der Stadt vorbei von Charlottenhof bis nach Deutsch-Ossig durchgeschlagen hatten, wollten noch genießen, jetzt die Kirche. Hilde hielt sich an sie, als wäre dieser Feiertag extra für sie und ihn gemacht. Er bewegte den Engel und erzählte von seiner Taufe. Und wie er dadurch in Prora durchgehalten habe.

Es war Mittag, als Warner sein Pfarrhaus aufsuchte. Er sackte nach Beerdigungsmanier auf seine breite Liege. Bevor er einschlief, fiel ihm Hemingway ein: „Wenn man nicht an Frauen denkt, braucht man auch keine.“ Erst am späten Nachmittag verließ er die Ruhestatt. Er war erst einmal leer. Und da der Tag etwas von jenem Totensonntag an sich hatte, hätte sich dieser gern in der Art fortsetzen dürfen. Aber es war anderer Besuch zu erwarten. So las Georg in der vorbereitenden Schrift „Luther und der Teufel“.

Mit der Dämmerung schellte es. Ein Kleingeist trat ein und eilte die Treppe hinauf. Erst als er oben angekommen war, kam ihm zu Bewusstsein, dass ihn eigentlich der Hausherr hätte hereinbitten müssen. Dann schoss er abermals über den Flur in das Arbeitszimmer, dessen Tür offenstand. Er warf sich in einen Sessel und rief aus: „Herr Warner!“ Es schellte. Unten angekommen, ließ Warner den Schriftführer und den vierschrötigen Wächter ein. Der Schreiberling zeigte erstmals so etwas wie selbstständige Handlungsbereitschaft und blickte Kumpfe leicht tadelnd an. Also ging es hier um einen offiziellen Besuch.

Kumpfe hatte seine Stimme immer noch nicht heruntergeschraubt.

So bekam Georg Warner wieder jenes nicht nur das Ohr beleidigende „Herr Warner!“ zu hören. Dann folgte aber nichts. Kumpfe drehte wie selbstvergessen den Brieföffner, der auf dem Tisch lag. Vielleicht dachte 257

er daran, dass es für ihn besser gewesen wäre, wenn er Warner die endgültige Warnung per Post zugestellt hätte.

Es ging, wie konnte es anders sein, um das „Grüne Requiem“. Kumpfe senkte seine Stimme, ohne dass die Drohung darunter gelitten hätte: „Herr Warner. Hier geht es nicht mehr um Literatur, sie begeben sich in den Sicherheitsbereich des Staates. Ist Ihnen klar, was das bedeutet.“ Warner antwortete Hauptmann Kumpfe nie. Aber durch ein eifriges Kopfnicken bezeugte er, dass ihm das deutlich sei. Kumpfe fasste noch einmal nach: „Nein, es ist Ihnen nicht klar, was das bedeutet!“ Er schaute auf den Schriftführer, mit dem Blick fragend, ob er alles aufgeschrieben habe. Der schlug seine Mappe zu. Es ging im Eiltempo hinaus.

Der Lada musste unter diesem Abgang leiden. Die Türen wurden zugeschmissen. Kumpfe startete und fuhr los, dass die Räder durchdrehten. Was hatte Kumpfe so in Rage gebracht? Seine Hilflosigkeit. Er bekam diesen Warner nicht im Geringsten zu fassen und schlussfolgerte jetzt: „Sollen sie ihn doch endlich einbuchten. Dann ist Ruhe. Aber nein, die hohen Herren in der Normannenstraße sind die Inkonsequenz in persona. Für irgendetwas brauchen sie diesen Staatsfeind. Für das, was sie selber nicht deuten können? Letztendlich sind sie fahrlässige Verräter. Denn Warner war und ist nur für eines gut, den Untergang der Republik.“ Warner ließ den Tag und den eben erlebten Auftritt an sich vorüberziehen. Kumpfe hatte gesagt, dass es nicht mehr um Literatur ginge.

Also zielte das auf den Text ab. Es dürfte den kleinen und großen Geistern des Teufels nicht verborgen geblieben sein, dass sich Warmer um die Veröffentlichung des „Grünen Requiems“ bemühte. Und das wurde verhindert, bis Warner der Verzweiflung nahe war.

Das hatte aber einen Nebeneffekt. Ungestört konnte das „Grüne Requiem“ andernorts aufgeführt werden. In Leipzig und Eilenburg diente das Konzert eher dem Widerstand von Umweltgruppen, als dass die gesamte, vor allem geistliche Dimension erfasst wurde. Zittau stand im Zeichen von Olbersdorf. Hier erzeugte es keine Aufbruchsstimmung, sondern holte die Traurigkeit hervor. Bis in das Jahr 1985 hinein wurde „musiziert“.

Georg Warner begab sich schließlich in einen unruhigen Advent. Auf Weihnachten zu steigerte sich die Unruhe noch weiter. Das ganze bevorstehende Jahr teilte sich mit. Bei allem Aufbegehren und Nachvornweisen waren die Tatsachen erdrückend, immer wieder Schlusspunkte.

Warner konnte die nahende Bedrohung geradezu mit Händen fassen.

Seine Weihnachtspredigt war davon geprägt, bewegte sich aber zugleich 258

auf das Licht zu. Seine eigene Unruhe wollte er verbergen: „Welche Farbe hat euer Christbaum? Noch vor wenigen Tagen wäre ich dieser Frage ebenso verständnislos begegnet wie ihr jetzt. Natürlich grün. Mein Christbaum stand eine Woche lang im Hausflur. Einer blieb davor stehen und sagte: ‚Der ist aber schön.‘ Nun ja, über drei Meter, gerade gewachsen und mit gleichmäßigen Zweigen, wie es sich für einen Baum gehört, den der Vater als Forstarbeiter ausgesucht hat. Aber das war es nicht, was den Betrachter entzückte. ‚Der hat ja richtig grüne Blätter‘, sagte er. Nein, nicht Nadeln. Denn wir singen ja auch in dem alten Volkslied: ‚O Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter.‘ Mir kam das komisch vor. Und so konnte ich nicht umhin, die Weihnachtsbäume auf den Sammelplätzen zu untersuchen. Und tatsächlich, sie waren angekränkelt. Besaßen eine ungute Farbe. Vorbei also die Zeit, in der man den Christbaum das ganze Jahr über wachsen sah und ihn dann in einer Art heiligen Handlung schlug. Aber das konnte es nicht allein sein, bei der Ansammlung von grau-gelben Bäumen.

Unvermittelt kam mir diese Begebenheit der Vorweihnachtszeit wieder in den Sinn, als ich den anvisierten Text Johannes 1 in die Hand nahm und mir wie so oft bei diesem Text sagte, dass er im Deutschen kaum zu verstehen sei. Da bedarf es einer gründlichen Vorarbeit. Das griechische Wort für Licht, das Neue Testament ist in Griechisch geschrieben worden, heißt ‚foos‘. Erhalten hat es sich in ‚Foto‘. Und schon war ich wieder beim Christbaum und seinen Blättern. Ein lebenswichtiger Vorgang in der Natur wird als Fotosynthese bezeichnet. Die Pflanze wandelt Wasser und Stoffe, die sie aufnimmt, mithilfe des Lichtes in Sauerstoff um. Von dieser Luft leben wir. Ohne das Licht wäre kein pflanzliches und menschliches Leben möglich.

Auch wenn der Evangelist Johannes noch nichts von der Fotosynthese wusste, so hat er einen vergleichbaren lebenswichtigen Vorgang beschrieben. Christus, das Wort Gottes, dringt als Licht in die Finsternis, wandelt die Nacht, ja den Tod, in Leben um. Das ist ihm möglich, weil er schon im Anfang bei Gott war und somit von ihm her das Leben in sich trägt. Das Licht ist der Lebensbringer. Wenn ein Mensch dieses Licht in sich aufnimmt, kann er leben, wird er von einem Toten in einen Lebenden umgewandelt. Es entsteht etwas gänzlich Neues, das ohne Christus, das Licht, nicht möglich wäre. ‚Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen … Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.‘ Die ihn aber aufnahmen, sind wenige gewesen, bis heute. Und ich kann mich nicht so recht freuen, dass sie Gottes Kinder heißen, weil 259

ich eine Welt in Finsternis sehe. Ich weiß, Licht hin, Licht her, dass ich in dieser Welt lebe. Mir geht es mit dem Glauben so wie mit dem Christbaum. Ich weiß, wo sich der Wald befindet, der noch gesund ist.

Dorthin zieht es mich auch immer wieder. Aber ich bin wie ihr hier in dieser Gegend von Hagenwerder zu Hause, wo der Wald stirbt. Wo es sich nicht mehr atmen lässt, die Finsternis überhandzunehmen scheint, der Glaube nur vereinzelt zu finden ist.

Ich habe in diesem Jahr einen Freund gewonnen, der in Olbersdorf malte, wie ich in Deutsch-Ossig schreibe. Wenn ich ihn besuchte, traf ich ihn meist grübelnd an. Er hat den neuen Olbersdorfer Altar gestaltet. Die Kirche ist ja von der Kohlengrube erfasst worden. Ich habe ihn gefragt, in welcher Gegend er leben möchte, wenn nicht in dieser rauchgeschwängerten. ‚Im Norden‘, war seine Antwort. Gesunden Wald gebe es noch in der Gegend von Ludwigslust, von wo er sein Lärchenharz für den Firnis beziehe. Dahin würde er gehen, wenn der Altar beendet sei. Eigentlich stamme er aus dem Erzgebirge. Aber dort sei nur noch Steppe. ‚Wenn ich fertig bin‘, hat er gesagt. Wenn alles gemalt ist. Wenn er nach seinem Vermögen die Botschaft von Finsternis und Licht auf die Leinwand gebracht hat. Wann werde ich fertig sein? Ich weiß es nicht.

Sind nicht immer wieder Menschen auf Gottes Geheiß in das gelobte Land aufgebrochen? Haben die Finsternis hinter sich gelassen? Was tun wir noch hier, die kleine Gemeinde derer, die Christus aufnehmen? Wie die Bäume ohne Licht sterben, so stirbt auch der Mensch, der mit ihnen den Naturraum teilt. Ohne das wahre Licht Gottes ist er bereits tot. Das sind gefährliche Gedanken, weil sie aus der Bibel herausführen und uns auf unseren eigenen Weg führen. Seit 1 800 Jahren verkündet der Johannes-Text unbeirrt: ‚Das Licht scheint in der Finsternis.‘ Damals wie heute. Das Licht ringt mit der Finsternis. Gott gibt seine Schöpfung nicht auf. Jeder ist einzigartig. Aber erst einmal ist von den Seinen die Rede, die ihn nicht aufnahmen. Das steht keineswegs schicksalhaft im Raum, sondern ist ein immerwährender Prozess. So sind die Seinen auch die heute Lebenden und Sterbenden. Um zu erkennen, dass die Seinen ihn wegschicken, brauchen wir nicht den fortschreitenden Atheismus zu bemühen. Der Zustand der Schöpfung, sichtbar an den gelben Blättern des Christbaums, ist für die Erkenntnis ausreichend. So einfach ist der Beweis, wie es um den Weihnachtsfrieden bestellt ist.

Und dennoch möchte ich uns zu einer christlichen Existenz in der Finsternis ermutigen, getreu der Zusage: ‚Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden.‘ Wir sind noch nicht 260

Gottes Kinder, wir werden es erst. Das geschieht in dem Moment, wo wir von Sterbenden in Lebende umgewandelt werden. Auch das ist ein Vorgang, der andauert. Wir werden immer wieder erneuert und bedürfen es auch, weil wir in der Finsternis leben, ein Teil dieser Welt sind. So wie das Licht mit der Finsternis ringt, ringt Christus um uns. Er selbst ist die Macht, die gegen die Finsternis steht. Uns wird keine besondere Kraft gegeben, Gottes Kinder zu werden. Uns ist das Licht, Christus selbst, gegeben. Daraus entsteht unsere Macht, die nicht machbar ist.

Dem Tod der Welt können wir nur mit dem Wort, das von Gott kommt, begegnen. Unser Thema ist also nicht das Kraftwerk Hagenwerder und die Umweltverschmutzung, wir haben kein grünes Programm. Unser Wort ist Christus, das eine und einzige Wort Gottes. Durch ihn stehen wir gegen die Vernichtung unserer Wälder, unserer Erde, stehen wir gegen den Tod. So ist die Weihnachtsbotschaft zugleich Osterbotschaft.

Der in die Welt kommende Christus ist der, der mit seinem Kommen erlöst. So lässt das Johannes-Evangelium Jesus auch mit den Worten sterben: ‚Es ist vollbracht.‘ In ihm sind Beginnen und Vollenden angelegt. Er ist das Wort und das Licht. Das sagt er bei Johannes in vielen ‚Ich bin‘-Worten: Ich bin der rechte Weinstock, ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, ich bin die Tür zu Gott. So kann ein jeder von uns sagen: ‚Ich bin, weil Christus ist. Ich lebe, wie Christus lebt.‘ Grüne Weihnachten sind uns beschieden. Grün ist die Farbe der Schöpfung, das Zeichen, dass Gott am Werke ist. Ich war am 2. Advent für euch unterwegs, um euch ein Wunder der Natur mitzubringen, einen Mistelzweig von einem Kiefernast. Nebeneinander nähren sich zwei Pflanzen vom selben Licht. Ich wünsche uns inständig, dass wir als Gemeinde trotz unserer Verschiedenheit miteinander von dem Weihnachtslicht leben, damit es in unserem Text heißt: ‚Die Seinen nahmen ihn auf.‘ Amen.“

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Achtes Kapitel

Epiphanias Das Jahr ging mit einem gewaltigen Sturm zu Ende, der auch ins neue hinein fauchte. Georg Warner hielt das für ein schlechtes Omen. Die Unruhe des Dezembers nahm er ebenfalls mit in den Januar. 1984 war an der gesamten Umweltfront gekämpft worden. Es wäre vermessen zu sagen, dass man gesiegt hätte. Bestenfalls war ein mühsames Patt herausgekommen. Aus dem bedrohlichen Sturm hörte Warner heraus, dass sich die Waage durchaus hin zu Niederlagen neigen konnte.

Da hinein spielte, dass er nichts zu schreiben hatte. Abschlüsse waren gefragt gewesen. Die Muse hatte ihn nicht mehr geküsst. Auch sonst hatte er fast vergessen, wie ein Kuss sich anfühlte. Bei dem Gedanken an Wittenberg hatte er einen schalen Geschmack im Mund. Sein Januar-Reisebein zuckte zwar, aber wohin lohnte sich die Fahrt? Warner hatte sich derart auf das Revier festgelegt, dass andere Gegenden entschwunden schienen. Immerhin, die Folkloregruppe aus Rumänien tanzte.

Erst zu Epiphanias, ständig der 6. Januar, da einem ein Licht aufgehen sollte, eine sogenannte Epiphanie, erhielt er Besuch. Mephistopheles erschien. Er hatte eine Kerze, umgeben von Tannenzweigen, mitgebracht.

Auf dem Pappteller mit „Fröhlicher Weihnacht“ befanden sich auch Plätzchen, selbstverständlich in Sternform, Nüsse und Mandelkerne.

Die Kerze ließ er durch den „lieben Georg“ anzünden, da die christliche Bedeutung des Lichts außer Frage stand.

Mephistopheles knüpfte sofort an: „Ich habe deine Weihnachtspredigt vernommen. Wie es sich gehört, befand ich mich hinter der Kirche.

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Ein Satz ließ mich aufhorchen: ‚Ich weiß es nicht.‘“ Warner wollte etwas einwenden. Doch Mephistopheles hob die Hand, um anzuzeigen, dass er noch nicht fertig sei. So fuhr er fort: „Dem Satz war eine Frage vorausgegangen: ‚Wann werde ich fertig sein?‘ Aus dem Zusammenhang gerissen, wäre es ein geflügeltes Wort. Und ich würde dir umgehend bescheinigen: ‚Bald.‘ Mein lieber Georg, du bist dabei, dich zermürben zu lassen.“ Warner war fast schon bereit, dem kleinlaut zuzustimmen, zumal ihm nichts mehr aus der Feder floss. Mephistopheles erwischte ihn nicht auf dem falschen, sondern auf seinem Standbein: „Pfarrer Georg Warner, das Institut für Energetik in Leipzig, das die Pläne erstellt und Prognosen abgibt, hat eben die neuen Erkenntnisse höchst geheim an das Zentralkomitee der SED gemeldet. Der Teufel war erfreut, und ich habe ihm über die Schulter geschaut. 1989 sind 300 Millionen Tonnen Braunkohle zu fördern. Und im Jahr 2000 sollen es 500 sein. Dann gibt es eine scharfe Auslaufkurve hin zur Atomenergie. Falls ihr vorher nicht erstickt seid, werdet ihr irgendwann sehr hell leuchten. Aber das hast du ja alles schon beschrieben. Ermanne dich und überlass dem Teufel nicht seinen DDR-Triumph.“ Als wäre das Thema erledigt, war Mephistopheles mit einer seiner Taten zugunsten Faustens befasst. Er zitierte aus dem „Volksbuch“: „In Wahrheit hatte Faust ein herrliches Leben. In einem schönen, stattlichen Haus bewohnte er zwei Säle, dort vernahm man mitten in der Winterszeit den Zusammenklang eines lieblichen Vogelgesanges.

Der Garten selbst war nicht sonderlich groß, aber ausbündig herrlich, denn da, wiewohl sonst zur Winterszeit in der Stadt alles mit Schnee bedeckt war, sah man nie Winter, sondern immer nur lustigen, fröhlichen Sommer mit Gewächsen, Laub und Gras und den buntesten Blumen; dazu waren schöne Weinstöcke zu sehen mit mancherlei Trauben behängt, alle schon reif; bunte Tulpen, gefüllte Josephsstäbe, Narzissen und Rosen blühten und flammten dazwischen.“ Sogleich zauberte Mephistopheles den Garten in Georg Warners Arbeitszimmer und sagte: „Gelernt ist gelernt.“ Dann fügte er hinzu: „Die Nummer wiederhole ich demnächst im Beisein einer Bibliothekarin.

Du scheinst mir etwas anämisch zu sein. Auch der Stoffwechsel sollte nicht vernachlässigt werden, die Hormone Testosteron und Adrenalin.“ Warner war der Meinung, dass das Blumenmeer nun verschwinden würde. Stattdessen schaffte Mephistopheles das weihnachtliche Angebinde samt brennender Kerze hinaus. Als er zurückkehrte, sagte er, dass er ein Ambiente geschaffen habe, wie es sich für einen Geburtstag zie263

me.

Der „Garten“ hatte seine Schuldigkeit getan und verschwand. Mephistopheles kündigte eine Bildungsreise nach Dresden an. Georg Warner wäre am liebsten gleich aufgebrochen. Mephistopheles bremste ihn: „Wir treffen uns am 30. Januar am goldenen Reiterstandbild Augusts des Starken auf der Straße der Befreiung.“ Ernüchtert fragte Georg nach dem Anlass des späten Datums. Mephistopheles tat gewichtig: „An dem Tag hat die Bibliothekarin Geburtstag.“ Und hinaus war er.

Bildungsreise Der 30. Januar war ein typischer Wintertag, wie er an der Elbe vorzukommen pflegt, trüb, mit einer unangenehmen kalten Feuchtigkeit.

Im Bahnhof Neustadt angekommen, hatte es Warner nicht weit bis zur Straße der Befreiung. Diese zog sich lang hin, die Häuser waren halbwegs instandgesetzt, man war um eine Einkaufsmeile bemüht. Witzig fand Warner, dass bei der Namensgebung an eine bestimmte Befreiung gedacht worden war, sich aber der goldene Reiter August am Ende der Straße als Befreier präsentierte.

Mephistopheles war dabei, das Denkmal zu bestaunen. Der ohnehin schon starke August war überlebensgroß dargestellt. Wer wollte ihm trotzen, zumal er sich in Rüstung präsentierte. Das gleichfalls kräftige Pferd griff mit seinen Vorderhufen weit aus, sodass sich August, leicht zurückgelehnt, in forschem Galopp befand.

Mephistopheles begrüßte Georg und wies gleich auf etwas hin: „Du wirst ihm die Rüstung ausziehen, auch sonst entgolden, und schon ist er ein Narr.“ Reiten sollte er, wie schon bewiesen, auf edleren „Tieren“.

Als Warner Mephistopheles schärfer ins Auge fasste, fiel ihm auf, dass dieser als Künstler gelten wollte. Er trug einen Lodenmantel, der aus keinem Volkseigenen Betrieb stammte. Die oberen Knöpfe des Mantels waren offen, sodass man sah, dass eine gelb-schwarze Fliege ein längsgestreiftes Hemd schmückte. Mephistopheles hatte offenbar vor, Eindruck zu schinden.

Er übernahm jetzt die Führung und so gelangten sie zur Ruine der Frauenkirche, dem eigentlichen Symbol für Dresden und zugleich Mahnmal. Mephistopheles führte an: „Wenn Dresden seinerzeit nicht 264

in der Pracht aufgebaut worden wäre, hätte es auch nicht zerstört werden können. In deinem neuen Stück muss Dresden ein Dorf bleiben. So kannst du hervorragend einen Konflikt mit den Baumeistern gestalten.“ Es ging am „Fürstenzug“ vorbei. Der war anscheinend bedeutungsloser als ein Schild, auf dem stand „Institut für Denkmalpflege“. Mephistopheles sagte dazu: „In diesem Haus wird nächstes Jahr entschieden, was mit deiner Kirche geschehen soll.“ Warner blieb abrupt stehen. Mephistopheles packte ihn am Ärmel und zog ihn mit sich. Dabei sagte er: „Tu nicht so erstaunt. Du bist doch darin geübt zu wissen, dass es Dinge gibt, die es eigentlich nicht gibt.“ Jetzt waren sie am Zwinger angekommen. Mephistopheles führte Georg in die Gemäldegalerie und suchte nach einem bestimmten Bild.

Canaletto hatte „Die Altstadt mit Elbbrücke“ gemalt. Diesseits der Elbe schließt Joseph Fröhlich eine Gruppe ab. Er trägt Tiroler Tracht, was sein Markenzeichen war. Fröhlich stammte aus Altaussee im Salzkammergut. Er hatte Müller gelernt, bezeichnete sich aber später als Mühlenarzt. Auch durch seinen Aufzug wirkt er sehr beleibt.

Dann strebte Mephistopheles eilig dem Grünen Gewölbe zu. Dort befand sich die Porzellansammlung. Ehrfürchtig stand er vor einer Büste des Hofnarren Baron Schmiedel, der sich den Adelstitel zugelegt hatte, nachdem er Stallbursche bei dem tatsächlichen Baron gewesen war.

Von seinem Aussehen und seiner Aufmachung her ist er hier dem Adel verpflichtet. Der Kopf mit einem Dreispitz ist etwas zur Seite geneigt.

Melancholie war Schmiedel eigen, was auch auf anderen Darstellungen auffällt.

Ebenfalls in weißem Porzellan und von Kändler gefertigt, trat die Büste von Joseph Fröhlich hinzu. Der stellt ein brutal offenes Gesicht zur Schau. Man wartet förmlich darauf, dass sein halb geöffneter Mund Schmähreden ausspeit. Mehrere Variationen auch in der Farbgebung zeigen Schmiedel und Fröhlich in Gruppe. Zweimal reicht Fröhlich seinem Narrenbruder eine Mausefalle, einmal eine Maus. Der weicht stets zurück. Das soll wohl bedeuten, dass Fröhlich ihn als Mäusebaron entlarvt.

Eine herrliche Darstellung mit unglaublich feinen Nuancen bildet die „Schlittengruppe“. Die beiden Porzellane von Kändler sind sich ähnlich, aber im Detail von Pferd und Schlitten unterschiedlich. Die Farbgebung ist gänzlich anders. Die Personen, Fröhlich und ein adliges Fräulein, sind sich täuschend ähnlich. Er ringt ihr einen Kuss ab, wobei er einmal mehr Leidenschaft aufbringt, ihm aber ein schwarzer Affe zuschaut.

Zur weiteren Betrachtung ging es zurück über die Elbe. Mephisto265

pheles wies hinab auf die „Brühlsche Terasse“. Dazu sagte er: „Mein lieber Georg, du wirst mit Brühl einen harten finalen Strauß ausfechten müssen, denn er und Fröhlich waren Intimfeinde.“ Warner fragte sich: „Warum schreibt dieser Mephistopheles nicht gleich das Stück?“ Der musste Georg die Gefühlswallung angemerkt haben und gab zu verstehen: „Kämpfe ich gegen den Teufel oder du? Ich sekundiere dir nur.“ Am anderen Ufer hat Joseph Fröhlich sich eine Bronzestatue verdient.

Dort hatte das „Narrenhäusel“ gestanden, das bei der Bombardierung Dresdens sinnigerweise auch zerstört wurde. Das sehr aussagefähige Denkmal, 1978 von Heinrich Apel geschaffen, zeigt den altbekannten Fröhlich mit seinen Requisiten, der Spieltasche und den Karten. Neben ihm hockt eine Sau, die ihren Darm entleert, auf der rechten Seite ein würfelnder Affe. Vor ihm befindet sich der berüchtigte Uhu, der Fröhlichs Dichtleidenschaft beflügelte. Er schaut etwas irritiert auf den Kasperlekopf neben ihm. Ein Tuch, das Fröhlich über den Arm geschlagen hält, hat wohl eben erst die Szene offenbart. Fröhlich selbst befindet sich in gebückter Haltung und schaut unter seinem Spitzhut hervor. Das hat etwas Diabolisches.

Zur nächsten Wissenserweiterung ging es in die Neustadt. Hier war Warner noch nie gewesen. Wenn er etwas aus der Sächsischen Landesbibliothek benötigte, ging das von Görlitz aus per Fernleihe. Jetzt stand er wie angewurzelt da. Die linke Seite der anscheinend endlos langen Straße war ein Kasernenkomplex. Auf einem Sockel kündete ein sowjetischer T 34-Panzer von der Befreiung.

Mephistopheles stellte sich neben Georg, um seinem Blick folgen zu können. Der ging die Straße hinab. So raunte er: „Siehst du etwa schon Putin? Der KGB-Chef wohnt in einer Villa auf der rechten Seite am Ende der Straße.“ Warner schaute ihn noch irritierter an. In Mephistopheles’ Stimme lag kein Bedauern: „Macht nichts, du wirst ihn später noch erleben.“ Gegenüber der ersten Kaserne stand eine Kirche, mysteriös einsam.

So war es auch. Sie hatte keine Gemeinde mehr und niemand wusste mit ihr etwas anzufangen. Nicht einsam, sondern klotzig und weitläufig stellte sich, bevor die Kasernen begannen, die Sächsische Landesbibliothek dar.

Mephistopheles schien zu wissen, wohin er wollte. Er und Warner gelangten in die obere Etage. An einer Zimmertür klopfte Mephistopheles und ließ sich hereinbitten. Warner folgte. Hinter dem Schreibtisch saß eine junge, äußerst attraktive Frau. In dieser Jahreszeit konnte der Ausschnitt ihrer Bluse aus gesundheitlichen Gründen als gewagt erschei266

nen. Aber um ihren Hals war schräg ein Tuch gebunden.

Mephistopheles trug sein Begehren vor und erhielt zur Antwort, dass sie hier falsch seien, wenn sie etwas ausleihen wollten. Mephistopheles gab zurück: „Ganz und gar nicht. Sie sind uns für unsere wissenschaftliche Arbeit zu den Hofnarren Augusts des Starken empfohlen worden.“ Er hing seinen Mantel an den Garderobenständer. Ein feines Jackett wurde sichtbar. Auch die Hose verriet Eleganz, was jetzt beachtet wurde, als er sich gegenüber dem Schreibtisch auf einen Stuhl setzte und die Beine übereinanderschlug.

Warner war sich sicher, dass sich die Bibliothekarin mit einem solchen Kram wie „Narren“ noch nicht beschäftigt hatte. Etwas anderes sog sie ein, den Duft von „Jakobs“ und „47 11“. Der Wissenschaftler war mit Sicherheit aus dem Westen. Im Gegensatz zu Warner wusste Mephistopheles, dass man ein „Kätzchen“ zum Schnurren bringen musste.

Dann ließ es sich sogar den Bauch kraulen. Da Frauen oft einen Hang zum Irrationalen haben, durfte das keinesfalls intellektuell geschehen.

Sie hatte den Köder geschnappt. Sinnierte über Narren, sehr allgemein. Mephistopheles präzisierte das, indem er auf die Narren Augusts des Starken zu sprechen kam. Sie antwortete: „Das ist freilich etwas anderes“, ohne sich darüber auszubreiten. Mephistopheles spielte jetzt den weltweit gefragten Akademiker: „Ich habe wenig Zeit, bin viel unterwegs. Deshalb hat die Akademie den Forschungsauftrag an Georg Warner übergeben.“ Dabei wies er auf den schüchtern neben der Tür stehenden Pfarrer hin.

Es war noch Epiphaniaszeit. Und die Erscheinung, von der die Bibliothekarin heimgesucht wurde, war nicht durch höhere Gewalt bedingt.

Sie dachte an ihre lieben Freundinnen in Budapest. Ein Georg Warner hatte sie zu ihrer Bestimmung gebracht. „Rambazamba“, dachte die Bibliothekarin. Die Schüchternheit würde sie Georg abgewöhnen. Aber wie anfangen?

Mephistopheles war ihr behilflich. Er sprach von Terminen, die festgelegt werden müssten. Dabei trat er hinter den Schreibtisch. Ein Datum war im Kalender dick rot angestrichen, eben der 30. Januar. Darunter stand: „Rosalies Geburtstag.“ Wie nett, dass nicht nur kleine Kinder von sich in der dritten Person redeten. Mephistopheles geriet wegen des unverhofften Zufalls in Begeisterung: „Oh, Sie haben heute Geburtstag.

Auch aus reiner Dankbarkeit für die Bereitschaft, unser Projekt tatkräftig und geistreich zu begleiten, werden wir Ihnen einen Blumengruß überreichen.“ Im Nu umgab Doktor Faustus’ Blumengarten das Zimmer. Rosalie 267

war weitreichend geschult, sodass sie neben ungewolltem Entzücken sagte: „Das gibt es nicht.“ Im sogenannten Tal der Ahnungslosen war kein Westfernsehen zu empfangen. So konnte Mephistopheles aufdrücken und sich sicher sein, dass auch die Bibliothekarin vor der Glotze saß, wenn gezaubert wurde. So sagte er: „Sie kennen doch den Zauberpeter.“ Das wurde ihm mit einem wissenden Kopfnicken bestätigt.

Mephistopheles wollte tiefstapeln: „Ich habe mich eine Weile mit harmloser schwarzer Magie beschäftigt. Der Peter war mein Schüler.“ Mephistopheles drehte spielerisch die Hände, weg waren die Blumen.

Dafür hielt Georg nun einen Strauß mit gelben in der Hand. Es hätte nur noch ein weißer Pudel zu erscheinen brauchen. Er gratulierte Rosalie, wobei er sie gleich ermutigt beim Namen nannte, zum Geburtstag und überreichte die Blumen.

Mephistopheles ließ den Deckel einer goldenen Taschenuhr aufspringen. Es ertönte die Melodie von „Üb’ immer Treu und Redlichkeit“. Dann stand er auf, verbeugte sich kurz, nur ein Handkuss hätte noch gefehlt, um zu bekunden, dass er in der reizenden Gegenwart von Fräulein Rosalie fast die Zeit vergessen hätte. Er würde den Flieger nach Düsseldorf gerade noch so erreichen. Er zog sich an und überließ das Pärchen sich selbst.

Dass er von der göttlichen Gnade ausgeschlossen war, darüber haderte Mephistopheles stets im Stillen. Dass er kein Mensch war, sondern ein Höllengeist, verschaffte ihm gelegentlich Genugtuung. Er hätte der Stasi sämtliche Weiber abspenstig gemacht. Schon daran wäre die DDR zugrunde gegangen.

In Begleitung von Rosalie begab sich Warner auf den Neustädter Bahnhof. Er wollte Termine festmachen, sie aber etwas anderes. Als er die Fahrkarte bezahlen wollte, fehlte seine Geldbörse. Darüber musste man nicht in Panik verfallen, das Konto sperren, auf dem sich bei Warner ohnehin nichts befand. Kreditkarten gab es ebenfalls noch keine.

Den neuen Ausweis erhielt man umgehend.

Fast schämig gab Rosalie zu verstehen, dass sie mitten in der Woche keine Gäste zum Geburtstag eingeladen habe, Georg könnte somit ihr einziger sein. Was sollte er mit einer herausgezögerten Kaffeerunde? Er generierte ausgiebig die Folkloregruppe.

In der Nacht begann es zu schneien – und schneite und schneite. Die Bahnhöfe waren gesperrt. Der Teufel meinte, rechtzeitig eingegriffen zu haben, wobei seine Hoffnung auf Rosalie lag. Georg Warner und Rosalie kamen sich näher, näher – und näher. Warner hatte neben vorübergehender Einsamkeit nicht unter Mangel gelitten. Aber diese Rosalie, kei268

neswegs knochig, sondern rund, dazu natürlich enthusiastisch, da vor ihr das Ziel Budapest lag, tat ihm umfänglich gut.

Der Auftakt Georg Warner erhielt von Rosalie nach und nach die gesamten Veröffentlichungen Fröhlichs, darunter auch ein Exemplar zu „Joseph Fröhlichs Geburts- und Namenstag“ aus dem „Giftschrank“. Nach einer schönen Nacht bat er darum, dass sämtliche Unterlagen fotokopiert werden sollten. Rosalie wurde misstrauisch, aber nicht wegen der heimlich herzustellenden Literatur. Sie fragte Georg, ob er sie verlassen wolle. Warner musste ob der unerwarteten Frage erst einmal nachdenken.

Dann sagte er fast vorwurfsvoll, er habe einen Beruf, der seine Gegenwart vor Ort erfordere. Er würde aber, sooft er könne, bei Rosalie sein.

In seinem Beruf gebe es keine Nachtschichten.

Rosalie wusste von ihren Freundinnen, dass Georg Warner ein Autor und Oppositioneller war. Beides zusammen hatte die Bekanntschaft mit ihm lohnenswert gemacht. So fragte sie jetzt etwas ungläubig nach seinem Beruf. Warner antwortete, er sei Pfarrer. Auch wegen seines Erscheinungsbildes blickte Rosalie noch ungläubiger. Überhaupt, der Unglaube gehörte zu ihrem festen Klassenstandpunkt, der das Bekenntnis zum Atheismus einschloss. Sie überlegte kurz, ob es gegen die sozialistische Moral verstoßen würde, mit einem Pfarrer zu schlafen. Aber in gewissem Sinne gehörte das zu ihrem Auftrag. Sie nahm den Pfarrer hin, einschließlich seiner Reisen, um die religiösen Gefühle von Unaufgeklärten zu befriedigen.

Sie setzten das Gespräch nicht fort. Warner begab sich an Rosalies Schreibtisch und begann in ihrem Beisein mit der ersten Szene zu „Fröhlich“. Gelegentlich fragte er sie nach ihrer Meinung: I. Akt, 1. Szene Personen: Fröhlich August Schmiedel 269

Bäuerin Fischer Volk von Sachsen Dresden transferior und inferior, getrennt durch eine wunderbar blaue Elbe, die von einer Brücke überspannt wird. Fröhlich genießt die Aussicht.

Fröhlich: Sachsen, in dir wachsen mancherlei Nüsse. Haselnüsse, Lambertsnüsse, Walnüsse, Stachelnüsse, Pimpernüsse. Aber man wird dir ganz andere Nüsse zu knacken geben. Ärgernüsse und Kummernüsse. (Er zieht in die Altstadt ein, wo allerlei Volk seine Ware feilbietet.)

Bäuerin: Eier, frische Bauerneier! Taufrisch ins Gras gelegt!

Fröhlich: Gute Frau, habt ihr frische Eier?

Bäuerin: Das ruf ich doch die ganze Zeit.

Fröhlich: Der Form halber frage ich. Ich hab gelernt: Wenn jemand seine Ware als frisch anpreist, ist etwas faul.

Bäuerin: Probier sie aus. (Fröhlich nimmt ein paar Eier. Schlägt sie auf, bis der Stand voller Küken steht. Der Bäuerin gehen die Augen über.)

Fröhlich: Das Sachsen lob ich mir. Bevor es etwas ausbrütet, wird’s verschenkt. Schafft eure Eier nur auf die Messe, dann werdet ihr die Hühner preiswert zurückerhalten. (Das Volk weiß nicht, ob es lachen oder weinen soll. Aber spätestens hier erfreut sich Fröhlich allgemeiner Aufmerksamkeit. Er wendet sich an einen Fischer.) Was trägst du da im Sack?

Fischer: Krebse.

Fröhlich: Aus dem Wasser da?

Fischer: Krebse gibt’s wie gelben Sand in der Elbe.

Fröhlich: Ein Ding ist so unmöglich wie das andere. Ich werde deine Krebse einem Härtetest unterziehen. (Er angelt sich einige. Verspeist sie.)

Was, meinst du, wird in meinem Bauch mit deinen Krebsen geschehen?

Fischer: Tja, ich weiß nicht. Sie werden wohl verdaut werden.

Fröhlich: Und nachher?

Fischer: So ein Mist. Das sollst du mir bezahlen. (Fröhlich hält den Fischer auf Abstand. Fischt die Krebse aus der Hose.)

Fröhlich: Leute, gebt acht auf das Zeichen! Auch wenn es ständig rückwärts geht, kann man heil durch dick und dünn gelangen. (August tritt unter das Volk. Es verneigt sich. Fröhlich bleibt stehen.)

August: Grüßt du deinen Fürsten nicht?

Fröhlich: Woher soll ich wissen, dass mein Fürst vor mir steht?

August: Ich bin August der Starke.

Fröhlich: Das behaupten auch andere.

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August: Aber keiner kann sich mit mir messen.

Fröhlich: Es käme auf einen Versuch an. (Er holt eine Kette hervor.

August zersprengt sie vor der Brust. Das Volk erhebt sich aus dem Staube.)

Volk: Donnerwetter, August. (Dieser reicht Fröhlich seinerseits eine Kette. Fröhlich wirft sie in die Elbe. Das Volk murrt.)

Fröhlich: Volk von Sachsen, wo sind deine Ketten? (Das Volk versteht Fröhlich nicht recht. Aus der Menge taucht Schmiedel mit Ketten auf, die er dem Volk abgenommen hat. Behängt August damit. Taucht unter und wieder auf, bis August ganz in Ketten steht.)

August: Wo haben die Leute die Ketten her?

Fröhlich: Frag sie doch spaßeshalber.

August: Volk, wer hat dich angeschmiedet?

Volk: Friedrich August I. August: Der bin doch ich.

Volk: Du bist der Starke.

August: Und wer ist Friedrich August?

Volk: Deine Lakaien. (August stöhnt.)

August: Wie werd ich die Ketten los?

Fröhlich: Du musst die Ämter mit Leuten besetzen und nicht die Leute mit Ämtern. Hol dir die hier in die Schreibstuben und Kanzleien.

Und hänge die Ohrenbläser und Klatschmäuler an den Ketten auf. Die Hetzer und was da noch stündlich heuchelt und hofiert und dich zum Krieg drängt. (Fröhlich bekommt aus der Menge einen Schlag ins Gesicht, sodass ihm der Mund blutet.)

Schmiedel: Seppel, halt lieber die Gusche. Keiner dankt dir deine Treuherzigkeit. Sauf und friss mit, solange noch was da ist. Wenn’s nicht mehr reicht, lauf mit dem größten Haufen.

Fröhlich: Aber das Mundwerk geht von allein. Kaum hat’s das Gehirn im hintersten Winkel ausgebrütet, hör ich zum eigenen Entsetzen die Gusche munter drauflosreden, immer fröhlich. Deshalb schlägt man mir sie auch ein. Aber auf den Hintern setz ich mich deshalb nicht.

Und auf den Kopf fall ich schon gar nicht. Ich zeig euch jetzt ein Kunststück, wie man etwas lösen kann, wenn’s überhaupt nicht mehr geht.

(Er schließt die Ketten ineinander, sodass aus den vielen eine entsteht.)

Und nun, Volk, zieh! (Ein Kettenziehen setzt ein, das beide Volkshälften auf die Brücke führt. Dort reißt die Kette, sodass die einen in die Altstadt, die anderen in die Neustadt fallen. Auf der Brücke bleiben der befreite August, Fröhlich und Schmiedel zurück.) Ich bin Fröhlich.

August: Hinterher hat man immer gut lachen.

Fröhlich: Joseph Fröhlich, Hoftaschenspieler. (Schmiedel macht einen 271

Kratzfuß.)

Schmiedel: Baron Gottfried Schmiedel.

August: Adlige Possenreißer hab ich zur Genüge. (Schmiedel zaubert aus seinem Mund allerhand Mäuse, die anschließend munter auf ihm herumspringen.)

Schmiedel: Mäusebaron.

August: So hab ich an einem Tag meine Ketten verloren und zwei Narren gewonnen.

Fröhlich: Drei, August. Ein Narr, wer da noch länger Fürst sein will.

(Zweifel nagen an August.)

August: Aber ich bin es doch.

Fröhlich: Du bist August der Starke.

August: Und Dresden?

Fröhlich: Wird zu Narrendorf.

August: Auf mein Schloss!

Fröhlich: Aber nur, um zu packen. (Sie gehen Richtung Schloss.)

Rosalie ging es wie dem Volk von Sachsen. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Was Georg Warner schrieb, war ungewöhnlich und gewöhnungsbedürftig. Man kam nicht recht dahinter, wohin das führen sollte. Ohne es zu wissen, stand die Bibliothekarin vor dem gleichen Problem wie der Teufel. Dialektisch betrachtet waren die drei Narren dabei, sich mit dem Volk zu verbinden, was einen Umsturz aller Verhältnisse mit sich bringen konnte. So etwas wie die DDR würde dabei nicht herauskommen, denn die Verhältnisse wurden unterschwellig kritisiert. Dieser Warner redete durch die Blume. Am deutlichsten trat eine vermeintliche Mangelsituation zutage. Hinzu kam, dass der Staatsapparat als hinterhältig, selbstsüchtig und allein am Erhalt seiner Macht interessiert gezeigt wurde. Bei aller Liebe, die Bibliothekarin war eine kühle Analytikerin.

Jetzt lachte Rosalie. Warner blickte sie erstaunt an und fragte, was es zu lachen gebe. „Es ist alles so lustig“, platzte sie heraus. „Du meinst komisch“, deutete Warner die Richtung an. Dann ging er ans Fenster und blickte hinaus. Er wollte dabei keineswegs dem Flockentanz und dem ausweglosen Einsatz des Winterdienstes zusehen. Ihn interessierten die Dresdner, die sich durch die Winterwirren kämpften. Die Bibliothekarin trat neben ihn. Warner sagte: „Das ist keineswegs lustig.“ Die Bibliothekarin fühlte sich in ihrer Meinung bestätigt. Das Stück sollte hier und heute spielen.

Sie überlegte, wer den Narren zum Fallstrick werden könnte. Da 272

Dresden nicht zu Narrendorf geworden ist, wohl diejenigen, die die Stadt bauten. Vieles, wenn nicht alles, hing schließlich von August ab.

Und der stolperte über seine unzähligen Frauen, samt den Millionen, die er für sie aus den Fenstern warf.

Aber diese Erwartung zerstob umgehend. Georg Warner entwarf die zweite Szene. Wie angekündigt, wird im Schloss gepackt, wobei sich August schwer von den Damen trennen kann. Letztendlich darf August nur ein leeres Bett mitnehmen.

Es fehlt eine, die sich erst noch zeigen sollte, in der vierten Szene, Gräfin Cosel, die August aus der Elbe fischt. Fröhlich stöhnt schon einmal vorausschauend: „Die werden wir nie los.“ Zuvor wurde das Narrenhäusl gebaut, in dem Fröhlich dem mitwirkenden Volk die Brillen mit dem falschen Blick abnahm, wobei die plötzliche Klarsicht zu heftiger Kritik an den Verhältnissen führte.

Nun also die Cosel. Sie hat August sofort betört und die beiden anderen Narren im Griff. Diese greifen aber beherzt nach ihr und befördern sie zurück in die Elbe. Die Cosel schwimmt zielgerichtet nach Pillnitz und setzt sich dort fest. August wird arg geschröpft, muss als Zugpferd die Cosel im Bett hinter sich herziehen. Das wird immer teurer. Nein, nicht das Bett, sondern die Cosel. August hat schon das Gefühl, sein Volk zu verkaufen. Fröhlich setzt die letzte Spitze: „Anna Constanze, du bist mein, aber viel zu fein, müsste dir noch Böhmen geben, ließest du mich ein.“ August zwingt sie daraufhin durch scharfes Bremsen auf der Elbbrücke zum Kopfsprung. Die Cosel schwimmt – richtig, nach Preußen. So gibt es dann in der letzten Szene des ersten Aktes ein heftiges, nicht ungefährliches Tauziehen um ihre Auslieferung.

Dass Warner bis auf die Eingangsszene mit Augusts Mätressenwirtschaft befasst war, zeigt, wie politisch brisant das Thema war. Da die Mitglieder des Zentralkomitees der SED weitaus prüder waren als der Hof zu Augusts Zeiten, gab das Thema für die Gegenwart wenig her.

Und leider war die Bildungsministerin Margot Honecker für Doktrinen und nicht für Intrigen zuständig.

Der Instinkt der Bibliothekarin hatte gleich angezeigt, dass das Stück auch in eine andere gefährliche Richtung hätte laufen können. Die politische Brisanz wäre durch den Hochverrat der Cosel gegenüber den Preußen gegeben gewesen.

Warner hatte nun wieder nach seinem „Volk“ zu schauen. Der Winter blieb ein harter Gast, kernfest und auf Dauer. Auch das Verkehrschaos hielt an. So brauchte er mehr als einen halben Tag, um von Dresden aus zurückzugelangen. Vom Görlitzer Bahnhof aus schlitterte er zu Fuß 273

nach Hause.

Der Welt Herrlichkeit Den II. Akt bereitete Georg Warner mit der Spielgruppe vor. Es sollten reichlich Personen auftreten. Zu diskutieren gab es auch genug, denn es ging um den Verzicht. So war die gesamte Offene Arbeit einbezogen, um „Bunte Bilder“ einzutrüben. Die Ergebnisse konzentrierten sich auf eine Person, Spener. Der war in Dresden Oberhofprediger gewesen und ausgewiesen worden. Er ging nach Preußen und wurde gemeinsam mit August Hermann Franke der Begründer der preußischen Sozialethik, die auf Teilen und Verzicht und nicht auf Gewinn ausgerichtet war. Die 3. Szene, eben die Mitte des II. Aktes, hatte das Stück zu drehen.

II. Akt, 3. Szene Personen: Fröhlich Spener August Vor dem Narrenhaus. Spener tritt auf. Fröhlich hält ihn für einen Bettler und wirft ihm gönnerhaft einen Apfel hinunter.

Fröhlich: Pinova – die neue Apfelsorte aus Pillnitz. (Spener reibt den Apfel blank, beißt hinein.)

Spener: Ein Paradiesapfel.

Fröhlich: Paris-Apfel.

Spener: Ich bin gegen Abkürzungen jeder Art. Fröhlich: Einem Feinschmecker müsste die Geschichte der schönen Helena geläufig sein.

Spener: Der Brand von Troja wurde schon besungen. Ich halte mich an zukünftige Texte.

Fröhlich: Da käme als nächstes der Brand von Moskau.

Spener: Dresden. Denn es vertreibt seine Propheten. (August tritt neben Fröhlich.)

Fröhlich: Einer der Propheten ist auferstanden. (August besieht ihn 274

sich, springt aus dem Fenster, umarmt ihn.)

August: Philipp Jacob Spener.

Spener: Als Oberhofprediger ausgewiesen, als Prophet zurückgekehrt. Entwicklung macht sich eben bezahlt.

August: Hast du nicht einen Zwischenton überspielt, den Propst von Berlin.

Spener: Das war der Irrtum eines Narren. Mich zog die allgemeine Armut nach Preußen. Bis ich begriff, dass sie nur verkündet wird, um über die Reichen herfallen zu können und auf diesem Umweg umso reicher zu werden.

August: Wir sind arm genug.

Spener: Einen Monat lang hast du die Armut geprobt, und weitere vier Monate fehlte es an allem Möglichen und Unmöglichen. Die Leute hatten sich eingedeckt und nannten das ‚Klugheit‘. Der Dumme warst du.

August: Weil keiner mehr für sein tägliches Brot arbeitet. Raffgier und Besitzstreben haben Sachsen vergiftet. Alle wollen nur haben, aber nicht verzichten.

Spener: Hast du es nicht selbst vorgemacht und als erstrebenswert gepriesen?

August: Ich bin ein Narr.

Spener: Geworden, August. Weil dein Land nicht mehr mit Kraftakten zu regieren ist. Und nun hoffst du auf gutes Wetter, aber der Himmel ist wolkenverhangen. Die Leute pfeifen auf deine Edelmütigkeit. Die wollen das haben, was du ihnen versprochen hast. Reichtum, du Narr.

Hast du nicht in der Bibel und den nachfolgenden apokryphen Schriften gelesen, dass die erste Tugend die Verleugnung seiner selbst ist? Nur, wenn niemand etwas Eigenes hat, besteht völlige Gemeinschaft. Und wem das böhmische Dörfer sind, der ist zu seinem Glück zu zwingen.

Fröhlich: Es lebe die Diktatur.

Spener: Das Leben. Denn um nichts anderes geht es inzwischen. Deshalb sollte es uns fern sein, von dieser Lehre auch nur einen Finger breit zu weichen. Lieber sollten wir die ganze Welt fahren lassen.

August: Sag das mal den Leuten. (Spener wendet sich an die Zuschauer.)

Spener: Leute, was kommt nach dem Reichtum, dem versprochenen und dem erreichten? Was kommt nach der Armut? Das müsst ihr fragen. Wenn ihr immer nur haben, haben und haben wollt, missrät euch die Armut zur Verzweiflung. Dann gibt es statt der notwendigen Revolution des Gewissens Mord und Totschlag. Dann wird ein Bruder gegen 275

den anderen stehen. Wenn ihr aber leben wollt, dann wird euch die Armut zur Hoffnung gelingen. Dann kommt nach der Armut die Brüderlichkeit. Man sagt: Gleiche Brüder, gleiche Kappen. Und setzt voraus, dass Brüder immer Narren sein müssen. Weil das, was sie füreinander wollen, den Besitzstrebenden närrisch erscheinen muss. Aber nirgendwo habe ich so viel Hass unter vermeintlichen Brüdern gefunden. Wenn von den Sachsen geredet wird, dann geschieht das so, als wären sie Ausgeburten des Teufels. Und die finden ihre Polen. So befördern wir uns gegenseitig in die Hölle. Werden der Welt ein Schauspiel. Aber nicht, weil wir Narren geworden sind, sondern Teufel. Berauben uns mit dem Verzicht auf Armut jeder Hoffnung. Verfaulen bei lebendigem Leibe.

Fragt doch euren Nachbarn, was nach der Armut kommt, und er wird sich erschüttert abwenden.

Ich hab dieses Land kreuz und quer durchreist. Antwort geben konnte mir allein mein alter Lehrer. Was zeigt, dass hier eine Frage von pädagogischem Rang aufgeworfen ist. Gut und Böse beurteilen wir nicht nach dem Leben, sondern danach, ob der andere mit unserer hausgemachten Meinung übereinstimmt. So wird keine Einigkeit erzielt, sondern nur um geringe und unnütze Dinge gestritten. Unsere Kinder erziehen wir zu Jasagern, die in ihren Taschen stets die Faust geballt haben. Und nach Feierabend ersäufen wir unser schlechtes Gewissen. Der Apostel Paulus setzt die Trunkenbolde in keine ehrliche Gesellschaft. Er zählt sie zu Huren, Ehebrechern, Weichlingen, Knabenschändern, Dieben, Geizigen, Lästerern, Räubern, die allesamt vom Reich Gottes ausgeschlossen sind. Wie kommt es, dass wir Trunksucht weniger ahnden als Diebstahl? Weil sie allgemein verbreitet ist und keiner sich schaden will.

Denn es ist das letzte Mittel, sich Freunde zu schaffen, weil sonst die Verlogenheit uns gänzlich vereinsamen lassen würde.

Hütet euch also. Der Teufel ist, nachdem er uns mit gewalttätigen und blutigen Verfolgungen nicht kleinkriegen konnte, klüger geworden. Er verheißt uns nun der Welt Herrlichkeit und zieht uns so von der Wahrheit ab. Verfolgungen haben allezeit bewirkt, dass sich die Wahrheitssucher vermehrten. Merkt ihr nun, was ihr da zur Hintertür hereingelassen habt, während vorn noch die Parolen hängen? Wenn ich von euch die Armut fordere, dann nicht, damit ihr mit dem Brotkanten nach der Speckseite werfen sollt. Ich will euch Mut zur Hoffnung machen. (Spener zieht ins Narrenhaus ein.)

Georg Warner wollte eben diesen Beitrag der Gruppe darstellen, aus dem Jahr 1985. Keinesfalls hätte er die Szene in Gegenwart der Biblio276

thekarin geschrieben. Wenn das Stück weiterlief, würde sie sich fast unverfänglich eingliedern. Im Gegensatz zu Warner darbte Rosalie bereits.

Sie hätte eigentlich um seine Adresse und Telefonnummer wissen müssen, ohne dass er ihr das mitgeteilt hatte. Aber dann hätte sie sich auf schnöde Weise enttarnt. Warner war sich aber sicher, dass sie kein Offizier im besonderen Einsatz war. Sie war nicht auf ihn angesetzt worden, sondern er hatte sie sich auf seinen Schoß setzen lassen.

Narrengeburtstag Der 1. April und somit Narrengeburtstag näherte sich. Warner konnte Mephistopheles nicht wie Doktor Faustus herbeirufen. Aber er wollte es auf einen Versuch ankommen lassen. In Dresden begab er sich zum „Goldenen Reiter“. Er hatte den Kontrakt mit Faust abgeschrieben und sich einen Federkiel besorgt. Jetzt hielt er den Kontrakt in der einen, die Feder in der anderen Hand und sprach: „Blut ist ein besond’rer Saft.“ Der Kontrakt flammte auf, Mephistopheles pflückte ihm die Feder aus der Hand. Erschrocken fragte er: „Bist du verrückt geworden?“ Warner entgegnete: „Heute ist Narrengeburtstag. Wir werden uns beim Scherzen an Rosalie schadlos halten. Du bist eben aus Paris eingeflogen. Mitgebracht hast du das feinste Strumpfwerk, auch etwas Köstliches aus der Confiserie.“ Fast hätte man meinen können, dass Mephistopheles irritiert schaute. Dann war er verschwunden.

Rosalie hatte bereits Vorbereitungen getroffen. Sie richtete sich dabei nach den Gepflogenheiten zum Frauentag. Der 8. März war das Datum, an dem die Frauen aus sich herausgingen, vor allem, wenn zu vorgerückter Stunde noch männliche Brigademitglieder auftauchten.

Es gab ein typisches Frauengetränk: Bowle. Über deren Wirkung sollte man sich nicht täuschen. Der Handel führte keine hochwertigen Früchte. Für Familienfeiern wurden Gläser mit Mischobst geordert. In jedem Glas befand sich neben hölzernen Birnen und anderem vorher wohl angeschlagenen Obst ein halber Pfirsich. Für Familienfeiern konnte man diese Sammelleidenschaft entwickeln, aber nicht für größer angelegte Besäufnisse. Eine Frucht, die gänzlich das Glas füllte, war die Mirabelle.

So gab es Mirabellenbowle. Die gelben Pflaumen mussten erst entsteint werden, was die Früchte matschig zurückließ. Das war aber noch nicht 277

das Ende ihrer Bestimmung, bevor sie in die Bowlenkrüge wanderten.

Sie wurden in Hochprozentigem eingelegt. Hauptsächlich die Frauen fischten dann die Mirabellen aus der Bowle. Ein Schelm, der Arges denkt.

In dieser Art Hexenmanier wollte Rosalie auch den Narrengeburtstag gestalten. Die Feier sollte in ihrer Wohnung stattfinden. Georg hatte Rosalie darauf eingestimmt, dass einschlägige Texte von Fröhlich und Schmiedel gelesen werden würden.

Er traf vor Mephistopheles ein. Dieser wollte als der feine Professor aus dem Westen erscheinen, den nachhaltigeren Eindruck machen. Der Bowlentopf stand bereits auf dem Tisch. Was nachzufüllen war, befand sich, der Sitte gemäß, in einem Plastikeimer. Rosalie konnte ihre Nervosität nicht verbergen. Die steigerte sich noch einmal, als die Klingel ertönte. Als sie aufstand, um den Gast hereinzubitten, bemerkte Georg erst, dass sie einen an der Seite geschlitzten Rock trug.

Mephistopheles war in feinen Zwirn gekleidet. In der einen Hand hielt er ein Kästchen, in der anderen ein Päckchen, in dem sich der Form nach Kleidung befinden musste. Er pries sich glücklich, eben noch das Flugzeug in Paris erreicht zu haben. Dann überreichte er die in feinstes Papier eingeschlagenen Präsente. Allein das Öffnen der Verpackung ließ Rosalies Puls noch höher schlagen.

Das Kästchen enthielt belgische Pralinen, traditionell an nachgebildeten Meerestieren erkennbar, was Rosalie verwirrte, da sie so etwas noch nicht gesehen, geschweige denn genossen hatte. Mephistopheles sorgte für rasche Aufklärung. Dann sagte er, dass sie das Päckchen in ihrem Schlafzimmer öffnen solle. Rosalie verschwand. Bald darauf hörte man hinter den Kulissen einen begeisterten Aufschrei. Warner sah Mephistopheles fragend an. Der grinste und sagte: „Dessous.“ Es dauerte eine Weile, bis Rosalie wieder erschien. Sie hatte rote Flecken im Gesicht. Jetzt wurden mit Schwung die Bowlegläser gefüllt.

Ohne „Prosit“ zu sagen, stürzte Rosalie das Getränk hinunter, um gleich danach die Früchte hinterherzuschicken. Sie bemerkte ihre Hast, da die beiden Besucher ihre Gläser noch gefüllt in den Händen hielten, schenkte sich rasch nach und prostete ihnen zu. Wieder leerte sie ihr Glas rasch.

Georg Warner kannte vom Hörensagen die Praktiken und Wirkungen der Bowleherstellung. Er würde darauf achten, dass so gut wie keine Früchte in sein Glas wanderten. Vielleicht würde er sie im Notfall Rosalie geben. Mephistopheles konnte Alkohol nichts anhaben. Als sich Rosalie in den Sessel fallen ließ, bemerkte Georg Warner, dass durch 278

den Schlitz rosafarbene feinste Strümpfe leuchteten.

Die Geburtstagsparty konnte beginnen. Warner erläuterte noch einmal, welche Texte sie sprechen würden. Mephistopheles gab zu verstehen, dass er Joseph Fröhlich sein würde, von Baron Schmiedel bedichtet.

Der nenne Fröhlich so oft „Schwein“, dass es für einen Pfarrer unwürdig sei, so tituliert zu werden. Er dagegen stelle zwar ebenfalls kein solches dar, habe aber bei sozialen Studien den Satz bewiesen bekommen: „Der Mensch, das Schwein.“ Rosalie wollte, die Früchte aus dem dritten Glas fischend, auch einen Beitrag dazu leisten und sagte: „Männer sind Schweine.“ So war die Rolle Fröhlichs schon im Vorfeld definiert. Mephistopheles wollte im Blick auf Georg noch eine Ergänzung zur Rollenverteilung anbringen. Schmiedel bemühe sich aus Bußfertigkeit um ein geistliches Amt, was dem Vortrag nach am besten zu einem Pfarrer passe. Jetzt solle, siehe Geburtstag, die Lesung mit der Geburt beginnen. Georg Warner würde als Schmiedel im Blick auf Fröhlich mit dem Vortrag anfangen: „Weil heute dein Geburtstag ist, So will ich ohne arge List Dir meine Freude zeigen, Besonders weil zu dieser Frist Dein Namenstag zugleich mit ist, So kann ich nicht mehr schweigen.

Es ging mit dir gleich närrisch zu Und wunderlich, denn kaum warst du In diese Welt geboren Und zu der Tauf ’ getragen fein, So hätte man das Lümmelein Beinahe gar verloren.

Man kehrte in das Wirtshaus ein, zu saufen paar gut Gläser Wein, Und setzte dich fein sachte Dort in die ‚Hölle‘ hin fürwahr!

Dieweilen es hübsch warm alldar Und nicht das Kind erwachte.

Merkt Leute, was der Kuckuck tut!

Sie gingen drauf in frohem Mut 279

Noch eine Viertelmeile Zu ihrem Kirchspiel Lobesam, Der Priester kam da gleichsam an Nach einer kleinen Weile.

Als nun die Wehemutter gut Den Mantel voneinander tut, Da war das Kind verschwunden.

Potz Stern! Der Vater außer sich Tat voller Angst ganz jämmerlich, Bis dass man dich gefunden.

Man musste also wieder fort Zu kehren an vorher’gen Ort, Wo sie sich vollgesoffen; Denn anders konnte man das Kind Und später niedliche Rind (Du Ochse) Auf keine Weis erhoffen.

Jedoch Unkraut verdirbt nicht leicht, Und also fand man dich ganz feucht Im Korb noch eingehüllet, Da war auf einmal alle Not, Weil doch das Bengelchen nicht tot, Vergessen und gestillet.“ Georg Warner gönnte sich einen Schluck. Er stellte fest, dass die Folkloregruppe weitaus lieblicher getanzt hatte. Das Gebräu hatte billigen Bowlewein ohne Herkunft in sich. Es wurde reichlich mit Zucker gestreckt. Da musste der Hochprozentige sich in seiner Wirkung geadelt fühlen.

Mephistopheles trug jetzt schon um Rosalie Sorge. Nicht dass sie das „Kulturprogramm“ verpasste. Er wollte eine sich entblößende Rakete gezündet sehen. Aber Rosalie war trotz ihres Tempos trinkfest. Sie sagte dem feinen Herrn, dass sie noch nicht geboren hätte, sie also die Wehmutter und Sonstiges nicht sonderlich interessierten, Taufen erst recht nicht, denn sie glaube vorab nicht an die Geburt eines Jesus Christus.

Mephistopheles zwang sich zur Geduld. Was er zur Geburt Schmiedels vortrage, stehe am Schluss der Lesung noch einmal ähnlich in 280

ihrem Text. Rosalie hob die Hand, als wollte sie bedeuten, dass gelesen werden solle. Das tat Mephistopheles: „Und weil der Monat April Am ersten Tage zeigen will, Dass hier auf dieser Erden Die Narren, so viel ihrer seien, An solchem Tage insgemein Zur Welt geboren werden.

So lasst den teuersten Baron Zwei Heller wert als einen Sohn Des Cerberus uns preisen Und das Lob, das ihm zugehört, Vor aller Welt ganz ungestört, Recht klar und deutlich weisen.

Dein Stammbaum mag sein, wie er will, Ich schweige hiervon gerne still, Mich tut es nichts angehen, Denn das wird ein gut’ Kind genennt, Das seinen rechten Vater kennt, Du wirst mich wohl verstehen.

Es ist die liebe Mutter sein, Ein altes lahmes Weibelein, Und hat in jungen Jahren Etwas von der Wahrsagerei Und deren Tieren Arzenei So ziemlich viel erfahren.“ Gefragt war jetzt ein Schwank aus der Jugend. Auf die wurde erst einmal angestoßen und erzählt, was an Weitläufigem in den Geburtstagsoden stand. Fröhlich hatte es als Müllerbursche vor allem auf den jeweiligen Müller und seine Frau abgesehen. In seiner „Freizeit“, wie es hieß, brachte er sich Taschenspielertricks bei. In Bern hatte ihm das fast den Feuertod wegen Hexerei eingebracht. Seine erste Anstellung erhielt er in Bayreuth, dann ging er nach Pretzsch, wo die Ehefrau von August dem Starken in Entsagung lebte. Der letztendliche Weg nach Dresden war also vorgegeben. Das große Talent des Fressens hat Fröhlich von Jugend 281

an beherrscht, wie gleich von Georg Warner zu hören war: „In deinen Lehrjahren hast du Dem Lehrmeister, wenn er zur Ruh, Das Fleisch aus dem Schornsteine Geschnitten ab, nach Herzenslust, Und weil kein Mensch davon gewusst, Gefressen auf alleine.

Die Müllerin manchmal hinkam Und sahe, wie ihr Fleisch abnahm, Sie tat zum Müller sagen: Das Fleisch muss ganz verhexet sein, Es wird ja augenscheinlich klein, Wie muss sich das zutragen?

Bis dass einmal zur Nacht Die Müllerin dich hat betracht’, Wie du so hübsch gefressen Das Fleisch mit Knödeln hurtig ‘nein Und auf dem Herd als wie ein Schwein Bei seinem Trog gesessen.

Das Fleisch nun in der Asche lag, Das musstest du ohn’ alle Klag Auffressen gleich geschwinde.

Sie sprach ganz höhnisch noch zu dir: Wie lieb ist mir’s, dass ich allhier Jetzt meine Fleischhex finde.“ Mephistopheles schaute bereits gespannt auf Rosalie, wann sich das Gebräu zurückmelden würde. Zur Anregung raunte er Georg zu, dass er gleich eine Fress- und Sauforgie zum Besten geben solle, verbunden mit der Vita in Dresden. Georg kam dem nach: „Hier zog man dich in kurzer Frist Nach Hofe, wie mir wissend ist, Da blühete dein Weizen: Augusti treuer Sklav’ zu sein, Das konnte dich schon ganz allein 282

Zu seinen Diensten reizen.

Wie wunderlich du hier gelebt, Bald gut getan, bald widerstrebt, Das weißt du selbst am besten, Indessen aber konntest du, Ob man dir schon stark setzte zu, Als wie ein Schwein dich mästen.

Ich gehe alles überhin, Doch fällt mir dieses noch in Sinn, Ich werde es dir sagen: Dass du in Polen wohlgerüst’ Zu deinem Ruhm geworden bist Der Grafe von Saumagen.

Dieweil du da als wie ein Schwein Gespien auf den Teller fein Und wieder aufgefressen, Da hast du da recht wohlvergnügt Die längst verdiente Ehre kriegt, Das ist doch unvergessen.“ Bei Rosalie hatten die Verse die Wirkung jener Feder, mit der man sich am Gaumen kitzelt. Sie stob hinaus und übergab sich geräuschvoll. Vermutlich war hiermit der schöne Abend abrupt beendet. Aber nicht mit Rosalie! Die schleppte den Plasteeimer herbei, schüttete die Bowle in den Krug, warf mit einer Kelle reichlich Mirabellen hinterher und sagte: „Man soll immer mit dem anfangen, mit dem man aufgehört hat.“ Das tat sie.

Aber jede Art von Alkohol erzeugt eine andere Stimmung. Man hätte meinen können, dass der Wein in der Bowle zu Leutseligkeit geführt hätte. Nein, der Schnaps tat seine Wirkung. Und der ist ein Anstifter zu Stänkereien. Wen es reizte, der begab sich auf das politische Feld, denn da entstand am ehesten Ärger.

Rosalie tat auf einmal schlau: „Wisst ihr, warum die Knüttelverse im ‚Giftschrank‘ der Bibliothek aufbewahrt werden? Wisst ihr nicht. Ich werde es euch sagen: Wegen Verunglimpfung des Frauenstandes. Etwa ein Drittel der gegenseitigen Dichtung handelt davon, wie Schmiedel und Fröhlich ihre Frauen geschlagen haben.“ 283

Warner war unbedarft. Er wusste nicht, dass man Betrunkenen besser nicht widersprach, Frauen bei diesem Thema ohnehin nicht. Er tat es obendrein belehrend. Keine menschliche Regung sei den beiden Narren in ihrer Dichtung zu schade gewesen, um sie herabzuwürdigen. So hätten wohl auch die Liebe und die Frauen herhalten müssen. Rosalie steigerte sich beträchtlich, wurde allgemein, langte so bei den Männern an und führte ihr anfängliches Thema aus: „Männer sind Schweine!“ Als ihr etwas die Puste ausging, konterte sie Mephistopheles in der Manier, wie Fröhlich dem versoffenen und eitlen Narren des Soldatenkönigs, Professor Gundling, den Wind aus den Segeln genommen hatte: „Prosit, Fräulein Rosalie, Sie sind halt auch nur eine Närrin.“ Er hob das Glas, was Rosalie nicht unbeachtet lassen konnte. Sie hieb die Bowle mit einem kurzen Ruck des Kopfes in sich hinein, als wäre es Schnaps. Die Früchte waren gleich mit verschwunden. Der kräftige Schluck musste sie ernüchtert haben. So krächzte sie: „Fahren wir fort.“ Mephistopheles wollte das Geschehen wieder vertiefen und schlug vor, Schmiedel ins Kloster gehen zu lassen. So ein Gang war zwar auch nicht Rosalies Thema, aber sie wollte gute Miene zum vorher bösen Spiel machen. Mephistopheles wollte ihrer atheistischen Gesinnung entgegenkommen und sagte, dass Schmiedel nicht aus Frömmigkeit ins Kloster gehen wollte, sondern weil er melancholisch war. Außerdem war er eben bei August in Ungnade gefallen. Jetzt durfte Mephistopheles lesen: „Nunmehr dein Trost verschwunden war, Drum wolltest du auch ganz und gar Dich aus der Welt begeben: Du batst den Joseph in der Tat, Er möchte dir mit seinem Rat Hierin zu Diensten leben.

Joseph, das ehrlich, gute Schwein, Der nie wird zu verachten sein, Sprach gleich ohne Verweilen: Ich freu mich deines Unglücks nicht, Drum will ich dir nach meiner Pflicht Jetzt diesen Rat erteilen: Du kannst gleich gehen aus der Welt, Verlassen, was sie dargestellt, 284

Und doch darinnen bleiben: Du fingest fast zu lachen an Und sprachst: Was hab ich dir getan, Dass du willst Kurzweil treiben?

Nein, sprach die ehrlich gute Haut: Hast du mir so viel zugetraut?

Ich will jetzt gar nicht scherzen, Drum höre zu und schweige still.

Denn was ich dir nun sagen will, Das gehet mir von Herzen.

Geh du mit wohlgefasstem Sinn Zu denen Kapuzinern hin Mit büßenden Gebärden: Wenn dir nun dieses so gefällt, So kommst du wirklich aus der Welt Und bleibst doch auf der Erden.

Ein Tag gleich ausgesetzet ward, Da du, nach deren Büßer Art, Dich hast müssen bequemen, Das Bette auf dem Rücken dein Und den Weg in das Kloster fein Ganz demutsvoll zu nehmen.

Der Joseph hinten nach dir ging Und oft zu weinen auch anfing Bei solchen Trauerstunden: Es hatte dieser gute Tropf Ein groß’ Betttuch um seinen Kopf, Vor Traurigkeit, gebunden.

Damit wischt’ er die Tränen ab Und folgte dir gleichsam ins Grab In rechtem, tiefem Leide, Doch Jung’ und Alte hatten dran, Sobald sie dies nur sahen an, Gleich ihre größte Freude.“ 285

Alle lachten, Rosalie wohl aus Schadenfreude. Mephistopheles versprach ihr, dass sie auch noch ihren Auftritt haben könne, wenn sie als Schmiedels Mutter, eine recht emanzipierte Frau, den Abschied von ihm vortragen wolle. Deshalb schenkte er ihr jetzt selbst ein. Rosalie erhielt einen Schluck und viele Früchte. Es lagen Löffel bereit, aber sie hatte die köstlichen Mirabellen von Anfang an mit den Fingern gegessen. Da ihr der Schlusspart blieb, musste Georg Warner nun Fröhlich in die ewige Seligkeit schicken. Er tat das mit der an Rosalie gerichteten Bemerkung, dass der Dichter Schmiedel seine Ehe zu loben wisse: „Ich wünsche dir der Großen Huld Und dass du allzeit mit Geduld Das „Uhu“ mögest hören: Lass auf der Auerbalze dich Durch Eulen ja nicht jämmerlich Mehr in der Ruhe stören.

Streich noch recht viel Dukaten ein, Damit du wohl kannst lustig sein Mit deinem lieben Weibchen, Sie ist, wenn sie auch manchmal schilt, Doch gegen dich ein Engelsbild Und wie ein Turteltäubchen: Um ihretwillen blühest du In vollem Glück und guter Ruh, Das glaube mir von Herzen.

Drum leg ich diesen Wunsch jetzt dar, Dass ihr noch viele lange Jahr Mögt miteinander scherzen.

So viele Jahre wünsch ich dir, Als rote Rüben bei uns hier In unsern Feldern wachsen; Ich gönn’ es dir nicht ganz allein, Die Polen stimmen auch mit ein So gut als wie die Sachsen.

Nun, Graf Saumagen, ganz zuletzt Wird man dich ha’n einst beigesetzt, 286

So wird die Nachwelt lesen Die Schrift auf deinem Leichenstein: Hier liegt der, der halb Mensch, halb Schwein Auf dieser Welt gewesen.“ Rosalie begann zu weinen. Man schaute sie erstaunt an. „Ach, die armen Narren“, schluchzte sie. Mephistopheles fand, dass sie nun zügig ihren Part abliefern solle. Sie gab den Nachruf Schmiedels von sich: „So oft sich der April stellt ein, Muss jeder Narr auch fröhlich sein, Voraus am ersten Tage, An dem du, vielen recht zur Last, Das Licht der Welt erblicket hast, Wie ich mit Wahrheit sage.

Von deinem lieben Mütterlein Noch etwas zu gedenken fein, So habe ich vernommen: Dass sie in der Wahrsagerei Und deren Tieren Arzenei Erschrecklich hoch sei kommen.

Und nennt man diese Kunst auch schwarz, So wird doch gleichwohl auf dem Harz Ihr hohes Lied erklingen, Und jede Nacht vom ersten Mai Wird auf dem Blocksberg man ganz frei Von ihren Taten singen.

Ihr Mäus’ und Ratten insgemein, Ihr Hasen und ihr Eselein, Hebt demnach an zu singen!

Der Esel ruft sein Hia fein; Die Mäuse pfeifen lieblich drein, Muss das nicht schöne klingen!

287

Die Ratten sind die Gäst’ im Haus; Die Hasen dienen selbst zum Schmaus; Nun kann dir nichts mehr fehlen: Du kannst dir nun ohn’ alle Klag Im Mond April am ersten Tag, Was dir beliebet, wählen.

Hiermit, mein Schmiedel, gute Nacht, Bis man dir einst das Grabmal macht, Mit innigstem Ergötzen.

Da wird dein Lebenslauf die Welt, Wie sehr du ihn bisher verstellt, Erst in Verwund’rung setzen.“ Jetzt geschah das, was Mephistopheles beabsichtigt und erwartet hatte.

Rosalie stieg auf den Tisch mit den Worten: „Blocksberg. Ich bin eine Hexe.“ Dann begann ein wilder Tanz. Zuerst riss sie sich die Bluse vom Leib und gab den rosaroten BH frei. Dann wurden durch den Schlitz im Rock die rosaroten Strümpfe sichtbar. Schließlich wanderte der Rock nach oben, alle Dessous waren vollständig. Der Tanz wurde heftiger.

Dabei fiel Rosalie vom Tisch, streckte sich und schlief umgehend ein.

Mephistopheles war begeistert, Georg Warner weniger. Er blickte Mephistopheles vorwurfsvoll an. Der erwiderte den Blick, indem er sagte: „Habe ich sie besoffen gemacht oder hat sie sich selbst volllaufen lassen?“ Er gab Georg ein Zeichen zum Aufbruch. Der wollte die hilflose Rosalie nicht allein lassen. Mephistopheles sagte herzlos: „Lass sie ihren Rausch ausschlafen, um dann zu hören, woran sie sich erinnert.“ Warner zog die Tür hinter sich ins Schloss. Mephistopheles gab vor, seine Vorlesung in schwarzer Magie an der Pariser Universität fortsetzen zu wollen. Warner strebte dem Bahnhof zu. Zu Hause war es doch am Schönsten.

Heilpraktiken Georg Warner war sich bewusst, dass er über die Karwoche und Ostern mit dem Narrenthema stillhalten musste. Um nicht ganz aus der Übung 288

zu kommen, las er „Das Fest der Narren“, womit der Gottesdienst gemeint war. Denn laut dem Apostel Paulus forderten die Griechen Weisheit, die Juden Zeichen: „Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit.“ Im Umkehrschluss hieß das: „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft.“ Als Beispiel für den Karfreitag nahm er den Görlitzer Philosophen Jakob Böhme, der wiederum Paulus bemühte: „Seht doch, liebe Brüder, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen.“ Böhme führte das aus, indem er die Altväter, Patriarchen und Propheten „allesamt nur einfältige Leute und ein Teil nur Viehhirten“ sein ließ.

Es folgten die Apostel als arme, verachtete Fischerknechte und Leutlein.

Sodann lud Warner ein zum Fest der Narren, das nicht am 1. April, sondern zu Ostern stattfand. Freilich geriet Ostern witzigerweise auch auf den Narrengeburtstag, dieses Jahr aber nicht. So kam das Osterwasser, gründlich abgekocht, aus der Neiße.

Auf andere Art närrisch war nun doch ein Anruf von Rosalie, die fragte, wo er denn bliebe, schließlich sei Ostern. Georg Warner konnte das ordentlich begründen. Mit kläglicher Stimme tat Rosalie noch kund, dass sie krank sei. Den Narrengeburtstag hatte sie so in Erinnerung behalten, dass Georg und der Professor bereits gegangen waren, als sie unerklärlicherweise stürzte und sich einige Rippen geprellte.

Wie es wirklich zugegangen war, schien ihr gänzlich entschwunden zu sein. Georg vertröstete sie angesichts der Arbeitsverpflichtungen auf die nächste Woche.

Der zweite Sonntag nach Ostern, Miserikordias Domini, war schlicht als Gottesdienst des guten Hirten zu feiern. Joseph Fröhlich hatte sich, wenn auch wesentlich derber denn Jesus, als solcher erwiesen. Er hatte seine sächsischen „Schäfchen“ des dicken Fells beraubt und dann in die Schafskälte hinausgetrieben.

Warner reiste umgehend nach Dresden, da die Unterlagen von Fröhlichs Schmähreden bei Rosalie lagen. Er wollte sie auch daran teilhaben lassen, was nun zu gestalten war, das Gefecht mit Brühl. Sie trug nicht die Dessous der letzten Fete. Kleine Bärchen, die sich an den Händen hielten, waren auf ihre Unterwäsche gedruckt.

Der folgende Tag der Arbeit, der Warner ehedem unvergleichliche Erkenntnisse beschert hatte, wurde durch Arbeit gewürdigt. Rosalie musste und wollte den großen Aufzug der Arbeiterklasse im Bündnis mit den Bauern und der Intelligenz mitmachen. Der verlief nicht sonderlich 289

anders als der in Hagenwerder. Rosalie sank bei ihrer Rückkehr auf das Sofa und klagte über die Bockwürste und den Schnaps in ihrem Magen.

Nachdem sie sich übergeben hatte, musste sie ruhen, sodass Warner erst gegen Abend an die Szene gehen konnte. Er ließ die Folkloregruppe vorsichtig in kleinen Schreitschritten agieren. Er schrieb sonst stets stocknüchtern. Jetzt aber schien es bei so viel Apothekerstolz Fröhlichs angebracht, sich ein wenig den Kopf verdrehen zu lassen. Denn die Apotheker destillierten von jeher mit Zusätzen wie Anis und Kümmel hochprozentige Sachen. Allerdings sei gesagt, dass Fröhlich mehrheitlich Abführmittel bevorzugte.

III. Akt, 2. Szene Personen: Fröhlich Brühl Volk Fröhlichs Marktschreiertheater inmitten von Jahrmarktsbuden. Fröhlich vertreibt Allheilmittel.

Fröhlich: Alle Welt soll wissen, dass nun endlich zu Dresden der berühmte Doktor, doctus, doctius, doctissimus, praestantissimus, ex ellantissimus, examinatur, approbatus etc. Theophrastus Bombastus Mitridatis Emplasticus Pulverisaxicus Purgantius angelangt ist. Seiner Kunst, in arte sympathico, magnetico, chemico, atque in magis naturalis, ad summum usque Gradum verratus, sind weder Aeskulap und Galenus noch Hippokrates gewachsen.

Als erstes empfiehlt der Dresdenkurier seine Hausapotheke. Hier ein Mittel gegen alle Krankheiten ohne Ausnahme: Essentiae auri potabilis universali et in signo Solis et conjunktione Martis cum Venere in balneo Mariae destillata. Es lässt die Menschen älter werden als die Raben, wenn jeden Morgen 20 Tropfen in Elbwasser eingenommen werden.

Politikern sei ein besonderes Augenwasser empfohlen, das sie sich vor Beratungen über Krieg und Frieden einverleiben sollten. Ein gemeiner Soldat teilt jeweils 40 Tropfen in Nasenstübern aus, um den Augen die Hitze zu nehmen. Auch dieser Schnupftabak für Gelehrte kann auf ähnliche Art verabreicht werden. Er reinigt jeden Kopf von Häckerling und Grütze und macht ihn zu einem Kunstrichter.

Auch Naturheilkräuter sind wieder in Schwang geraten, seit die ars apopathetica chemica ihre Apotheose verlor. Recipe: Tausendgülden290

kraut, ein herrliches Kräutlein, für jedermann nützlich. Meerrettich, die Augen damit gerieben, auf dass das Phlegma fortgehe und man besser sehen lerne. Abführender Tee von Schafgarbe. Der ist denen gut, die wegen der Engbrüstigkeit und des schwachen Rückgrades die Worte in sich behalten, wenn sie fürs Recht eintreten sollen. Natterwurzel für vergiftete Zungen, denen das Lügen so zur Gewohnheit geworden ist, dass sie darüber die Wahrheit zu reden verlernt haben. Zuletzt braucht ein jeder Teufelsabbiss für die verschleimten Därme, damit er alles das genießen kann, was er sich erträumt hat: Nürnberger Pfefferkuchen, Danziger Goldwasser, Leipziger Laibelbrot, westfälischen Schinken, kaschubische Gänse aus dem Rauch, holländischen Käse, tiroler Wein, böhmische Schmalzerbsen und österreichische Dampfnudeln.

Wer mehr erfahren will, der komme in die ‚Zeit‘, da wohnt der Arzt, der euch gegeben. Heilt alles Volk fürwahr, dort sticht er euch den Star.

Kuriert werden nicht nur alle unheilbaren Krankheiten, die da sind Schwind- und Wassersucht, Podagra, Nieren-, Lenden- und Blasensteine, sondern sogar die Dummheit. Aufmerksamkeit für das Gehirn eines Lakaien, das er aus dessen ungelehrigem Kopf entfernt hat. (Er unterzieht das Gehirn einer Prozedur.) Das schläfrige Gehirn wird in einer Lauge, die aus der Asche von fauligem Holz hergestellt wurde, gewaschen und gereinigt. Und schon ist es fähiger, klüger, aufmerksamer und nachdenklicher als vorher. Der Besitzer möge es sich bei Gelegenheit abholen.

Volk: Brühl. Brühl? Brühl! (Dieser nähert sich dem Fröhlich’schen Theater.)

Fröhlich: Heinz, mein Heinz, bist leider nicht aus Mainz, sondern nur aus Thüringen. Nennst dich jetzt sogar aus Polen, dort soll dich der Auerhahn holen. Das war ein Reim. Der reinste Naturalismus. Aber das ist deinem Naturell gemäß, denn aus ihm entspringt das Genie. (Brühl ist bei Fröhlich angelangt.)

Brühl: Seppel, wärst du in Tirol, ging es dir noch mal so wohl. Bist aber noch in Sachsen, wo keine Bäume in den Himmel wachsen.

Fröhlich: Mit dem Holz werden auch die guten Freunde abnehmen.

Ich ging im Walde so für mich hin, da kam mir dies Gleichnis in den Sinn. Ich suchte Himbeeren und fand saure Brombeeren, die zerstachen mir die Tatzen. Ich fand Schlehen, die zogen mir das Maul zusammen.

Und alle Dickichte waren keine anderen Gebüsche als Kreuzbeerdickicht und Scheißbeerdickicht. Sachsen, Sachsen, die Kreuzbeeren bedeuten dies und das. Aus Kreuzbeeren wird grüne Farbe gekocht und 291

auf grüngekleidete Männer wirst du dich verlassen. Aber die grüngekleideten Männer werden dir nicht helfen, selbst wenn sie aus Mitternacht, Mittag, Abend oder Morgen kämen. Aus dürrem Holz wird das Kreuz gemacht.

Brühl: Du schaust zu sehr auf die heimischen Forsten, Sepp. Die Leute wollen von den scheiß Beeren nichts hören. Denen steht der Sinn nach weißpelzigen Pfirsichen.

Fröhlich: Umso größer werden die Pflaumen sein. Sachsen, in dir wachsen mancherlei Zwetschgen. Der Bauch wird dir auftreiben vor lauter Winden, Hoffnungswinden und Versprechungswinden. Und wenn die dich lange genug unter dem Herzen geängstigt haben, werden sie mit Gestank ausfahren.

Brühl: Seppel, Seppel, du heißt ein Narr und bist auch einer. Du willst die Leute auf den Kopf stellen und hoffst, alles fällt dann von allein aus den Taschen. Aber die Leute beherrschen auch Kunststücke. Sie stehen Kopf und halten sich dabei die Taschen zu.

Fröhlich: Heinz, du bist ein verschmitzter Heinz. Du denkst, alles in der Welt ist eitel, also auch dein Scheitel. Mit dem stehst du auf der Erde. Und deine Taschen sind wie Magneten, die alles anziehen, was andere fallenlassen. Was andere mit Mühe und Sorge, mit Fleiß und Schweiß, mit Ächzen und Lechzen an sich gebracht haben, das ziehst du mit Leichtigkeit an. Deshalb bist du auch der Meister aller Diebe, der Chef, Herr, oberster generalisierter Erzgeneralissimus.

Brühl: Führst du in deinem Wappen nicht einen Ochsen?

Fröhlich: Und einen Eselskopf.

Brühl: Wir sollen Ochs und Esel an deiner Krippe sein und deine Fasten loben. Damit du uns hernach alle Tage Fastenspeise vorsetzen kannst.

Fröhlich: Die es dann wirklich gibt. Während du und deinesgleichen das Schlaraffenland auf der grünen Wiese versprechen. An den Weiden werden gebratene Würste hängen und jede Dreckpfütze wird aus reinem Muskatellerwein sein.

Brühl: Sieh an. Der Sepp ist nicht nur ein Narr, sondern auch ein Ketzer. Glaubt nicht an das gelobte Land, wo sie die Weintrauben auf Stangen tragen und jeden Tag Hochzeit zu Kana feiern, Wasser in Wein verwandeln.

Fröhlich: O, du großer Alchimist. Ganze Zentner von Gold und Silber hast du schon zu Papier verarbeitet und das Gold aus dem Lande fließen lassen. Dafür besitzt du eine Garderobe wie der Großmogul. Ich will ein Werk der Barmherzigkeit tun. Deine allchemischen Produkte 292

unters Volk bringen. Die Hüte sollen die Leute erhalten, die ihre eigenen durch das Grüßen deiner Größe gänzlich abgegriffen haben. Mit den Schuhen will ich Kurzweil treiben. Ich werde sie an eine Stange binden und auf Straßen und Jahrmärkte ziehen. Und werde schreien: ‚Leute, wer hat Lust davonzulaufen?‘ Nein, ich muss es etwas verblümelter sagen, wie mir schon mein Mütterlein riet. ‚Adieu! Ma Patrie!‘ Du würdest Wunder erleben, Heinrich Brühl. In der Ewigkeit wirst du einmal funkeln wie dein schönstes Paar Schuhschnallen. In der Ewigkeit, und sollte sie auch eine papierne sein, bezahle mit den Brillanten deiner Schuhe meine Komödie.

Brühl: In der papiernen Ewigkeit wird man solche Poeten wie dich nicht brauchen.

Fröhlich: Dann könntest du endlich nackt einhergehen. Die Poeten würden an dir Talente loben, die mit dem größten Mikroskop nicht zu sehen sind. Sie würden dich mit Juwelen behängen und auf einen Altar setzen, mit einem Weihrauchbüschel in der Hand für die kohlpechrabenschwarzen Gewissen.

Brühl: Gottes Mühlen mahlen langsam. Nur du willst ihren Lauf beschleunigen und hast dein Wappen mit Dreschflegeln gerahmt. Die dreschen eine springende Sau. Ich fürchte, man wird dir das Banner aufs Grab pflanzen.

Und auf dem Stein den Nachruf lesen: Hier liegt der, der halb Mensch, halb Schwein auf dieser Welt gewesen.

Und nennt man deine Kunst auch schwarz, so wird doch gleichwohl auf dem Harz ihr hohes Lob erklingen.

Und jede Nacht zum ersten Mai wird auf dem Blocksberg man ganz frei von ihren Taten singen.

Fröhlich: Heinz, mein Heinz, du bist ein rechter Luftikus, ein Pegasus. Wir wollen um die Wette fliegen. Ich als Hexerich, du als geflügeltes Götterpferd. Ich ursächsisch, du urkomisch. (Er rollt eine große Decke aus Eselshäuten aus.)

Weil es vor alters ist gescheh’n, dass man in Sachsen hat geseh’n wohl einen Esel weiden 293

und noch von Eseln nichts gewusst, da konnte man, hört an mit Lust, auch noch nicht unterscheiden die Hasen und die Eselein, drum dachten gleich die Bauern fein, dass dieses ungefähre Tier kraft seiner langen Ohren Zier der Hasen Mutter wäre.

Sie schossen es also fein bald in einem nah geleg’nen Wald zu einem Mittagessen.

Es zweifelt jetzt auch keiner dran, dass sie den Esel wirklich han mit Haut und Haar gefressen.

Deswegen wundre ich mich auch, dass sie nach ihrem heil’gen Brauch nicht Dresdner han verschlungen.

Doch weil solch Wildbret nicht mehr rar, so hat man sich um die fürwahr nicht allzu sehr gedrungen.

(Er legt sich auf die Eselshaut.) Die Welt hat angefangen zu meckern, drum hab ich Esel das Pfeifen gelernt. (Er pfeift.) Volk von Sachsen, zieh die Eselshäute stramm. (Das Volk stürzt sich auf die Decke, zieht mit Macht an den Enden. Fröhlich fliegt über die Elbe vor das Narrenhaus.

Ruft hinüber.) Jetzt du, Heinrich. (Der zögert.) Soll ich erst die Gretchenfrage stellen? Steig auf das Dach des Palais, mein Pegasus, und komm zu mir geflogen. Dann bist du auch ein Narr. (Brühl steigt aufs Dach.

Schwingt sich in die Luft und bleibt am Ufer liegen.) Schade. Und ich dachte, er schafft’s. Er hätte vorher doch sein gereinigtes Gehirn an sich nehmen sollen. Nun ist er zu anderen Ufern aufgebrochen. Man soll dieses da ‚Brühlsche Terasse‘ nennen.

Rosalie lachte auf, brach aber gleich wieder ab und blinzelte. Dann äußerte sie sich zu dem Gehörten: „Georg, ich verstehe nicht, was sich dahinter verbirgt.“ Warner überlegte, ob er das, was eigentlich klar war, erklären sollte. Er machte einen Versuch: „Es geht hier um den korrupten Brühl, den Fröhlich entlarvt.“ Das genügte Rosalie nicht: „Und warum muss dann das Volk so unflätig beschimpft werden?“ Das war nun ganz einfach: „Weil es ebenso verdorben ist.“ Rosalie näherte sich ihrer Erkenntnis: „Du willst also sagen, durch 294

die Blume gesprochen, nehmen wir Klatschmohn, dass hier bei uns die gleichen Zustände herrschen?“ Georg Warner hätte auf den 1. Mai verweisen und dieses Beispiel auswalzen können, mit dem der Dummheit sogar ein Feiertag beschert wurde. Aber er wollte seinem plakativen Text keinen weiteren Hintersinn zubilligen. Rosalie fragte scharf nach: „Was hat es eigentlich mit diesem ‚Patria‘ auf sich und warum würde sich Brühl wundern?“ Jetzt wurde es heikel. Vielleicht war das tatsächlich nicht sofort zu verstehen. So wagte Warner eine Deutung: „Wenn Brühl die Leute mit so vielen passablen Schuhen ausgerüstet hätte, dass sie damit weit gelangen könnten, würden sie davonlaufen.“ Wie aus der Pistole geschossen kam es jetzt: „Wohin?“ Das war an sich auch klar. „Nach Preußen jedenfalls nicht“, wich Warner aus. Rosalie wähnte sich auf sicherer Fährte: „Es sei denn, dort liege Westberlin.“ Warner musste schnell die Kurve kriegen: „Aber Rosalie. Von Kühen ist in dieser Szene nicht die Rede. Wie kommst du dann auf den Ku(h)damm?“ Er ging schnell in die Küche, um Rosalie, der nun auch noch die Geschichte zusetzte, einen Magentee zu kochen. Sie dankte ihm und war nur noch mit dieser Erleichterung befasst. Warner wartete geduldig, bis sie ausgetrunken hatte. Dann fragte er, ob er die kleinen Bärchen ihrer Unterwäsche ein wenig zum Tanzen bringen dürfe. Er durfte.

Kehraus Was noch fehlte, war der III. Akt. Georg Warner blickte, seit er in Deutsch-Ossig war, nach Polen. Es gab etliche Anlässe, darüber nachzudenken. Die Teilungen Polens, der immerwährende Widerstand, die Rettung Europas vor den Türken bei Wien, der Plan zur Endlösung auch der Polenfrage, das Strafgericht, mit dem Deutschland Ostpreußen, Hinterpommern und Schlesien verlor, daher eine Million Flüchtlinge, und nun die Erwartung, Polen würde den Ostblock zum Zusammenbrechen bringen.

Wann hatte das alles begonnen? Mit Sicherheit hatten die Sachsen einen erheblichen Anteil an der Geschichte Polens, mit August dem Starken als frei gewähltem König. Das galt es darzustellen wie auch im Dialog die Geschichte der Polen mit den Deutschen. Zwei Szenen würden das gestalten. Nach dem Auftritt Fröhlichs und Brühls reisen die 295

Narren nach Polen.

Warner stellte das korrupte Sachsen voran. Johann Friedrich von Wolfframsdorff hatte eine Schmähschrift mit dem bezeichnenden Titel „Portrait de la cour de Pologne et de Saxe“ verfasst. Darin werden 33 hochgestellte Persönlichkeiten, voran Friedrich August I., durch ihre Machenschaften entlarvt. Eine Person bringt dann im Stück Fröhlich zur Strecke, Brühl. Wolfframsdorff verschwand im tiefsten Kerker, im Stück wird er hingerichtet.

Die Recherchen zum III. Akt waren aufwendig, das Schreiben entsprechend schwierig. Es wurde Ende Juli, bis das Stück fertig war. Warner schrieb sowohl zu Hause als auch in Dresden. Es war ihm wichtig, dass Rosalie informiert war. Dabei wartete er auf die entscheidende Frage, die ihm dann auch gestellt wurde: wann und wo er das Stück veröffentlichen wolle.

Warner tat erstaunt. Das habe er nicht vor. Das Stück müsse aber in 100 Exemplaren vervielfältigt werden, damit er es den Theatern zusenden könne, voran dem Dresdner Staatsschauspiel. Jetzt kam es darauf an. Rosalie dachte nach. Als sich ihr Gesicht aufhellte, meinte Warner, der Vorschlag finde Billigung, und überraschte sie, indem er sie bat, die Vervielfältigung vorzunehmen. Um ihr keine Gelegenheit zu geben, sich dem wortreich zu entziehen, schloss er an: „Das soll die Sächsische Staatsbibliothek machen. Sie wird dann auch Eigentümer sein, damit kein Missbrauch geschieht.“ Rosalie erklärte sich ohne Umschweife einverstanden, sie würde das vermitteln. Den Antrieb lieferte ein Hintergedanke. Kein Theater würde das Stück auf die Bühne bringen. Somit würde es verschwinden, das Problem wäre gelöst und sie in Budapest. Rosalie kam nicht darauf, dass solche unter der Hand vertriebenen Schriften ein gefährliches Eigenleben entwickeln konnten.

Nun fehlte nur noch die letzte Szene. In der Geschichte davor gelangte Fröhlich bis in die jüngere Vergangenheit. Er war bei der Wahl Augusts in Krakau von einem gewissen Hubal in Gewahrsam genommen und entführt worden. Als Anlass diente ein beleidigender Reim Fröhlichs: „Polen, Polen, in dir ist nicht viel zu holen, nur deine Läuse haben einen freien Pass.“ Je weiter man auf dem Weg durch Polen in der Geschichte vorwärts kam, desto mehr gab sich Hubal zu erkennen, bis er als Oberster der 296

Partisanenbewegung vor Fröhlich stand. Ein endloser Friedhof dehnte sich aus. Fröhlich packt jähes Entsetzen. Wenn es diesen grausamen Krieg gegeben hat, müsse auch das schön erbaute Dresden betroffen sein. Er eilt heim.

III. Akt, 5. Szene Personen: Fröhlich Menschen Ruine der Frauenkirche. Inmitten von Menschen, Blumen und Kerzen Fröhlich.

Fröhlich: Sachsen, Sachsen, trautes Sachsen, armes Sachsen, ich bin dir herzlich gut. Aber mein Traum nimmt ein Ende, wie alles in der Welt ein Ende nimmt: Lachen und Weinen, Herzen und Schmerzen, Jauchzen und Heulen, Kleintun und Großtun. (Er schwingt sich auf die Ruine.) Ihr Kleinen, ihr habt doch Mäuler und ihr habt Augen. Warum seht und redet ihr nicht einmütig? Ihr seid euch selbst nicht einig, das ist das Unglück. So kann es geschehen, dass noch ein Krieg kommt, in den der Teufel alle seine Jungen austreiben wird. Und zurückbleiben werden nur die Narren, die ihr in Gold und Bronze gelegt habt. Sachsen, Sachsen, auf mir lastet dein Schweigen. Und dein Schweigen spricht mich schuldig. Meine Spieltasche ist von der Wand gesprungen, drin klirren Becher und Würfel und sitzen zu Gericht: ‚Warum hast du geschwiegen, als es ans Reden ging? Warum hast du dich verkrochen, als es Zeit zum Kämpfen war? Warum hast du dich nicht gewehrt gegen die Schinder und Schaber?‘ Holla, ihr Würfel, in den Becher, würfelt mir einen Sechserpasch. Ich hab mir das Maul verbrannt, die Lippen haben Blasen geworfen und man hat mir die schwarzen Zähne eingeschlagen.

Ich, der gelernte Mühlenarzt, hab nicht mit Windmühlenflügeln gerungen. Ich hab den Drachen in der Höhle aufgesucht. Den Schindern und Schabern das Fell über die Eselsohren gezogen. Aber der Becher wirft Viereinunddreißig tief. ‚Warum schweigen dann alle?‘ Ihr Würfel, das ist das Volk von Sachsen, eine weißgelockte Herde, die immer nur ‚Frieden‘ blökt und nicht den Wolf im Schafspelz erkennt. Seine Hirten wissen nicht, dass Barmherzigkeit mit den Wölfen Grausamkeit gegenüber den Schafen bedeutet. Heulet, ihr Hirten, und schreit, wälzt euch in der Asche, denn jetzt ist die Zeit heran, dass auch ihr geschlachtet werdet.

Die Würfel sind gefallen. In den Becher des Zorns fegt die Asche. Dar297

aus müssen alle Völker aller Zeiten trinken. Und wer schuldig ist, stirbt.

Trinkt, dass ihr trunken werdet, und speit, dass ihr niederfallt und nicht aufstehen könnt vor dem Schwert. (Er füllt den Becher mit Asche, vermengt diese mit Wein.) Trinkt! Ihr müsst trinken! Diesen Becher mit dem Wein meines Zornes aus meiner Hand. (Keiner wagt es, aus dem Becher zu trinken.) Ihr fürchtet den Tod? Achtet auf meine Worte: Wer schuldig ist, stirbt; wer unschuldig ist, wird leben. Volk von Sachsen, wo sind deine Kinder? (Die Kinder lassen sich nicht zurückhalten, drängen sich zu Fröhlich. Er gibt jedem Kind aus dem Becher zu trinken. Die Kinder ziehen fröhlich von dannen.) Volk von Sachsen, wo sind deine Männer? (Keiner wagt sich zu Fröhlich.) Ihr denkt auch: Besser einer stirbt als das ganze Volk. (Er schaut in den Becher.) Wer schuldig ist – stirbt.

Wer unschuldig ist … (Er leert den Becher bis auf den Grund.) Es geht Kehraus … kehr ein … kehr um … kehr aus … kehr ab … kehr heim –

Spätsommer Schon Anfang August kippte der Sommer. Nicht nur die Hitze ließ nach, Warner hatte seine Mühe, das letzte Heu für die Schafe trocken auf den Boden zu bringen. Nebel zogen bereits heran, ein sogenannter Stoppelwind, der sich sonst erst im letzten Drittel des Augusts einstellte, blies unangenehm über die Felder. Warner, den Witterungseinflüsse normalerweise nicht berührten, fand die Stimmung merkwürdig, als wenn etwas abrupt enden sollte.

Für sich selbst hätte er allen Grund zum Trübsinn gehabt. Er hatte sämtlichen kirchlichen Verlagen sein „Grünes Requiem“ angeboten.

Aufgearbeitet, also schon mit den 15 Pastellen des Malers, die als Dias hergestellt und im Text platziert waren. Zuerst erhielt er das übliche „Jein“. Als er nachfasste, kam die klare Absage. Gegenüber dem Verlag St. Benno hatte er unvorsichtigerweise seine bisher vergeblichen Versuchen erwähnt. Der Verlagsleiter antwortete bissig: „Woher wollen Sie wissen, dass wir uns trauen, wenn sich die Evangelische Verlagsanstalt nicht traut. Ich will Ihnen ehrlich antworten: Diesen Text bekommen Sie nie gedruckt.“ Warner wollte nun die Probe aufs Exempel, studierte Veröffentlichungen von DDR-Verlagen hinsichtlich der Art der Publikationen. Gustav 298

Kiepenheuer schien ihm geeignet. Ohne Antwort erhielt er sein Manuskript zurück. Die Dias fehlten. Georg Warner neigte dazu, dieses Jahr, das ja erst eine gute Hälfte hinter sich hatte, als „böses Jahr“ zu sehen.

Auf der Straße traf er zufällig Hilde. Und der berichtete Neuigkeiten.

Nostradamus hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Warners Haltung zu diesem Begehren war bekannt, aber auch, dass er für sich diese Möglichkeit niemals in Anspruch nehmen würde. Hauptmann Kumpfe hätte ihn gern dahin getrieben, um sich am Ende nicht an Pfarrer Warner die Hände schmutzig machen zu müssen.

Hilde war sehr betroffen, Georg Warner war es auch. Dass einer der Freunde gehen wollte, war etwas anderes als diese Bewegung gegen die DDR. Er zeigte damit an, dass ihn die Gemeinschaft nicht tragen könne und er sie hinter sich lassen wolle.

Es war aber nicht so, dass Warner auch nur einen zum Bleiben überredet hätte. Er stärkte jeden, der sich an ihn wandte. Und das geschah auch mit dem Taufbegehren für sich und die Kinder. Ein tiefgründiger Unterricht ging dem voraus, denn die Ausreisenden hatten eine ungeheure Leere in sich, besonders wenn sie aus atheistischen Familien kamen. Diese Leere galt es mit Glaubenszuversicht zu füllen. Ein Hindernis hatte der Pfarrer dabei zu überwinden, das an Scheinheiligkeit grenzte. Viele meinten, in der „neuen Welt“ einen besseren Stand zu haben, wenn sie kirchlich waren. Warner tat ein Übriges. Er schrieb sich als Paten ein. Da bei einer Taufe zwei notwendig waren, übernahm auch Hilde diesen Dienst. Am Ende hatten sie so viele Patenkinder wie sonst niemand auf der Welt.

Es dauerte nicht lange, bis Nostradamus mit dem Taufbegehren in Deutsch-Ossig erschien. Georg hielt ihm entgegen, dass er die Taufe wohl für einen guten Start im Westen wolle. Nostradamus war zutiefst beleidigt, dass Georg Warner ihm das zutraute. Er verwies auf Hilde und Radl. Die hätten sich auch erst taufen lassen, als der Bekenntnisstand erreicht war. Bei ihm sei das jetzt der Fall. Er bat darum, dass im Taufunterricht alles noch einmal besprochen und vertieft würde, was in den Jahren der Offenen Arbeit Gegenstand der Auseinandersetzung war. So wolle er sich verabschieden und vor allem nach vorn blicken.

Als Nostradamus das Haus verließ, war Georg Warner klar, dass ihr freundschaftliches Verhältnis an Tiefe und wohl auch Tragik gewonnen hatte.

Mitte August entschloss sich Warner, seine sechs Schafe zur Nacht in den Stall zu holen. Am liebsten hätte er in den Stoppelwind gespuckt. Es wurde schon um sechs Uhr abends dämmrig, was ungewöhnlich war.

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Um das Haus strich eine Gestalt, die sich alles ansah, auch das Gesindehaus und die Scheune. Sie war nachlässig gekleidet, sodass man hätte meinen können, hier sei ein Dieb unterwegs.

Warner führte seine Schafe an den Ketten neben sich her, brachte sie in den Stall und ließ sie frei laufen. Dann trat er wieder auf den Hof. Wenn der Mann in unlauteren Absichten unterwegs war, würde er nun verschwunden sein. Aber er stand immer noch da. Als Warner ihn ansprach, stellte er sich nicht vor, sondern schien beim Betrachten der Gebäude an eine Aufgabe erinnert.

Abrupt fragte er: „Ist das hier das Pfarrgelände?“ Als er Warners verwunderten Blick bemerkte, erklärte er sich halbwegs: „Ich war noch nie in Deutsch-Ossig, jedenfalls nicht in einem Auftrag. Ich bin Mitarbeiter in der Bauabteilung des Rates des Kreises.“ Warner fragte sich, was er daraus schlussfolgern sollte.

Der Mann, dessen Namen er nicht erfuhr und den er auch nicht wiedersehen sollte, redete plötzlich vom Frieden. In Deutsch-Ossig solle weiterhin tiefster Frieden herrschen, war in einer Dienstbesprechung gesagt worden, die er vom hintersten Platz aus verfolgte. Vom Ratsmitglied für Bauangelegenheiten sei in Erwägung gezogen worden, trotzdem Informationen über die Bausubstanz einzuholen. Und er sei beauftragt worden, sie sich anzusehen.

Es war noch nicht klar, wozu. In gewissem Sinne streckte sich der unauffällige kleine Mann, dem Etliches vom Gram des Lebens anzusehen war: „Ich hatte noch nie einen Auftrag, einen geheimen erst recht nicht. Sie missdeuten aber meine Erscheinung. Ich bin ein aufrechter Mensch. Meine Aufgabe besteht darin, erste Angaben für den Fall von Deutsch-Ossig zu liefern.“ Warner verstand nicht: „Welcher Fall soll Deutsch-Ossig sein.“ Der Mann erwiderte klar und deutlich, ohne sich zu einem Wortspiel hinreißen zu lassen: „Der Fall ist kein Fall, sondern der Fall. Nach mir kommen die zuständigen Behörden mit ihren geschulten Mitarbeitern, dann wird vermessen. Es folgt der Schätzer, danach müssen die Deutsch-Ossiger ihre Häuser und Grundstücke verkaufen. Die Sprengkommandos erscheinen, die Abrissbirne wird geschwungen, der Abraumbagger hat freie Fahrt.“ So brutal, wie dieser kleine aufrechte Mann Warner die Zukunft vor Augen stellte, geschah es kein zweites Mal. Er empfand sich plötzlich durch einen Bewohner, der mit dem Sinn befasst war, aufgehalten. Dass er mit dem Pfarrer sprach, war ihm nicht klar. So fragte er: „Ist das Nachbargrundstück der Mittelhof?“ Warner bestätigte mit einem Kopfnicken. Der Mann ging über den Pfarrhof und verschwand.

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Warner ging hinauf in seine Wohnung. Er war dabei, den Treppenaufgang zu renovieren. Oben hing nur eine Glühbirne in der Fassung, fünf Streifen Tapete fehlten noch. Erst drei Jahre später würde Warner wie zum Trotz die Lücke füllen und eine Lampe anbringen.

Als er an seinem Schreibtisch saß, fragte er sich, wem er erzählen könnte, was er erfahren hatte. Niemandem. Es würde ihm keiner glauben. Und es war auch nicht zu glauben: Als die Wahrheit schon deutlich im Raum stand, wurde sie immer noch vehement verdrängt. Das Schlimmste war, dass der Mahner Georg Warner dabei als „Totengräber der Hoffnung“ bezeichnet wurde.

Als gelte es einen Schlussstrich zu ziehen und Abschied zu nehmen, hatte Warner im September noch zwei große Auftritte. Der Bibelkongress fand in Görlitz statt, federführend organisiert von der Greifswalder Kirche. Das Abendprogramm gestaltete die gastgebende Kirche. So ertönte das „Grüne Requiem“, in der Krypta der Peterskirche wurde der „König von Preußen“ aufgeführt. Georg Warner sagte hinterher zu seiner Spielgruppe, dass diese Inszenierung jetzt eigentlich abgesetzt werden sollte, da qualitativ keine Steigerung mehr möglich sei.

Die Greifswalder suchten anschließend das Gespräch mit Warner. Sie boten ihm eine Stelle an, als Autor von „Texten für gottesdienstliches Handeln“. Das Handeln sollte in den Gemeinden geschehen, aber auch im Urlauberdienst entlang der Ostseeküste. Warner ging darauf nicht ein. Er schilderte die Not seiner Gemeinde und erklärte, dass er auf Gedeih und Verderb bei ihr bleiben müsse.

Hunde Die Taufe von Nostradamus war bewegend. Nicht nur der engere Kreis der Freunde war gekommen, sondern die ganze Gemeinde. Nostradamus hatte sich gemäß seiner metaphysischen Neigungen den Taufspruch aus Offenbarung 1 gewählt: „Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“ Georg Warner legte den Taufspruch in der Predigt aus. Dann durfte Nostradamus den Taufengel mit Sonne, Mond und Sternen selbst her301

unterziehen. Das Taufwasser hatte er mitgebracht. Es stammte aus einem Filterbrunnen des Tagebaues, war sogenanntes gehobenes Wasser, um die Kohle trockenzulegen.

Georg Warner blieb nach dem Gottesdienst noch lange in der Kirche.

Es war, als wollte er sich selbst eine Führung gönnen, um Antworten zu erhalten. Er stieg schließlich auf die Kanzel, die er wegen der Augenhöhe mit der Gemeinde nie in Anspruch nahm. Er blickte über die Brüstung und hatte unmittelbar den Engel vor sich, der ein Spruchband hielt: „Das ist das wahrhaftige Wort Gottes“. Was war „das“? Warner drehte sich in Erwartung der Antwort um. Da hatte er Christus vor sich, der draußen vor der Stadt gekreuzigt worden war. Und die Stadt erwies sich als abbruchreif.

Warner wurde umgehend seine Position deutlich. In Wittenberg hatte Luther nach Cranach durch den Gekreuzigten hindurch auf die Gemeinde gewiesen. Caspar Rodewitz, der Meister der Deutsch-Ossiger Kirche, hatte sich zu einer gänzlich anderen Aussage entschlossen und den Pfarrer auf der Kanzel in die letzte Verantwortung genommen.

Christus sprach durch ihn hindurch und was er sagte, war dann das wahrhaftige Wort Gottes. Georg Warner schauderte vor dieser Konsequenz. Von nun an gab er die „Augenhöhe“ auf und stellte sich der Forderung dieser Kanzel.

Im Pfarrhaus angekommen, war er überrascht. Mephistopheles saß in seinem Arbeitszimmer. Sollte der Teufel so wenig Gefallen an der Taufe von Nostradamus gefunden haben, dass es eines eigenen Beitrags bedurfte? Mephistopheles wollte das weder bestätigen noch dementieren.

Was geschehen könne, liege noch voraus.

Das „Volksbuch vom Doktor Faustus“ befand sich aufgeschlagen vor ihm. Er wollte offensichtlich etwas vorlesen und tat das auch: „Unten im Hause, vor einem Stall an der Einfahrt, lag des Doktor Faustus großer Zauberhund, der ihm, wenn er aus dem Hause ging, nicht von der Seite wich. Sein Name war Prästigiar oder Hexenmeister; der hatte Augen ganz feuerrot und gräulich und schwarzes, zottiges Haar; wenn ihm aber Faust über den Rücken fuhr, verwandelte sich seine Farbe und wurde bald grau, bald weiß, bald gelblich oder braun, und das Tier machte gar seltsame Sprünge und Gaukeleien, wenn es mit seinem wunderlichen Herrn, der auch seinen eigenen Schritt hatte, dahinpudelte.“ Als er geendet hatte, sagte er: „Georg, teile allen deinen Lieben diese Beschreibung mit. Es könnte sein, dass jemandem Faustens Hund begegnet. Um dich nicht im Unklaren zu lassen. Der ist ein Höllenhund.

Das heißt, wen der Teufel holen will, den holt er.“ Er ließ das Buch auf302

geklappt liegen und verschwand.

Einen Tag später erschien Nostradamus. Er hatte, sozusagen als Taufgeschenk, die Ablehnung seines Ausreiseantrags erhalten. Wenn so etwas geschah, musste sofort ein neuer gestellt werden und so weiter und so fort. Nostradamus teilte Georg entschlossen mit, dass er dies nicht tun werde. Warner meinte als einen Grund erkannt zu haben, dass Nostradamus nicht von seinem Arbeitsplatz verwiesen worden war. Geschah das, signalisierte es deutlich die Ausweglosigkeit des Vorhabens.

Nostradamus machte weiter kein Aufhebens von der Ablehnung. Georg las ihm trotzdem die Stelle von Faustens Hund vor.

Bald schon ging die Rede um, dass sich mit der Dämmerung ein großer schwarzer Hund in der Rutschung P zeigte, dessen Augen glühten.

Beinah alle Bergleute trugen das Virus der mystischen Einbildung in sich. Sie fürchteten sich vor Unerklärlichem. Die Erscheinung des Hundes wurde von weniger Infizierten bei Tage gedeutet: Das nachts sichtbare Glühen rühre von dem hohen Schlackenhaufen in der Rutschung P her, in der immer noch Feuer brannten. Mutigere, an Zahl gering, machten sich in der Dämmerung zur Rutschung P auf, bewaffnet mit Hieb- und Stichwaffen. Sie fanden den vermeintlichen Hund aber nicht.

Georg Warner befragte Hilde. Da der keine Furcht kannte, beschäftigte ihn die Erscheinung nicht sonderlich. Er fügte aber etwas Neues hinzu: „Es muss sich tastsächlich um eine reale Erscheinung handeln, denn die glühenden Augen des Hundes stehen nicht still. Es ist, als ob er die Grube nach bestimmten Leuten absucht.“ Warner hätte das alles auch wieder vergessen können. Aber ihn beunruhigte, dass ihn Mephistopheles auf den Hund hingewiesen hatte.

Vielleicht bereitete sich in der Grube wieder etwas Verhängnisvolles vor, und der schwarze Hund sollte das Zeichen sein.

Das Geschehen sollte sich aber an einen anderen Ort verlagern. Karl war an der Berliner Mauer stationiert. Er war inzwischen mit „Lametta“ behängt und in der Hierarchie aufgestiegen. Er tat sich nicht hervor, war aber der beste Schütze des Wachregiments. Eine „Jagdtrophäe“, wie zynisch ein Abschuss an der Mauer genannt wurde, hatte er nicht vorzuweisen. Er war obendrein ständig damit befasst, wie er sich im Falle einer Republikflucht verhalten würde.

Seine Frau hatte ihm unlängst von einem schwarzen Hund berichtet, der in der Rutschung P sein Unwesen triebe und Augen wie glühende Kohle habe. Nun, Karl wusste, mit Hunden musste man sich an der Grenze gut stellen. Postenhunden begegnete man, die auf unbedingte Gefolgschaft ihrem Führer gegenüber ausgebildet waren. Aber eben 303

auch darin, ihm zu helfen, wenn ihm etwas zustieß. Dann hätten sie nicht einmal dessen Verwandte gekannt. Außerdem waren von jedem Wachsoldaten Geruchs- und Speichelproben genommen worden. Damit konnte der Hund ihn erkennen, auch wenn er auf „dumme Gedanken“ kam.

Die besondere Spezies aber befand sich in Käfigen, gerade so groß, dass sie Platz darin hatten. Die Käfige standen außerhalb, denn die eingesperrten Hunde heulten unablässig. Das taten sie aber nicht, wenn sie zur Nacht freigelassen wurden. Gleich hinter der ersten Mauer konnten sie in einem schmalen Areal umherlaufen. Darauf waren sie trainiert, denn einige Meter weiter würden sie auf Minen treten oder in den Bereich der Selbstschussanlagen gelangen. Wenn jemand in die Sicherheitszone eindrang, mussten sie das jedoch vergessen. Sie waren Bluthunde.

Bei einer Republikflucht musste der Wachsoldat im Notfall in diese Todeszone. Er wusste also, wo die Minen lagen und in welchem Bereich sich die Selbstschussanlagen auslösten. Die Hunde aber hätten keinen Pardon gekannt. Deshalb wurden die Wachsoldaten immer wieder an den Käfigen vorbeigeführt, um sich die Hunde zu merken, die in ihrem Abschnitt unterwegs waren.

Der 7. Oktober stand bevor, der Tag der Republik, in Berlin immer wieder zu Provokationen benutzt. Die größte war 1970 geschehen, als das Gerücht ausgestreut wurde, die Rolling Stones würden gegenüber der Grenze auf dem Axel-Springer-Hochhaus ein Konzert geben. Dadurch war es möglich gewesen, alle angereisten Rolling-Stones-Fans dingfest zu machen. Wer Widerstand gegen die Staatsgewalt leistete, wurde inhaftiert.

Nur „Landeier“ konnten auf die Idee kommen, die verordnete Euphorie am Tag der Republik würde auf die Grenztruppen übergehen und der Grenzschutz wäre gelockert. Doch im Gegenteil: Die Grenzer befanden sich in erhöhter Alarmbereitschaft.

Karl besichtigte die Zwinger. Wäre er romantisch veranlagt gewesen, hätte er die Hunde für „Steppenwölfe“ von Hermann Hesse gehalten.

Sie waren ohne Zweifel durch die Gefangenschaft degeneriert. Dazu gehörte allerdings, dass sie auf brutalste Art domestiziert waren. Er stellte fest, welche Hunde er kannte und welcher neu hinzugekommen war.

Karl sah sich plötzlich einem riesigen schwarzen Hund gegenüber.

Der schien von ihm keine Notiz zu nehmen. Karl wartete. Dann hob der Hund den Kopf und schaute ihn aus feurigen Augen an, die wie Kohlen glühten. Karl ging weiter, als habe er nichts Besonderes gesehen. Als 304

nervlich ständig überreizter Grenzer kam ihm der Gedanke, in dieser Nacht würde sich einer durchgraben wollen. Und der im Bergwerk von Hagenwerder erstmals aufgetauchte Hund stand damit in Zusammenhang.

Karl war am 7. Oktober zum Wachwechsel um 22 Uhr eingeteilt. Die Übergabe wurde in strengem Ritus vollzogen. Kurz danach heulte die Sirene auf. Die Informationstafeln zeigten durch leuchtende Lämpchen den Ort des versuchten Grenzdurchbruchs an. Der Scheinwerfer lag automatisch auf dem Mauerteil. Karl sah nur kurz, wie sich der Flüchtling in dem plötzlichen Licht aufrichtete. Und erkannte Nostradamus. Dann war sein Freund herabgesprungen. Die soeben abgelöste Wachturmbesatzung entfernte sich schleunigst. Karl verlangte: „Zwei Magazine zusätzlich.“ Die wurden umgehend bereitgestellt. Der designierte Todesschütze Karl hatte sich vorbehalten, den Auftrag zu erfüllen. Somit waren alle auch noch so knochenharten Klassenkämpfer in seiner Umgebung von der Pflicht zu schießen entbunden.

Karl wartete, bis sich Nostradamus vorwagte. Sogleich knallte er eine Salve vor seine Füße, sodass er sich wieder in den Schatten der Mauer zurückzog. „So“, dachte Karl, „mein lieber Nostradamus, jetzt musst du begreifen, dass ich dir den Weg weise.“ Er nahm sich die Minen vor, die freilich nicht mit Fähnchen gekennzeichnet waren. Die Maschinenpistole musste sie ertasten. So schoss Karl in engen Kreisbewegungen. Er hatte sich die Lage der Minen gut gemerkt. Eine nach der anderen in dem Korridor, den Nostradamus nutzen sollte, ging hoch. Er musste sein Tun stets kurz unterbrechen, um die Selbstschussanlage auszulöschen. Nostradamus rannte. Erst jetzt bemerkte Karl die kleine Leiter unterm Arm des Freundes. Nostradamus würde es über die eigentliche Mauer schaffen. Das zweite Magazin war eingeschoben. Präzise, wie er einst auf dem Jahrmarkt die Porzellanröhrchen weggeputzt hatte, erledigte er jetzt die Porzellanköpfe der elektrischen Leitung. Nostradamus stand im Begriff, die Leiter anzulegen. Bis dahin hatte von seinem Wachkommando niemand Verdacht geschöpft. Es musste sich um ein Spiel handeln. Wenn der Flüchtling die Leiter emporstieg, würde er ein ideales Bild für den „Fangschuss“ abgeben.

Plötzlich kam der schwarze Hund herangejagt. Er warf Nostradamus über den Haufen, griff aber nicht nach seiner Kehle, sondern verbiss sich in seiner Hüfte, rückte sich sein Opfer zurecht. Karl schob das dritte Magazin ein. Der Hund setzte zum Sprung an. Die glühenden Augen waren ein gutes Ziel.

Jetzt wartete Karl auf das erlösende Wort des Offiziers. Viele Getrof305

fene waren nicht tödlich verletzt, doch man ließ sie sterben. Man holte sie erst, wenn sie verblutet waren. Der Befehl hätte also lauten können: „Verbluten lassen.“ Der Offizier zögerte. Dann blickte er auf Karl und sagte: „Den Mann holen.“ Karl ging durch die freigeschossene Schneise zu Nostradamus. Der schwarze Hund war verschwunden. Nostradamus erblickte Karl und sagte schuldbewusst: „Der Teufel wird dich holen.“ Der versuchte es nicht nur. Karl wurde vor ein Militärgericht gestellt.

Die Anschuldigung war schwerwiegend: aktive Beihilfe zur Republikflucht unter Einsatz der Schusswaffe. Als Erstes wurde vorgebracht, dass sich der Flüchtling und Karl kannten. Dass sie befreundet waren, kam nicht zur Sprache, was Karl schon einmal als günstiges Zeichen für die Verhandlung wertete. Auch die erst kurz zurückliegende Taufe jenes Nostradamus, wie er genannt wurde, fiel nicht ins Gewicht. Der Verteidiger führte an, dass Karl einen festen Klassenstandpunkt habe, Karl Marx mehr als ein Namensvetter sei. Deshalb habe er sich auch nicht taufen lassen.

Karl hörte sich die Argumente interessiert an. Wären sie in einer Diskussion gewesen, hätte er kräftig für Aufklärung gesorgt. Als Hauptzeuge wurde nun der Offizier aufgerufen. Er wurde gefragt, warum die anderen nicht geschossen hätten, da offensichtlich gewesen sei, dass der Schütze nicht traf. Der Offizier führte zum Vergleich ein Fußballspiel an, wo einer für das Schießen des Elfmeters bestimmt wurde oder sich selbst meldete. Karl habe sich spontan entschlossen und zwei weitere Magazine angefordert. Das habe seine Absicht unterstrichen, mit dem Flüchtling Katz und Maus spielen zu wollen.

Der Verteidiger schaltete sich ein, der Offizier würde nur mutmaßen.

Der anerkannte Scharfschütze habe sich den finalen Schuss eben bis zuletzt aufgehoben. Der Staatsanwalt ging auf die Aussagen nicht ein.

Er rekonstruierte anhand einer Tafel das Schussbild und wollte damit beweisen, dass der vielgerühmte Schütze dem Flüchtling den Weg freigeschossen habe. Dass er ihn entkommen lassen wollte, gehe eindeutig daraus hervor, dass er den elektrischen Zaun auf der Mauer zerstört habe. Die Anschuldigungen folgten einer klaren Logik.

Dann geschah etwas Überraschendes. Karl wurde in eine Halle geführt, das Gericht schloss sich an. Dort waren „Pappkameraden“ in Reih und Glied aufgestellt. Als Extra war jedem ein rotes Herz angeheftet worden. Karl erhielt eine Maschinenpistole und wurde aufgefordert, auf die Zielscheiben zu schießen. Er legte an, dann senkte er die Maschinenpistole noch einmal, als wolle er sich versichern. Das tat er auch und fand, dass der Bekenntnisstand erreicht sei. So feuerte er in einem Strich 306

über die „Kameraden“.

Der Prozess wurde gleich in der Halle beendet und Karl zu zwei Jahren Haft im Militärgefängnis Schwedt verurteilt. Er rechnete: Die zwei Jahre würde er nachdienen müssen, zuzüglich der noch ausstehenden Dienstzeit, freilich unehrenhalber nicht mehr beim Wachregiment. So kam Karl auf fünf Jahre. Im Mai 1989 würde er das Revier wiedersehen.

Erschütterungen Georg Warner war wieder einmal mit einem wesentlichen Auftritt befasst, als Totensonntags-Prediger. Es sollte der letzte Gottesdienst auf dem Friedhof von Deutsch-Ossig sein. Noch einmal sollte es Blumen zum Dank für die Arbeit des vergangenen Kirchenjahres geben, weiße Chrysanthemen. Nur der anheimelnde Schneefall würde ausbleiben.

Die Sonne lachte. Die Erde duftete, als sollte es nicht Winter, sondern Frühling werden. Die Feierhalle reichte für die Gemeinde nicht aus, die Abschied nahm. Warner würde über die Lebenden und Toten hinweg predigen. Der Abraumbagger stand vor der Straße und dominierte das Bild. Jeder Stoß einer Baggerschaufel war zu hören, als zöge ein Heer mit dumpfem Trommelschlag heran. Warner legte Psalm 60, 3–6 aus: „Worte des 60. Psalms schrieb Dietrich Bonhoeffer am 5. September 1943 an seine Eltern. In der Nacht zuvor hatte er vom Zellenfenster des Tegeler Militärgefängnisses aus den Himmel gesehen, in einer Bombennacht. Viele Tode musste er in dieser Zeit sterben, bevor der eigentliche ihn am 9. April 1945 erreichte. Über den Tod hinaus hat ihm das Gebet geholfen. So schrieb er: ‚Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Schicksal ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.‘ Das Jahr 1945 begrüßte er mit den Worten: ‚Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.‘ Und noch ein wegweisender Gedanke von ihm: ‚Mag sein, dass der jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.‘ Weshalb diese Gedanken am Totensonntag? Wozu dieser Rückgriff auf Vergangenes, da wir mit Gegenwärtigem zu kämpfen haben? Wes307

halb das Lebensbild Bonhoeffers? Es gibt nur einen Grund dafür, die Bibel. Jenes Gebet aus dem 60. Psalm: ‚… der du die Erde erschüttert und zerrissen hast, heile ihre Risse; denn sie wankt.‘ Dietrich Bonhoeffer ist in seinem langen Sterben den Fragen nach den letzten Dingen auf den Grund gegangen. Wir haben uns hier versammelt, um uns ebenfalls diesen Fragen zu stellen. Wir folgen Bonhoeffers Gedanken, weil er mit diesem Bibelwort Licht in unsere quälenden Gedanken bringt. Was hat Gott mit dem Verderben zu tun, das der Mensch dem Menschen bringt? Als Christen sind wir an einem gefährlichen Punkt unseres Glaubens angekommen. Wir sehen die große Macht des Verderbens, und es fällt uns schwer, an unser Tun und Gebet zu glauben. Ist Gott für dies alles zuständig, und wenn ja, warum greift er nicht ein?

Ich halte das Gebet der Bibel in Bonhoeffers Wiederholung für beispiellos. Zu sagen: ‚Du, Gott, hast die Erde erschüttert und zerrissen …‘ Das ist Predigt des Gerichts. Wo Menschen diese Erde und den Menschen auf ihr vernichten, ereignet sich nicht Gottlosigkeit, sondern Gottes Gericht. Nicht fern wirkend oder verdeckt, sondern direkt: ‚Du hast.‘ Nun liegt aber in Gottes Gericht gleichzeitig der Trost im Leben wie im Sterben. Mit ihm in den dunklen Stunden unserer Geschichte und der Weltgeschichte zu rechnen, heißt zugleich, ihn als Herrn unseres Lebens anzuerkennen, ihn also bitten zu können: ‚Heile ihre Risse.‘ Diese Heilung ist keine, durch die wir das Leid vergessen. Sie lässt Narben zurück. Die Narben, die die Erde trägt, sind wie die unseres Körpers und unserer Seele. Sie erinnern uns an Verletzungen. Und manche schmerzen noch lange, auch in der Geschichte unseres Volkes.

Und manche Wunden brechen immer wieder neu auf. Viele Tode sind wir schon gestorben, und siehe, wir leben.

Wie lange noch? Wie lange leben wir persönlich, wie lange die Menschheit, wie lange die Erde, um die ich Befürchtungen hege? Eine Wendung schließt sich der Psalmbitte an: ‚… der du die Erde erschüttert und zerrissen hast, heile ihre Risse, denn sie wankt.‘ In diesem ‚denn sie wankt‘ ist eine Warnung ausgesprochen, an Gott und seinen Zorn. Er solle nicht meinen, die Erde und wir könnten unendlich viel ertragen.

Der Tod ist der Widersacher Gottes. Und die letzte Dunkelheit, in die Gott Schuldige wie Unschuldige stoßen kann, ist sein Schweigen. Ja, ich möchte den Tod als Schweigen Gottes bezeichnen. Ohne Gott regiert der Tod. Wenn wir so hart am Tode sind, dann ist unsere Welt eine ohne Gott. ‚Betet, damit ihr nicht in Anfechtung fallet‘, sagte Jesus zu seinen Jüngern angesichts seines Todes und des Todes der Welt. Wir sind An308

gefochtene. Eine Gemeinde, von der Last der Gegenwart erdrückt. Das Gebet ist die Überwindung des Todes, denn es bricht das Schweigen Gottes.

Unversehens sind wir im Neuen Testament, bei und mit Jesus Christus angekommen, dessen Gemeinde wir sind. Der Beter unseres Psalms erinnert Gott an die Leiden seines Volkes: ‚Du ließest deinem Volk Hartes widerfahren, du gabst uns einen Wein zu trinken, dass wir taumelten.‘ Eigentümlich ist diese Wendung, und ich möchte sie so wiedergeben: dass wir den Weg nicht mehr fanden.

Wieder begegnet die vermeintliche Führung Gottes in die Irre, dieses Göttliche: Es ist genug, Mensch! Ich habe dir gesagt, was gut und was böse ist. Da du den Freudenbecher in meinem Reich nicht trinken wolltest, reiche ich dir nun den bitteren Kelch. Aber – so groß ist Gottes Güte, das er ihn durch seinen Sohn Jesus Christus leeren ließ. Der um diesen Kelch wusste und betete, dass er an ihm vorübergehen solle.

Doch Gott schwieg.

Liebe Gemeinde, denken wir daran, dass wir seither aus der Gnade Gottes leben. Sie ist dann nicht billig erworben, wenn wir sie in Wort und Tat sichtbar werden lassen. Auch Jesus weist über sich hinaus, wenn er nach dem Abendmahl sagt, dass er von nun an nicht mehr das Gewächs des Weinstocks trinken wolle, bis er es im Reiche Gottes genießen werde. Das äußere Zeichen wandelt sich in das vom Reich Gottes: ‚Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Weingärtner. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.‘ Gott bringt die Ernte ein, das Leben seines Sohnes und unser Leben.

So ist das Abendmahl nicht Erinnerung, sondern Zeichen des ewigen Lebens durch Jesus Christus. ‚Gott, der du die Erde erschüttert und zerrissen hast, heile ihre Risse.‘ Jesus Christus ist in den Riss zwischen Gott und Menschen getreten. So heißt es: Christi Leib und Blut, für dich gegeben.

Deshalb kann Dietrich Bonhoeffer in seinem Neujahrsgedicht schreiben: ‚Und reichst du uns den schweren Kelch, den bitteren des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.‘ So müsste die Angst vor dem Morgen überwunden sein.

Bonhoeffer wandelte sie in Mut um. Er, der Gefährdete, wurde durch die Bekennende Kirche 1939 nach Amerika entsandt. Und fast alle waren entsetzt, als er zurückkehrte. Deutschland erwies sich dabei für ihn als Land Luthers, als Land zwischen Gericht und Gnade, in dem der Christ, der Prediger, den unwägbar-unwegsamen Weg seines Lebens 309

gehen muss; jeder Christ.

Heute vor fast 20 Jahren habe ich meine Aufnahmeprüfung am Kirchlichen Proseminar Dahme bestanden. Es war ein sehr zeitiger Anfang im Dienst der Kirche, ein hoffnungsvoller auch. Geführt hat er mich bis nach Deutsch-Ossig, in unsere Gemeinde. Manches an der Kirche und ihrem Weg verstehe ich heute nicht mehr, in dieser Kirchengemeinde alles. Und ich möchte mit euch an diesem Totensonntag betend vor Gott treten: ‚… der du die Erde erschüttert und zerrissen hast, heile ihre Risse; denn sie wankt.‘ Amen.“ Mephistopheles erschien nicht. Dafür lag am Montag ein Brief im Kasten, von Streit, „Werk und Feier“ in Eberswalde. Warner hatte ihm im September nach dem Bibelkongress geschrieben und das „Grüne Requiem“ zur Veröffentlichung angeboten. Warum er nicht eher auf Streit gekommen war – die Spielgruppe war für „Werk und Feier“ aufgetreten, Streit hatte 15 Kurzstücke veröffentlicht –, blieb Warner ein Rätsel.

Streit entschuldigte sich, dass er erst jetzt antworte, aber die textliche Vorbereitung auf die Friedensdekade habe viel Zeit verschlungen.

Er teilte Warner mit, dass es bis zur abschließenden Besprechung noch einiges zu regeln gebe, was aber nichts an dem Willen zur Veröffentlichung ändere. Als Datum nannte er den 17. Dezember 1984.

Der Maler reiste aus der Gegend von Ludwigslust an. In Eberswalde trafen sie aufeinander und der Maler freute sich herzlich über den „lieben Georg“ wie umgekehrt er sich über den Maler. Bei „Werk und Feier“ äußerste sich Streit in seiner präzisen Art. „Wir werden den Text in einem Heft herausgeben, dazu einen Begleittext zu den 15 Dias und diese selbst. Wir werden die Auflage so gestalten, dass das Material in sämtliche Kirchenkreise der DDR geht. Danach kann weiter bestellt werden.“ Sie gingen die Texte und Bilder noch einmal durch, Verträge wurden abgeschlossen.

Streit stellte einen Kollegen vor, seinen Nachfolger. Er selbst würde Beauftragter für das kirchliche Fernsehen werden. Warner befürchtete, das eben Verhandelte könne dann gegenstandslos sein. Er schilderte seine erfolglosen Bemühungen um Veröffentlichung des „Grünen Requiems“. Streit antwortete auf die trockenste Art: „Wir lassen uns nicht anpinkeln, von niemandem.“ Auf dem Bahnhof Eberswalde trennten sich die alten Weggefährten.

Warner sollte den Maler erst in einer fast anderen Welt wiedertreffen.

Er musste auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg umsteigen und ahnte nicht im Geringsten, dass dieser Bahnhof bald der Umschlagplatz seiner Hoffnungen in Richtung Norden werden würde.

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Neuntes Kapitel

Totentanz Georg Warner hatte seit Olbersdorf eine Vorstellung davon, wie sein Friedhof letztendlich aussehen würde, bevor der Bagger auch den letzten Rest tilgte. Ja, es war schon jetzt „sein“ Friedhof, denn kein anderer als er musste ihn Grab für Grab erschließen.

Bereits die Vorgabe setzte ihn unter Druck. Was er nicht namentlich festhielt, blieb namenlos. Da der Friedhof noch nicht alt war – 1836 war eine noch greifbare Zahl –, waren auch die Listen vorhanden. Bei deren Studium stellte Warner fest, dass jedes Grab etwa sechsfach belegt war.

Nach 25 Jahren hatte ein Verstorbener ausgelegen und die Stelle konnte neu genutzt werden.

Warner begann seine Arbeit genau an dem Tag, da er ein Jahr zuvor Rosalie einen Strauß gelber Geburtstagsblumen überreicht hatte. Der schneereiche Winter hatte den Friedhof bis Ende Januar unbegehbar gemacht, nicht ein Grab war zu erkennen, selbst die Grabsteine waren zugeweht. Ein langer öder Februar lag vor ihm, gänzlich einsam, denn welche Frau würde sich zu diesem makabren Vorhaben an seine Seite begeben? Nicht einmal eine Belohnung wie die Bücherei von Budapest wäre verlockend genug gewesen.

Warner fertigte eine eigene Liste mit großen Feldern an, in die er sechs Namen eintragen konnte, meist jedoch zwölf, da in der Regel Ehepaare in Doppelgrabstellen lagen. Zum Beweisführung fotografierte er die Grabsteine und nummerierte sie für seine Liste. Diese Tätigkeit verschaffte ihm einen Überblick. An der westlichen Mauer befanden sich von Hecken umschlossene Familiengrabstellen, weiter oben die Grüfte 311

der Gutsherrschaften.

Warner wollte sich überzeugen, ob daraus noch etwas zu bergen sei.

Mit einem Knüppel schob er eine Platte beiseite und leuchtete in die Gruft. Dann prallte er zurück. Riesige weiße Pilze schienen die Skelette zu beleben. Warner schob schnell die Platte zurück. Aber das sollte ihm nicht helfen. Das Gesehene sackte in seine Träume.

Auch die tägliche Arbeit von Grab zu Grab weckte zur Nacht seine Fantasie. Warner schlief schlecht, bis er nur noch dahindämmerte. Und ständig mischten sich Begebenheit aus dem „Volksbuch vom Doktor Faustus“ in die Träume. So stellte sich einmal eine Episode text- und bildgerecht vor sein schlafendes Auge: „Als nun Doktor Faust mit obgedachten Kaufleuten gen Frankfurt gekommen, wurde ihm – wie bei solcher Messzeit allerhand Gaukler und Abenteurer gemeiniglich erscheinen und zusammenkommen – von seinem Geist Mephistopheles berichtet, dass in einem Wirtshaus bei der Judengasse vier verwegene Gaukler und Schwarzkünstler seien, darunter der eine der Meister, die andern seine Knechte. Diese hieben einander die Köpfe ab, ließen den abgeschlagenen Kopf durch einen dazu bestellten Barbier waschen und säubern und setzten den dem Leibe wieder auf, zu jedermanns Verwundern, welches denn auch diesen Schwarzkünstlern ein großes Geld eintrug, weil viel Herren und reiche Kaufleute der Stadt sich dahin verfügten und zuschauten. Solches verdross den Doktor Faust nicht wenig, denn er meinte, er wäre allein des Teufels Hahn im Korb; deswegen nahm er sich gleich vor, seine Kunst auch hier sehen zu lassen, und ging dahin, nebst andern dem Handel zuzuschauen. Er sah aber daselbst bald eine rote Decke auf der Erde ausgebreitet liegen, auf der Seite des Zimmers stand ein Tisch und auf demselben ein verglaster Hafen, darin, wie sie vorgaben, ein destilliertes Wasser wäre, in welchem vier grüne Lilienstängel standen, die nannten sie die Wurzeln des Lebens.

Nun war es mit dem Handel also beschaffen, dass, wenn einer von den Gauklern niederkniete auf die rote Decke, ging bald der andere herbei und hieb mit einem breiten Schwert diesem den Kopf ab und gab ihn dem Barbier, der ihn waschen und sogar barbieren musste. Wenn dieses verrichtet war, gab alsdann der Barbier dem Meister den Kopf, der solchen den Anwesenden zu beschauen darreichte; inzwischen setzte man den Körper auf einen Stuhl, und wenn es Zeit war, so setzte je einer nach dem andern den Kopf mit vielen seltsamen Worten und Zeremonien wieder auf: sobald aber dieses geschehen, sprang eine Lilie aus den vieren in dem Hafen auf dem Tisch in die Höhe und wurde sobald auch 312

der Leib wiederum ganz; und dieses trieben sie immer so fort, bis es auch an den Meister kam. Diesem nun, ob ihn schon vorher Doktor Faustus sein Leben lang nicht gesehen hatte, wollte er eines versetzen und solchem Gaukelwerk ein Ende machen. Daher, als sie ein andermal das Kopfabhauen anhuben und die Reihe nun an dem Meister war, beobachtete er genau, welcher Lilienstängel in dem Hafen dem Meister zugehörte, und als dieser eben niederknien wollte, geht Faust unsichtbar hin zu dem Tisch, auf welchem der Hafen mit den Lilienstängeln stand, und schnitzte mit einem Messer des Meisters Lilienstängel voneinander, machte sich hierauf wieder unsichtbar von dannen und zur Tür hinaus, welches auch die Anwesenden nicht gewahr wurden. Der Knecht schlägt indessen dem Meister, wie vorhin mehr geschehen, das Haupt ab, lässt es waschen und barbieren und will es nun wieder auf den Körper setzen; aber siehe, da fiel es wieder herab. Alle Anwesenden, besonders aber die Knechte des Schwarzkünstlers, erschraken in ihre Seele hinein, und noch mehr entsetzten sie sich, als sie entdeckten, dass des Menschen Lilie oder Wurzel des Lebens in dem Hafen voneinander geschlitzt war und der Meister tot auf der Erde lag.“ Warner erwachte. Es war noch dunkel. Dennoch entschloss er sich zum Aufstehen. Für ihn waren Träume keine Schäume. Sein Nervenkostüm wurde dünner. Er aß nichts, trank nur eine Tasse schwarzen Kaffee. Als wenn er einer Eingebung folgte, holte er die Sterberegister der letzten 150 Jahre hervor. Daneben legte er seine Friedhofsaufzeichnungen. Bald wurde er fündig. Er fand eine Person, die nicht im Belegungsplan genannt war, sodann noch mehr. Und immer stand dabei, dass sie durch Selbstmord das Gericht auf sich gezogen hätten. Auch ein Gehenkter war aufgeführt. Einmal war bei einer Magd, die schwanger ins Wasser der Neiße gegangen war, hinzugefügt: „außerhalb der Mauer beerdigt“. Das galt dann wohl auch für alle anderen. Es musste sich um die Friedhofsmauer nach Westen hin handeln, denn die verdiente Auferstehungssonne ging im Osten auf.

Sobald es hell genug war, brach Warner zum Friedhof auf. Er schritt die äußere Mauer im Westen ab. Dort befand sich Acker. Es war seltsam, dass der Pflug stets einen Bogen um ein kleines Areal geschlagen hatte. Warner fügte diese Stelle seiner Belegungsliste bei und führte die Namen auf.

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Formalia Als Georg Warner seine selbstgestellte Pflichtaufgabe erledigt hatte, schaffte er die Unterlagen mit Bitte um Rückgabe schräg über die Straße ins Gemeindeamt. Erstmals wurde ihm der an der Fassade angebrachte Spruch bewusst: „Gruß und Dank allen Werktätigen unserer Republik – den Erbauern des Sozialismus“. Gegenüber lag die Bushaltestelle, an der so viele täglich warteten und die Losung mit der Zeit eigentlich hätten „singen“ können müssen. Doch nicht nur Warner hielt sie für propagandistischen Unfug und ließ sie nicht in sein Bewusstsein dringen. Jetzt war ihm, als wenn ihn ein drohender Unterton erreichte.

Das große Gemeindeamt einer kleinen Gemeinde war inzwischen bevölkert. Der Rat des Kreises hatte bereits seine „eisernen Ladys“ entsandt, von der Bauabteilung und vor allem von der Kreisplankommission. Sie würden die sogenannten Bürgergespräche führen. Bei einer Mitarbeiterin der Kreisplankommission, die mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet war, gab Warner Mitte Februar seine Arbeit über den Friedhof ab.

Es dauerte keine Woche, da wurde er ins Gemeindeamt bestellt. In einem schmalen Zimmer wurde er dem Verantwortlichen für die Friedhofsumbettung überlassen. Der tat, als wäre ihm Pfarrer Warner bekannt, von Olbersdorf her. Er hatte dort die Umbettungen geleitet und würde das nun auch in Deutsch-Ossig tun. Warner dachte, dass dies in der Braunkohlenhochzeit eine Lebensaufgabe sein konnte.

Die Erscheinung des Mannes war die eines „eiskalten Engels“. Ihm konnte sicher nicht einer der Toten den Nachtschlaf rauben. Er war groß gewachsen, hielt sich äußerst gerade, sprach mit tonloser Stimme.

Schwarzes Haar umwölkte in üppigen Locken den Kopf, darunter blickten stahlblaue Augen in stechender Schärfe. Warner war sofort an einen Racheengel der italienischen Maler erinnert.

Zu seiner Verblüffung hörte er nun, dass der Mann Italiener sei, mit einer DDR-Bürgerin verheiratet. Was er nun sagte, hätte er keineswegs erwähnen müssen: „Sie ist Anästhesieschwester im Krankenhaus Zittau.“ Sein Name klang wie „Duce“. Und den gebrauchte dann auch die Bevölkerung. Es stand für Warner außer Zweifel, dass Duce nicht nur ein kleiner Geist des Teufels war, sondern höhere Weihen erhalten hatte.

Der Teufel erwartete von ihm die Auslieferung bestimmter Personen, die noch im Gottesacker ruhten.

Duce lobte Warners Arbeit. Sie habe bereits zu Konsequenzen ge314

führt. Die Umbettungsfrist sei auf 50 Jahre erweitert worden. Alles, was in dieser Zeit beerdigt worden war, würde in Übersärgen auf anderen Friedhöfen neu bestattet. Die darüber hinaus gefundenen Überreste würden verbrannt und in Urnen neu beigesetzt, mit Namen der jeweiligen Belegung versehen. Was man sonst noch finde, würde ebenfalls verbrannt und in einer großen Urne geborgen. Alle eingeäscherten Überreste kämen in eine Urnengemeinschaftsanlage auf dem Städtischen Friedhof Görlitz.

Eine freudige Zustimmung erwartete Duce nicht. Er wies Pfarrer Warner auf weitere Formalia hin: „Bevor der Friedhof in staatliches Eigentum übergeht, ist der Besitzstand an Hecken, Anpflanzungen und Grabsteinen sowie Einfassungen festzustellen.“ Er reichte Warner ein Merkblatt herüber. Diese Aufgabe stieß Warner bitter auf, denn nun würde er mit den Betroffenen feilschen müssen, als wäre er derjenige, der von der Einebnung des Friedhofs profitierte.

Schwerwiegender war aber, dass er sich nicht auf 50, sondern nur 25 Jahre maximaler Ruhefrist für die Umbettung eingestellt hatte. Nun musste er noch einmal Zeit auf dem Friedhof verbringen, um Namen und Todesdaten seit den 1930er-Jahren zusammenzutragen. Warner war bald wieder auf dem Friedhof zu finden, in einer nebligen, öden Landschaft mit verharschtem Schnee und dem Bagger im Rücken. Er schrieb mit klammen Fingern.

Begegnungen der dritten Art Jetzt wurden die nächtlichen Heimsuchungen wieder intensiver. So träumte Warner sehr bildhaft: „Nun Faust einen menschlichen Aufwärter bekommen (den Famulus Wagner), konnte er seinen schwarzen Zauberhund Prästigiar, der auch ein Geist war, entbehren und schenkte ihn einem Abte zu Halberstadt, der selber ein Kristallseher war. Dieser Hund war nun in allem dem Abt gehorsam, deswegen er ihn auch sehr lieb hatte; nach Verfluss eines Jahres aber verfiel er in ein großes Winseln und Seufzen, wollte sich nicht sehen lassen und verbarg sich, wo er nur konnte; der Abt fragte ihn deswegen: wie es doch käme und wie er’s meine? Da gab ihm der Geisterhund zur Antwort: ‚Ach, lieber Abt, ich habe vermeinet, ich wol315

le sehr lang’ in deinem Dienst verharren, aber ich sehe es leider und weiß es, dass es nicht sein kann und ich also vor der bestimmten Zeit von dir scheiden werde, das wirst du bald und in Kurzem erfahren, die Ursach’ aber verschweig’ ich für diesmal!‘ Wie dem allen sein mochte, ehe acht Tage um waren, fiel der Abt in eine hitzige Krankheit und starb im Aberwitz.“ Georg Warner fand den Traum keineswegs aberwitzig. Er konnte, da ein Geistlicher die Hauptperson war, als Warnung an ihn erschienen sein. War nicht vom Geschehen an der Berliner Mauer durchgedrungen, dass der schwarze Hund verschwunden war?

Mit solchen und anderen schweren Gedanken machte sich Warner zum Friedhof auf. Es war ihm, als habe er wie in einem Albtraum Blei an den Füßen. Er durchquerte schließlich den Friedhof, um zu den Kindergräbern zu gelangen. Hier waren keine früheren Belegungen eingetragen, doch davon musste er sich noch einmal überzeugen.

Plötzlich krachte es, und Warner warf sich herum. Ein Findling musste gesprengt worden sein, denn eine Staubsäule stieg auf. Dann sah er, dass etwas angelaufen kam. Es wurde größer und größer, bis Warner untrüglich einen schwarzen Hund erkannte. Ihm stockte der Atem. Der Hund kam auf ihn zu, beschrieb aber im Laufen Kurven. So verfehlte er Warner, den er zum Ziel gewählt haben musste. Als er im Abstand von drei Metern an ihm vorbeischoss, sah Warner, dass der Hund blind war.

Jetzt jagte er dem Dorf zu.

Warner verließ den Friedhof fluchtartig. Keinesfalls wollte er sich in der Dunkelheit von Faustens Hund überraschen lassen, denn um den musste es sich handeln. In Deutsch-Ossig angekommen, suchte er mit einer Axt bewaffnet das Haus vom Dachboden bis in den Keller ab.

Auch in den Nebengebäuden und im weitläufigen Garten sah er nach.

Nichts. Vor den Schafstall legte er eine Kette mit Schloss.

In seinem Arbeitszimmer versank er ins Grübeln. Da fiel ihm ein, dass Zauberbücher in der näheren Umgebung magische Kräfte entwickelten. Natürlich! Mephistopheles hatte den „Doktor Faustus“ dagelassen. Er zog das Buch aus dem Regal, wo er es leichtfertig verstaut hatte. Er kleidete sich warm an und ging mit dem Buch unterm Arm und einer Sturmlaterne zur Neiße. Dann übergab er „Doktor Faustus“ den Fluten und es war ihm, als wenn die Wellen aufschäumten.

Am nächsten Tag überfiel ihn die nächste fixe Idee. Was war, wenn die Frau des eiskalten Umbettungsengels Tofana war? Der Zufall sollte ihm am Nachmittag entgegenkommen. Er konnte das Gemeindeamt einsehen. Und so bemerkte er, dass Duce vorfuhr. Eine Frau stieg mit 316

ihm aus.

Warner hatte inzwischen die ihm aufgetragene Registrierung abgeschlossen. Mit den Unterlagen unterm Arm strebte er dem Gemeindeamt zu. Noch im Flur traf er auf Duce und der stellte ihm seine Frau vor. Es war nicht Tofana! Sie war blond, hatte eine helle Haut und mit Duce nur die gleichen eiskalten Augen gemein, immerhin. Fast achtlos nahm der von Warner die Unterlagen entgegen. Dann entschuldigte er sich. Er hätte noch kurz Interna zu regeln. Er verwies Pfarrer Warner an seine Frau und ins Wartezimmer, wo sie sich angeregt unterhalten könnten.

So angeregt sollte es erst einmal nicht werden. Warner fragte: „Sie sind Anästhesieschwester?“ Sie fragte nicht zurück, woher er das wüsste, sondern: „Sieht man das?“ Warner war gleich beim ersten Anlauf „geplatzt“. Nun wollte er sie doch nach Tofana fragen, beschrieb sie anonym und ihre verantwortungsvolle Tätigkeit. Prompt bekam er zur Antwort: „Ach, Sie meinen Tofana, die mit den glücklichen Frauen?“ Warner war so überrascht, dass ihm herausrutschte: „Haben Sie auch schon einmal die Schläuche vertauscht?“ Er ritt sich immer tiefer hinein, was an seinem labilen Nervenzustand lag. Die Frau von Duce gab gelassen zurück: „Bisher noch nicht.“ Dann fügte sie hinzu: „Sie würde man sowieso nicht ins Zittauer, sondern ins Görlitzer Krankenhaus einliefern. Es sei denn, die Zittauer Schnelle Hilfe liest Sie irgendwo auf.“ Warner dachte umgehend an den Friedhof. Dann konterte er: „Ich bin nicht verheiratet.“ Die Frau brach in schallendes Gelächter aus, dem sich Warner etwas leiser anschloss.

Duce eilte herbei und wollte mitlachen. Seine Frau sagte, dass ihr Pfarrer Warner soeben von der Schippe gesprungen sei. Das veranlasste Duce ebenfalls zu einer Lachsalve. Georg Warner war nicht mehr zum Lachen zumute. Wieder zu Hause angekommen, entkorkte er eine „Folkloregruppe“ aus Rumänien. Beim Trinken beäugte er die Tanzenden, ob sich beim Reigen noch jemand zeigen würde. Der verlief wie immer.

In der Nacht träumte er von Dracula, der ja Rumäne gewesen war und anderes begehrte als Wein. So wurde Warner im Traum auch gehetzt.

Dracula bevorzugte aber weibliches Blut. So mussten, und Warner lachte jetzt höhnisch im Traum, die dran glauben, die nicht mit ihm leben konnten.

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Der Zusammenbruch Der 28. Februar kam, dieser irrsinnige Monat war vorbei. Georg Warner ging noch einmal auf den Friedhof und blickte weit über ihn hin. Da griff eine eiskalte Hand nach seinem Herzen. Er riss sein Schreibpapier hervor und schrieb in großer Eile: heut lehnt mein schmerz sich auf ich will klagen und rechten aus dem kummer meines herzens und zu gott sagen verdamme mich nicht warum ist die zeit aus den fugen und kein tag zieht herauf nur die nacht in der wird nachlese gehalten in der wüste gehen sie ans werk suchen nahrung in der ödnis nachtfrost schwärzt den keimling an felsen gedrückt suchen sie zuflucht waisenkinder tragen hungrig garben und aus dem weinstock rinnt durst draußen vor der stadt seufzt der tod und die seele des säuglings erstickt in schreien stunde des diebes im finstern bricht er ein er ist ein sohn der schrecken der nacht wenn gott zertrümmert hilft kein bauen schnappt seine falle zu geht der schlüssel verloren nur die hütten der verwüster die stehen ganz fest doch der herr antwortet hiob gürte deine lenden wie ein mann ich will dich fragen lehre mich 318

wo warst du als ich die erde schuf als mich die morgensterne lobten als ich die morgenröte weckte weißt du wo das licht sich teilt warst du zur zeit des regens in der wüste hast du die tropfen des taus gezeugt ist aus dir das eis hervorgebrochen hast du im reif gestanden wie stein willst du das siebengestirn am faden halten kannst du den gürtel des orion lösen vermagst du es den großen bären mit dem kleinen zu führen bist du so kühn den löwen beute zu schlagen bist du so schnell den raben ihr futter zu schaffen gelangst du hinauf wo die gemsen gebären bist du so frei dem flüchtigen fesseln zu lösen falke und adler nächtigen auf nacktem felsen und schauen aus nach der beute wo der erschlagene liegt gürte wie ein mann deine lenden ich frage dich willst du 319

mich schuldig sprechen damit du recht behältst Ja, Georg Warner wollte Gott schuldig sprechen. Er richtete sich noch einmal auf, blickte in die Runde. Da saß er, der Falke, auf einem Ast und beobachtete ihn. Warner meinte zu spüren, wie er schwerer und schwerer wurde, zentnerschwer. Dann zog ihn die Schwerkraft der Erde unwiderstehlich an.

Wie lange er so gelegen hatte, wusste er nicht. Sein Herz musste gänzlich verkrampft sein. Er rieb und bearbeitete es. Dann richtete er sich auf und verließ langsamen Schrittes den Friedhof. Immer wieder stoppten ihn Aussetzer. Erst war es, als wenn sein Herz explodieren wollte, dann schien es, als wenn es in sich zusammengesackt sei. Undeutlich nahm er einige Gesichter wahr. Nun hatte sich der Pfarrer doch noch auf dem Friedhof besoffen, war sternhagelvoll. Warner dachte: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Darüber würde er predigen. Am besten zu Erntedank.

Nach scheinbar endlos langer Zeit zu Hause angekommen, holte er Wäsche aus dem Schrank und verstaute sie in einer Tasche. Dann ging er, um seine Schafe herauszulassen. Um die würde sich schon jemand kümmern. Dass er noch zum Briefkasten ging und die Post herausnahm, entsprang einem Instinkt.

Er ging zur Bushaltestelle, der Bus kam bald. Vor dem Bahnhof in Görlitz stieg Warner aus. Der Zug nach Wittenberg fuhr wie auf Bestellung. Im Abteil machte ihm die plötzliche Ruhe zu schaffen. Das Herz wollte immer wieder stillstehen. Wenn Warner aus dem Fenster schaute, kamen die Ängste angeflogen. Ihn überfiel Todesangst. Er saß jetzt da und schaute auf seine Uhr, beobachtete den Sekundenzeiger. So fand er heraus, dass die Anfälle periodisch erfolgten. Bevor es wieder so weit war, massierte er sein Herz.

Als er wieder einmal aus dem Fenster schaute, zog der Silbersee bei Hoyerswerda vorbei. Früher hatte er an dieser Stelle stets realisiert, dass es wieder in das grässliche Wittenberg ging. Inzwischen hatte ihm die Stadt viel gegeben, auch Hoffnung.

Er spürte die Briefe in seiner Tasche und holte sie hervor. Einer kam vom Konsistorium. Er öffnete ihn. Dieser Brief hätte ihn in seinem Zustand eigentlich töten müssen. Da stand, dass die Pfarrstelle Deutsch-Ossig in Zukunft auf 25 Prozent reduziert würde, da der Tagebau die Gemeinde zerschneide. Auch in seinem, Pfarrer Warners, Sinne werde ihm aber eine Perspektive geboten. Er solle die Gemeinde Fried320

ersdorf, ländlich und weitreichend kirchlich, übernehmen.

Auf Warner wirkte diese Nachricht wie ein belebender Elektroschock für sein Herz. Er murmelte vor sich hin: „Ihr nicht, ihr schafft mich nicht mit den Füßen zuerst hinaus.“ Ideen kamen ihm jetzt keine, aber sie würden kommen.

In Wittenberg nahm er sich ein Taxi und ließ sich zum Diakonissenkrankenhaus fahren. Tofana war zum Glück in ihrem Zimmer. Entsetzt rief sie aus: „Georg!“ Der ließ sich aufs Bett fallen. Tofana öffnete ihm das Hemd und legte ihr Gesicht auf seiner nackten Brust. Die Tränen kühlten ihn. Dabei hörte er immer wieder: „Ach, mein Georg.“ Der sagte schließlich, sie seien nicht am Haus von Doktor Faust und sie könne aufhören zu rufen.

Ein Arzt und mehrere Schwestern kamen angeeilt und karrten ihn auf die Intensivstation. Eine Infusion wurde ihm verabreicht. Georg Warner sagte, dass er nur schlafen wolle.

Als er wieder erwachte, fühlte er sich einigermaßen belebt. Ein alter Arzt saß an seinem Bett und sagte: „Ich habe schon viel erlebt, war auch im Krieg. Aber dass einer kommt, sich ins Bett legt und drei Tage ohne Unterbrechung schläft, ist mir noch nicht begegnet.“ Die Diagnose stellte der Chefarzt erst nach weitreichenden Untersuchungen. Sie fiel günstig aus: „Sie haben ein Erschöpfungssyndrom, das zu einer Herz-Rhythmus-Störung geführt hat. Hätten Sie nicht so gute Anlagen und wären nicht so robust, Sie würden nicht hier liegen. Bekommen wir diese Störung nicht in den Griff, wird das Angina Pectoris, und was folgt, ist ein Aneurysma. Ich kann noch nicht ausschließen, dass Sie ein Hinterwandinfarkt ereilt hat. Wie auch immer, wir bekommen Sie wieder auf die Beine, mehr noch, wir machen Sie so fit, dass Sie wieder zwölf Stunden arbeiten können, auch am nächsten Tag und so weiter. Ich bin inzwischen gut über Sie informiert. Für das, was vor Ihnen liegt, werden Sie viel Kraft brauchen.“ Eine Woche später erschien der Chefarzt mit dem Röntgenbild und tat verschmitzt: „Mein lieber Herr Warner, Sie haben ein übergroßes Herz. Sagen Sie mir, wozu Sie das noch brauchen. Jedenfalls hat sich der beim EKG festgestellte Hinterwandinfarkt als Falte erwiesen.“ Jetzt sann er über eine weitere Erklärung nach und bemühte den Jargon des Militärarztes: „Mein lieber Warner, ihr Herz schickt sich an, etwas früher zu altern. Daran werden Sie erinnert werden, wenn Sie die erste Falte am Hintern erspüren.“

321

Ertüchtigung Nachdem Georg Warner zwei Wochen lang alle möglichen und sich wiederholenden Untersuchungen über sich ergehen lassen hatte, fand der Chefarzt, dass mit der Rehabilitation begonnen werden könne, was bei ihm „Ertüchtigung“ hieß. Er wurde „an die frische Luft“ befördert.

Er bekam eine Therapeutin an die Seite gestellt, die wohl mehrere Ertüchtigungen hinter sich und das „Blaue Band“ der Langläuferin verdient hatte. Gegen sie war der stets lauffaule Warner ein blutiger Anfänger. Sie hatte ihn an der Waage abgeholt und gleich festgestellt, dass er 20 Kilogramm abnehmen müsse.

Warner besaß so viel Schwungmasse, dass er auf seinem Pfarrgelände, vor allem beim jahrelangen Bau an dem maroden Pfarrhaus, Gewichte jeder Art stemmen konnte. Als er sich nach seiner Ertüchtigung an einem mittelgroßen Feldstein versuchte, rührte der sich nicht einen Zentimeter.

Nach dem ersten Lauf – gerade einmal 500 Meter bewältigte Warner – pumpte er wie ein Maikäfer. Diese Runde lief er erst einmal ein Weilchen, mit Messgeräten versehen. Dann ging es in den Wald, den Warner selbst bestimmte. Er dachte an das „Volksbuch vom Doktor Faustus“.

In einem Wald nördlich von Wittenberg hatten sich durch Faustens Begierden neben dessen Zechgenossen etliche liederliche Weibspersonen eingefunden. Dort befand sich eine Wasserscheide. Es quoll und rieselte, was Nymphen und Elfen vermuten ließ. Aus sumpfigen Niederrungen züngelten nachts Flämmchen empor. Es mussten also auch Wassergeister unterwegs sein. Faust hatte das Geisterwesen zum Leben erweckt. Ein abgeflachter Felsen diente ihm als Blocksberg, wo er nicht nur in der Walpurgisnacht Orgien inszenierte.

Warner wählte eben jenen Wald und stellte bei seinen Dauerläufen fest, dass sich auch seine Nerven wieder stabilisierten. Nicht eine Erscheinung suchte ihn heim. Schließlich lief er mit seiner Therapeutin quer durch den Wald. Gelegentlich nahm er Tofana mit, um zu prüfen, ob ihre Gegenwart die Geisterwelt animieren könne. Sie freute sich aber lediglich seiner Gesundung und trug auch sonst zu seiner Ertüchtigung bei.

Nach einem Monat lief Warner schon leichtfüßig. Der Chefarzt verordnete ihm Intervallläufe. Auf plötzliche Ereignisse oder Widerfahrnisse musste das Herz trainiert sein. Plötzlicher Stopp, rasches Antreten bis zu höchstem Tempo, Ruhephasen durch gleichmäßiges Laufen, Ge322

hen, um die Umgebung wirken zu lassen. Und immer wieder Intervalle.

So brachte es Georg Warner schließlich auf zehn Kilometer. Das Laufen war gerade in Mode gekommen. Und wie später ein gewisser Forrest Gump durch Amerika laufen würde, so nahm Warner zu seiner Selbstbefreiung etliche schöne Gegenden der DDR unter die Füße. Sein Haar wurde dabei immer länger, nur seinen Schnauzbart kürzte er wie gewohnt.

Was aber das Wichtigste war: Warners verschütteter Brunnen der Ideen begann wieder zu sprudeln. Das unterstützte er durch so übermäßigen Trunk aus dem Lutherbrunnen, dass für sonstige Pilger nur noch profanes Wasser übrig bleiben konnte.

Abflug Georg Warner rekapitulierte alle seine bisher geschriebenen Stücke und Texte. Damit wollte er nun nach Norden aufbrechen. In all der Anspannung des vergangenen halben Jahres war ihm nicht ins Bewusstsein gekommen, dass er seine Verpflichtung abgeleistet hatte, die in fünf Jahren Dienst auf einer Pfarrstelle bestand. Seit dem 29. November 1985 war die Zeit schon um. Er hätte also mit Erhalt des konsistorialen Briefes den Bettel einfach hinschmeißen können. Aber er wollte sich von der Oberlausitz, dem Revier und seiner geliebten Gemeinde nicht trennen.

So schickte er an das Konsistorium in Greifswald seine Bewerbung für die übergemeindliche Stelle „Texte für gottesdienstliches Handeln“.

Er erhielt bald freundliche Antwort und wurde zu einem Gespräch am 2. Mai bestellt. Warner stieg triumphierend am Tag der Arbeiterklasse in den Zug, Tofana hatte ihn begleitet und überschwänglich geherzt.

Ach, wäre sie doch nur nicht durch ein unsichtbares Fußeisen an die Hölle gekettet gewesen. Georg hätte sie sofort mitgenommen.

Die Runde im Konsistorium Greifswald war ihm außerordentlich wohl gesonnen. Ein Rat, kaum älter als er selbst, stellte sich ihm als Partner vor. Anwesend waren noch die Vertreter der Bereiche Gemeindeaufbau und Urlauberdienst. Letzterer berichtete Warner von einer Vakanz in Barth ab 1. Juli. Es sei wünschenswert, dass er dort beginne.

In seiner Bewerbung hatte Warner bereits darauf hingewiesen, dass er für eine kleine Gemeinde im Kampf gegen den Braunkohlenabbau 323

unbedingte Verantwortung habe. Jetzt legte er sich fest. Drei Jahre lang würde er noch teilweise Dienst in Deutsch-Ossig tun, dann wollte er endgültig in die Greifswalder Kirche übersiedeln.

Von Greifswald her erging die Benachrichtigung an die Görlitzer Kirche. Zugleich bat Warner dort um Freistellung zu 75 Prozent und mit Auflösung der Kirchengemeinde Deutsch-Ossig um Beendigung des Dienstverhältnisses.

Warner hatte als Adresse das Diakonissenkrankenhaus Wittenberg angegeben, man wusste ohnehin, wo er sich aufhielt. Er erhielt eine knappe Antwort mit einem baldigen Gesprächstermin. An einem schönen Frühlingstag verließ Warner Wittenberg als gänzlich geheilt.

Tofana trug Trauer. Georg versprach ihr, sie bald zu sich einzuladen, was ja schon längst überfällig wäre. Tofana antwortete: „Ich kenne deine Heimat, wie ich dich kenne. Ich war in der Rutschung P und habe meine Hand über dich und deinen Freund Hilde gehalten. Mein sehnlichster Wunsch ist es, einmal für immer bei dir bleiben zu können. Jetzt aber muss ich gehen. Ich will dich aus deiner Einsamkeit befreien.“ Sie kam nicht mit zum Bahnhof. Die letzte Umarmung war ungelenk.

Bei der Besprechung in Görlitz war das Aufgebot beträchtlich. Der juristische und der theologische Oberkonsistorialrat wohnten ihr bei.

Die Leitung hatte der eben erst gewählte Bischof inne. Der eröffnete das Gespräch mit Bedauern: „Ich komme und Sie wollen gehen.“ Bei so viel Gleichmacherei war Warner versucht zu fragen, ob die Stelle eines Konsistorialrates frei sei, er würde sie sofort antreten.

Der Bischof sagte: „Wir werden die Deutsch-Ossiger Kirche gemeinsam retten. Andernfalls hätte ich Sie sofort ziehen lassen.“ Damit war Warner in einem nicht näher definierten Dienstverhältnis festgenagelt.

Weshalb dieser Mann, ein anerkannter Luther-Forscher, Kanzleichef der Union, verantwortlich für den West-Ost-Transfer der Gelder zum Kirchenbau, vor allem für Berlin, sich zum Bischof des Görlitzer Kirchengebietes hatte wählen lassen, blieb ein Rätsel. Vielleicht aus Eitelkeit, denn Bischof war er vorher noch nicht gewesen, und die widerständische Brandenburgische Kirche hätte ihm das versagt. Bei aller Eloquenz und geistreichem Witz war er DDR-konform. Warner wurde umgehend klar, was sich der Bischof von ihm, dem Ortspfarrer, versprach. Er wollte sich als Retter der Deutsch-Ossiger Kirche profilieren.

Später sollte ihm Warner in ganz anderen Verhältnissen begegnen. Da niemand mit ihm reden wollte, hielt er sich an Warner. Seine Eitelkeit sollte auch in dieser Situation nicht von ihm lassen. So sagte er mehrmals: „Herr Warner, wieso habe ich drei Doktortitel und Sie keinen.“ 324

Es wurde allem zugestimmt, die Greifswalder Arbeit bestätigt. Mit den 25 Prozent hatte man Warner in der Hand. Es galt noch festzustellen, welche Aufgaben diese Viertelstelle beinhaltete: Dienst wie bisher, nur eben in kleinerem Umfang. Keine Aufenthaltspflicht, Regelung sämtlicher Vertretungen bei Abwesenheit. Warner konnte gehen. Die krümeligen Plätzchen hatte er nicht angerührt.

Mit einem schlechten Gewissen machte er sich sodann auf die Suche nach seinen Schafen. Ein Kleinbauer hatte sich ihrer angenommen, der selbst ein Pfennigsucher war. Seine kleine Herde graste im Niemandsland vor dem Abraumbagger. Warners sechs Schafe hatten sich hinzugesellt, mit ihnen sprangen drei Lämmer umher. Er überließ dem Kleinbauern seine Herde und wollte lediglich nach der Schur die Wolle haben. Auf sein 13. Monatsgehalt konnte er nicht verzichten.

Friedhofsentwidmung Die offizielle Bezeichnung für die Profanisierung von Kirchen und Predigtstätten lautete „Entwidmung“. Der Termin wurde in Warners Abwesenheit festgelegt. Mitte April hatte sich das Konsistorium an den Chefarzt des Diakonissenkrankenhauses gewandt und nachgefragt, wann mit einer Genesung von Pfarrer Warner zu rechnen sei. Da diese für Anfang Mai in Aussicht gestellt wurde, erhielt Warner den Auftrag, die Entwidmung des Friedhofes Deutsch-Ossig umgehend nach seiner Rückkehr, am 11. Mai 1986, vorzunehmen.

Der Tag war mit Totensonntag vergleichbar. Die Gemeinde füllte den Friedhof, Lebende und Tote waren so noch einmal beieinander. Ein Görlitzer Posaunenchor, der stets zu Totensonntag spielte, hatte sich auch diesmal eingefunden. Der Abraumbagger gab seine eigene Musik von sich. Der Südwind trug sie aus der Grube herüber. Zu dieser Begleitmusik predigte Georg Warner.

Wie anders aber war für ihn die Wiederbegegnung mit dem Friedhof.

Hier hatte er sich im Februar bis in die Seele hinein geschunden und es gerade noch so halbtot von hier weg geschafft. Jetzt war er ein anderer, ein Mensch mit Ausblick, um nicht zu sagen, mit Zukunft. Bevor er begann, erreichte ihn einer seiner sonst gefürchteten plötzlichen Gedanken. Der „Waldhüter“ fiel ihm ein. Turgenjew verabschiedete sich mit 325

den Worten: „Jedoch – es ist Zeit zu schließen. Gerade im rechten Augenblick habe ich vom Frühling gesprochen: Im Frühling fällt das Abschiednehmen leicht, im Frühling zieht es auch den Glücklichen in die Ferne … Leben Sie wohl, mein Leser, ich wünsche Ihnen stets Wohlergehen.“ Georg Warner lächelte und ließ das Lächeln der Gemeinde als Ermutigung zuteilwerden. So konnte er an die ernste Aufgabe gehen: „‚Herr, du bist unsere Zuflucht für und für, ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, und wie eine Nachtwache.‘ Der Beter des 90. Psalms versucht im Angesicht von Tod und Leben den Ort zu bestimmen, an dem er sich befindet. Es ist kein Friedhof, der ihn dazu zwingt, über seine Vergänglichkeit nachzudenken. Es ist Gottes Schöpfung in ihrem Woher und Wohin.

Und so nebelhaft diese Richtung ist, so im Nebel liegt auch die Antwort: von Ewigkeit zu Ewigkeit. Ist das vor der Zeit oder danach? Die Alten sagten ‚Himmel‘. Ist er oben oder unten, drinnen oder draußen?

Was einst so klar erschien: ‚Hier schläft einer fröhlichen Auferstehung entgegen‘, ist durch die Unklarheiten unseres Lebens verdeckt. Selbst Tote führen ein unruhiges Leben. Wie sehr dann wir, die wir umgetrieben sind von Ruhelosigkeit. ‚Tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag‘, sagt der Beter. Unsere Tage sind gezählt. Wer aber meint, das sei allein unser Problem, der irrt. Es ist ein allgemein menschliches und deshalb ein ganz persönliches, dem der Beter schon damals zu Leibe rückte, wenn er zu dem Schluss gelangt: ‚Lehre uns unsere Tage zählen, damit wir ein weises Herz gewinnen.‘ Einsichten sind gemeint, die sich dem Verstand allein nicht offenbaren. Ob wir die Notwendigkeit der Verlegung unserer Verstorbenen einsehen oder nicht, schafft noch nicht den Tod aus der Welt. Über ihn hinaus reicht unser Denken nicht. Deshalb bittet der Beter auch: ‚Lehre du uns, Gott.‘ Und er gewinnt ein weises Herz, indem er erkennt, dass Gott die Menschen sterben lässt.

Wie schwer diese Einsicht für ein betrübtes Herz ist, haben wir im Sterben eines geliebten Menschen erlebt. Es ist uns besonders bitter angekommen, wenn jemand vor der Zeit gehen musste, und hat sich tief in das Bewusstsein der Deutsch-Ossiger und Klein Neundorfer Gemeinde eingegraben. So tief, dass ich am Grabe sagen musste: ‚Es hat dem allmächtigen Gott nicht gefallen, unsere Schwester aus diesem Leben ab326

zurufen.‘ Und dieser Riss ist so alt wie unser Friedhof. Als Erstes wurde hier ein Kind mit seiner Mutter begraben.

Der Tod reicht dem Leben die Hand, wo immer wir sind. Und bei uns schlägt er mit harter Hand zu. Ihm in den Arm zu fallen, dazu sind wir zu schwach. Ein weises Herz gewinnen, das geschieht in der Einsicht des Zusammenhanges von Tod und Leben. ‚Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!‘ Heimkehr zu Gott geschieht nur, wenn wir ihn als Herrn über Leben und Tod erkennen. Alles andere ist Aberglaube, in der Stunde des Todes erloschen, der Vergänglichkeit oder dem Vergessen übergeben.

Bei der Erfassung unseres Friedhofes ist mir das deutlich geworden.

Wie viele Namenlose hier liegen, von denen nur noch die Grabhügel erkennbar sind. Von denen, die der Rasen deckt, ganz zu schweigen.

Es war dies der härteste Teil unserer Arbeit, Namenlosen ihre Identität zu geben. Hier wurde der Tod mit seiner vernichtenden Kraft sichtbar und die Tatsache offenbar, dass der Mensch ins Namenlose vergeht. Bei seinem Namen durch die Stimme Christi gerufen zu werden, das ist Auferstehung, ist Einbringung unseres in Vergessenheit geratenen Lebens, ist kein Massenvorgang, sondern ein Auge in Auge, ist so persönlich, wie es jeder von uns war und ist. Ist unser Jüngster Tag. In unserem Sprachgebrauch ist dieser verbunden mit Schreckensvisionen, als wäre er der letzte Tag. Der Jüngste Tag ist unser Geburtstag, unsere Wiedergeburt.

Ein weises Herz zu gewinnen heißt, das Leben zu gewinnen. Und das verläuft nicht von der Wiege bis zur Bahre, ist kein Wandern von einem Friedhof auf den anderen. Es ist Durchdringen vom Tod zum Leben, Heimkehr zu Gott. Amen.“ Georg Warner ließ hier erstmals das spätere so genannte DeutschOssig-Lied singen, „Lobe den Herren, o meine Seele“: „Lobe den Herren, o meine Seele!

Ich will ihn loben bis in’ Tod; weil ich noch Stunden auf Erden zähle, will ich lobsingen meinem Gott.

Der Leib und Seel’ gegeben hat, werde gepriesen früh und spat.

Halleluja, Halleluja.

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Fürsten sind Menschen, vom Weib geboren, und kehren um zu ihrem Staub; ihre Anschläge sind nun auch verloren, wenn nun das Grab nimmt seinen Raub.

Weil denn kein Mensch uns helfen kann, rufe man Gott um Hilfe an.

Halleluja, Halleluja.

Dieser hat Himmel, Meer und die Erden und was drinnen ist gemacht; alles muss pünktlich erfüllet werden, was er uns einmal zugedacht.

Er ist’s, der Herrscher aller Welt, welcher uns ewig Treue hält.

Halleluja, Halleluja.

Zeigen sich welche, die Unrecht leiden, er ist’s, der ihnen Recht verschafft; Hungrigen will er zur Speis bereiten, was ihnen dient zur Lebenskraft; die hart Gebund’nen macht er frei und seine Gnad ist mancherlei.

Halleluja, Halleluja.

Aber der Gottvergess’nen Tritte kehrt er mit starker Hand zurück, dass sie nur machen verkehrte Schritte und fallen selbst in ihren Strick.

Der Herr ist König ewiglich; Zion, dein Gott sorgt stets für dich.

Halleluja, Halleluja.“ Warner war während des Liedes erstaunt, wie ein Text aus dem Jahre 1714 so wirklichkeitsnah sein konnte. Aber dann stellte er fest, dass er aus der Zeit des Königs von Preußen stammte.

Die Entwidmung des Friedhofes geschah durch den Segen. Er wurde für die Lebenden und die Toten gesprochen, an die Gemeinde gerichtet.

Warner betonte, dass er auch für die Schöpfung gelte, dieses Stück Erde, das der Friedhof bilde. Dann hob er seine Arme und breitete sie weit aus, um alles erfassen zu können, auch die Bagger, die Grube und das 328

Kraftwerk, worauf kein Segen ruhte. Der Wind drehte abrupt und die angriffslustigen Geräusche entfernten sich. Nur Pfarrer Warners Stimme stand noch im Raum: „Der Herr segne euch und behüte euch, er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig, der Herr hebe sein Angesicht über euch und gebe euch Frieden.“ Dem Liedvers „Verleih uns Frieden gnädiglich“ folgte die profane Mitteilung: „Der Friedhof der Evangelischen Kirchengemeinde Deutsch-Ossig wird mit dem heutigen Tage, 11. Mai 1986, von Seiten der Kirchengemeinde zur Nutzung durch den Rat der Gemeinde freigegeben. Nach der rechtlichen Regelung geht er in staatliches Eigentum über. Damit erlischt die juristische Verantwortung der Kirchengemeinde für den Friedhof und die anstehende Umbettung.“ Man strebte nach Hause. Mehr zu sagen, als gesagt wurde, gab es nicht. Warner verstaute seinen Talar wieder in der Talartasche. Auf dem Rückweg sah er erstmals die vielen Pumpstationen, die das Wasser aus dem Tagebau heben sollten. Lebendig Wasser war das nicht, aber auch dieses quoll aus Gottes Brünnlein, da es dem Friedhof entzogen wurde.

In seinem Arbeitszimmer angekommen, schwiegen die Texte in ihm noch nicht. So fühlte Warner sich gedrängt, noch einen hinzuzufügen: nicht den bestand retten sondern hoffnung geben ein maß für zeit gewinnen dass leben mehr ist als sterben nicht laufen mit der zeit als würden wir die ewigkeit auf dem friedhof finden

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Schlager einer kleinen Stadt Nicht nur Warner, auch die Spielgruppe packte. Sie sollte den Start an der Küste in der ersten Woche mitgestalten. Die kleinen Stücke waren aufzufrischen. Als Programm unter dem Titel „Das Wiedersehen“ waren „Zachäus pflanzt einen Baum“, „Das glückliche Ende des B. S.“ und „Blumenpflücken vor Emmaus“ zusammengeführt.

Barth empfing sie gänzlich verschlafen. Hier schien rein gar nichts zu geschehen. Das sollte sich jetzt ändern. Zweimal lief „Das Wiedersehen“, wobei „B. S.“ reichlich provozierte.

Zwischendurch gab es ein Heavy-Metal-Konzert, das sich durch unzählige leere Schnapsflaschen ankündigte. Auch die Spielgruppe besuchte das Konzert. Das Stadion war bis auf den letzten Platz gefüllt. Als die ersten Klänge ertönten, sprang das Publikum auf und schrie. Warner wurde von der Schnapswolke fast umgehauen.

Die Truppe kampierte auf Feldbetten, auch sonst war alles recht spartanisch. Ohne etwas dafür getan zu haben, wurden sie in Zusammenhang mit den wilden Metal-Gesellen gebracht. Die Barther mussten sich fragen, was außerhalb ihrer Mauern für Menschen lebten. Warner erinnerte sich der früher beliebten Sonnabendsendung „Schlager einer kleinen Stadt“, in der die DDR-Sängerin Ina Martell fahrradfahrend Barth vorgestellt hatte.

Der Sonntag zog herauf und mit ihm erschien „Armer Lazarus“. Warner hatte nicht vor zu predigen, musste aber später bei seinen Programmen feststellen, dass die pommerschen Pfarrer es mit Leidenschaft taten. So forderte ihn der Gemeindekirchenrat eindringlich dazu auf, und zwar von der Kanzel, nicht auf Augenhöhe. Warner meinte, ein Text von Kurt Marti stelle eine ausreichende Predigt dar. So begab er sich vor dem „Armen Lazarus“ auf die Kanzel und verkündete: „ein armer teufel so sagen wir denen wohlstand ihr gott ist und armut ein teufel ein armer teufel so sagen wir von der verachtung der armen gestraft 330

ein armer teufel so sagen wir – von reichen teufeln ist niemals die rede ein armer teufel so sagen wir und wissen nicht was wir sagen ein armer teufel so sagen wir und haben vergessen dass ein armer teufel einst jesus von nazareth hieß ein armer teufel der nichts hinterließ als den aufstand der armen in ewigkeit amen“ Als Warner geendet hatte, blickte ihn die Gemeinde so an, als sei sie unisono der Reiche. Das Ergebnis des Spiels musste also niederschmetternd sein.

Die Spielgruppe reiste ab. Warner hatte noch drei Sonntage vor sich, an denen er sich gemäßigter Gehör verschaffte, aber nicht ohne Ideen, die ja auch literarischer Natur waren, zu verbreiten und Pointen zu setzen.

Noch einmal sollte Kurt Marti zu Wort kommen. Warner sollte in Vertretungsvollmacht eine Beerdigung halten. Der Mann, den es zu betrauern galt, war freiwillig aus dem Leben geschieden. Und so tröstete Pfarrer Warner die Gemeinde: „es hat nie an leuten gefehlt 331

die ihn auf den besseren weg zu bringen versuchten es braucht sich niemand einen vorwurf zu machen er aber wich seinen ratern und rettern geflissentlich aus und wählte meistens den schlechteren weg – oder was wir den schlechteren nennen bleibt uns die frage: ob vielleicht der schlechtere weg für ihn der bessere war?“ In der dritten Woche fand sich Warner im Greifswalder Konsistorium ein. Der für ihn zuständige junge Rat blinzelte etwas irritiert. Dann sagte er: „Es hat eine Beschwerde gegen Sie aus Barth gegeben. Die Gemeinde behauptet, Sie hätten von der Kanzel herab Jesus einen Teufel genannt.“ Dahinter konnte nur er selbst stecken, der Teufel. Er hatte Warner „auf dem Schirm“. Aber dass eine ganze Gemeinde ihm zu Diensten zu sein schien, verschlug Warner doch die Sprache. Vielleicht lag es daran, dass sie sich auf die Rolle des Reichen festgelegt sah. Warner führte vorsichtig die Beerdigung an. Der Rat entgegnete, dass seine Texte und die Predigt Betroffenheit erzeugt und Trost vermittelt hätten.

Der Konsistorialrat teilte Warner mit, dass er an die Gemeinde geschrieben und auf den Schweizer Pfarrer Kurt Marti verwiesen habe, von dem besagter Text stamme. Es handle sich also um ein Zitat. Dann schlug er die Lösung vor. Warner sollte seine kompletten Gottesdienste zum Kirchenjahr über das Konsistorium vervielfältigen und in die 15 Kirchenkreise verteilen lassen. Er solle jetzt die Sendung für Erntedank vorbereiten, mit dem Vermerk, dass Texte und Stück in Barth vermittelt wurden.

Aber Warner eilte der Ruf eines Radikalen bereits voraus. Halb Vor332

pommern fuhr in sich zusammen, komplett Usedom, wo er nie einen Fuß auf die Erde gesetzt bekommen sollte. Die andere Hälfte, vor allem auf Rügen, jubelte. In aller Eile hatte der Pfarrer von Middelhagen-Göhren mitgeteilt, er gebe Georg Warner Unterkunft, was schon jetzt etwas nach Asyl roch. Damit war der Standort festgelegt, von wo aus Warner „operieren“ sollte.

Er bekam einen Trabant-Kombi, mit dem er auch seine Heimattouren antreten durfte. Er bereiste die Küste, die sich als wesentlich länger erwies, als es einem Urlauber in den Sinn kam. Er stellte sich in den Gemeinden vor und erklärte das Prinzip seiner Arbeit. Von Greifswald aus würden die Themen zugehen, dann bei Interesse der komplette Text.

Schließlich würde Warner vor Ort erscheinen und in Proben, vor allem der Stücke, den Inhalt anlegen. Vor besagtem Tag würde er wieder da sein. Das klang nicht nur aufwendig, das war es auch. Es ging bereits auf das Ende der Sommerferien zu. Acht weit auseinanderliegende Gemeinden meldeten sich.

Warner musste zwingend nach Hause. Dort standen finale Entscheidungen an. Vorher begab er sich auf den Weg nach Middelhagen, der über Bergen führte. Bevor er auf die Halbinsel Mönchgut gelangte, musste er einen Berg mit Serpentinen hinter sich bringen. Als er diese geschafft hatte, trat er auf die Bremse und hielt. Vor ihm breitete sich die geliebte Oberlausitz aus, hügelig. Nur das Meer ließ den Vergleich nicht zu. Warner war sofort in Liebe entflammt und es war zu vermuten, dass die Flammen noch höher schlagen würden. Eigentümlich berührte ihn der Leuchtturm in der Ferne.

Das Pfarrhaus von Middelhagen, in dem Warner separat wohnen würde, hatte die Zeit der Romantik bewahrt und war zudem romantisch zugewachsen. Der Pfarrer begrüßte Georg Warner. Er war etwas älter als er selbst, nannte sich Jaffa, als Freund aller Menschen, und bot ihm sofort das „du“ an. Das begründete er damit, dass er viel von Georg erwarte. Der hatte nun die befreiende Gelegenheit, Jaffa von Deutsch-Ossig zu erzählen. Dem wurde klar, dass Georg umgehend zurück musste.

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Front machen Als Georg Warner an einem Nachmittag Ende Juli in Deutsch-Ossig eintraf, erwartete ihn bereits der gesamte Gemeindekirchenrat. Don von der Spielgruppe, der seit der letzten Wahl zu den Kirchenältesten gehörte, kam auf Georg zu, um ihn vorab zu informieren: „Es sind Entscheidungen zu Deutsch-Ossig gefallen, die wir noch nicht kennen. Was die Kirche betrifft, wurde mündlich die ersatzlose Sprengung mitgeteilt.

Der ganze Ort soll fallen.“ Warner ging sofort in den Gemeinderaum. Die außerordentliche Sitzung begann. Don war der Wortführer. Er stammte aus Klein Neundorf, das sicher stand. Zwar war in unmittelbarer Nähe die Rutschung Q im Gange. Sie wurde aber so durch Bagger freigeschnitten, dass sie zum Tagebau hin auslaufen konnte. Trotzdem mussten zwei Häuser, darunter ein Neubau, aufgegeben werden.

Die Deutsch-Ossiger Ältesten waren durch das, was sie erwartete, wie paralysiert. Don, eben erst 20 Jahre alt geworden, versuchte eine Erklärung: „Ersatzlose Sprengung bedeutet, dass es keinen Erhalt der Kirche gibt. Das Innere, wie der Altar, soll abgebaut und ausgelagert werden, aber die Kirche selbst wird gesprengt.“ Warner waren die Praktiken immerhin bekannt. Die Teile der Kirche würden unwiderruflich auseinandergebracht werden. Im Bautzener Museum befand sich bereits eine Sammlung von Engeln, in die der Deutsch-Ossiger Taufengel gut passen würde. Die Görlitzer Nikolaikirche, ohne eigene Gemeinde, diente als Lager für Kircheninterieur. Dort dämmerte der kleine Altar aus Tzschelln vor sich hin, dessen Kirche der Tagebau Nochten gefressen hatte. Der Deutsch-Ossiger müsste erst noch auseinandergenommen werden.

Warner legte den Finger in die Wunde. Das Deckengewölbe der Kirche war durch wertvolle Rokoko-Malerei gestaltet. Von zwei großen Bildwerken zog sich Ranken- und Blattwerk bis unten herab. Vier sogenannte Himmelsfenster, blumengeschmückt, „öffneten“ die Kirche. Die Deckenmalerei würde unwiederbringlich zerstört werden.

Da es inzwischen Gutachten gab, die den regionalen bis nationalen Charakter nachwiesen, brauchte dies nur noch einmal betont zu werden. Die Kunstepoche des Spätbarock, das Rokoko, war eine sehr kurze gewesen. In der Oberlausitz gab es einzig das geschlossene Ensemble in Deutsch-Ossig, das mit der bildhauerischen Gestaltung eine Einheit ergab. Georg Warner versprach, er werde dies erarbeiten und dann den 334

Beschlüssen beigeben.

Jetzt meldeten sich die Deutsch-Ossiger Ältesten zu Wort. Wenn man sie zwangsumsiedeln und den Ort zerstören würde, müsse die Kirche als einziger Zeuge erhalten bleiben. Auch das wurde in den Beschluss aufgenommen.

Schließlich forderte der Gemeindekirchenrat, die Kirche solle zwischen die Dichtwand, die den Tagebau abschirmte, und die Neiße gerückt werden. 300 Meter standen zur Verfügung. Dass im tschechischen Most analog verfahren worden war, gelangte als Hinweis in den Text.

Schall und Rauch? Die Beschlüsse des Gemeindekirchenrates gelangten an Kirchenleitung und Konsistorium. Die Rückung der Kirche wurde konsequent abgelehnt. Einmal wäre sie dann ohne Gemeinde, zum anderen würde sie sich unsinnigerweise in der Nähe der Kirche von Weinhübel befinden.

Georg Warner erschütterte das keineswegs. Er hatte nicht im Geringsten damit gerechnet, dass von dieser Seite Unterstützung kam. Später würde ihn dies schließlich dazu bewegen, unter Protest seinen Dienst zu beenden: „Ihr habt uns im Stich gelassen, verraten und verkauft.“ Warner wurde an diesem Spätnachmittag klar, dass die Deutsch-Ossiger gegen den Staat Front machen mussten. Mit der notariellen Übergabe des Friedhofes in staatliches Eigentum am 4. August bot sich dazu der Anlass.

Er nahm zur Unterzeichnung nur Don und einen Klein Neundorfer Ältesten mit, zwei Unterschriften neben seiner waren notwendig. Die Unterlagen waren im Görlitzer Notariat ausgefertigt worden. Als Käufer trat das Braunkohlenwerk Oberlausitz, Tagebau Berzdorf auf. Zu diskutieren gab es nichts mehr.

Doch im Protokoll wollte Warner noch etwas festgehalten wissen: „Für die Kirche wird es keine Unterschrift geben. Wir werden die Kirche verteidigen. Sollte sie angegriffen werden, wird es zu einer Tragödie kommen. Und die hat der Staat zu verantworten.“ Schluss, Aus, Ende.

Am selben Tag noch wehte vom Turm die Kirchenfahne herab, was sonst nur zu Pfingsten geschah. Der Bekenntnisstand war erreicht. Der Haupteingang wurde mit einer Barrikade versehen und von nun an mit einer Mahnwache besetzt.

Am Sonntag darauf wurde die ganze Gemeinde eingeladen, auch die Einwohner, die nicht zur Kirche gehörten. Alle kamen. Pfarrer Warner legte in Thesen die Begründungen und Beschlüsse zur Rettung der Kirche aus. Unterstrichen wurden sie durch Bibelsprüche. So war die Nähe zur Barmer theologischen Erklärung deutlich.

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Rund um die innere Kirchenmauer waren Rüstböcke gestellt und mit Bohlen belegt worden. Jetzt stand die ganze Gemeinde darauf und schaute brusthoch über die Mauer. Es war Nachmittag, eben wechselte die Schicht in Kraftwerk und Grube. Die Busse rollten vorbei und die Werktätigen pressten sich an die Scheiben. Sie sahen etwas, was es vorher noch nie gegeben hatte.

Nach einer Stunde löste sich die Protestversammlung auf, nur die Mahnwache blieb an der Tür. Georg Warner ging wieder in die Kirche, um diese als einmalig und einheitlich zu beschreiben, wie er es den Gemeindekirchenräten versprochen hatte.

Himmelwärts-erdwärts Die Deutsch-Ossiger Kirche „Zur Heiligen Dreifaltigkeit“ bestimmt von ihrer äußeren Erscheinung her die Landschaft. Auf dieses Raumbild wurde Wert gelegt. Der Kirchturm befindet sich nicht mittig, sondern seitlich versetzt. Ursprünglich war die Anlage zur Straßenkontrolle und ersten Verteidigung der Stadt Görlitz gedacht. Die Fahrzeuge mussten eine Ringmauer passieren, die gegebenenfalls geschlossen werden konnte. Ein mächtiger Wach- und Pulverturm war das Wahrzeichen.

Nach Osten hin befand sich eine Kapelle für die weit verstreuten wenigen Einwohner.

1335 wurde die Kapelle in eine Kirche umgewandelt, was zugleich mit der Ortsgründung einherging. Der Name Deutsch-Ossig diente zur Unterscheidung, da sich auf der anderen Seite der Neiße Wendisch-Ossig befand.

Beim Kirchenbau 1715–1718 wurde von der Kapelle ausgegangen, welche wohl in der Sakristei erhalten geblieben ist. So geriet der Kirchturm an die Seite. Entsprechend dem Beispiel des Spätbarock, siehe Dresden, ist die Deutsch-Ossiger Kirche außen schmucklos.

Dafür bietet sie im Inneren einen auf den ersten Blick nicht zu erfassenden Reichtum. Der Altar ist aber alsbald der Anziehungspunkt. Von hier aus erschließt sich die geistliche und künstlerische Absicht. Es ist klar herausgestellt, was zu glauben ist. Die Vertikale himmelwärts ist ohne Wiederkehr betont. In der Horizontalen herrscht ein Dreischritt vor. Auf dem Altar die Zehn Gebote, davor der Gekreuzigte als Erfül336

lung des Gesetzes. Es folgt die Bibel als alleiniger Grund evangelischer Verkündigung.

Auf der nächsten Stufe der fast überladene Kanzelbereich. Im Hintergrund der Kanzel eine feste Stadt, gerahmt aber von einer abgebrochenen Säule und sterbenden Bäumen. Davor das Kruzifix, ein stiller Gekreuzigter. An der Kanzelbrüstung ein Engel mit der Schrift „Das ist das wahrhaftige Wort Gottes!“ Bei diesem Dreischritt ist der Prediger eingespannt zwischen Gekreuzigtem und Schriftwort. Neben sich findet er die Apostel Petrus und Paulus. Die Kanzel rahmen Engel mit den beiden evangelischen Sakramenten Taufe und Abendmahl. Auf der nächsten Stufe zwei allegorische Figuren, Glaube und Liebe. Die Heilige Dreifaltigkeit krönt den Altar, klar durch die drei Artikel des Glaubens bestimmt, Gott mit Zepter, Christus mit Kreuz, auf seine Wunde weisend, der Heilige Geist wird in Gestalt der Taube gesandt.

Anknüpfend an die Beobachtung der Vertikalen himmelwärts, wird das Auge vom Altar an das Deckengewölbe geführt. Hier eröffnet sich mystisches Gedankengut. Die Offenbarung des Johannes wird vermittelt. Das Deckengemälde mit Gott Vater wird durch das Zitat Offenbarung 21 erklärt. Dort, wo sich Gott der Menschen annimmt, werden weder Leid noch Geschrei, noch Schmerz mehr sein, auch nicht der Tod, alle Tränen werden abgewischt sein.

An der Decke weiter geht es zur Aufhängung des Taufengels, das All gerät in den Blick. An der Aufhängung abwärts Sterne, Mond und Sonne, die die Bewegung des Engels erdwärts mit vollziehen. Und damit steht die Aussage klar im Raum: Dort, wo ein Mensch getauft wird, ist der Mittelpunkt der Welt.

In den Engel hat Caspar Rodewitz seinen ganzen Ideengehalt gelegt. Über immer neu einsetzende, aber fließende Faltenwürfe führt er die Figur im Kreis, durch die Armhaltung ist das Bewegte noch verstärkt.

Im Körper hat der Künstler von je einer Seite her das Mädchenhafte und Frauliche verbunden. Harmonie bei gewagter Disproportion. Als Utensilien sind dem Engel Krone und Lilie beigegeben. Die Krone des Lebens und die Lilie als Zeichen des ewigen Lebens, wiederum der Bezug zur Offenbarung. Taufe heißt hier Versiegelung zum ewigen Leben.

Wir werden gleichsam durch den Engel aufgehoben und gelangen an der Decke zum zweiten Gemälde, dem Lamm auf dem Buch mit den sieben Siegeln, das allein würdig ist, das Leid der Welt auf sich zu nehmen.

Inmitten der plastisch gestalteten Deckenmalerei mit ihrer Ornamentik und den Blumengebinden die Himmelsfenster.

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Welch feiner Sinn für Leid und Erlösung, für Kampf und Ergebung liegt in dieser Kirche! In ihr wird der Mensch geadelt, um sich als Entwurf zu verstehen, zur Gemeinsamkeit.

Kampfstimmung Der 28. August sollte Klarheit bringen. In Deutsch-Ossig befand sich ein mittelgroßer Betrieb, der Ersatzteile für den Kleintransporter Barkas herstellte. Der Versammlungssaal konnte die Einwohner aufnehmen.

Auf dem Podium saß der Rat des Kreises mit dem Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden sowie der Betriebsleiter des Tagebaues Berzdorf mit den verantwortlichen Ingenieuren als Vertreter des Braunkohlenkombinats.

Der Auftakt war stimmungsvoll. „Die Arbeit des Staates und seiner Organe ist auf das Wohl des Menschen gerichtet“, begann der Vorsitzende. Ein Proteststurm brach los, der sich zwischen Hohn und Anklage bewegte. Der Vorsitzende wusste sicher um die Stimmung in Deutsch-Ossig. Aber so etwas hatte er von entmündigten und mundtot gemachten DDR-Bürgern nicht erwartet.

Es dauerte fünf Minuten, bis sich der Sturm gelegt hatte, dann standen alle wie eine drohende Wand. „Aber“, sagte der Vorsitzende und wartete. Die Versammelten warteten auch, um zu erfahren, was dieses „aber“ zu bedeuten hätte. So konnte der Vorsitzende fortfahren, in der Erwartung, dass nun Ruhe herrschte: „Aber es besteht eine Differenz zwischen gesellschaftlichen Erfordernissen und persönlichen Interessen.“ Wieder begannen die Versammelten zu toben. Sie wähnten, dass die persönlichen Interessen gänzlich hintangestellt werden würden. Der Vorsitzende brüllte jetzt auch und zwar: „Übereinstimmung!“ Der Protest steigerte sich noch, denn hier sollte offensichtlich suggeriert werden, dass jeder die gesellschaftlichen Erfordernisse bejahe.

Als der Lärm etwas abflaute, rief der Vorsitzende erzürnt: „Es gibt keine Übereinstimmung.“ Das sorgte für Ruhe, denn diesen plötzlich zugegebenen Widerspruch wollte man erklärt haben. Der Vorsitzende brachte aber lediglich den Satz zu Ende, an dessen Ausführung er bis jetzt gehindert worden war: „Es besteht eine Differenz zwischen gesell338

schaftlichen Erfordernissen und persönlichen Interessen, die in Übereinstimmung zu bringen sind.“ Warner hatte nach der schon über einen Monat dauernden Einübung des Widerstandes mit heftigen Debatten gerechnet. Diese unbedingte Kampfstimmung überraschte ihn dann aber doch. Er fragte sich, wie lange es mit dieser DDR noch gehen würde. Wohl so lange, bis die öffentliche Meinung sich nicht mehr in Räume pferchen ließ, sondern sich auf der Straße kund tat. Friedlich würde das nicht ausgehen, sondern der Umsturz würde durch Feuer und Blut, durch Pech und Schwefel geschehen. Die Deutsch-Ossiger, die um ihre Existenz kämpften, lieferten bereits einen Vorgeschmack.

Der Vorsitzende des Rates des Kreises verwies darauf, dass die Lösung der Probleme bald angesprochen werden würde. Jetzt aber ginge es erst einmal um die Fakten, die weder bejubelt noch geschmäht werden müssten. Er übergab an seinen Stellvertreter. Und die Fakten wurden offengelegt: „Am 24. Juli 1986 fasste der Ministerrat den Beschluss zur Erweiterung des Tagebaues Berzdorf.

Grundlage hierfür sind die Beschlüsse des Ministerrates über die Erweiterung der Tagebaue – Restauskohlung – von 1977/78.

Dies hat folgende Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben im Bereich des Tagebaues Berzdorf, Ortslage Deutsch-Ossig.“ Er übergab an den Tagebauleiter, der alles hinsichtlich der Erweiterung klarstellte: „Im August 1986 wurde das Baufeld II eröffnet, das sich bis 600 Meter vor den Ortseingang Görlitz-Weinhübel in nördlicher Richtung erstreckt und den Ort im Bereich Schulstraße schneidet. 1986 fällt die Straße nach Klein Neundorf. Die Abbaggerung erfolgt rechtsläufig Nordost. Im zweiten Halbjahr 1988 wird die Schulstraße in Deutsch-Ossig erreicht. Eine Räumung des Ortes vor Inanspruchnahme ist notwendig.

Wie in Jauernick-Buschbach ist eine Rutschung im Gange, da der Untergrund der gleiche ist. Die Rutschung beträgt acht Grad. Die Kante mit festem Deckgebirge befindet sich an der Ostseite des Dorfes. 1988 bis 1990 Generalräumung des Ortes, die bis 1990 abgeschlossen ist. Der Westteil des Ortes bis zur Halde wird bis Juni 1988 geräumt. 1989 Räumung der Bahnhofstraße und des Ortes nördlich der Kirche. 1990 Räumung des Oberdorfes. 1991 Abriss des Ortes. 1991 Überbaggerung der gesamten Ortslage.“ Präziser und nüchterner konnte ein Todesurteil nicht verkündet werden. Zu weiterem Tumult bestand daher kein Anlass. Jetzt ging es an die 339

Lösung der Probleme.

Der Vorsitzende war sichtlich dankbar, dass ihn hierbei niemand mehr unterbrechen würde. Es geschah etwas Ungewöhnliches. Niemals zuvor und nirgends wurde Eigentum wiederhergestellt. Erstmals aber sollten die Besitzer sogenannte Kohleersatzbauten erhalten, und zwar unabhängig vom Wert der Häuser, die nur pro forma einer Schätzung unterzogen würden. Sollte sich dabei herausstellen, dass ein Haus nicht mehr wert sei als 5 000 Mark, gelte der gleiche Grundsatz. Wer kein Eigentum besitze, würde in neue, komfortable Fünfgeschosser umgesiedelt werden.

Der Tagebauleiter meldete sich zu Wort und sagte deutlich: „Im Leipziger und Lausitzer Revier herrscht Ruhe. Dort weiß man seit Jahrzehnten, dass es zum Erhalt der Arbeitsplätze selbstverständlich ist, Orte aufzugeben. Nur hier geht den Leuten diese Einsicht gänzlich ab.“ Er neigte jetzt zur Ironie: „Nur ein kleines ‚gallisches‘ Dorf leistet Widerstand.“ Dabei schaute er unmissverständlich Georg Warner an. „Keltischer“ Jubel brach los.

Dann wurde es wieder sehr ernst. Die Standorte für die Eigenheime wurden genannt. Und da ging es in kleinen Einheiten weit hinaus: Ostritz, Altbernsdorf, Kiesdorf, Schönau-Berzdorf, Kunnerwitz. Es wurde sofort gefragt, warum der Ort so zersiedelt werden solle. Als Antwort vom stellvertretenden Vorsitzenden kam, dass landwirtschaftliche Flächen in diesem Ausmaß nicht zerstört werden dürften. Er hätte besser ein anderes Wort gewählt als „zerstört“. Der Tumult brach wieder los. Der Konsens bestand darin, dass die Kühe der LPG mehr wert seien als Menschen, die ihre Heimat verlören.

Einer fragte den Vorsitzenden, ob er wisse, wie viele Leute jeweils in den unterschiedlichen Orten untergebracht werden sollten. Der bejahte, nicht recht wissend, worauf die Frage abzielte. Der Vorsitzende reichte nach kurzem Zögern das Papier in die Menge. Es bildete sich ein Kreis. Man beratschlagte. Zehn Einwohner wurden zur Unterzeichnung ermächtigt. Sie einigten sich darauf, dass sie, wenn überhaupt, nur einer geschlossenen Umsiedelung von Deutsch-Ossig zustimmen würden.

Der Rat des Kreises und die Braunkohlengrube hatten nun den unbedingten Willen der Deutsch-Ossiger vor sich.

Es wurde darauf verwiesen, dass die Kirche hier nicht Gegenstand der Verhandlung sei, über diese würde besonders entschieden. Als sich die Versammlung auflöste, kam der Betriebsleiter auf Pfarrer Warner zu. Er teilte ihm mit, dass er sich über die Rückung der Kirche in Most umgehend informiert habe. Das Problem sei jedoch, dass dafür Däm340

me geschüttet wurden, die erst ruhen mussten. So viel Zeit aber sei in Deutsch-Ossig nicht. Eine Lösung biete sich dennoch an. Das Warschauer Schloss sei gedreht worden, hydraulisch und auf Luftkissen.

Diese Technologie stehe adäquat für die Rückung zur Verfügung.

Warner hatte fürchterlichen Durst. So trat er in die Gastwirtschaft. Sie war übervoll mit Gästen, die hier Begräbnis und Geburtstag zugleich zu feiern schienen. Man ließ Pfarrer Warner sofort hochleben, der „Totengräber der Hoffnung“ habe sie herausgeschaufelt. In einer Ecke sang eine kleine Gruppe: „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen.“ Die Erleichterung brach sich bis in die Nacht Bahn. Alle bekräftigten untereinander Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

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Zehntes Kapitel

Klärung der Verhältnisse Es war höchste Zeit, nach Norden aufzubrechen. Der Schulanfang stand unmittelbar bevor. Georg Warner würde in Hinrichshagen bei Greifswald persönlich zugegen sein. Damit verkürzte sich die Fahrt. Dass er schließlich in die Finsternis hineinfuhr, hatte einen besonderen Grund.

Die Postbotin hatte einen schwerwiegenden Brief eingeworfen. Das ahnte Warner gleich, denn er kam aus Wittenberg von Margit. Er ließ alles stehen und liegen und nahm sich den Brief vor.

Margit hatte als Erstes Trauriges zu vermelden. Ihr Mann war während einer schlichten Blinddarmoperation gestorben. Durch einen Irrtum waren bei der Anästhesie die Schläuche vertauscht worden. Mehr stand an Tragischem nicht da. Aber Warner war die weitreichende Tragik durchaus bewusst. Tofana hatte wahrgemacht, was sie unter „erlösen“ verstand. Und das sollte im Sinne von „glücklich werden“ umgehend erklärt werden.

Margit schrieb Georg, dass sie sich nun vorstellen könne, mit ihm zu leben. Dann folgte eine Beweiskette von 1977 an, warum sie immer wieder daran gehindert wurde. Der traurige Gipfel der Erörterungen war, dass sie durch mehrere Zufälle an den Ingenieur geraten sei. Dieses Hindernis für eine neue Beziehung mit ihm dürfte nun ausgeräumt sein, dachte sich Warner, obwohl Margit im Brief diskret vermied, das anzusprechen. Aber es stand zwischen den Zeilen. Ach, war diese Frau herzlos. Ihr einstiges Zusammentreffen dürfte nur „großes Theater“ gewesen sein.

Warner sah sich gezwungen, ihr sofort zu antworten. Erst nahm er 342

sich vor, ihren Mann in einer kurzen Kondolenz mit etlichen positiven Attributen zu versehen, um dann sein Bedauern auszudrücken. Aber so viel Ironie wollte er sich nicht leisten. Er ging auf den Ingenieur überhaupt nicht ein.

Georg hielt sich an Margits bisherige Hinderungsgründe für ein gemeinsames Leben und setzte jeweils seine Sicht dagegen. Dann teilte er abschließend mit, dass er weder willentlich noch zufällig, weder gezwungen noch freiwillig, weder fahrlässig noch bei vollem Verstand, weder vom Himmel geführt noch von der Hölle verführt jemals mit ihr leben wolle.

Einen Abschiedsbrief hätte er auch noch schreiben wollen. Der wäre sehr schmerzvoll ausgefallen. Aber wer beförderte schon einen solchen Brief: „An Tofana, Hölle“? Einem räudigen Sünder hätte er diesen unterschieben können. Aber zurzeit wurden nur Saubermänner beerdigt, wie eben der Ingenieur.

Auf der Fahrt nach Norden war Warner schon nicht mehr mit den „schicksalhaften“ Begegnungen befasst. Der Brief war eingeworfen und damit endgültig Schluss. Von der Seite würde er den Ruf „Georg“ nicht mehr vernehmen. Auch Tofana war in Schweigen versunken. Niemand, außer Gott, würde ihn mehr beim Namen rufen. Wie sollte er sich hier irren!

In Hinrichshagen war eine erstaunlich große Gemeinde versammelt.

Die Katechetinnen hatten sich zu einem regionalen Schulanfängergottesdienst entschlossen. Sein für diesen Anlass geschriebenes Stück „Abraham, aha“ hatten sie mit den Kindern treffend aufgearbeitet. Ein junger Abraham redete mit Gott, seiner etwas mürrischen Frau Sara und auf seinem weiten Weg in das gelobte Land mit jedem. Ans Ziel gelangte er, weil er immer lernen wollte. Und wenn ihm etwas Neues begegnet war, sagte er „aha“. Am Ende hatten die Kinder erst einmal genug „Ahas“ für ihren Weg beisammen.

Noch vor Sonnenuntergang traf Georg Warner auf dem Mönchgut ein. Der Ostwind wehte landeinwärts. Warner stieg auf den Schafberg.

So sah er etwas Außergewöhnliches: die See schien sich zum Land hin zu neigen, der Greifswalder Bodden stellte sich gleichermaßen entgegen. Und beide Bewegungen liefen am Leuchtturm zusammen.

Noch erfüllt von den Eindrücken traf er in Middelhagen ein. Jaffa empfing Georg aufgeräumt, indem er als Erstes „aha“ sagte. Er sagte, er habe ihn für einen talentierten Dramatiker gehalten, aber dass er Geschriebenes pädagogisch umsetzen könne, habe er ihm weniger zugetraut. Auch in Middelhagen hätten alle Aha-Erlebnisse gehabt.

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Jetzt teilte er Georg mit, dass er am kommenden Sonntag verhindert sei. Er solle sich bei der Vertretung nichts Besonderes einfallen lassen, sondern einfach nur predigen. Dann zwinkerte er und sagte: „Das kann ja auch dramatisch sein.“ Warner ging in seine kleine Wohnung. Beim Gang durch den Garten fiel ihm das Lied ein „Liebe mich, wie damals im Septemberwind“.

Er warf sich auf sein Bett, schaffte es vor Müdigkeit gerade noch so, sich zu entkleiden. Bevor er in den Schlaf fiel, murmelte er im Blick auf die anstehende Predigt noch: „Irgendetwas von der Liebe …“ Draußen wanderte einsam das Licht des Leuchtturmes.

Glaube, Hoffnung, Liebe Georg Warner stattete den Gottesdienst mit geballter Lyrik aus, bemühte die Dichter, die über den rasanten Brief des Apostel Paulus 1. Korinther 13 hinausgelangen wollten, in dem die Liebe das Größte ist und niemals aufhört. Auch die skeptische Eva Zeller durfte sich äußern.

Vor dem Text, der schwindelerregend hinauf- und hinabging, durfte man sich nicht fürchten. Die Schlacke des Lebens blieb zurück, übrig blieben Glaube, Hoffnung, Liebe. Der Apostel Paulus brachte sofort alle Zungen zum Schweigen, die nichts als Leere verbreiteten: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.“ Warner wollte gleich als Überflieger auftreten: „Liebe ist … himmlisch“, begann er. Als wäre er in einem Film, folgte ein Schnitt. Er blickte in das Gesicht einer jungen, schönen Frau. Er blickte in zwei sprechende Augen, die ihn freundlich ermutigten, das zu sagen, was er bisher verschwiegen hatte.

Warner wusste, dass er eine perfekte Predigt geschrieben hatte. Jetzt war ihm so, als müsse er ganze Teile davon anders wiedergeben. Trotz der Ermutigung konnte das auch qualvoll ausgehen.

Beim Predigen wendet man sich im weiten Raum mehreren besonders aufmerksamen Personen zu, um in eine Kommunikation zu kommen, an der dann auch die anderen beteiligt sind. Deshalb suchte er jetzt weitere Kontakte. Es kam ihm vor, als habe er eine lange Pause entstehen lassen. Er setzte noch einmal mit dem ersten Satz ein, indem 344

er ihn anders betonte und fuhr dann fort: „Diese Worte mit den berühmten drei Punkten stehen unter zwei bekannten Cartoon-Figuren.

Sie schweben im siebten Himmel auf Wolke Nummer 7. Was alles Liebe ist, könnte von 1. Korinther 13 inspiriert sein. Hier wie da fehlt eben nichts an dem, was Liebe ist.“ Er erntete sofort Zustimmung, denn diese beiden Liebenden waren allgemein bekannt. Er konnte fortfahren, die Frau, die seinen Blick beantwortet hatte, gewahrte er nicht mehr. Es ging ihm jetzt darum, einen Anfang der Liebe zu finden: „Der Apostel Paulus blickt unter diesem Vorzeichen zuerst auf die Kindheit zurück: ‚Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind.‘ Ein Kind entdeckt und benennt die Welt – damit fängt das spannende bewusste Leben an. In dieser Zeit wird angelegt, was aus diesem Kind einmal werden wird. Hinzu tritt die Fürsorge der Eltern, die Erziehung und anderes mehr. Aber getragen wird das Kind immer von der Liebe, die ihm innigst begegnet und es begleitet.

Etwa mit drei Jahren sagt das Kind plötzlich ‚ich‘. Das sagt es nicht, weil ihm das jemand beigebracht hat. Vorher nennen Kinder sich beim Namen: ‚Georg hat Hunger.‘ ‚Elisabeth auch.‘ ‚Volker ist satt.‘ Plötzlich sagen sie ‚ich‘. Und das bleiben sie dann ein Leben lang.

Hier beginnt der spannende zweite Teil des Lebens, die Suche nach dem ‚du‘. Von einsam hin zu gemeinsam.“ Als Georg Warner das Wort „einsam“ aussprach, traf ihn wieder der Blick. Und der fragte, wie jemand, der einsam ist, zu einem gemeinsamen Weg finden könne. Etwas irritiert setzte er seinen Text, der auf das „wir“ abzielte, fort: „Teil drei besteht dann im ‚wir‘. Es ist hübsch zu hören, wenn Mann oder Frau nicht ‚ich und du‘ sagen, sondern ‚wir‘.

Kind und Mann, Kind und Frau sind zwei verschiedene Erfahrungswelten. Paulus will die erste keineswegs abwerten, wenn er fortfährt: ‚… als ich aber ein Mann wurde, legte ich ab, was kindlich war.‘“ Der Blick fragte nun, was der Prediger abgelegt hatte, wo und wie Georg Warner seine Kindheit zugebracht hatte. Er war mit 15 Jahren von zu Hause weggegangen, zwar auf die höhere Schule, aber die Absicht auszuziehen war vorrangig gewesen. Das Merkwürdigste war dabei, dass seine Mutter weinte, wo er einen Freudenausbruch erwartete. Georg hatte bis dahin gute Zensuren nach Hause gebracht. Nur im Kopfteil des Zeugnisses standen stets zwei Vieren, in Betragen und dann noch einmal in Betragen und Gesamtverhalten mit Tendenz nach unten. Er galt als unerziehbar. Wenn er vorhin gesagt hatte, dass in der Kindheit 345

angelegt wird, was später aus einem wird, so war aus Georg Warner ein Empörer geworden. Und als solcher erwiderte er jetzt den Blick. Was er nun predigte, schloss sich gut an: „Der Text nimmt umgehend Fahrt auf. Paulus steuert unser Lebensschiff geradewegs in die Brandung: ‚Unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk.‘ Auf das Wissen des Erwachsenen zu setzen, die Welt gänzlich erklären zu wollen, birgt die Gefahr in sich, dass das Leben in der Krise plötzlich zerfällt, als Stückwerk erscheint.“ Warner sagte sich: „Jetzt die Kurve kriegen.“ Er wollte über die Hoffnung predigen: „Ich entsinne mich an diesen Moment der Offenbarung. Er ist neun Jahre her. Ich wollte plötzlich Anker werfen, am ‚Kap der guten Hoffnung‘. Nein, nicht an der Südspitze Afrikas. Das ‚Kap der guten Hoffnung‘ ist eines, das jeder Mensch erreichen muss, eher zweisam als einsam.“ Die Zuhörer waren ganz Ohr und man sah, dass die einen grübelten, die anderen bereits angekommen schienen. So konnte Warner nun auf sich verweisen: „Mein ‚Kap der guten Hoffnung‘ lag im Osten, an einer Grenze, in einem Braunkohlenrevier. Einen besseren Ort für die Hoffnung konnte es nicht geben. Jetzt hat diese sich abgenutzt und ich bin tatsächlich ans Meer aufgebrochen, weitläufig nach Middelhagen, wo mir nachts der Leuchtturm den Weg weist.“ Das Gesicht leuchtete „schön wie das Morgenlicht am ersten Tag“.

Warner nahm es deutlich wahr. Oval geformt, Augen, Nase und Mund in einer Harmonie, die mitzuteilen schien: „Was ich sehe, nehme ich auch als Duft wahr und benenne es.“ Glattes, langes dunkelblondes Haar rahmte das Gesicht, das so noch besser zur Geltung kam.

Warner setzte den Schlusspunkt zur Hoffnung: „Ein jeder und eine jede wird nur dann zum eigenen ‚Kap der guten Hoffnung‘ gelangen, wenn sie liebesfähig sind. Ohne Hoffnung aber ist die Liebe blind.“ Georg Warner musste sich jetzt der Zeit zuwenden, der vergehenden, gegenwärtigen und zukünftigen oder besser, dem Problem der Zeit. Er knüpfte an das „Stückwerk“ an und verdunkelte mit Paulus: „Eine wesentliche Erkenntnis, die uns versagt bleibt, ist das Wissen um die Zukunft. Die unverfügbare Zukunft stellt sich als Problem dar.

Mit Blick in die Zukunft wird unser bisheriges Leben infrage gestellt.

Am Ende könnte es nur Stückwerk sein. Der Apostel Paulus wählt zur Deutung einen schwierigen Vergleich: ‚Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt 346

erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.‘ Diese Sätze sind so schwer zu verstehen, weil sie eine schmerzvolle Erfahrung betreffen, nämlich die der Vergänglichkeit. Was wir in uns tragen, ist die Sehnsucht nach der Wiederkehr der Zeit. Diese Sehnsucht hat zutiefst etwas mit Liebe zu tun. Denn sie bricht besonders dann heftig auf, wenn etwas verlorengegangen ist.“ Das „dunkle Bild“ traf wohl auf sein Gegenüber nicht zu. Sie begegneten sich von Angesicht zu Angesicht. Georg Warner hatte signalisiert, dass er Verlorenes hinter sich gelassen hatte. Dabei waren es nicht die Frauen, die mit ihm nicht leben konnten oder wollten. Es ging eher um das Revier, das es so und bald nicht mehr geben würde. Deshalb wollte er jetzt unbedingt persönlich werden. Spot an. Den Lichtkegel auf sie gerichtet. Entweder sie wand sich jetzt entrüstet ab oder sie gelangte zu einer Offenbarung, gänzlich ohne gelbe Blumen: „Herr der Zeit zu sein, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenzuhalten, ist uns dennoch gegeben. Wenn ich sage: ‚Ich liebe dich‘, dann weiß ich, warum das so ist. Ich sage es auch, weil ich ausdrücken will, dass ich dich immer lieben werde. Sonst wäre alles voll der größten Absurdität. In solchen Momenten, und sie mögen knapp bemessen sein, sind wir Herr der Zeit.“ Feuchte Augen bekam Georg Warner nicht geschenkt. Aber ein leichtes Nicken. Jetzt tastete er sich noch weiter vor, auch zu sich selbst. Die Idee zum literarischen Beispiel war ihm schon bei der Formulierung gekommen. Jetzt wollte er es wesentlich vertiefen: „Wir nähern uns jetzt dem Glauben. Hoffnung, Liebe, Glauben. Exupéry, der Schriftsteller und Pilot, hat uns die zu Herzen gehende Geschichte des ‚Kleinen Prinzen‘ hinterlassen. In seiner Erzählung ‚Der Südkurier‘ folgt er dem Piloten Jacque Bernis. Der hat für immer von seiner Geliebten Abschied genommen. Das ganze Leben ist dabei an ihm vorübergezogen. Was ihm noch bleibt, ist das, was er immer getan hat – fliegen. Noch am selben Abend wird er als Südkurier nach Afrika aufbrechen.

Bis dahin sucht er nach der Antwort. Er geht in eine Kirche. Dort ist er seit Jahren nicht mehr gewesen. In äußerster Anspannung ist er bereit zuzuhören. Der Prediger hat eben begonnen. Ich gebe nur einen kurzen Auszug wieder, der Prediger lässt Christus sprechen: ‚Ich bin die Quelle des Lebens. Ich bin die Flut, die in euch eindringt, um euch zu erwecken, und die wieder zurückfließt. Ich bin das Leid, das in euch eingeht, um eure Herzen zu zerreißen, und das wieder zu347

rückströmt. Ich bin die Liebe, die in eure Herzen einzieht und die in alle Ewigkeit währt. Ihr Liebenden, kommt zu mir, ich werde eurer Liebe Menschlichkeit geben. Ich bin der Einzige, der den Menschen zu sich selbst zurückführen kann.

Mein Vater, ich habe an die Menschen geglaubt, darum habe ich mein Leben für sie hingegeben …‘“ Während der langen Predigt merkt Bernis, dass der Priester immer erschöpfter wird, bis er kaum noch weitersprechen kann. Schlagartig wird ihm klar, was dem Priester fehlt: der Glaube an die Liebe. Diese Erkenntnis wird sogleich zu seiner eigenen. Auch er hat nicht an die Liebe geglaubt. Und nun kam die Reihe an Warner. Der war bei dem kurzen Auszug aus dem „Südkurier“ auch immer erschöpfter geworden. Er suchte Hilfe in den Augen, die ihn anblickten. Was er sah, war Erschrecken und darin Ermutigung. Georg Warner gestand sich ein, dass auch er nicht an die Liebe glaubte. Warner wollte und musste die Predigt zu Ende bringen: „In dieser Begegnung mit Christus und sich selbst denkt Bernis: ‚Welch eine Verzweiflung. Ich habe einen Aufschrei der Verzweiflung gehört.‘ Der Verzweifelte ist Christus. Denn Bernis hat an dessen Liebe nicht geglaubt. Jetzt hat er sie erfahren. Der Glaube ist nahe an der Liebe. Erst der Glaube bringt die Liebe zum Leuchten.

Noch in der gleichen Nacht stürzt Bernis ab.

Tröstlich ist auch über den Tod hinaus, dass Glaube, Hoffnung, Liebe bleiben, diese drei. Gleich groß. Und dennoch ist die Liebe die größte unter ihnen. Amen.“ Noch einmal leuchtete es zu ihm hin. Warner war am Altar mit dem Ende des Gottesdienstes befasst. Als er den Segen sprach, konnte er sein Gegenüber nicht mehr sehen. So sehr er unter den heimwärts Strebenden suchte, sie schien verschwunden, als habe es sie nie gegeben.

Lütte und Grete Mit Beginn der Woche musste sich Warner auf den Weg zu den Gemeinden machen, die zu Erntedank seine Texte und vor allem den „Armen Lazarus“ darbieten wollten. Bei Jaffa in Middelhagen und Göhren war alles geregelt. Warner selbst hatte mit den Proben begonnen. Dann 348

sollte es rund um die Insel gehen.

In Binz hatte es ebenfalls ein ausführliches Treffen gegeben. Der Ort war Warner auch deshalb sehr wichtig, weil er von den Bausoldaten aus Prora erreichbar war. Er hatte ausreichend Texte dagelassen, die sie dann mitnehmen konnten.

Auf seiner nun folgenden Fahrt kam er nach Saßnitz und im Norden von Rügen nach Glowe. Überall wurde Warner freundlich empfangen, mit Interesse an seiner Person und weiteren Vorhaben. Vor ihm lag Altenkirchen. Warner gestattete sich einen Ausflug zum Kap Arkona. Er war begeistert von der Kirche in Vitt unterhalb des Steilufers. Nur ein an der Wand befestigtes Altarbild schmückte die kleine Kirche. Es handelte sich um ein Seestück, das den Kampf mit den aufgewühlten Elementen darstellte. Hier wollte Warner einmal predigen.

Der Leuchtturm von Kap Arkona rief ihm etwas in Erinnerung. So strebte er der letzten Station auf Rügen zu. Die Gegend war einsam.

Schließlich erreichte er Wiek gegenüber der langgezogenen Halbinsel Bug am Wieker Bodden. Dahinter lag Hiddensee, wo er niemals hinkommen sollte und auch keine seiner Texte Verwendung fanden.

Pfarrer Lütte und seine Frau Grete empfingen ihn. Beide waren erst Anfang dreißig und er in seiner ersten Entsendung hierher verschlagen worden. Warner war an einen armseligen Popen und seine Herde bei Tschechow erinnert. Die Kirche schien von der Denkmalpflege vergessen worden zu sein, das alte pommersche Pfarrhaus ebenso. Drinnen war die Zeit stehen geblieben. Die große, geräumige Wohnstube befand sich unter dem Dach, alles war liebevoll an seinem Platz. Die Möbel waren seit wenigstens zwei Jahrhunderten gesammelt worden und künstlerisch wertvoll.

Der Abend sollte nicht nur lang werden, sondern auch bemerkenswert. Grete führte das Gespräch. Als Erstes erfuhr Warner, dass ihr Mann Schriftsteller sei. „Pfarrer und Schriftsteller“, verbesserte sie sich.

Sie besaßen Warners Veröffentlichungen von „Werk und Feier“, auch das „Grüne Requiem“.

Da Lütte und Warner mehr als nur Pfarrkollegen waren, boten sie einander das „Du“ an und unterhielten sich übers Schreiben. Lütte meinte, dass er den „Armen Lazarus“ zu Erntedank nicht wegen des geistlichen Gehaltes spielen würde, sondern weil es eine Moritat sei. So könne man mehr lernen, als wenn man den Reichen in die Hölle befördere und den Armen in den Himmel. Er seufzte leicht, um zu sagen: „Ich muss selbst mitspielen, dann ein alter Fischer, der sonst Shanties singt. Denkfähige Jugendliche besitze ich gerade mal zwei. Also, wenn du mein Freund 349

sein willst, schreibe nie Stücke mit mehr als vier Personen.“ Warner war aufgefallen, und die Predigt zu 1. Korinther 13 schärfte noch seine Sinne, dass Grete vollkommen an ihren Mann glaubte. Ihre Sinne und ihr Leib signalisierten das. Lütte ließ sich das in tiefer Ergebenheit gefallen. „Ein etwas außergewöhnliches, aber herzinniges Paar“, dachte Warner.

Lütte quälte wohl das schlechte Gewissen, denn er wandte sich an seine Frau: „Sag du es.“ Grete brachte heraus: „Georg, wir haben mit dem ‚Armen Lazarus‘ nur einen Vorwand gesucht. Wir wollten dich hierher locken, um reden zu können. Hierher kommt sonst niemand.“ Für Warner war das unverständlich, so unmittelbar an der von Urlaubern reich besuchten Ostseeküste. Am nächsten Tag konnte er es sich erklären. Der Strand war sehr kurz und bestand aus schwarzen Klinkern. Zudem schwemmte die See alles in den Bodden, was nicht mehr benötigt wurde, auch Ölrückstände.

Grete trug ein umfangreiches Manuskript herbei und nannte es „Roman“. Sie erzählte nicht den Inhalt, sondern wie Lütte den Text gestaltet hatte, alle Hintergründe und Erlebnisse. Warner hätte ihr am liebsten vor Ehrfurcht die Hand geküsst. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass eine Frau an seiner Seite jemals so auskunftssicher sein könnte.

Literarische Vergleiche, wie sie Warner selbst gern einflocht, stellte sie nicht an. Grete sagte bestimmt: „Der Roman ist einmalig.“ Dann ließen sie ihn mit dem Manuskript zurück. Warner las die halbe Nacht. Er stellte fest, dass der Roman von nichts anderem handelte als von dieser vergessenen Gegend und seinen Menschen. Dabei fiel die Kunst der Darstellung auf. Schon die Worte flossen so träge dahin, als würde sich nie etwas ereignen. Und eben das steigerte die Unruhe beim Lesen. Es konnte ja nicht ewig so weitergehen. Ging es aber. Der Alltag wurde sogar noch niedergedrückt. Die kleinen Höhepunkte waren freudlos. Lütte stammte aus dem Norden, wenn nicht sogar aus dem „hohen Norden“. Aber es war kein Vergleich mit nordischen Schriftstellern möglich. Am ehesten kam noch Strindberg infrage. Oder Stücke von Ibsen in ihrer tödlichen Ausweglosigkeit. Aber bei denen leuchtete stets eine dichterische Sprache. Lüttes „Roman“ war keineswegs ohne Poesie, aber es war die des Gewöhnlichen.

So schilderte er einen Fischer einen Tag lang beim Netzeflicken und hörte nicht eher damit auf, bis die letzte Masche zusammengezogen war.

Gedacht hatte der Fischer dabei nicht viel. In den Gedanken des Fischers waren seine Beziehungen und der armselige Ort dargestellt. Er hätte schon 200 Jahre zuvor so sinnieren können. Aber – der Roman 350

spielte in der DDR. Die Kunst Lüttes bestand darin, deren Dumpfheit „lebendig“ hervorzuholen. Eine andere Art des Schweigens. Jetzt verstand Warner, warum Wolf Biermann in seinem Konzert zu Pommern ausgerufen hatte: „Das Land ist still!“ Georg Warner widmete dem Roman den nächsten Tag. Er kam nicht davon los. Grete brauchte keine Ermutigung, aber Georg steigerte ihre Erwartungshaltung. Nachmittags um vier brach er auf, ohne ein Ergebnis mitzuteilen. Um sechs stellte die Wittower Fähre ihren Betrieb ein.

Das war der einzige Weg, um nach Stralsund zu gelangen und nicht die endlose Strecke über Land zurück nehmen zu müssen. In Stralsund hatte Warner Erntedank zu besprechen.

An der Wittower Fähre spielten sich schon dramatische Auftritte ab.

Vier Fahrzeuge passten auf die Fähre. Die Warteschlange war lang, wie lang mochte sie erst im Sommer sein? Der Fährmann gab sich in seiner Machtfülle so gelassen, als habe er über das Schicksal von Flüchtlingen zu entscheiden. Die Fähre lag noch am anderen Ufer. Von dort wollte keiner hinüber. Dennoch hielt sie den Zeitplan ein. Eine halbe Stunde später musste die letzte Fuhre abgehen. Mit stolzem Schritt ging der Fährmann die Kolonne ab, blickte in die Autos. Wenn er Kinder entdeckte, beorderte er das Fahrzeug vor. Auch eine schöne Frau machte Eindruck. Die letzten vier Autos durften übersetzen.

Warner war das plötzlich willkommen. Er wendete und fuhr nur bis Wiek. Lütte und vor allem Grete waren erfreut. Nach dem Abendbrot zog sich Warner zurück und las weiter. Am Morgen wollten beide dann wissen, zu welchem Schluss er gelangt sei. Warner gab freimütig Auskunft: „Dieser Roman ist der beste, der je in der DDR entstanden ist, eben weil er dieses Land durch schlichte Menschen schildert. Und das, ohne auf die Ideologie einzugehen. Die Entmündigung ohne Hoffnung, ohne Glaube und Liebe, ist unvergänglich.“ Die Eheleute blickten einander an. Warner erhielt keine Erwiderung.

Grete sagte: „Georg, du musst uns helfen, den Roman zu veröffentlichen.“ Mit dieser Bitte hatte er nicht gerechnet. Ohne dass es nach Ausflucht klang, antwortete er: „Ich bin Stückeschreiber, inszeniere und veröffentliche selbst. Gelegentlich kommen andere Texte hinzu. Aber hier handelt es sich um einen Roman, der dem Leser in die Hände gelangen muss.“ Er wollte die beiden nicht im Unklaren lassen: „Ich habe eben das genannte ‚Grüne Requiem‘ etlichen Verlagen angeboten. Die Kernaussage war: ‚Das kriegen Sie nie gedruckt.‘ So sage ich euch mit Bestimmtheit, dass diesen Roman kein Verlag drucken wird.“ Er sah, dass er ihre Erwartungen enttäuscht hatte. So rüstete er zum Abschied.

351

Warner befand sich bereits auf halber Strecke. Kurz hinter Glowe kam ihm eine Idee. Er wendete und fuhr nach Wiek zurück. Zuerst traf er Grete. Die fragte ihn, ob er etwas vergessen habe. „Ja, das Manuskript.

Es gibt doch sicher eine Abschrift.“ Sie bestätigte das. Dann saßen sie wieder am Küchentisch. Georg sagte: „Ich könnte in meiner Verantwortung Gemeindeabende erarbeiten, bei denen einzelne Kapitel des Romans im Mittelpunkt stehen. So würde er bekannt gemacht. Ihr tut das, was in der DDR bei unerwünschten Texten üblich ist. Sie werden per Hand oder Schreibmaschine vervielfältigt. Wer den Roman erhält, wird gebeten, ihn ebenfalls abzuschreiben und zu verteilen. Und so fort.

Dabei kann es sogar geschehen, dass der Staat die Heimlichtuerei satt bekommt und einen Verlag zur Veröffentlichung bestimmt. Bis dahin müsst ihr die Angriffe durchstehen.“ Lütte und Grete waren perplex. Sie nahmen den Vorschlag an. Georg sagte noch, dass er außerhalb der „Texte für gottesdienstliches Handeln“ einmal im Monat den besagten „Gemeindeabend“ verschicke.

Dann verabschiedete er sich zum dritten Mal. Erst war er versucht, es noch einmal mit der Wittower Fähre zu probieren. Aber der Landweg war sicherer. In Middelhagen hielt er nur kurz. Er musste dringend nach Hause, denn auch dort stand das Erntedankfest bevor. Auf dem Heimweg musste er noch Stralsund, Anklam und Pasewalk aufsuchen.

In Stralsund herrschte eine rege kirchliche Arbeit. Man war selbständig zu Ende gelangt. So kündigte Warner an, was in nächster Zukunft zu welchem Anlass erscheinen würde, auch auf die Gemeindeabende wies er hin.

In Anklam, das bald zu einem wichtigen Abnehmer seiner Texte werden sollte, gönnte er sich neben der Besprechung einen Museumsbesuch. Die Fliegerei hatte es ihm angetan. Und der Flugpionier Otto von Lilienthal war ein Sohn der Stadt gewesen.

Pasewalk war ein lauschiger Ort, eine Ackerbürgerstadt, in der die Häuser sich gleichgroß aneinanderduckten. Nur die Kirche überragte alles in majestätischer Höhe. Allerdings war der Kirchturm in voller Höhe und Breite zusammengestürzt, sodass man in das Kirchenschiff und den gigantisch großen Kirchenboden hineinblicken konnte, wo das Gesperre den Raum noch zu erhöhen schien. Im Gespräch mit dem alten Pfarrer erfuhr Warner, dass die Gemeinde eben mit den Proben beginne. Warner sagte: „Das darf aber keine Ewigkeit dauern.“ Der Pfarrer erwiderte: „Erntedank. In Pommern wird auch nach der Ewigkeit noch geerntet.“ So von der Zeitlichkeit auf die Ewigkeit verwiesen, nahm Warner den 352

Heimweg unter die Räder. Acht Stunden später fand er in Deutsch-Ossig alles in erwartungsvoller Spannung. Nichts hatte sich getan, es hatte auch keine Antwort gegeben. Ein Gerücht kursierte allerdings: Die Kirchenleitung verhandele mit dem Staat über die Umsetzung der Kirche.

Erntedank fehlte es Georg Warner nicht an Klarheit. Er predigte Kain und Abel und begann mit dem Text ‚Wenn der Bagger die Erde aufreißt‘.

Dann legte er das Vorrücken der Grube als Brudermord aus.

Die Woche über blieb er im Revier, arbeitete den vergangenen Monat auf, machte Besuche. Er hatte einen neuen Untermieter, die alte Gärtnerin war gestorben. Er arbeitete beim Diakonischen Werk und war ein leidenschaftlicher Laienprediger. So fand Warner in dem Bruder eine ständige freiwillige Vertretung.

Den 7. Oktober gönnte er sich in der Bahnhofsgaststätte. Hilde und die anderen waren erstaunt, was Georg an der Küste alles zu Wege gebracht hatte. Sie erhielten genug Material für „Bibel, Blues und bunte Bilder“. Vor allem sollten sie wöchentlich einen Roman besprechen und vervielfältigen. Als Georg Warner sich bis zum November verabschiedete, schaute er auf den Kilometerzähler und stellte erschrocken fest, dass er im letzten Vierteljahr 4 000 Kilometer gefahren war.

Der Leuchtturm Warner bog diesmal gleich hinter dem Rügendamm rechts ab. Er hatte vor, Rügen ganz zu „erobern“. Auf halber Strecke lag das Städtchen Garz. Dort stattete er dem Pfarrer einen Besuch ab, stellte sich vor, als wenn es von ihm bisher keine Sendungen gegeben hätte und erläuterte sein Programm und dessen Verbreitung. Der Pfarrer erwiderte, dass die Menschen am Bodden ganz anders seien als sonst auf Rügen, breit und behäbig. Warner sagte, dass er auf Rügen ebenso viele verschiedene Menschen wie in seiner Heimat angetroffen habe. Er nannte die Einwohner von Wiek.

Der Pfarrer lebte auf: „Lütte ist der begabteste Theologe, den wir auf Rügen haben. Hat er Ihnen nicht einen Packen seiner Artikel und Aufsätze in die Hand gedrückt?“ Warner war verblüfft, ließ sich aber nichts anmerken. Stattdessen holte er eine Abschrift des Romans hervor und ermunterte den Pfarrer, sie zu lesen. Im Winterhalbjahr würde er dazu 353

Gemeindeabende vorbereiten. Der Pfarrer zeigte Interesse und Warner sagte ihm zu, mit dem ersten Beitrag wiederzukommen.

Dann fuhr er nach Putbus. Feudal, aber der Lack war ab. Immerhin herrschte hier noch gemäßigte Geschäftigkeit. Er besuchte niemanden, sondern wollte sich die Verhältnisse von Jaffa erklären lassen.

Der empfing ihn in Middelhagen mit einem Eimer Barsche. Ein Boddenfischer hatte sie ihm geschenkt. Jaffa wusste mit dem Geschenk nichts anzufangen und war eben dabei, sie wieder ihrem Element zu übergeben.

Warner war zu Beginn seiner Reise an genügend Oberlausitzer Teichen vorbeigekommen. Er hatte Witterung aufgenommen. Es roch unvergleichlich nach dem Moder abgelassener Teiche. Georgs Großvater war Fischmeister gewesen. Den ganzen Herbst über gab es Fisch. Später hatte er selbst mit abgefischt. Und als er die heimatlichen Gefilde hin zu dem endlosen Schießgebiet verlassen hatte, war er beim Waldschlösschen auf schmaler Straße dicht an den Teichen vorbeigefahren, in deren versumpftem Untergrund sich die meisten Barsche aufhielten.

Jetzt nahm sich Georg Warner Jaffas Fische vor. Das Schuppen war eine Mühe. Und die Barsche waren wehrfähig. Bei Angriff stellten sie ihre die Rückenflossen auf. Stach man sich daran, gab es eine langwierige Entzündung. Jaffa kam gelegentlich schauen und schüttelte erstaunt den Kopf. Schließlich konnte seine Frau die Pfannen aufsetzen. Jaffa bezweifelte, dass sie alle gebratenen Fische essen könnten. Aber Georg war unersättlich. Am Abend stieg er auf den Schafberg. Das Meer und der Bodden lagen in herbstlichem Dunst. Nur der Leuchtturm stach mit seinem Licht darüber hinaus. Am nächsten Morgen würde Warner dahin aufbrechen.

Der folgende Tag ging mit Arbeit dahin. Warner hatte es sich zur Aufgabe gesetzt, zu Totensonntag ein Angebot nach den „Leichenreden“ von Kurt Marti zu unterbreiten. Es war ihm recht, erst bei Einbruch der Dämmerung zum Leuchtturm aufzubrechen und ihn zu erreichen, wenn das Licht angezündet wurde.

Dann stand er davor, ließ seinen Blick hinaufwandern. Da hörte er hinter sich eine Stimme, die „Georg“ sagte. Der Ton war von solcher Wärme, dass er ein Eiskap hätte abschmelzen können. Georg Warner drehte sich in diesen Luftstrom.

Da stand sie vor ihm, als erwarte sie seinen letzthin versäumten Segen. Warners Augen brannten, ihm fiel der Segen des Mose in aller poetischen Wucht ein, mit dem er seinen Feuergott und sich selbst besänftigte: „Merkt auf, ihr Himmel, ich will reden, und die Erde höre die 354

Rede meines Mundes. Meine Lehre rinne wie der Regen, und meine Rede riesele wie Tau, wie der Regen auf das Gras und wie die Tropfen auf das Kraut. Denn ich will den Namen des HERRN preisen.“ Sie neigte den Kopf, als wollte sie erraten, was in Georg vorging. Dann reichte sie ihm ihre schmale Hand. „Ich bin Genoveva“, sagte sie. Der Name war außergewöhnlich, zumal er französisch ausgesprochen wurde. Genoveva bemerkte Warners Erstaunen: „Du willst doch über Jacque Bernis schreiben. Seine Geliebte hieß Genoveva.“ Sie hatte eine Ledermappe unter dem Arm, am anderen hing eine Tasche. „Schichtwechsel“, sagte sie pflichtbewusst. Sie stiegen hinauf in den Leuchtturm. Unterhalb des Blinklichts befand sich ein großer runder Raum. Warner staunte. Aber er konnte sich nicht weiter umsehen, denn der Leuchtturmwärter, der bisher Dienst getan hatte, kam auf ihn zu und sagte: „Ah, Pfarrer Warner. Schön, dass Sie uns einmal besuchen. Ich habe Ihre Worte von der Wiederkehr der Zeit immer noch im Ohr. Seitdem bin ich nicht mehr traurig.“ Warner konnte das gut verstehen, denn er war schon alt.

Der Leuchtturmwärter berichtete Genoveva vom Tagesverlauf. „Keine besonderen Vorkommnisse“, sagte er. Die Aufzeichnungen lägen auf dem Tisch. Er ging und nickte Warner noch einmal freundlich zu.

Genoveva konnte sich mit ihm nicht sofort befassen, wollte ihn aber an ihrer Seite haben. So betrachtete er ihren Arbeitsplatz. Eine große Radaranlage lag vor der Leuchtturmwärterin. Das Radar bewegte sich unablässig über die See nordöstlich vor Rügen und fing die Schifffahrtslinie ein. Dort war Bewegung. Genoveva schaltete das Licht ein. Sie erklärte, der Kontakt zu den Schiffen bestehe zwar auch am Tage, aber nachts würden sie ihre Positionen auch nach dem Licht abschätzen und sich davon leiten lassen.

Das Telefon klingelte. Genoveva nahm den Hörer ab und unterhielt sich auf Englisch. Nach dem Gespräch sagte sie: „Der Schelm will immer nur meine Stimme hören.“ Der Leuchtturm von Mönchgut und andere mit ihm verbundene Türme sicherten vor allem die Route nach Osten, nach Polen und Russland.

Aber es trafen auch Schiffe aus Dänemark und Schweden ein, die zum Nord-Ostsee-Kanal fuhren. Beim nächsten Anruf wurde Genoveva energisch. Sie sprach jetzt Russisch. Zwei Containerschiffe lagen auf gleicher Höhe. Soweit Warners Russischkenntnisse reichten, bekam er mit, es sei kein Wettrennen zu veranstalten. Und schließlich wollte eine klagende Stimme auf Französisch beruhigt werden. Als Genoveva auflegte, sagte sie: „Waschlappen.“ 355

Georg Warner war einerseits von Ehrfurcht erfüllt, andererseits fragte er sich, wie viel Studium, einschließlich der Sprachen, notwendig sei, um einen zunächst romantisch erscheinenden Leuchtturm steuern zu können. Er fragte Genoveva danach, die erstmals wieder ihre „Leuchten“ auf Warner richtete. Sie beließ es bei einem Orakel: „Ich war unbotmäßig. Bin deshalb vom Nautischen Institut hierher versetzt worden.“ Warner fragte nicht nach, was dieser hochgestelzte, altmodische Begriff „unbotmäßig“ beinhaltete. Um das zu erfahren, würden mehrere Gespräche nötig sein. Für den alten Leuchtturmwärter galt das wohl nicht.

Genoveva sagte: „Er war Englisch- und Physiklehrer. Wollte aber nicht mehr im großen Haufen laufen.“ Rügens Intelligenz hatte sich offenbar auf Leuchttürme zurückgezogen.

Warner nahm auf dem Radar eine nicht endende Reihe von Schiffen wahr, die landeinwärts stillzustehen schien. Er war nicht blauäugig, sondern wusste, da war die Küstenwache aufgefahren. Erst jetzt fielen ihm der rote Knopf und das rote Telefon an Genovevas Arbeitsplatz auf.

Er brachte beides in Verbindung. Genoveva sprang erschrocken auf, als habe sie etwas vergessen, und griff nach ihrer Tasche. Sie holte einen schwarzen Becher und ein schwarzes Tuch hervor. Den Becher stülpte sie über den Knopf, mit dem Tuch bedeckte sie das Telefon. Dann sagte sie befriedigt: „Sehe ich den Knopf nicht blinken, brauche ich nicht zum Telefon zu greifen.“ Georg sah sie fragend an. Doch sie strich ihm nur mit dem Handrücken übers Gesicht, blies ihn an und behauptete, dort sei eine Feder gewesen. „Jetzt fliegt sie und fliegt und fliegt …“ Dabei schwebte sie selbst durch den Raum und langte wieder bei Georg an. Sie küsste ihn und sagte darauf: „Siehst du, da ist sie.“ Es war ihm, als wenn ihn tatsächlich eine Feder berührte.

Die Feder erinnerte Genoveva an etwas anderes. „Du wolltest schreiben“, sagte sie. „Das kannst du immer hier bei mir tun. Und wir sind innig verbunden. Wenn ich frei habe und du nicht schreibst, werden wir durch dein Dachfenster in die Sterne schauen.“ Letzteres hatten auch Bernis und Genoveva vom Bett aus getan. Georg bat seine Genoveva um Papier und Stift. Dann zog er sich zurück und ließ das Blinklicht auf dem Papier leuchten. Das Stück, das er zu schreiben beabsichtigte, sollte „Die Windrose“ heißen. Neben Exupéry sollte der Philosoph Pascal zu Wort kommen, da er sich eingehend mit dem All befasst hatte. In der Inszenierung würde ein Flugzeug aufgehängt sein und mit der Landung auf die Bühne herabgelassen werden. Das wäre der Start. Das Flugzeug würde nur Konturen aufweisen, sodass man die Insassen sehen konnte.

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Georg Warner begann: Die Windrose 1. Szene Personen: Jacque Bernis, Pilot Neri, Mechaniker Sprecher von Radiostationen Nacht, in die sich das Blinken von Sternen mischt.

Sprecher von Radiostationen: Von Toulouse an alle Stationen: Südkurier von Toulouse ab 5.45 Uhr stop. Aus Alicante 11.10 Uhr. Kurier wird 21 Uhr in Agadir landen, 21.30 Uhr nach Cabo Juby weiterfliegen, dort mit Michelin-Bombe niedergehen stop. Cabo Juby wird übliche Leuchtzeichen vorbereiten stop. Befehl: in Kontakt mit Agadir bleiben stop. Aus Dakar für Port-Etienne, Cisneros, Juby: dringend den Verbleib des Kuriers mitteilen stop. Aus Juby für Cisneros, Port Etienne, Dakar: keine Nachrichten seit Abflug Alicante 11.10 Uhr. (Ein Stern verlässt die Bahn. Wird zum Südkurier. Bernis in der Kanzel des Flugzeugs.

Hinter ihm Neri, lesend.

Bernis: ‚… und ich bin zugleich mit der Sonne geboren.‘ (Er lacht auf. Durch das Heulen des Motors zu Neri.) Verstehst du, Neri? Mit der Sonne! (Der Mechaniker blickt verständnislos auf Bernis. Der schaltet den Motor ab. Die Maschine sinkt in das Entsetzen des Mechanikers hinein.) ‚Ich hätte hinter all den armseligen Schlichen ihre Zärtlichkeit erraten sollen. Aber ich war zu jung, um sie lieben zu können.‘ (Er startet, reißt das Flugzeug hoch. Neri verbirgt sich entrüstet hinter seiner Illustrierten.) ‚Wenn ich die Sonne sehe, versuche ich nur noch durchzubrechen zu diesem Frieden, wo kein Bewusstsein mehr ist, nur noch Liebe, Verstehen.‘ (Er sinnt den Worten nach.) Liebe-Verstehen. ‚Für irgendeinen, irgendetwas ist das All eine Blume, die sich öffnet.‘ (Er dreht sich zu Neri um, holt hinter der Zeitung das Gesicht hervor. Der beeilt sich, neben ihn zu gelangen.) Bist ein Kind des technischen Zeitalters, wie?

Neri: Flugzeugmechaniker.

Bernis: Kennst du Lilienthal? (Neri schüttelt den Kopf.) Der ist abgestürzt. Bei dem war eine Schraube locker oder fehlte ganz. Kann dir nicht passieren, wie?

Neri: Eine Schraube. Ein Kinderspiel. In meinem Beruf …

357

Bernis: Ich weiß. Was der Lilienthal Zeit seines Lebens nicht zusammenbekam, das lernt jeder Dummkopf heute in der Schule. Aber ob er die gleiche schöpferische Kraft besitzt, das ist die Frage. Lilienthal gelangte an eine Grenze, die zu überschreiten heute ein Kinderspiel ist.

Weshalb ist er dann geflogen?

Neri: Vielleicht war er ein Abenteurer.

Bernis: Ein Pionier war er. Er musste auf die Kunst der Improvisation setzen. 1:99. Ein Prozent Schöpferkraft gegen 99 Prozent Unwägbarkeit.

Neri: Ich denke, es fehlte nur eine Schraube?

Bernis: Der Tod ist immer ganzheitlich.

Neri: Wir Mechaniker …

Bernis: Wolltest du sagen: ‚… sind auch nur Menschen‘? Tu mir den Gefallen, und sag es. Sonst kann ich nicht fliegen.

Neri: Sicher sind wir Menschen, aber …

Bernis: Kein ‚aber‘! Oder ich setze dich mitten in der Wüste ab. Da lernst du von einem Tag auf den anderen, was dir keine Schule beibringen kann. (Neri zieht sich beleidigt zurück. Bernis ist wieder bei seinem Text angelangt.) ‚Kam geschneit, bis ich begriff, man lernt für Examen, denkt wie Trambahnen im Kreis. Und die Lichtjahresläufe sind nun ganz von Eis erstarrt.‘ (Er sinnt dem Satz hinterher.) ‚Für irgendeinen, irgendetwas ist das All eine Blume, die sich öffnet.‘ (Er reißt einen Schokoladenriegel auf. Lockt Neri heran. Klopft ihm auf die Schulter. Sieht dem Lebenshungrigen beim Essen zu.) Kennst du Pascal? (Der Mechaniker nickt unsicher.) Seine Definition von ‚plus-minus unendlich‘, wie?

Dann hör mal gut zu: ‚Die Natur ist eine erschreckliche Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgendwo.‘ Pascal, wie gesagt.

Die vor ihm ins All schauten, lobten Gott oder aber ließen sich für ihre Überzeugungen verbrennen, gerieten in den Bann. Den Menschen packt auf einmal mit Pascal grausige Angst. Leere steht ihm vor dem inneren Auge. Wenig später erhebt er sich in die Luft.

Neri: Versteh ich nicht.

Bernis: Ist auch nicht zu verstehen. Oder nur, wenn dieses erdgebundene Wesen sich selbst als Mittelpunkt begreifen lernt. Und den gesamten Umfang auf sich bezieht. Dann hätten wir im Handumdrehen wieder das ptolemäische Weltbild. Von Erde ist alles genommen. Nein, Pascal hat recht. Nur dass er das menschliche Problem mechanisch gelöst hat. Der erste Mechaniker war ein Philosoph. Seither brauchen wir die Stimmen da unten. Motor: Nichts zu beanstanden. Flugzeug: Neigung nach rechts. (Die Maschine zieht ruhig ihre Bahn.)

358

Genoveva sprang auf. Unterbrach Georg dadurch. Es war, als wenn sie den Radarschirm bewegen wollte. Georg trat neben sie. „Ich hatte die ‚Ente‘ schon längere Zeit im Blick. Ein Frachter unter liberianischer Flagge, sozusagen gemietet. Jetzt steht er still.“ Genoveva peilte ihn an und nahm Kontakt auf. Die Havarie wurde ihr bestätigt. Sie ordnete an, entsprechende Signale zu setzen. Dann wurden die nachfolgenden Schiffe gewarnt. Schließlich forderte sie von Saßnitz her Schlepper an und teilte den Standort des havarierten Schiffes mit.

Mit ihr beobachtete Warner das weitere Geschehen. Es war zu sehen, dass sich die Schlepper auf den Weg machten. Voraus fuhr ein Schnellboot der Küstenwacht, das sich aus dem Verbund gelöst hatte. Die Lücke wurde sofort wieder geschlossen. Nach einer Stunde wurde der Frachter Richtung Rostock geschleppt.

Genoveva notierte das besondere Vorkommnis. Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück. Georg sollte sich neben sie setzen. Sie holte eine Thermosflasche aus ihrer Tasche. Dann tranken sie schweigend Kaffee.

Warner verwunderte Genovevas energische Art, auch dass ihr der seemännische Jargon geläufig war. Er hatte gedacht, in ihrem Wesen habe nur Poesie Platz. So hatte er sein Stück angelegt.

Jetzt hielt er die Seiten unsicher in der Hand. Mit einem Lächeln ermutigte sie ihn, ihr vorzulesen. Bald schon hörte sie so aufmerksam zu, wie es Georg bei seiner Predigt fasziniert hatte. Er wusste bald nicht mehr, ob der Text von ihm oder von ihr stammte. Als er das zweite Mal Bernis vom All und der Blume reden ließ, sprach sie die Worte bereits mit.

Georg war gespannt darauf, wie sie das Gehörte werten würde. „Es geht nicht nur um das Fliegen, sondern um die Liebe“, sagte sie. Georg wollte nicht widersprechen, sagte aber, das Fliegen sei die große Metapher zum Verständnis. „Die Liebe fliegt auch, ist mit unterwegs und verflüchtigt sich“, schloss er.

Genoveva sann nach. Dann wollte sie in ihrer Annahme bestätigt werden: „Die Liebe ist ohne Mittelpunkt. Deshalb hast du Pascal herangezogen. Er verbindet das All und den Himmel mit der Liebe. Ich kenne Pascal nicht. Was hat er gedacht und wohin führte sein Denken?“ Georg fühlte sich überfordert und wich aus: „Pascal wird noch zur Genüge zitiert werden.“ Genoveva blieb hartnäckig: „Ich will es aber jetzt wissen.“ Anders als Pascal war Warner kein Mathematiker oder Physiker. Er versuchte aber eine Erklärung: „Pascal hatte einen unendlichen Strahl vor sich. Darauf setzte er einen Punkt, plus-minus Null.

Nach der einen Seite hin, zu minus, befand sich der Mikrokosmos, nach 359

plus hin der Makrokosmos. Pascal fand heraus, dass er den Punkt beliebig setzen konnte, sodass es keinen Mittelpunkt gab. Den Strahl bezog er auf das All, also auf eine gekrümmte Linie. Hier war das Ergebnis analog. Er konnte beliebig Mittelpunkte setzen, der Umfang war nicht mehr definierbar.“ Genoveva zog die Stirn kraus und fragte, ob Georg das verstanden habe. Der antwortete: „Auf andere Art.“ Er war glücklich, dass er ihr etwas von seiner Kirche erzählen konnte. Er kam auf den Taufengel zu sprechen. Durch ihn und die mit herabschwebenden Sterne, Mond und Sonne sei Pascal widerlegt worden. „Dort, wo ein Mensch unlösbar mit Gott verbunden wird, ist der Mittelpunkt der Welt“, sagte er. „Und was wird dann aus Pascal?“, fragte Genoveva. „Der fiel nach seiner Erkenntnis auf die Knie und wollte Gott anbeten. Aber der war ungegenständlich geworden. Pascal blieb also nur, das gegenständliche All anzubeten.“ Genoveva war so erschrocken, als habe Georg Warner eben diese Entdeckung gemacht. „Das ist ja furchtbar“, entfuhr es ihr.

Georg hätte sie am liebsten getröstet. Er tat es aber mit und für Pascal: „Blaise Pascal verließ seine Apparaturen, seinen mathematischen und physikalischen Salon. Er experimentierte nicht mehr, sondern ging in ein strenges Kloster, trug dort ein härenes Kleid, wie es Johannes der Täufer zur Buße empfohlen hatte. Und – schrieb sein philosophisches Werk, die ‚Pensées‘. Davon wirst du noch hören. Das erzähle ich dir nicht im Voraus.“ Genoveva wollte noch etwas Greifbares an der Seite haben. So fragte sie nach Pascals Erfindungen, die Warner bewundert hatte: „Er beschäftigte sich mit Hydraulik, Pascal untersuchte Druckverhältnisse. Vor allem ging es ihm um die Feststellung des leeren Raums und wie sich dieser unter Luftdruck verhält. Der Druck wird ja in Pascal gemessen.

Fast nebenbei erfand er die Luftpumpe.“ Beide mussten lachen.

Von See her kam ein Zeichen. Bevor Genoveva Kontakt aufnahm, sagte sie: „Wieder dieser einsame Irre.“ Sie „tröstete“ ihn auf Französisch wie eine Nachtschwester. Warner verstand nur das Wort Pascal, an dem er sich offenbar ein Beispiel nehmen sollte.

Dann schmiegte sich Genoveva an ihn, sagte aber: „Weiter.“ Sie meinte, dass Georg weiterschreiben solle. Etwas von einer weit entfernten Liebe. Er blieb neben ihr sitzen. Dass eine Frau ihm beim Schreiben zusah, hatte er bisher noch nie gestattet.

360

2. Szene Personen: Jacques Bernis, Pilot Neri, Mechaniker Sergeant Mannschaft Sprecher von Radiostationen Das Flugzeug fliegt nachts über der Sahara. Der Motor läuft plötzlich unregelmäßig, gerät ins Trudeln.

Neri: Hör mit den Späßen auf, Bernis. Verflucht noch mal. (Bernis versucht, die Maschine in die Gewalt zu bekommen.)

Bernis: In einigen Jahren kannst du im All aussteigen, Neri, und mitten im Flug reparieren. Aber das menschliche Problem wird dann immer noch das gleiche sein. (Das Flugzeug fällt. Bernis reißt es wieder hoch.) Jetzt geht es auf Leben und Tod. Tod – die Sahara. Leben – eine Zitadelle in der Wüste. (Bernis fegt über den Sand.) Da ist ein Posten. (Er zwingt das Flugzeug zur Notlandung. Minute des Schweigens. Als Bernis die Kanzel öffnet, ist die Mannschaft des Forts schon zum Empfang angetreten, von einem Sergeanten angeführt.)

Sergeant: Guten Tag. Bernis: Guten Tag. Sergeant: Sergeant?

Bernis: Unter einem solchen hab ich gedient. (Er klettert aus der Maschine, hinter ihm her Neri.)

Sergeant: Noch ein …

Bernis: Nur ein – Mechaniker. Der wird gleich in den Motor kriechen.

(Neri öffnet die Haube, befasst sich mit dem Motor.) Siehst du, Sergeant.

Sergeant: Dich werde ich ‚Sergeant der Sterne‘ nennen. Wir dachten erst, die Sterne fallen herab. Aber dann – ein Landsmann. Ich bin nur aus Tunis. (Er blinzelt nach den Sternen.)

Bernis: Weit, was?

Sergeant: Sehr weit.

Bernis: Das ist der Polarstern.

Sergeant: Ach, da hat mir der Hauptmann etwas Falsches erzählt: ‚Stern von Tunis.‘ Ich hatte ja nicht einmal Wein oder Tabak, als er hier war. Ein halbes Jahr hatte ich Zeit zum Grübeln. Bat um meine Versetzung. Aber wenn die Post abgeht, sind die Briefe schon veraltet. Ich schreibe neue.

361

Bernis: Da kommt ja nie einer an!

Sergeant: Das ist auch eine verrückte Geschichte. Mein Kamerad lief eines Tages los.

Bernis: Nach Tunis?

Sergeant: In die Wüste. Aber sie schreibt regelmäßig. Ich hatte nie eine Geliebte. Habe die Bilder übernommen und beantworte die Post.

Bernis: Kennst du das Lied? ‚Regnet’s, junge Schäferin‘?

Sergeant: Das ist ja ein Lied aus Tunis. (Der Sergeant singt, Bernis fällt ein.) ‚Regnet’s, junge Schäferin, führ’ die weißen Schafe hin nach der kleinen Hütte.

Hörst du, wie die Blätter weh’n?

Schwere Tropfen niedergeh’n, schon ist das Gewitter da.‘ Bernis: Ich bin der Südkurier. Eine Art Brieftaube. Wie wär’s? (Der Sergeant holt einen Brief hervor. Überfliegt ihn.)

Sergeant: ‚Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich hier bewache. Ich glaube, die Sterne …‘ (Er blickt auf.) Das kann man doch nicht schreiben.

Bernis: Sie wird dich schon versteh’n. (Der Sergeant reicht Bernis den Brief. Unter der Motorhaube taucht Neri auf.)

Neri: Eine Schraube fehlte.

Bernis: Und die gibt es nur in Tunis.

Neri: Aber …?

Bernis: Merk dir. Wer immer nur Fragen stellt, sucht den Abgrund.

Auf Wiedersehen, Sergeant.

Sergeant: Auf Wiedersehen. (Bernis und der Mechaniker klettern ins Flugzeug. Fliegen ab.)

Sprecher von Radiostationen: Von Saint Louis im Senegal nach Port Etienne: Kurier in Saint Louis nicht angekommen. Erbitten dringend Nachricht stop. Von Port Etienne nach Saint Louis. Wissen nichts seit Abflug gestern 16.45 Uhr. Werden unverzüglich Suche einleiten stop.

Genoveva legte ihren Arm um Georg und ihre Hand auf seine Linke, als sollte diese mitschreiben. Der Horizont hob sich nach Osten hin. Genoveva begrüßte den jungen Morgen, indem sie das „Lied von Tunis“ sang.

Das bewegte Georg so sehr, als wäre er selbst geflogen. Sie küsste ihn, da 362

und hier und dort. Das Licht des Leuchtturms erlosch. Georg Warner nahm diese unvergleichliche Nacht mit nach Middelhagen.

Die Entscheidung Georg Warner erhielt für sein Vorhaben am Totensonntag nur drei Zustimmungen. Sie kamen aus Stralsund, Anklam und Bergen. Es wunderte ihn nicht, denn auf den Dörfern war der Tag traditionell mit dem Gedenken an die Verstorbenen verbunden. In Städten hingegen war eine freiere Gestaltung möglich.

Obwohl Warner seine Ideen bereits entwickelt hatte, galt es, zu Kurt Marti noch die Pantomimen zu schreiben. Mehr Text wollte er nicht einsetzen. Das „Kaleidoskop eines vergänglichen Lebens“ würde den Gestaltern einiges abverlangen. In Bergen schien man sich aber unterfordert zu fühlen. Dort gab es eine leistungsfähige Band, sodass der Vorschlag kam, die Texte zu vertonen.

Der „arme Teufel“ war diesmal ein Trinker, der sein Leben zwischen Bürgersteig und Gosse verbringt. Auf dem Bürgersteig gerät er mit den Bürgern und Bürgerinnen in Konflikt, die ihn nach der Begegnung jeweils in die Gosse befördern, bis ihn der Straßenkehrer mit Laub zudeckt.

Dann war eine „gute Ehe“ zu schildern. Die Frau bedient den Mann ein Leben lang. Erst als er seine Zeitung nicht mehr auf dem Tisch vorfindet und die Pantoffeln nicht bereit stehen, ist das „Gefängnis“ gesprengt.

Gott gefällt es ganz und gar nicht, dass Gustav E. Lips bei einem Verkehrsunfall stirbt. Bis zu diesem Zeitpunkt wird dessen glückliches Leben mit seiner Familie und seinen Freunden gezeigt.

Die Rater und Retter wollen den Außenseiter stets auf den richtigen Weg bringen. Sie bieten ihm alles Mögliche dafür, was er offensichtlich nicht braucht.

Dann ist ein Mann zu betrauern, der ein Leben lang fehlerfrei funktioniert hat, was an Stationen seines Lebens bewiesen wird.

Und ein Eigenheimbauer, „dessen Leben Arbeit ist, Arbeit auch in der Freizeit“, ist beim Bau seines Eigenheimes zu bewundern. Die Birke wird schließlich aufs Dach gesetzt. Gleich danach erreicht der Mann 363

sein eigenes Heim, in der Urne aus Ton. Warner hatte gerade seine Texte ausgeliefert, als ihn der Ruf erreichte, unverzüglich nach Deutsch-Ossig zurückzukehren. Auf den 11. November war eine Sitzung anberaumt worden.

Es war später Nachmittag. Alle staatlichen und kirchlichen Stellen, die mit Bau und Kunst zu tun hatten, waren im Gemeinderaum zugegen. Die Hauptakteure saßen nebeneinander, Pfarrer Warner und der Chefkonservator des Instituts für Denkmalpflege Dresden. Protokollarisch saß Pfarrer Warner der Sitzung vor. Er sollte aber lediglich „einverstanden“ sagen. Was die anderen betraf, duldete der Chefkonservator keinen Widerspruch. Nur Verstehensfragen ließ er sich gefallen.

Es ging um die Kirche von Deutsch-Ossig. Der Chefkonservator war bemerkenswert sachlich: „Die Kirche wird aus dem Bergbaugebiet umgesetzt. Da der Baukörper klar definiert ist, also keine denkmalrelevanten Merkmale aufweist, ist am neuen Standort eine originalgetreue Kopie zu errichten. Die Turmkrönung wird dabei mit umgesetzt. Das gesamte Interieur wird geborgen, einschließlich der Malereien, und in die neue Kirche bis ins letzte Detail eingebracht. Über den neuen Standort kann das in allen sonstigen Belangen zuständige Institut für Denkmalpflege Dresden nicht entscheiden, da dies Sache der Evangelischen Kirche ist. Aber ein Vorschlagsrecht besteht. So wird die Kirche in ein städtisches Neubaugebiet umgesetzt.

Auf dem Territorium der Evangelischen Kirche des Görlitzer Kirchengebiets kommen hierfür Hoyerswerda, Weißwasser und vor allem Görlitz-Nord, Königshufen, infrage. Sollte sich die hiesige Kirche nicht für einen der Standorte entscheiden können, wird ein anderer gewählt. Der Staat hat aus kulturhistorischen Gründen die unbedingte Absicht zur Umsetzung der Deutsch-Ossiger Kirche.

Finanziell erfolgt sie auf der Grundlage einer Schätzung des Braunkohlenkombinats, und zwar ohne Abstriche. Um den Ausbau zu ermöglichen, muss die Kirche entwidmet werden. Das Interieur bleibt aber im Besitz der Landeskirche und ist zwischenzulagern. Wie mit der Bauhülle zu verfahren ist, liegt in der Vollmacht des Braunkohlenkombinats gemäß den Plänen zum Abriss und der Überbaggerung von Deutsch-Ossig.“ Georg Warner, und wie er sah, auch die anderen Versammelten, hatten immer wieder auf das Parteiabzeichen des Chefkonservators geblickt.

Er sprach ohne Zweifel in Vollmacht der Partei der Arbeiterklasse.

Georg Warner dankte ihm. Ihm war wohl als Einzigem in der Runde bewusst, dass die Entscheidung gefallen war. Es durften noch Fragen 364

gestellt werden, zu diskutieren gab es nichts. Dann wurde das Protokoll aufgesetzt, Pfarrer Warner gab seine Zustimmung und unterschrieb.

Die Versammlung löste sich auf. Die zwei Vertreter des kirchlichen Bauamtes erbaten sich von Warner die Kirchenschlüssel. Sie waren sichtlich konsterniert, als er sie begleitete und selbst die Tür in der Mauer aufschloss. Es war immer noch seine Kirche. Warner sah zu, wie die Bauamtsherren beim Schein einer Taschenlampe erstmals den Grundriss der Kirche aufnahmen.

Im Ort löste die Nachricht Betroffenheit aus. Solange die Kirche im Dorf blieb, stand auch dieses. Nun war es wieder einen Schritt hinausgegangen.

Georg Warner hatte noch einige Schreiben aufzusetzen und Rücksprachen zu halten. Dann teilte er mit, dass er durch die Unterbrechung seiner Arbeit im Norden zu Totensonntag dort sein müsse und erst auf Weihnachten hin wieder hier sein würde. Falls der Teufel eine Attacke reiten wollte, musste er es mit dem Bruder von der Diakonie tun.

Bornholm Am Nachmittag von Totensonntag war Warner in der Kirche von Bergen. Genoveva war an seiner Seite. Er hatte sie in letzter Zeit vernachlässigt. Nur einmal konnten sie durch sein Dachfenster in die Sterne schauen. Bernis danach zu folgen, war keine Zeit gewesen.

Während der Aufführung von „Kaleidoskop eines vergänglichen Lebens“ war Georg eher an Genoveva interessiert als an dem, was vorn ablief. Er las auf ihrem Gesicht ab, was sie bewegte. Geflüsterte Kommentare wurden ihm zuteil. Dass Gustav E. Lips bei einem Verkehrsunfall stirbt, gefiel Genoveva ebenso wenig wie Gott. Beim Eigenheimbauer hörte er: „Warum musst du nur so ironisch sein?“ Georg gab zurück: „Sarkastisch.“ Der fehlerfrei funktionierende Mann beschäftigte sie am meisten. Mit tiefem Bedauern flüsterte sie: „Er hat nie gewagt, glücklich zu sein.“ Warner fragte, wie das in dem festen Gefüge seines Lebens hätte möglich sein sollen. Die Antwort war verblüffend einfach: „Er hätte nur einmal mit der Faust auf den Tisch zu hauen brauchen.“ Die Band war vorzüglich, die Texte zu ihrem Inhalt passend vertont.

Die Spieler ließen sich Zeit, so wie Warner es wollte. Er hatte einmal von 365

„atmenden Pausen“ geredet. Auch „Kaleidoskop eines vergänglichen Lebens“ war eine Provokation. Die Besucher fühlten sich aber weniger provoziert als bereichert.

Im Trabant ging es zurück nach Middelhagen. Genoveva hatte Nachtschicht. Georg wollte aus seiner Wohnung noch Schreibzeug und den „Südkurier“ holen. Dann würde er in den Leuchtturm kommen und die Begegnung von Bernis und Genoveva schreiben. Es war ihm nicht vergönnt.

In seiner Wohnung empfing ihn ein Skipper in der Montur, wie man sie bei beschwerlichen Seereisen Ende November trägt. Durch den schwarzen Vollbart erkannte Georg Warner den Gast beinahe nicht. Es war Mephistopheles. Er forderte den lieben Georg zu einer Reise auf. Sie sei umgehend anzutreten, das Wetter würde gerade mitspielen.

Warner folgte ihm, mehr um zu sehen, was das werden sollte. Sturm war aufgekommen, Regen peitschte, obwohl der Tag still gewesen war.

Sie gelangten in den Fischereihafen und sprangen in ein Boot. Im Handumdrehen hatte Mephistopheles den Motor angeworfen und das Boot legte ab. Warner war perplex. Mephistopheles wies ihn auf die wetterfeste Kleidung am Boden des Bootes hin. Er solle sie anziehen, um gegen die Ungemütlichkeiten der See gewappnet zu sein.

Sie fuhren an der Ostküste Rügens entlang. Warner kannte sich inzwischen mit den Leuchttürmen aus. Mephistopheles hielt das Boot beängstigend nahe am Ufer. „Wegen der Küstenwacht“, sagte er. Warner wusste nun, dass sie nicht entdeckt werden sollten. Dann umfuhr der Skipper Rügen, bis der Leuchtturm von Kap Arkona in Sicht kam. Hier warf er Anker und wartete.

Mitternacht war nahe, als Mephistopheles sagte: „Es kommt.“ Genaues teilte er nicht mit. Warner bemerkte nur, dass er immer wieder in Richtung Rostock Ausschau hielt. Es musste sich um ein Schiff aus dem Überseehafen handeln.

Ein Containerschiff näherte sich. Mephistopheles warf den Motor an und fuhr darauf zu. Wollte er es rammen? Er legte das Boot hart nach Backbord, sodass es gerade noch von dem Wellengang des Schiffes verschont blieb. Das drehte jetzt bei und nahm Kurs nach Norden. Das Boot tat es in gleicher Weise.

Die Linie der Küstenwacht kam bedrohlich nahe. Georg Warner erwartete bereits das widerlich gellende Heulen des Signalhorns. Aber nichts geschah. Es war nicht genau zu erkennen, ob Mephistopheles lächelte. „Du kannst ja deine Geliebte hinterher fragen, ob sie uns auf dem Radar gesehen hat.“ Nach einiger Zeit lag die Linie der Küsten366

wacht hinter ihnen. Der Skipper fuhr noch eine Weile mit dem Containerschiff mit. Als er sich in internationalem Gewässer wähnte, nahm er Kurs nach Nord-Ost. Sie waren einige Stunden unterwegs. Dann war vor dem Bug Land in Sicht. Mephistopheles steuerte sicher einen kleinen Hafen an. Georg wollte wissen, wo sie seien. Wie selbstverständlich sagte Mephistopheles: „Auf Bornholm.“ Georg Warner erschrak und sah sich durch eine List in den „Westen“ gebracht. Mephistopheles beruhigte ihn umgehend: „Wir fahren auf die gleiche Art und Weise wieder zurück, wenn es dunkel ist.“ Er lud Georg zum Frühstück ein und gab einige Hinweise: „Ich rede mit dem Personal. Du schweigst. Wenn es außer Hörweite ist, können wir uns unterhalten.“ Gerade wurde es Morgen und sie traten in ein Bistro. Mephistopheles prüfte die Lage. Es waren nur wenige Gäste hier.

Sie setzten sich an einen Tisch, der separat in der Ecke stand. Mephistopheles bestellte in perfektem Dänisch das Frühstück. Außer Kaffee gab es verschiedene Sorten Käse, Konfitüre und Rührei mit Schinken.

Es war nun an der Zeit für eine Erklärung: „Mein lieber Georg“, sagte Mephistopheles. „Das ist nur eine Probefahrt. Wann Ernst daraus wird, vermag ich noch nicht zu sagen. Das hängt von deiner Genoveva ab.“ Georg verstand nicht. Mephistopheles runzelte die Stirn. Sollte sie Georg noch nicht alles von sich erzählt haben? Der dachte nach und brachte das Einzige heraus, was ihm ungereimt erschien: „Du meinst, weil sie unbotmäßig war?“ Mephistopheles sah Georg an, als wolle der eine Ode aus längst vergangenen Zeiten wiedergeben. Dann erhellte er Georgs nebulöse Kenntnisse: „Warum die gute Ingrid Castop, so heißt sie nämlich, als wissenschaftliche Mitarbeitern vom Nautischen Institut auf einen entlegenen Leuchtturm versetzt wurde, soll sie dir selbst erzählen. Ich fühle mich nur für den finalen Part zuständig. So viel kann ich dir dazu sagen: Man wartet darauf, dass sie einen Fehler begeht. Und sie tut alles dafür, einen solchen zu vermeiden.“ Georg Warner kombinierte augenblicklich: „Der rote Knopf und das rote Telefon.“ Mephistopheles stimmte zu: „Deckt sie beide zu, sind sie nicht mehr da. Frauenlogik. Doch eines Tages schrillen die Alarmglocken, ein Grenzdurchbruch wird gemeldet. Dann muss deine Genoveva ihn bestätigen und die Küstenwacht einweisen. Tut sie das nicht, und davon ist auszugehen, holt sie der Teufel. Und eben das begehrt er.“ Die Bedienung erschien, fragte Mephistopheles wohl, ob es schmecke und noch etwas zu bestellen sei. Kurz darauf brachte sie frisch gepress367

ten Apfelsinensaft, den Warner nun gar nicht kannte.

Mephistopheles fuhr fort: „Mir geht es bei der Probefahrt darum zu beweisen, dass man die Küstenwacht unentdeckt überwinden kann.

Und es ist mir außerordentlich wichtig, dass du dabei bist. Das Wetter muss freilich mitspielen. Das sagten sich zwar auch diejenigen, deren Versuche gescheitert sind. Doch Sturm, Regen und Finsternis genügen nicht. Ein einzelnes Boot wird immer geortet werden. Gerade in solchen Nächten passen die Wächter auf wie die Luchse. Nur wenn du mit einem großen Schiff ‚verwächst‘, bist du nicht zu sehen.“ Sie beendeten das Frühstück, Mephistopheles seine Ausführungen auch. Trotz des trüben Wetters orderte er ein Mietauto und unternahm mit Georg eine Inselrundfahrt. „Immerhin bist du noch nie im kapitalistischen Ausland gewesen“, sagte Mephistopheles, „und so schnell wirst du die DDR auch nicht wieder verlassen.“ Daraus schloss Georg Warner, dass er bei der Reise, für die sie hier zu proben schienen, nicht dabei sein würde.

Betrachtete man Bornholm im Atlas, wirkte es wie eine flache Insel mit nichts als Feldern und weidenden Schafen. Bei so viel Küste rund um die Ostsee reiste sicher nicht jeder als Badegast nach Bornholm.

Georg Warner war trotz Novemberwetter und -licht begeistert. Vor ihm lag eine liebliche Hügellandschaft, dem Mönchgut ähnlich und der mittleren Oberlausitz vergleichbar. Schließlich stand er auf dem Rytterknaegten, der höchsten Erhebung mit 162 Metern. Auf ihrer Rundfahrt hielten sie immer wieder an Steilküsten mit einer erstaunlichen Vielfalt an Gesteinen. Auch den Dondalen-Wasserfall besuchten sie. Warner staunte über die Höhe der Felsen, von denen der Fluss in die Tiefe stürzte.

Unterwegs hielten sie öfter bei Fischräuchereien. Georg Warner war wieder unersättlich und hätte am liebsten allen einen Besuch abgestattet. Er wollte auch unbedingt die vier weißgetünchten Rundkirchen sehen, die ihn zu geschichtlichen Aufführungen inspirieren konnten.

Zum Schluss, es war schon Nachmittag, gingen sie noch ins Bornholmer Kunstmuseum, ein Gebäude in Bauhaus-Architektur mit einem stilisierten Leuchtturm. Das Wasser der heiligen Quelle, die Bornholm den Namen gab, fließt durch das Haus voller Gemälde, vor allem moderner Kunst, und lässt es lebendig erscheinen.

In der Dunkelheit kehrten sie zum Hafen zurück. Warner dachte, dass ein DDR-Bürger, der nicht mit Pflichten beladen war wie er und in seine Situation käme, Bornholm sicher nicht wieder verlassen würde. Georg aber stieg in das Boot, das ihn zurückbringen sollte.

368

Die See war ruhiger als in der Nacht davor. Mephistopheles steuerte zur Schifffahrtslinie und wartete. Dann hängte er sich an ein Containerschiff. Plötzlich brach der Himmel auf und der Mond schien in voller Pracht. Zum Glück befand sich das Boot noch in internationalem Gewässer. Der Skipper musste unverzüglich die mondbeschienene Seite verlassen. Um bei dem Manöver nicht von der Besatzung entdeckt zu werden, ließ er sich abtreiben, um dann in großem Kreis das Schiff zu umrunden und zu warten. Das Licht war ohnehin die ganze Fahrt über ausgeschaltet. Als sich das Boot im Dunkeln nahe dem Schiff befand, war Mephistopheles sowohl ärgerlich als auch erleichtert. Er knurrte: „Das nächste Mal werde ich mich gründlicher mit dem Wetterbericht befassen.“ Es ging wieder über die Demarkationslinie der Küstenwacht. Dann wies der Leuchtturm von Kap Arkona den Weg. Noch einmal ostwärts um Rügen und gegen fünf Uhr morgens landeten sie im Fischereihafen des Mönchguts. Mephistopheles verabschiedete sich mit „auf später einmal“.

Georg Warner ging in seine Wohnung und verwirklichte sein Vorhaben, holte Schreibzeug und den „Südkurier“. Den Tag Verspätung musste er Genoveva erklären.

Sie empfing ihn mit Angst, Sorge und Vorwürfen. Sie hatte gewartet. Nach zwei Stunden war sie zu Jaffa gegangen, der mit einem Zweitschlüssel die Wohnung geöffnet hatte. Keine Spur von Georg. Am Morgen war er immer noch nicht zurück. Der Tag verging mit Suche. Dann noch eine Nacht. „Und plötzlich kommst du, als sei nichts gewesen!“ „Ich habe einen Ausflug unternommen. Ein Freund tauchte auf und lud mich dazu ein.“ Das beruhigte Genoveva nicht: „Du hättest mir Bescheid geben können.“ Georg hatte eine Entschuldigung parat: „Das ging nicht mehr. Das Fischerboot fuhr sofort ab, als ich es betreten hatte.“ Genoveva stutzte. Gestern war gemeldet worden, dass ein Fischerboot fehle. Sie wollte nun wissen, wohin er gefahren sei, wenn er dafür anderthalb Tage brauchte. Georg antwortete, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt: „Nach Bornholm.“ Um keiner Lüge bezichtigt zu werden, erzählte er von den Schönheiten der Insel.

Genoveva hatte immer wieder auf das Radar geschaut. „Auf dieser Fahrt, gleich zweimal, hätte ich das Boot sehen müssen. Und nicht nur ich – auch die Küstenwacht! Du hättest mich mehr als nur in Versuchung geführt.“ Georg konnte das erklären: „Wir waren auf Schleichfahrt.“ Genoveva erboste sich: „Ein Fischerboot ist doch kein U-Boot!“ Georg antwortete: „Aber unsichtbar waren wir trotzdem.“ 369

Genoveva wollte diesen leeren Disput nicht mehr fortsetzen. Wenn ihr Georg nicht die Wahrheit sagen wollte, hatte er wohl seine Gründe.

Sie schaltete das Licht des Leuchtturms ab, der Tag zog klar herauf. Der alte Leuchtturmwärter kam zur Ablösung. Genoveva begleitete Georg in seine Wohnung.

Beziehungen Georg Warner wusste, dass Genoveva in Stralsund wohnte. Jetzt erfuhr er, dass sie nur einen provisorischen Ausweis besitze und meldepflichtig sei. Deshalb müsse sie am Tag auch zurück nach Stralsund.

Warner war klar, dass jemand, der keinen Ausweis hatte und von der Polizei überwacht wurde, mit einem Bein schon im „Knast“ stand. Die Nachricht war nicht nur alarmierend. Warner wurde die Bedeutung der Probefahrt nach Bornholm erst jetzt bewusst. Mephistopheles wollte diese Ingrid Castop dem Teufel entziehen.

Bei so viel Gefahr am Horizont war es dringend nötig, dass sich Genoveva zu ihrem Schicksal äußerte. Das tat sie jetzt auch: „Ich war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nautischen Institut. Wir forschten über mögliche neue Schifffahrtsrouten. Als wir kurz davor standen, die Arbeit abzuschließen, wurden sämtliche Unterlagen nach Schweden verkauft. Ich wollte den Verlust unserer Arbeit nicht einfach hinnehmen.

Ich brauche dir nicht zu sagen, dass es keine Versammlungsfreiheit gibt.

Ich steckte mich hinter den Betriebsgewerkschaftsleiter und bat ihn, eine Versammlung einzuberufen, um einen Rechenschaftsbericht zur bisherigen Leistung zu beschließen. Reden würde ich. Der BGL-Mann machte sich Hoffnung auf meine Person. Ich bin geschieden. Mein ehemaliger Mann ist Abteilungsleiter und hat mir die Scheidung nicht verziehen.“ Georg Warner wusste schon, dass Genoveva nicht einfach mit leuchtenden Augen aus dem Nichts gekommen sein konnte. Aber diese Biografie hatte es notwendig gemacht, jemanden wie ihn kennenzulernen.

Dass es mit der Liebe klappte, war gut für sie, verkomplizierte aber die Sache, wie sich Warner jetzt eingestehen musste. Er, der immer Verantwortung übernahm, hatte nun eine besondere für Genoveva. Es stand außer Frage, dass die kleinen und großen Geister des Teufels längst 370

Wind von der Beziehung bekommen hatten. Sie taten, was sie immer für richtig hielten: Sie warteten ab.

Genoveva fuhr fort: „Ich habe umfänglich unsere Arbeit an den neuen Schifffahrtsrouten geschildert. Dass diese bereits verdorben und verloren war, habe ich nicht kommentiert, sondern lediglich die Fakten genannt. Da nur die Belegschaft, kein leitender Kader, anwesend war, wurde ich nicht unterbrochen. Ich wusste, dass wir eine Geheimhaltungspflicht hatten, aber die galt für alle. Ich wusste allerdings nicht, dass etliche Fakten, die ich vortrug, nur mir bekannt waren. So wurde mir Geheimnisverrat angelastet. In solchen Fällen ist es üblich, nicht gleich ein Strafverfahren zu eröffnen, sondern abzuwarten, wie sich die Dinge weiterentwickeln. Vor allem wird darauf gewartet, dass eine gemaßregelte Person Kontakt mit dem ‚Westen‘ aufnimmt. Und ein Leuchtturm mit einem verführerischen Radar und Sprechkontakt mit ausländischen Schiffen ist eine Versuchung.“ Warner erschrak. Wenn jemand hinter die Reise nach Bornholm gekommen wäre, hätte das mehrfach für „Verrat an der Republik“ ausgereicht. Für Warner sowieso und für Genoveva, weil sie den Grenzübertritt nicht bemerkt oder nicht gemeldet hatte. Mephistopheles hatte aber nicht nur ein riskantes Spiel betrieben, er wollte auch warnen und zeigen, dass die Lage nicht aussichtslos sei.

Genoveva sagte, das sei alles. Sie musste nach Stralsund. Wenn sie am Abend ihre Schicht antreten würde, wäre es für Warner an der Zeit, die Beziehung zwischen Bernis und seiner Genoveva aufs Papier zu bringen.

Georg Warner war den ganzen Tag über in Sorge, dass Genoveva abgeholt werden könnte. Aus dem Schlaf, den er dringend brauchte, schrak er immer wieder hoch. Weit vor der Zeit stand er am Leuchtturm. Das Warten war unerträglich. Schließlich kam Genoveva angeschlendert, als sei ihr Leben eines der leichtesten. Sie begrüßte ihn mit den Worten: „Gut geschlafen?“ Georg nickte. „Ich auch“, gab sie zurück.

Bei der Ablösung teilte ihr der alte Leuchtturmwärter eine Neuigkeit mit: „Das Fischerboot ist wieder da. Nur der Tank war leer. Wer weiß, wer damit eine Spritztour unternommen hat.“ Genoveva hob die Arme, als würde sie das nicht interessieren. Es gab wieder einmal keine besonderen Vorkommnisse. Genoveva nahm vor ihren Apparaturen Platz.

Als sich der alte Leuchtturmwärter verabschiedete, zwinkerte er Georg Warner zu.

Genoveva deckte Telefon und Alarmknopf ab und fragte über die Schulter, womit Georg die Beziehung beginnen lassen würde. Er ant371

wortete: „Mit Herlin, Genovevas Ehemann.“ Genoveva ließ ein „Aha“ vernehmen, als habe sie damit nicht gerechnet. Georg Warner begann: 3. Szene Personen: Bernis Herlin Genoveva Empfangshalle eines Hotels in Toulouse. Bernis hat sich an der Rezeption einen Kaffee brauen lassen. Er trägt noch seine Fliegerjacke. An einem Tisch sitzen Herlin und Genoveva.

Herlin: … und ich sage dir, da draußen ist nichts, absolut nichts.

Bernis: Hilf mir, heiliger Pascal. (Er geht mit seinem Kaffee zum Tisch.)

Gestatten Sie? Herlin: Wie bitte?

Bernis: Sie sind da mit einem Problem befasst, das auch mich interessiert.

Herlin: Ah, ein Astrologe. Oder wie sollte man euch Flieger sonst nennen? Nehmen Sie Platz. (Bernis setzt sich Genoveva gegenüber.)

Bernis: Und Sie sind sicher Astronom.

Herlin: Herlin. Das ist übrigens meine Frau. Ich zähle gewissermaßen die Sterne. Und Sie? Ich meine, wohin fliegen Sie? Bernis: Ich bin Südkurier.

Herlin: In Sachen Politik?

Bernis: Hauptsächlich befördere ich Liebesbriefe.

Herlin: Lohnt es sich, dafür sein Leben einzusetzen? Bei dem Stand des Flugwesens und den dauernden Aufständen in der Wüste?

Bernis: Wofür sonst, wenn nicht für die Liebe. (Genoveva beginnt zuzuhören.)

Herlin: Sagten Sie nicht, Sie wären an meinem Problem interessiert?

Bernis: Brennend. Sie hatten behauptet, da draußen sei nichts.

Herlin: Nichts Vergleichbares jedenfalls. Zuerst zerfällt die Zeit. Falls Sie eine Uhr besitzen, werfen Sie den anachronistischen Gegenstand weg.

Bernis: Ich besitze keine Uhr. Richte mich nach den Sternen oder dem Gefühl.

Herlin: Mit Ihnen würde ich nicht fliegen.

Bernis: Sie haben doch eben selbst die Zeit relativiert.

372

Herlin: Im Verhältnis zum All. Es kommt darauf an, von welchem Ort aus Sie die Zeit nehmen. Kennen Sie Einstein?

Bernis: Pascal reicht mir.

Herlin: Hinsichtlich der heutigen Wissenschaft ist Ihr Pascal bestenfalls ein Literat.

Bernis: Da tun Sie ihm Unrecht. Er hätte seine Freude an Ihrem Gottesbeweis gehabt.

Herlin: Wie bitte?

Bernis: Nun, wenn da draußen nichts ist, ist da auch kein Gott.

Herlin: Was soll da sein?

Bernis: Gott.

Herlin: Haben Sie das bei Ihrer navigatorischen Ausbildung gelernt?

Bernis: Solange wir uns im Kraftfeld der Liebe bewegen, möchte ich schon an Gott glauben. (Genovevas Aufmerksamkeit wächst.)

Herlin: Sie haben die Idee des Alls mit Poesie gefüllt, Herr Astronaut.

Bernis: Ich habe nur den Fehler Pascals vermieden. Der vor der Unendlichkeit des Alls Angst bekam, nachdem er es zum Schweigen verurteilt hatte. Um seinen Fehler wiedergutzumachen, fiel er auf die Knie und wollte Gott anbeten. Aber der schwieg auch. Einmal gedacht, dass das All leer sein könnte, ließ sich der Gedanke nicht mehr zurücknehmen. Und alle nach ihm mussten ihn weiterverfolgen. Kein Mittelpunkt mehr, nichts, was das All zusammenhält. Mehrere Lichtjahre draußen immer noch schweigende Sterne.

Herlin: Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass es im All noch etwa hundert Planeten gibt, die der Erde gleichen und auf denen Intelligenzen leben. Es dürfte aber gänzlich unmöglich sein, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Bernis: Ich habe in der Wüste einen kleinen Kerl kennengelernt, der kam vom Asteroiden 324. Er erzählte mir die Geschichte von einer Rose, die es nur einmal gibt. Was hatte ihn wohl getrieben, auf unserer alten Erde zu landen? Sie schweigen, weil Sie es nicht wissen können. Er war vor der Liebe geflohen. Übrigens bereitete er sich damals gerade auf die Rückkehr vor.

Herlin: Bei Ihnen war sicher eine Schraube locker.

Bernis: Im Gegenteil. Sie war festgefressen. Und sie zu lösen, davon hing mein Leben ab. Da kam mir die Geschichte des kleinen Prinzen im ersten Moment wie Geschwätz vor. (Herlin erhebt sich.)

Herlin: Entschuldigen Sie, ich bin ein ernsthafter Mensch. (Er geht.

Bernis wendet sich nach einer Pause an Genoveva.)

Bernis: Ihr Mann hat Sie einfach sitzen lassen.

373

Genoveva: Das bin ich gewöhnt. Er ist sehr mit sich selbst beschäftigt.

Bernis: Es ist aber schlimm, vergessen zu werden.

Genoveva: Sind Sie nicht mit dem Abschied vertraut?

Bernis: Wenn er ohne Bitterkeit ist …

Genoveva: Sie stecken wohl voller Sprüche?

Bernis: Das hängt mit meiner Arbeit zusammen. Zwischen zwei Punkten befindet sich nur das All. Ich und mein Flugzeug sind in dem leeren Raum verloren. Ich habe es auf den weiten Flügen lernen müssen, Geschichten zu erzählen. Das Wissen um die Dinge reichte nicht aus.

Genoveva: Welche Geschichte würden Sie mir erzählen? Die von der Rose kenne ich bereits.

Bernis: Die einer Königin. Du bist eine Königin, von Liebe gekrönt.

Du bist mit allen Dingen vertraut. Jeden Baum, jeden Strauch, jedes Schilfrohr, selbst den Grashalm erfüllst du durch deine Erscheinung mit Leben. Am Abend führst du die Tiere in den Stall und schließt das Sternendach. Nachtkäuze lieben sich und übertönen das Geläut der Sterbeglocke.

Genoveva: Kann man wirklich an Liebe sterben?

Bernis: Das beantworte ich Ihnen, wenn ich wieder gelandet bin. Wie gesagt, ich bin der Südkurier und muss nach Süden.

Genoveva: Wenn Sie zurückkehren, werde ich nicht mehr hier sein.

Bernis: Doch, das werden Sie. Weil Sie wissen wollen, wie die Geschichte weitergeht. (Bernis trinkt seinen Kaffee aus. Reicht Genoveva die Hand, die sie nach kurzem Zögern ergreift. Bernis geht.)

Georg Warner hatte bemerkt, dass seine Genoveva diesmal nur wenig Kontakt hatte. Da draußen war offenbar niemand, der nur ihre Stimme hören oder ihr seine Melancholie mitteilen wollte. Sie glich dem Sprecher einer schweigenden Radiostation. Nur dass Georg nicht dort draußen war, sondern nahe bei ihr.

Er rückte an ihre Seite und las ihr die Eroberung von Genoveva vor.

Sie sagte, Bernis habe Herlin gekonnt aus dem Feld geschlagen, indem er ihn verspottete. Der ernsthafte Mensch aber habe es nicht bemerkt.

Georg sagte, die Ursache liege bei Exupéry und dem „Kleinen Prinzen“.

Beide könnten ernsthafte Menschen nicht leiden. „Denk an die Planeten, die der kleine Prinz bei seiner Reise zur Erde besucht.“ Genoveva war mit der Antwort zufrieden. Dann wandte sie sich der anderen Genoveva zu und sagte: „Sie könnte durchaus ohne Liebe an der Seite von Herlin leben. Warum, wirst du mir noch erzählen. Ich habe ja auch eine solche Ehe geführt.“ Die Schlussfolgerung verblüffte 374

Warner. Genoveva fügte schnell hinzu: „Viele Frauen leben so.“ Damit gab sie Georg ein Rätsel auf. Er fragte verständnislos: „Warum?“ Genoveva lächelte über so viel Naivität und sagte: „Weil ein Mann wie Herlin Sicherheit bietet. Du wirst noch den inhaltsschweren Satz schreiben müssen: ‚Ich liebe dich, aber ich kann nicht mit dir leben.‘“ Dieses Orakel seines Lebens hatte er Genoveva noch nicht anvertraut. Er war heftig beunruhigt. Sie rutschte auf seinen Schoß, umarmte ihn und richtete ihre „Leuchten“ auf ihn. Um ernsthaft weiterzureden, rückte sie wieder von Georg ab und sagte: „Wenn ich den grandiosen Karriereknick nicht provoziert hätte, wären wir uns nie begegnet. Ich befand mich im freien Fall und du in freiem Flug. Ich bin einfach in deinen Flieger gestiegen. Bernis’ Genoveva tut das auch. Aber sie wird sich nicht lösen können und wie Bernis an dieser Liebe zugrunde gehen.“ Georg Warner kam sein Eindruck in den Sinn, dass sie mitschrieb.

Jetzt war es schon so, als ob sie schrieb. Dem wollte Warner noch einen eigenen Text hinzufügen. Die Nacht war noch lang. Bevor Bernis zurückkehrte, musste er fliegen.

4. Szene Personen: Bernis Alias, Flughafenkommandant Neri Sprecher der Radiostationen Auf dem Flugplatz. Nebel. Bernis macht das Flugzeug startklar. Alias nähert sich ihm.

Alias: Sie bleiben.

Bernis: Ist das eine Frage? Dann ‚nein‘.

Alias: Sie werden tun, was ich als Flughafenkommandant von Ihnen verlange.

Bernis: Und was verlangen Sie, Kommandant Alias?

Alias: Dass sie nicht bei Nebel fliegen. Wie die Radiostationen melden, zieht er sich bis Spanien hin. (Bernis weist nach oben.)

Bernis: Sterne.

Alias: Drei an der Zahl.

Bernis: Immerhin etwas. Der Mond soll auch noch kommen.

Alias: Sie haben wohl eine Verabredung mit ihm?

Bernis: Endlich eine Frage. Nein, ich will Frau Luna ausführen.

375

Alias: Aber Ihr Mechaniker nicht. Er weigert sich, mit Ihnen zu fliegen.

Bernis: Soll ihn der Teufel holen.

Alias: Sie wird er holen. Mitsamt dem Kompass. Wenn Sie schön über den spanischen Nebelmeeren dahinsegeln, lauert darunter die Ewigkeit.

Bernis: Sie Zivilist. Was verstehen Sie von Geografie? Sie können sich Ihre schlauen Karten sonst wohin stecken. Drei Apfelsinenbäume in der Sierra sind gefährlicher als die Steinwüste. Weil man sie dort, wo man landen will, nicht vermutet. Den Ebro, den haben Sie auf Ihrer Karte.

Aber wo ist der Bach am Notlandeplatz Motril? Jene tückische Schlange, die ständig ihr Bett wechselt. Die lauert tausend Kilometer von hier im Gras versteckt. Und macht mich gegebenenfalls mit ihrem wässrigen Untergrund zur Feuersäule. Ihnen hat nie jemand den Weg ins Freie gezeigt. Sie leben in Ihrem selbstgezimmerten Frieden. Und Sie leben gut, Kommandant Alias. In ihrer bürgerlichen Sicherheit, mit einer Frau an der Seite, die nichts anderes begehrt als Ihren stickigen Provinzialismus.

Ein braver Bürger von Toulouse, aber mit Macht über das All. Alias: Ich weiß nicht, wodurch ich Ihren Zorn auf mich geladen habe, Bernis. Eines aber weiß ich, dass ich der Vernunft den Vorzug geben werde. Auch zu Ihrer Sicherheit. Und die Vernunft gebietet, dass Sie nicht aufsteigen.

Bernis: Die Bodenstationen sollen mich an die Hand nehmen. Auf jedem Flugplatz Leuchtfeuer anzünden.

Alias: Ihnen ist nicht zu helfen. (Bernis klettert in die Maschine, wendet und fliegt ab.)

Bernis: Südkurier ruft Cisneros. Nebel undurchdringlich.

Radiostation Cisneros: Beschreiben Sie Ihre Position.

Bernis: Mond wie eine mattglühende Kohle in Nebelwand erloschen.

Radiostation Cisneros: Erbitten deutlichere Beschreibung der Position.

Bernis: Ihr verdammten Idioten. Ich seh nichts mehr! Ohne Peilung bin ich blind.

Radiostation Cisneros: Keine Ortsbestimmung möglich.

Radiostation Casablanca: Hier Radiostation Casablanca. Gehen Sie auf Tiefflug.

Bernis: Ich befinde mich über einem Bergmassiv.

Radiostation Casablanca: Schauen Sie auf Ihre Uhr. Vier Stunden Flugzeit. Sie müssen sich über der Sahara befinden. Wüste ist ohne Leuchtzeichen.

Bernis: Bin ich ein Anfänger, dass ich das nicht weiß?

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Radiostation Casablanca: Gehen Sie vorsichtig runter. (Bernis lässt die Maschine im Gleitflug sinken. Reißt sie plötzlich hoch.)

Bernis: Wasser!

Radiostation Casablanca: Radiostation Casablanca an Alicante. Südkurier nicht in unserem Bereich. Übernehmen Sie die Orientierung.

Radiostation Alicante: Haben verstanden. Hier Radiostation Alicante für Südkurier. Haben Leuchtfeuer angezündet. (Bernis wendet.)

Bernis: Kann euch sehen. Löscht Feuer dreimal hintereinander. (Er starrt angespannt auf das Licht.) Was ist?

Radiostation Alicante: Sind Aufforderung nachgekommen.

Bernis: Ein Licht ist stehengeblieben.

Radiostation Alicante: Prüfen Sie Ihre Vermutung. Wir schalten ab.

(Das Licht bleibt.)

Bernis: Ein Stern blinkt am Horizont, bevor er sich ins All aufmacht.

Radiostation Alicante: Können Ihnen nicht folgen. Versuchen Sie, Toulouse zu erreichen.

Alias: Toulouse an Südkurier. Herr Bernis, ich sehe mich genötigt, Strafmaßnahmen gegen Sie einzuleiten. Sie haben bei Ihrem Abflug zu nahe am Flugzeugschuppen gewendet. (Toulouse schaltet ab.)

Bernis: Der Mann tut nur seine Pflicht. Hier Jacque Bernis. An alle Völker des Erdenrunds, sämtliche Ober- und Unterhäuser, Kriegsflotten und Landheere sowie an alle Könige, die schwarzen Könige nicht vergessen. Des Weiteren an die 7 000 Geografen, 900 000 Geschäftsleute, 7,5 Millionen Säufer, 311 Millionen Eitle. Kurz und gut, zurzeit an zwei Milliarden erwachsene Menschen. Mein Treibstoff geht zu Ende.

Möchte sich nicht einer entschließen, einen Ausgestoßenen aufzunehmen? (Die Radiostationen schweigen.) Nun, dann werde ich mit Pascal den leeren Raum beschreiten. ‚Jeder Körper, der zuvor im Weltall kaum wahrzunehmen war, der selbst in dem Schoße des Alls unbemerkbar ist, ist jetzt ein Koloss, eine Welt oder vielmehr ein All in Beziehung auf das Nichts.‘ Zu dem man nicht gelangen kann? Leider verliert sich Pascal im Unendlichen, in der Allmacht Gottes. Und bringt sein Gebet nicht zustande, weil er im Vergleich zum Unendlichen ein Nichts ist. Und findet seine Sprache erst wieder, indem er sich im Vergleich zum Nichts als All versteht. Der Meister des Beweises findet das schwächste Wort für den Menschen, er sei ein ‚Mittelding‘. Das Nichts bleibt ihm verborgen und im Unendlichen verliert er sich. Was ist nun schrecklich, Blaise Pascal?

Das All. ‚Wir bewegen uns auf einer weiten Fläche in der Mitte, stets ungewiss und schwankend, von einer Höhe auf die andere getrieben. Wo wir irgendeinen Halt zu erreichen und uns dort zu befestigen gedenken, 377

da entwischt er und verlässt uns, und wenn wir ihm folgen, so entwischt er unter unseren Händen, er entschlüpft und flieht in ewiger Flucht.‘ Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, Pascal? Seine Größe. Und was ist seine Größe? ‚Die Größe des Menschen zeigt sich darin, dass er sich seines Elends bewusst ist.‘ Neri: Bist du noch da, Bernis?

Bernis: Ja, Gott.

Neri: Wo? Bernis: Eine Handbreit vom Abgrund entfernt.

Neri: Alicante meldete, du würdest landeinwärts fliegen.

Bernis: Wer ist dort?

Neri: Neri, dein Mechaniker. Du kannst getrost wenden und Afrika anfliegen.

Bernis: Nirgendwo werde ich mehr hinfliegen. Mein Treibstoff ist alle.

Neri: Du hast noch für zwei Stunden Benzin. Dein Tank ist kein Normtank, sondern der neue für Langstreckenflüge.

Bernis: Das hat dir dein Mechanikerhirn eingegeben.

Neri: Ich habe den Tank selber eingebaut.

Bernis: Danke. Ich komme nach Hause. (Neri klinkt sich aus.) ‚Der Mensch ist offenbar zum Denken geschaffen; darin besteht seine ganze Würde und seine ganze Größe, und es ist seine ganze Pflicht, so zu denken, wie es in Ordnung ist.‘ Auch Pascal. (Bernis landet in Toulouse.)

Georg Warner las Genoveva das Geschriebene vor. Sie schmunzelte und sagte: „Da ist also noch einer vor der Liebe geflohen. Und nach einer Nacht ist er wieder am Ausgangspunkt. Das ist Schicksal. Jetzt muss Jacque Bernis sich bekennen, Genoveva ebenso.“ Georg protestierte sanft: „Aber nicht mehr heute. Mir schwirrt schon der Kopf von so viel leerem, vollem Raum.“ Er wünschte Genoveva weiterhin Ruhe auf See und ging.

378

Elftes Kapitel

Matjora Zum Schreiben der Liebesgeschichte kam es vorerst nicht. Georg Warner schnürte sein „Weihnachtspaket“. Er stellte gleich fünf seiner Stücke zusammen, von einfach bis anspruchsvoll, von zeitgemäß bis historisch.

Darunter war „Rembrandt malt die Heilige Familie“ und ein zweites Malerstück, „Die Niederländischen Sprichwörter“. Pieter Brueghel malt in einem Grenzdorf eines seiner Weihnachtsbilder, den „Kindermord zu Bethlehem“. Es stellt die Ankunft der Rotröcke in Flandern mit all ihren Gräueln dar. In dem Dorf will man den apokalyptischen Maler nicht haben, aus Furcht vor den Rotröcken, die von Belgien her heranziehen. In seiner Gesellschaft hat Brueghel drei aufständische Geusen, denen die Augen geblendet wurden. Als die Rotröcke erscheinen, ist der Hauptmann so von dem Bild überwältigt, dass er das Dorf verschont, weil er Kunst und sein Handwerk unterscheiden kann. Dem „Pack“ sagt er: „Bedankt euch bei Pieter Brueghel.“ In Deutsch-Ossig hätte man gesagt, dass sei wieder ein echter Warner.

Der konnte sich nicht vorstellen, wer zu Weihnachten diesen „Realismus“ in die Kirche bringen würde. Er überredete Jaffa und begann gleich mit den Proben. Viel Volk hatte mitzuspielen. Sonst war die Antwort auf seine Sendung bescheiden. Wer zu Weihnachten spielte, tat das immer noch traditionell, mit vielen Engeln. Am besten wurde Warner „Zwölf Kilometer bis Bethlehem“ los, da eine Familie an der Bushaltestelle wartet. Es kommt aber kein Bus. Als er dann doch eintrifft, ist man mit der Bescherung fertig. Nur der Jugendliche fährt mit, weil er als Einziger nach Bethlehem muss.

379

Die Zeit verging schnell, wieder vernachlässigte Warner Genoveva.

Die schenkte ihm zum Fest vorab einen geschnitzten Nussknacker, was sie symbolisch meinte, denn auch Georg hatte viele harte Nüsse zu knacken.

Am 19. Dezember brach Georg Warner auf. Auf der Strecke gab es nur wenige Tankstellen. Er steuerte die in Prenzlau an. Die Kunden wurden zu der Zeit noch bedient. Der Tankwart ließ lange auf sich warten. Warner fand, dass der Beruf nicht zu ihm passte. Mit seinem schrägen Blick hätte er eher zu den kleinen Geistern des Teufels gehören können.

Warners Gefühl täuschte ihn nicht. Kurz vor Finowfurt begann der Motor zu stottern, setzte aus, die Motorbremse reagierte. An der Abfahrt schaffte es Warner gerade noch so von der Autobahn und in den Ort. Eine Werkstatt schien eben für ihn hier eingerichtet worden zu sein. Der Meister brauchte nicht lange, um den Schaden festzustellen.

Der Trabant fuhr ein Benzin-Öl-Gemisch, das an der Zapfsäule zusammengestellt wurde. Der Meister sagte: „Sie haben blankes Benzin getankt. Der Motor ist hin.“ Ersatz zu beschaffen würde zwei Monate dauern. Warner erteilte wohl oder übel den Auftrag.

Dann ging er zurück zur Autobahn und fuhr per Anhalter, was nicht recht gelang. Wie zu Studentenzeiten kam er nur bis Oranienburg und musste sich von dort aus durch ganz Ost-Berlin durchschlagen. Erst in Schöneweide fuhren Züge nach Cottbus und Görlitz ab. Immer wieder Halt, Warten, Umsteigen. Um zwei Uhr nachts war er in Weißwasser.

Erst um vier Uhr ging es weiter. Es war kalt auf dem zugigen Bahnhof.

Mit dem ersten Schichtbus nach Hagenwerder kam er schließlich an.

Zu Weihnachten predigte er den Auszug. Bibeltexte von Mose und seinem Zug aus Ägypten boten sich an, der beschwerliche Weg in die Freiheit oder was auch immer vor einem lag. Zum Jahreswechsel „reiste“ Warner in seiner Predigt mit Jakobus, der bei solchem Vorhaben immer zu sagen riet: „So Gott will …“ Dann kam der Winter. Chaos brach aus. In der Grube tobte die „Winterschlacht“. Die Temperatur fiel auf minus 20 Grad und blieb dort stehen. Auch in Warners hohem Arbeitszimmer waren die Fenster bis oben vereist.

Im Dorf lebten fast nur noch alte Leute. Die Jungen, die nicht auf Kohleersatzbauten oder Neubauwohnungen warten mussten, waren im vergangenen halben Jahr ausgezogen. So ging es mit einigen rüstigen Rentnern früh hinaus. Von Haus zu Haus heizten sie die Öfen, kochten zu Mittag, machten am Abend noch einmal die Runde. Und das Tag für Tag. 380

Abgesehen davon, dass auch der Norden in Kälte und Schnee versunken war, hätte Warner nicht dorthin kommen können. Er konnte hier nicht weg. Er schrieb an Genoveva und sie an ihn. In den Briefen stellte er das Leben im Ort viel anschaulicher dar, als er das beim Erzählen auf Rügen konnte. Sie erfuhr, was hier seine Arbeit war und weshalb er nicht einfach nach Norden übersiedeln konnte.

Ende Januar geschah, was in drängenden Krisenzeiten für Deutsch-Ossig bei aller Aufsicht und Fürsorge typisch war. Eine alte, kranke Frau nahm sich das Leben. Es gab Schuldzuweisungen. Am meisten sann Warner darüber nach, was er versäumt haben könnte. Das war quälend.

Noch quälender war, dass der Selbstmord alle anderen herunterzog. Die Alten blieben teilnahmslos im Bett. Sie fühlten sich noch kränker als ohnehin schon.

Georg Warner ging durch einen ausgestorbenen Ort. Die Luft war blaugefroren. Die Bagger in der Grube gaben neue Geräusche von sich, die aber auch nicht angenehmer klangen als die vorherigen. Sonst geschah nichts.

Das lag auch an der neuen Umgehungsstraße. Der rollende Schichtverkehr war verstummt. Die Eisenbahnstrecke war gleich mit verlegt worden. Da der Ort nicht mehr lange stehen würde, lohnte sich am Ortsausgang kein Bahnübergang mehr. So war die Dorfstraße zu einer Sackgasse geworden. Wer sollte auch etwas in Deutsch-Ossig wollen?

Es war deutlich zu spüren, dass der Ort starb – und dass die Menschen sterben wollten.

Georg Warner lud eindringlich zum Gemeindenachmittag ein. Wer sich nicht mehr allein gehen konnte, wurde begleitet. Der Versammlungsraum im Pfarrhaus reichte nicht aus. So trafen sich die Detusch-Ossiger im Speisesaal der LPG, der trotz seiner Größe gut geheizt war. Wie Erich Honecker sonst von der Wand herab den Genossenschaftsbauern beim Essen zuschaute, so schenkte er jetzt der Versammlung seine Aufmerksamkeit.

Dass der Zensor mitunter blind ist, darf ihm nicht unterstellt werden. Bereits seit den frühen 70er-Jahren waren bemerkenswert kritische sowjetische Filme in die Kinos gekommen. Einer hatte zunächst nur wenig Aufmerksamkeit erregt, wurde aber dann zum Synonym in den bedrohten Dörfern der Braunkohlengebiete und bei der Umweltbewegung. Er hieß „Abschied von Matjora“.

Georg Warner hatte ihn über das Jungmännerwerk bestellt. Der Filmvorführer legte den Streifen ein. Es war keine Braunkohlengrube, die ein Dorf bedrohte, sondern ein neuer Staudamm. Der wuchs bereits.

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Und es wuchsen im Niemandsland an einer eilig hingeworfenen Straße sechs Neubaublöcke sowjetischen Standards. Die Menschen zögerten, dahin zu ziehen, trotz allen Komforts, Wasser aus der Wand und Wärme, für die keiner mehr Kohlen tragen musste.

Bewegung kam erst unter die Dorfbewohner, als verkündet wurde, dass diejenigen, die dort hinzögen, ihre Entschädigung ausgezahlt bekommen würden. Als Erster ließ sich ein Trinker umsiedeln, weil er mit seiner Entschädigung nun alle Tage ungehindert trinken konnte. In lichten Momenten gab er Interviews, pries das neue Leben und die sozialistischen Errungenschaften gegenüber der Rückständigkeit im Dorf, das er zu seinem großen Glück hatte verlassen können.

Nur die Alten blieben. Hier erst beginnt der eigentliche Film. Agitatoren rollen an, Kommissare drohen, die Polizei sperrt baufällige Häuser, alte Leute werden auf LKW geladen. Man zeigt ihnen ihre nie erahnte neue Wohnung. Nichts hilft.

Es gibt in diesem Ort keinen Georg Warner, aber dessen Rolle übernimmt der Bürgermeister. Nur dauern seine Gespräche zu lange. Am Ende sieht man ihn mit einem Ruderboot über das ehemalige Matjora fahren. Die Alten waren bei der rasanten Flutung immer noch im Dorf …

Matjora stand für einen erzwungenen kollektiven Selbstmord. Und Warner bemerkte bei seinen Alten, dass sie mit diesem Ende einverstanden waren. Deutsch-Ossig wurde aber erst 15 Jahre später „geflutet“. Da waren längst alle weg.

Georg Warner sprach zu den Deutsch-Ossigern. Für die alten Menschen sei die Situation wie in Matjora. „Aber hier wird es kein so tragisches und schnelles Ende geben. Ich will keinen zum Gehen auffordern, zumal wir auf die Ersatzbauten noch warten, diesen Winter und wohl noch zwei weitere. Aber ich wünsche mir und euch, dass Deutsch-Ossig kein Matjora wird.

Ich habe in euren Wohnungen Bibelsprüche an der Wand gesehen, die sogar noch von euren Vorfahren stammen. Sie bestätigen ein altes gewohntes Leben. Sie stimmen in eurer Situation nicht mehr. Tragfähig ist, was hinausweist. Ich war auf unserem Friedhof. Eure Vorfahren und noch bekannten und geliebten Menschen haben ihn verlassen. Dort findet keine Auferstehung mehr statt.

Wir aber wollen unsere Auferstehung in uns allen, wir wollen sie heute und von hier aus. Jesus Christus ist unter uns begraben. Wir graben ihn aus! Er kann auch tot bleiben, aber das liegt dann an uns. Somit wären wir auch schon tot. Der Protest tut nichts dazu. Lasst uns aufstehen 382

und uns mit dem Leben verbrüdern!“ Alle standen auf und verbrüderten sich erst einmal nicht. Aber am nächsten Tag schon bemerkte Warner Veränderungen. Auch dank Matjora. Die Leute rafften sich auf. Dann begannen sie zu gehen. Und Warner sah, dass die Hoffnung laufen lernte. Von Genoveva erhielt er einen Brief. Er hatte ihr von seinem Vorhaben und Matjora erzählt. Sie schrieb, sie habe furchtbar wegen der armen Menschen und wegen ihm gezittert. Sie hatte einen Spaten an den Rand gemalt. Auf dem Metall stand: Wir graben ihn aus !

Der Winter dauerte bis Ende Februar. In den ersten Märztagen machte sich Georg Warner auf den Weg nach Norden und holte in Finowfurt seinen reparierten Wagen ab. Er spürte auf seinem weiteren Weg die Gewissheit, dass eine weitere Frist verstrichen war.

Das Dachfenster Georg Warner begab sich zuerst ins Greifswalder Konsistorium. Für sein langes Fernbleiben hatte er sich schriftlich entschuldigt und die Gründe genannt. Gleichzeitig hatte er seinen Plan für das Jahr 1987 mitgeteilt. Zu Ostern würde es ein „Blumenpflücken vor Emmaus“ geben. Die Vorankündigung war an die Gemeinden gegangen, die Sendung könne umgehend abgeschickt werden. Im Sommer würden in den Urlauberorten Gruppen mit festen Programmen auftreten, auf Rügen die Bergener mit „Kaleidoskop eines vergänglichen Lebens“, die Gruppe aus Middelhagen-Göhren mit dem „Blumenpflücken“ und zwei kleinen anderen Werken. Die Stralsunder würden unmittelbar an der Küste auftreten, die Gruppe aus Anklam im Inland. Er teilte auch mit, dass er seine eigene Spielgruppe wieder zum Einsatz bringen wolle.

Der zuständige Konsistorialrat empfing ihn. Es gab keine Vorwürfe.

383

Das Jahresprogramm bis Ende Sommer wurde bestätigt. Die Miene des Konsistorialrats blieb jedoch besorgt. Dann rückte er mit der Sprache heraus. Die Mittel für Georg Warners Stelle wären gerade so bestätigt worden und nur unter der Auflage, dass für ihn eine kleine Pfarrstelle gefunden werde, über die auch sein Dienst bezahlt werden würde. Dass alles „am Gelde hängt, zum Gelde drängt“, war nicht nur faustisch.

Man schlug Warner Poseritz vor, auf Rügen am Ende des Greifswalder Boddens. Er könnte sofort anfangen, das Pfarrhaus stehe leer.

Warner wollte nicht dagegen argumentieren. Er versprach, die Sache zu überdenken.

Gedankenverloren traf er in Middelhagen ein. Genoveva würde erst am Abend kommen. So stürzte sich Warner in die Arbeit, stellte die Ostertexte zusammen und vervielfältigte das Stück mit der Maschine.

Da sich die Jugend noch am selben Tag versammelte, begann er mit den Proben.

Als Genoveva die Kirche betrat, unterbrach Georg die Probe und ging auf sie zu. Sie bemerkte, dass er sich verändert hatte. Seine Umarmung war herzlich. Aber etwas nagte an seiner Seele.

In der Nacht auf dem Leuchtturm mussten sie darüber reden. Georg schob seine geplante Arbeit vor, teilte auch mit, dass er es in Erwägung ziehe, seine Spielgruppe nach Pommern zu bringen. Nach zwei Monaten Abwesenheit sei er eine Gegenleistung schuldig.

Genau daran knüpfte Genoveva an. Sie führte das Gespräch, da sie durch den Briefwechsel ausreichend Kenntnis von der Situation in Deutsch-Ossig hatte. Georg konnte sich nun alles von der Seele reden.

Vergangenes, wie der Schock bei der Erhebung des Friedhofes, floss ein. Georg schilderte, dass der Friedhof nun ausgebaggert sei und einer Kiesgrube gleiche, wie es ihm schon einmal in Olbersdorf begegnet war.

Genoveva fand für diese Gegend und die Menschen, die dort lebten, nur das Wort „verdammt“. Folglich sei es ein Kampf gegen den Teufel. Sie musste sich eingestehen, dass sie solch dramatisches Geschehen nicht hinter Georg Warners Person vermutet hatte. Er war immer voller Dynamik gewesen, nach vorn orientiert. Bis jetzt jedenfalls.

Ihr wurde klar, dass Georg auch aus einem anderen Grund an der „Windrose“ schrieb. Er wollte weg und konnte das nur in seiner Fantasie. Sie lenkte das Gespräch in diese Richtung. Umgehend sagte Georg mit traurigem Unterton, dass er das Stück nicht weiterschreiben würde.

Genoveva musste helfen. So fragte sie ihn, ob auch die anderen wegwollten und nicht könnten, Hilde etwa oder welche aus der Gruppe.

Warner antwortete bitter: „Zwei sind schon weg.“ Dann erzählte er von 384

Nostradamus und Karl. Genoveva sträubten sich die Nackenhaare. Also gehörte auch das Thema zu dieser Gegend.

Georg musste über dieses Jahr gelangen, ob oder wie es ein weiteres gab, war offen. Der Druck mit der „kleinen“ Gemeinde dürfte noch zunehmen und sie hatte ganz klar erkannt, dass Georg nicht von dort weg durfte. Sie sah auch, dass diese Versuchung real war, er ihr aber bisher widerstanden hatte. Es wäre sogar verzeihlich gewesen, wenn er zu dem Schluss gelangte, schon im vergangenen Winter, dass alles keinen Zweck mehr habe. Und hatte er nicht eingeräumt, dass er im Grunde schon im Jahr zuvor, als er an die Küste aufbrach, gegangen sei? Auch ihre Liebesbeziehung konnte Zukunft haben. Hatte sie eine?

Jetzt sagte Genoveva: „Wie wäre es, wenn du deine jungen Leute mitfliegen lässt? Mich hast du ja auch mitgenommen.“ Georg wusste nicht, wie das gehen sollte. „Ganz einfach“, entgegnete Genoveva, „du spielst hier im Sommer mit deiner Gruppe die ‚Windrose‘.“ Damit lockte sie Georg. Er merkte auf. Genoveva hielt es für besser, das Gespräch hier zu beenden. Dem kam entgegen, dass auf der Ostsee und über Funk auf einmal Bewegung war. Auch das Radar zeigte Schwierigkeiten an.

Für die sich anbahnende Verbindung zwischen Bernis und Genoveva übten sie in den Nächten, da Genoveva keinen Dienst hatte. Den Rahmen gab das Dachfenster in Georgs Zimmer ab, durch das sie vom Bett aus die Sterne sehen konnten. Der Große Wagen stand im Rahmen.

Mithilfe eines Sternenatlas vervollständigten sie das Bild.

Gleiches taten Bernis und Genoveva. Er hatte sie noch im Hotel angetroffen. Herlin war bereits abgereist, doch sie folgte ihm diesmal nicht, sondern zog zu Jacque Bernis in sein Zimmer am Flughafen von Toulouse.

Georg Warner schrieb jetzt in seiner Wohnung. Eine poetische Liebesgeschichte entwickelte sich zwischen Bernis und Genoveva. Dann aber kam es zum Bruch.

7. Szene Personen: Bernis Genoveva Ein Zimmer mit einem Dachfenster, hinter dem Sterne blinken. Bernis sitzt auf dem Bett. Genoveva schließt das Fenster.

Genoveva: Ich habe dich ins endlose All gestürzt.

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Bernis: Jetzt hast du das Fenster geschlossen. Das Mondlicht glänzt nur durch die Scheiben. Du hast den Himmel wie einen Glaskasten zugemacht und die Sterne darin gefangen. Dabei bist du eine Frau, die nach dem Erlebnis der Liebe zu den Sternen entrückt wird.

Genoveva: Und nur noch eine Erfindung des Herzens ist.

Bernis: Du kannst den Dingen wieder ihr Geheimnis geben.

Genoveva: Du sehnst dich danach. Willst die Dinge nicht so sehen, wie sie sind. Wolltest es nie. Deshalb werde ich dich verlassen. Die Dinge haben eine Ordnung. Und ich kann nur in dieser Ordnung existieren. In der Zeit, die sie bergen. Ein Leben der Fantasie, Bernis, ist so bedroht wie die grüne Liebe. Ich wollte Ehefrau werden und Mutter.

Ich wollte mich nicht im Traum danach sehnen. Ich wollte den Dingen Namen geben, mich mit ihnen umgeben, damit sie mich schützen.

Bernis: Wie Herlin.

Genoveva: Du hattest für meinen Mann immer nur Spott übrig. Aber er gibt Sicherheit.

Bernis: Vor dem Tod ist niemand sicher.

Genoveva: Du verstehst mich nicht. Und deshalb sage ich dir: Ich liebe dich, aber ich kann nicht mit dir leben. Wenn wir uns Millionen Lichtjahre von hier treffen würden, würdest du mich immer noch nicht verstehen.

Bernis: Das All ist wie eine Blume, die sich öffnet.

Genoveva: Nein, das All ist der Ort von Herlins Berechnungen.

Bernis: Und du glaubst das, Genoveva?

Genoveva: Ich weiß es.

Bernis: Und die Träume?

Genoveva: Ich glaube, dass Träume uns tragen. Aber sie sind an das gebunden, was da ist. Die Mauern eines Hauses halten die Erinnerungen lebendig. Die Zeit stellt die Dinge an ihren Platz und lässt sie dort unverrückt. Heraus kommen die Träume, die dauerhaften und festen.

Und nur in diesem Strom kann ich lieben. Für dich ist Lieben wie Geborenwerden. Deine Zärtlichkeit kommt aus seligen Höhen. Wenn die Stunde der Liebe vorbei ist, musst du wieder aufsteigen. Begierde, Zärtlichkeit, Feuerglut? Schon flimmert der Sternenhimmel durch das Fenster. Ich aber, Bernis, ich bin Erde. (Sie öffnet das Fenster. Geht.)

Als Genoveva die dritte Szene einer vermeintlich großen Liebe gelesen hatte, stürzte sie sich voller Begierde, Zärtlichkeit und Feuerglut auf Georg. Nicht einen Zweifel wollte sie zulassen. Jahre später dachte sie, dass sie wie diese Genoveva gewesen war. Und wenn sie sich nicht von der 386

„Erde“ gelöst, sondern sich Georgs Kapriolen und Loopings ausgesetzt hätte, wäre sie genau wie diese Genoveva gegangen. Niemals, dieser Georg würde immer ihr Mann sein.

Georg Warner schickte den bisher entstandenen Text der „Windrose“ nach Hause. Auch das „Blumenpflücken vor Emmaus“ mit den zugehörigen Texten gab er bei und bat darum, dies Ostern aufzuführen. Hilde antwortete ihm: „Mensch, Georg, Alter. Wir haben gedacht, Du haust ab. Du hast dich im Winter tapfer geschlagen. Aber irgendwie hattest du alles satt. (Wir übrigens auch.)

In der Offenen Arbeit haben Deine neuen Texte große Begeisterung ausgelöst. Sie treffen unsere gemeinsame Stimmung. Auch hat es uns gefreut, wie viele Leute Du brauchst. Schreib noch ein paar Szenen mit noch mehr Leuten, dann kommen wir alle. ‚Urlaub‘ an der See ist gebongt. ‚Blumenpflücken‘ werden wir auch gehen. Wie Du inszenierst, wissen wir inzwischen. Zumindest einen ‚echten Warner‘ bringen wir schon auf die Bühne, pardon, in die Kirche. Mit der ‚Windrose‘ werden wir danach beginnen, aber vermutlich nicht alles überblicken. Ist ja doch bis Sommer etwas umfangreich.

Erfreuliches gibt es wider Erwarten auch zu berichten. Nostradamus ist freigekauft worden und befindet sich in Bremen. Ich habe ihm sofort das ‚Blumenpflücken‘ geschickt und ihn aufgefordert, mit der Arbeit zu beginnen. Er wird Dir sicher schreiben.

Unser Karl nicht. Er hat erleichterte Haftbedingungen bekommen und arbeitet als Häftling im Stickstoffwerk Piesteritz. Er durfte neben der Adresse seiner Frau eine weitere angeben. Da hat er meine gewählt.

Ich soll Dir mitteilen, dass er Dir gern geschrieben hätte, sich aber über seinen Klassenstandpunkt noch nicht ganz im Klaren ist.

Irgendwie scheint mir hier der Teufel im Bunde. Karl hat einen Schonplatz. Zweimal am Tag trinkt er Kaffee. Und zwar mit der Ingenieurin, der die Häftlinge unterstellt sind. Was meinst Du, worum es da in den Gesprächen geht? Um Dich. Da Karl diese ‚Freizeit‘ genießen will, hat er ihr über Dich so viel erzählt, wie sie unmöglich wissen konnte.

Stell Dir vor, sie kennt Deutsch-Ossig und würde liebend gern dahin zurückkehren. Karl und ich, wir mutmaßen wohl nicht zu Unrecht, dass sie einmal Deine Frau war. Wir wollen nichts weiter wissen. Falls es Dir mit ihr nicht so gut ergangen ist, erfolgt nachträglich Genugtuung, indem es Karl gut geht. Letztens schrieb er verstört, dass sie beginne, ihn mit Dir zu verwechseln.

Also, alles tutti paletti, Hilde“ 387

Maria und Marianne Ostern ging vorüber. Mit einiger Begeisterung wurden vom Zittauer Gebirge bis nach Rügen „Blumen gepflückt“. Kritische Töne kamen aus der pietistischen Ecke, dass es sich nicht zieme, den Auferstandenen auf die Bühne zu bringen. Warner antwortete mit den Malern, die den Auferstandenen zuhauf gemalt hätten.

Aufgeräumt erschien er an einem Frühlingsabend im Leuchtturm. Er sang mit Manfred Krug „Wenn’s draußen grün wird, fällt mir nur noch Liebe ein“, wo es ja dann heißt, dass nicht nur in Heines Herz Liebe aufgegangen ist. Warner hatte reichlich leere Seiten mitgebracht, die er in der Nacht füllen wollte. Genoveva erfuhr, dass Georg „touren“ wollte, was gleichzeitig hieß, weitere seiner Leute ins Spiel zu bringen. Erst einmal sollte es nach Tunis gehen, dann in die Anden.

8. Szene Personen: Bernis Fluglotse Maria Marianne Guillumet Alias Sanitäter Sprecher von Radiostationen Der Flugplatz von Tunis bei Nacht. Bernis macht seine Maschine startklar.

Ein Fluglotse erscheint.

Fluglotse: Eine Frau möchte Sie sprechen, Bernis.

Bernis: Möchte sich den Liebesbrief selbst abholen, die Schäferin von Tunis.

Fluglotse: Sie ist aus Toulouse.

Bernis: Genoveva.

Fluglotse: Den Namen habe ich nicht behalten. Weiß nur, dass sie Ihnen hierher nachgeflogen ist, um Ihnen etwas äußerst Wichtiges zu sagen.

Bernis: Für die Nachricht pflücke ich Ihnen den schönsten Stern.

Stern von Tunis. Sehen Sie, da steht er.

388

Fluglotse: Das ist der Polarstern. (Er entfernt sich. Maria tritt aus dem Dunkel zu Bernis.)

Maria: Sie werden mich nicht kennen, Herr Bernis. Aber meinen Mann. Er nannte Sie seinen Freund.

Bernis: Und? Maria: Er nannte Sie sogar seinen besten Freund.

Bernis: Kennen Sie die Geschichte vom Fuchs und dem Weizen?

Maria: Lafontaine bedeutet mir nichts.

Bernis: Oh, das ist nicht Lafontaine und erst recht keine Fabel. Alle meine Freunde kennen die Geschichte. Und ich denke, dass sie sie auch ihren Frauen weitererzählen. So sie welche haben.

Maria: Mein Mann hat nie von einem Fuchs im Kornfeld erzählt. Er hat überhaupt wenig geredet, von der Fliegerei schon gar nicht.

Bernis: Madame, ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Aber sagen Sie, halten Sie Ihre Ehe für glücklich?

Maria: Wir sind schon lange verheiratet. Da versteht man sich schweigend. Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse.

Bernis: Das könnte der Fuchs gesagt haben. Wie heißen Sie? Maria: Maria Guillumet. Retten Sie meinen Mann. Ich habe mir immer gewünscht, dass er vor mir stirbt. Er könnte das Alleinsein nicht ertragen. Aber jetzt wünsche ich nichts brennender, als dass er lebt.

Bernis: Guillumet? Mein Freund? Wissen Sie, er war sehr verschlossen. Nie erlebte er etwas auf seinen Flügen. Oder er kleidete es in dürre Worte.

Maria: Sie lieben die Wüste, Bernis. Guillumet hat Sie einmal so charakterisiert. Also lieben Sie auch das Schweigen.

Bernis: Über alles, Madame. Es ist dem Tod so verwandt.

Maria: Sie werden meinen Mann finden. Nur Sie. Die anderen …

Bernis: Also war die Suche erfolglos.

Maria: Die anderen haben ihn aufgegeben.

Bernis: Wissen Sie, wie das in der Wüste zugeht? Einer hat Bruch gemacht. Ein anderer sucht ihn, landet im gleichen Treibsand. Ein Dritter macht sich auf den Weg. Dann sitzen sie alle beieinander und warten auf die Mauren.

Maria: Mein Mann ist in den Anden verschollen.

Bernis: Was suchen Sie dann in Afrika?

Maria: Sie. Bernis: Wissen Sie, was jetzt in den Anden ist?

Maria: Mein Mann.

Bernis: Und Winter. In einer Nacht erfriert da der Mensch.

389

Maria: Guillumet hat sich auf den Weg gemacht. Und es muss ihm jemand entgegenkommen.

Bernis: Madame, ich weiß nicht, worum ich Sie beneiden soll. Ich weiß nur, dass Sie beneidenswert sind. (Das Flugzeug ist aufgetankt. Bernis steigt ein und auf. Verliert sich in der Ferne.)

Radiostation Buenos Aires: Radiostation Buenos Aires für Südkurier Linie Afrika–Amerika. Fliegen Sie Buenos Aires an und übernehmen Sie Fracht. Suche nach verschollenem Piloten zwecklos. Stop. (Bernis schaltet ab.)

Bernis: Buenos Aires. Weithin gen Quito versinken die Herdsteinberge im Dunst. ‚Die schönsten Blumen, solange der Sommer währt und ich hier lebe, streu ich auf deine Gruft.‘ Shakespeare. Jeder hat seine Vorläufer. Wie würde die Welt staunen, wenn meiner Melville hieße. Da ist das Blinken, der Hexenkessel. Es tanzen die Geister, und die Mädchen sind mit einem Wahrsagegeist behaftet. Freu dich, mein Herz, ahoi! – und absegeln ins Elfenland, zum Fuße des Regenbogens im Elfenland. (Er landet auf einem Plateau. Steigt aus der Maschine, eine Hütte vor sich.) Hier wohnt Una mit ihrem Lamm. Eine Brücke zwischen zwei Welten, dem Himmel und der Erde. (Marianne tritt aus der Hütte.)

Marianne: Du bist mit Tray gekommen.

Bernis: Ich war allein auf meinem Weg. Marianne: Siehst du nicht den Schatten? Das ist Trays Stunde. Und deine. Er hat sogar den Kopf gesenkt.

Bernis: Der Felsen dort drüben …

Marianne: Stör ihn nicht in seiner Ruhe. Er ruht aus bei mir. Nur mein Bruder ist einst mit ihm über den Felsen geglitten. Mein Bruder.

Er schlug Holz. Auch die Birke vor der Hütte. Er war Köhler. Hat die Wurzel unter der Kohle begraben. Und die Birke wird nie wieder Schatten spenden. Mein Bruder wurde müde. Tauschte die Ruhe des Betts gegen eine tiefere Ruhe ein.

Bernis: Es ist lange her, seit ein Mensch nur den Schatten der Dinge sah. Er saß wie in einer Höhle gefangen. Mit dem Rücken zum Eingang, durch den das Sonnenlicht fiel.

Marianne: Es ist Winter geworden.

Bernis: Ich habe die Wälder im Spätsommer glühen sehen. Wie für trunkene Dichter geschaffen. Alles ist gesagt, alles getan. Die Natur ist mit sich selbst ausgesöhnt. Sie duldet eine Weile den Menschen, der sie betrachtet.

Marianne: Hier scheint nie die Sonne. Jede Zeit hat ihre Schatten.

Bernis: Wie heißt du.

390

Marianne: Marianne.

Bernis: Auf dein Haus hat die Sonne geschienen, Marianne.

Marianne: Die Sonne frisst nur die Schindeln. Mein Bruder ist müde geworden vom Decken des Daches. Jetzt wächst da Moos.

Bernis: Und der Tau vergoldet es. Marianne, du wohnst in einer goldenen Hütte. Mich hat ihr Leuchten hergeführt.

Marianne: Und jetzt findest du nur eine Frau.

Bernis: Ich dachte, hier müsste der glücklichste Mensch wohnen.

Marianne. Vor einer Weile begegnete mir ein Schatten, den ich nicht kannte. Ich blickte nach oben. Und da flog er, der glücklichste Mensch.

Versuche, ihn einzuholen. Vielleicht weiß er etwas von der Sonne. (Sie geht ins Haus, Bernis zu seinem Flugzeug. Nimmt die Suche nach Guillumet auf.)

Bernis: Südkurier Afrika–Amerika an Radiostation Quito. Habe Indiz für möglichen Verbleib des Piloten Guillumet: Trays Schatten.

Prüfen Sie Profil der Berge. Welcher kann den Schatten eines Hundes werfen?

Radiostation Quito: Greylock steht im Norden, die Herdsteinberge sind im Süden. Wenn Sie Tray ansteuern wollen, liegt er Süd-Südwest.

Bernis: Auf Tray muss Verlass sein. Sitzt in den Gebirgsmassiven ein Wetterbrüter?

Radiostation Quito: Karl der Große.

Bernis: Na bitte, ein König hat mich erhört. Wind?

Radiostation Quito: Ständig aus Nord. Gleichmäßige Schauerstaffeln aus dem Herzen der Herdsteinberge.

Bernis: Wenn man da hineinfliegt …

Radiostation Quito: Keine Thermik. Das Flugzeug wird in einem Talkessel gefangen gehalten.

Bernis: Habe Guillumet schon gefunden.

Radiostation Quito: Striktes Verbot, dieses Gebiet anzufliegen.

Bernis: Guillumet ist wahrscheinlich mit Tray zu Tal geglitten.

Radiostation Quito: Die Schatten sind tödlich. Führen in die tiefen Täler. Kein Entrinnen mehr möglich. Pilot hat spätestens dort sein Grab gefunden.

Bernis: Verfolge die Schatten. (Er schaltet ab.) Jacques Bernis, was würde dich am Leben erhalten, wenn du dort unten wärst? Die Kameraden. Unsichtbar bist du mit ihnen verbunden. Manch einen siehst du erst nach Jahren wieder. Aber jedes Unglück teilt sich über Tausende Kilometer mit. Und dann beginnt das Warten. Auf die glückliche Heimkehr. Es ist das eigene Leben, das so und so immer mit auf dem Spiel 391

steht.

Aber irgendwann im tiefen Schnee möchtest du nur noch schlafen.

Die Rufe der Kameraden werden immer leiser und durchdringen den wohlig warmen Erfrierungstod nicht mehr. Das Leben zieht als ein einziges Fest des Sommers an dir vorüber. Diese Frau und jene Frau. Und die verblassende Erinnerung lässt dich plötzlich entscheiden: Diese war es. Sie reißt dich hoch. Und dann stehst du in eisiger Kälte vor der letzten Frage: Lohnt es sich, wegen ihr weiterzugehen? Guillumet, es steht schlecht um dich. Und Jacques Bernis? ‚Wie glücklich ist ein Leben, das mit der Liebe beginnt und mit dem Ehrgeiz endet.‘ Hast du noch mehr in der Richtung, Pascal? ‚Wir haben eine Quelle der Eigenliebe in uns, die uns vor uns selber so darstellt, als könnten wir draußen mehrere Räume füllen; das geeignetste Gefäß dafür ist eine Frau.‘ Blaise Pascal, dein Testament verrät dich. Nicht die Wissenschaft sollte dich beerben, sondern die Frauen. Francoise Delfaut vermachtest du 1 200 Livres, Anne Polycarpe 1 000, das Küchenmädchen Esdune erhielt lebenslänglich eine jährliche Pension von 100 tourischen Livres, die Amme, die den Neffen des Erblassers an der Brust genährt hat, eine Pension von 30 Livres. Zur Vermittlung, seine Seele in die Zahl der Seligen einzureihen, ruft Pascal die glorreiche Jungfrau Maria und alle Frauen des Paradieses an.

So weichen die Schatten. Und von unten her wird das Blinken sichtbar. Maria-Marianne. (Er geht runter. Setzt die Maschine in einem komplizierten Landemanöver auf. Steigt aus dem Flugzeug und hebt einen Spiegel auf. Blickt hinein.) ‚Die Einöden des Menschen entledigen ihn aller unwichtig gewordenen Dinge. Der Weg in die Wüste kennzeichnet seinen Charakter. Und irgendwann findet man ein Stück, das einem unweigerlich anzeigt – der Mensch ist zum Sterben aufgebrochen. Seine Ordnung löst sich auf.‘ Guillumet dachte, er brauche sich von nun an nicht mehr zu rasieren.

Ein banaler Gedanke im Angesicht des Todes. Der Spiegel aber ist die Metapher für ein Ganzes. Und so weist er dem, der den Sterbenden sucht, den Weg. (Er hält den Spiegel in die Sonne, lässt sich von dem Lichtstrahl führen. Auf einem Felsvorsprung findet er Guillumet. Stößt ihn an und hält ihm den Spiegel hin.)

Guillumet: Bernis. Du Träumer. Es ist doch hier zu kalt zum Rasieren.

(Er schluchzt.) Meine Handschuhe hättest du bringen sollen. Die hab ich da unten irgendwo liegen lassen. Und mein Messer zum Aufschneiden der Stiefel, wegen der erfrorenen Füße. Wo kommst du eigentlich her?

Bernis: Aus Tunis.

392

Guillumet: Dort ist es sehr warm, nicht?

Bernis: Deine Frau hat mich in der Wüste erwartet, damit ich dich im Eise suche. Du musst weit gelaufen sein.

Guillumet: Drei Tage und drei Nächte. Und dann noch einmal einen Tag und eine Nacht. Nach drei Nächten war ich tot. Da war ich da unten. Am tiefsten Punkt. Ich habe an meine Frau gedacht. (Er lacht.) Und ganz am Ende fiel mir ein, dass mich da unten keiner finden würde.

Maria müsste dann zehn Jahre warten, um mich für tot zu erklären. Wovon soll sie bis dahin leben? Da bin ich hier raufgekrochen. Die Schneeschmelze im Frühling hätte mich in die Ebene getragen. Und man hätte gesehen, dass ich tot bin. (Bernis hilft Guillumet ins Flugzeug.) Eigentlich hab ich im Moment gar keine Lust zum Fliegen. Komisch, was?

Bernis: Willst du was essen?

Guillumet: Nur schlafen … (Bernis und Guillumet verlassen die Anden.)

Bernis: An alle Radiostationen. Jacques Bernis hat verschollenen Piloten Guillumet gefunden. Südkurier Amerika–Toulouse. (Er nimmt den weiten Weg unter sich. Landet schließlich in Toulouse.) Guillumet.

Aufwachen. (Der schreit auf.) Begrüßt man so Toulouse?

Guillumet: Maria?

Bernis: Mit den Erfrierungen musst du erst ins Krankenhaus. (Der Flughafenkommandant Alias ist an die Maschine getreten.) Ich weiß, Kommandant. Wieder zu nahe am Flugzeugschuppen gewendet. Legen Sie den hier auf Eis und dann langsam auftauen. (Alias wendet sich an zwei bereitstehende Sanitäter.)

Alias: Den Postflieger Guillumet zur Ambulanz. (Die Sanitäter betten ihn auf eine Trage.)

Guillumet: Du musst uns besuchen, Bernis. Mich und meine Frau.

(Er wird davongetragen. Bernis in Trance.)

Bernis: Ich fliege weiter. In einer Stunde.

Alias: Vermutlich werden Sie erst einmal schlafen. (Bernis denkt nach.)

Bernis: Auch keine schlechte Idee. (Er schleppt sich davon.)

Alias: Habe ich mich schon bei Ihnen bedankt. Wegen des zurückgebrachten verschollenen Piloten.

Bernis: Die Absicht genügt mir.

Draußen begrüßten die Vögel den Morgen. Georg las Genoveva das Geschriebene vor. Sie reagierte mit Lauten des Erstaunens und Erschreckens. Als Georg geendet hatte, sah er Tränen in ihren Augen. Sie strich 393

ihm über das Haar und sagte: „Du bist so gut, Georg. So wie Jacque Bernis. Sonst hättest du das nicht schreiben können.“ Er entzog sich ihr und sagte gereizt: „Das hat Exupéry schon in ‚Wind, Sand und Sterne‘ geschrieben, in den ‚Kameraden‘.“ Sie ließ sich nicht entmutigen und antwortete: „Und doch ist es von dir.“ Warner schickte die Texte heimwärts. Er wusste, dass insgesamt eine Menge Proben notwendig waren. Damit begonnen werden konnte, benannte er die möglichen Hauptrollen. Der kleine Cowboy sollte Bernis übernehmen, da er für ein Flugzeug genug Gefühl entwickeln konnte. Üben sollte er mit seinem Motorrad auf der Straße. Für Don blieb Neri, so durfte er auch mitfliegen. Und die inzwischen junge Frau Annalena war für Genoveva wie geschaffen. Hilde hatte sich die Rolle des Kommandanten Alias ausbedungen. Die anderen sollten selbst entscheiden.

Bark Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen. Warner verbreitete keinen neuen Geist, sondern holte alten hervor. Dafür eignete sich besonders der Prophet Elia aus dem Alten Testament. Bei ihm besaßen die Engel tatkräftige Hände und gingen weite Wege, zu Fuß. So gelangten sie in dem Programm „EngelmitHandundFuß“ auch an die Küste. Georg Warner vollzog den Handschlag mit ihnen in der Deutsch-Ossiger Kirche. Ein Jahr später zu Pfingsten, das war inzwischen festgelegt worden, würde die Kirche entwidmet werden. Die Ausgießung des Heiligen Geistes, was ja das Pfingstwunder war, würde danach hier nicht mehr geschehen. Deshalb galt es jetzt ein letztes Mal, Pfingstfeuer mit zündelnden Engeln bis hoch unter das Kirchendach zu legen.

Hilde war begeistert und steuerte Texte von zu Fuß gehenden Engeln bei. Warner wollte ausnahmsweise noch welche textsicher fliegen lassen, vom Throne Gottes bis knapp über den Erdboden. Den alten Geist bezog er von Jesaja. Der wird von Gott zum Propheten berufen und muss bei diesem Anlass auf eine glühende Kohle beißen.

Auf dem Pfarrhof blühte eben die Kastanie, wie einst in Olbersdorf war es ein Notblühen. Auf das zu erwartende Ende hin sollte man sich schon immer zum Köhler Jesaja auf den Weg machen, der ohne Zweifel in seinem unabänderlichen Willen Gott war. Wie ein Jahr zuvor auf 394

dem Friedhof war Georg Warner wieder einmal danach, mit Gott zu rechten: inmitten der heiligen Stadt steht der Meiler, wird Holz zu Kohle verbrannt, thront der Köhler, umgeben von seinen Engeln – schwarzes Gefieder an sechs Flügeln, die paarweise Antlitz und Füße bedecken, dass keiner die Köhlerkinder erkennt; mit einem Paar fliegen sie.

Man soll’s hören und nicht versteh’n, sehen und nicht bemerken.

Verstocktes Herz, taube Ohren, blinde Augen.

Lippen, gesprungen vom Feuer, trockener Mund, verdorrte Kehle – nur ein Röcheln.

Jesaja hatte eine Kastanie mit weißen Kerzen, braunigeligen Stacheltieren, fünffingrigen Blättern.

Jetzt stand er im Meiler, die Kastanietten krachten im Feuer.

Er war gekommen, Kastanien aus dem Feuer zu holen.

Jesaja sitzt auf Kohlen.

Im Kohlendampf nichts als ein Röcheln.

Der Köhler erwartet ihn!

395

– mein Gott – Ein Laut: Ich bin gekommen …

Kastanien zu essen … meine.

Ein Köhlerkind greift ins Feuer, in der Hand die Kohle – Laut: Friss, du Hund!

Der schnappt nach dem Bissen, ein für allemal vom Köhler gezeichnet.

Als dienstbarer Geist schafft er nun heran Weiches und Hartes, Eiche und Linde.

Unter der Asche die Glut, entfache sie mit deinen Lippen.

Im Gottesdienst wurde kräftig eingeheizt. Die Texte überstürzten sich förmlich, dazwischen trieb die Orgel zum Singen von Pfingstliedern an „… wenn wir heimfahr’n aus diesem Elende. Kyrieleis.“ Nach Pfingsten begannen die Proben der „Windrose“ in der Kirche, ein hoher Raum war nötig. Das Flugzeug hatte die Gruppe bereits fantasievoll hergestellt, ohne zu vergessen, dass die Teile auch transportabel sein mussten. Ein Problem war die Aufhängung, doch die Konstruktion funktionierte schließlich wie ein dreibeiniger Flaschenzug.

Das Flugzeug bewegte sich perfekt. Dem kleinen Cowboy bereitete es sichtlich Vergnügen, das Flugzeug „zu steuern“. Dazu mussten Illusionen geschaffen werden, ein Sternenhimmel und schwarze Tücher als Abdunkelung. Scheinwerfer sollten das Geschehen beleuchten und anderes im Finstern lassen. Kulissen mussten her, vom Gebirge wie auch von der Wüste. Die Spielfläche musste klar definiert sein, etwa die Flugplätze. Die Mitteilungen der Radiostationen wurden eingespielt.

Der Aufwand war größer, als Warner erwartet hatte. Doch die Leute von der Offenen Arbeit waren immer noch zahlreich und alle „Gewerke“ von den Konstrukteuren bis hin zu den Malern vertreten. Der alte 396

Framo, mit dem die Spielarbeit begonnen hatte, kam in die Grube, wo er von den Schlossern „an Leib und Seele“ erneuert wurde. Für den Transport war er unerlässlich.

Georg Warner wollte vor die Schlussszene noch eine andere stellen und damit die Selbstlosigkeit von Bernis einer harten Probe unterziehen. Er sollte in einer Welt „stranden“, der man nicht einfach entgehen konnte, indem man das Flugzeug startete.

9. Szene Personen: Bernis Neri Häuptling Mohamed Alias Beduinen Stammesälteste Sklaven Der Flugplatz von Toulouse. Bernis vor der startbereiten Maschine. Neri erscheint in Montur, um mitzufliegen.

Bernis: Sieh da, Neri. Du hast dich aus dem Spiel gebracht, indem du mich im Stich gelassen hast.

Neri: Konnte ich wissen, dass du eine Weltreise vorhast?

Bernis: Wenn ich jetzt erfroren in den Anden liegen würde, es wäre auch deine Schuld.

Neri: Denk an den Tank.

Bernis: ‚Danke‘ habe ich schon gesagt. Soll ich Dir noch ein paar Eisblumen schenken?

Neri: Du sollst mich nur mitfliegen lassen.

Bernis: Lieber spalte ich dir mit deinem eigenen Schraubenschlüssel den Schädel.

Neri: Du würdest darin großartige Gedanken finden. Ich habe aus lauter Sehnsucht nach dir Pascal gelesen.

Bernis: Höre, Neri. Pascal haben nur zwei begriffen, Jacques Bernis und der da oben. (Neugierig.) Was hast du denn gelesen?

Neri: Die Pensées.

Bernis: Zu schwer für einen Anfänger. Na, ich kann dich ja abfragen.

(Sie steigen ins Flugzeug.) Salem Aleikum, Kommandant Alias. (Sie flie397

gen davon. Befinden sich schließlich über der Wüste. Ein Geräusch. Der Motor streikt. Bernis versucht einige Tricks, um ihn wieder zum Laufen zu bringen.)

Neri: Zwecklos. Der Treibriemen ist gerissen. (Im Gleitflug lässt Bernis die Maschine sinken.)

Bernis: Die Wüste ist groß und menschenleer. Aber Allah ist noch größer. Er lässt uns mitten unter aufständischen Beduinen landen. (Als das Flugzeug stillsteht, ist es sofort umringt. Bernis und Neri werden mit vorgehaltenen Gewehren zum Aussteigen gezwungen. Man bringt sie ins Beduinenlager. Vor einem Zelt werden Teppiche ausgelegt. Bernis und Neri werden platziert. Die Stammesältesten ziehen sich zur Beratung ins Zelt zurück. Zwei Beduinen bewachen den Piloten und seinen Mechaniker. Ein Sklave bringt Essen.)

Neri: Ein gutes Zeichen. Man will uns am Leben erhalten.

Bernis: Unseren Gastgebern ist vermutlich die Munition ausgegangen. Und deshalb werden sie Lösegeld fordern, so hoch, dass sie ihren Aufstand fortsetzen können. Wir werden das Vaterland teuer zu stehen kommen. Und unser Leben hängt davon ab, ob wir ihm so viel wert sind. (Neri zieht den Sklaven, der das Essen aufträgt, zu sich heran.)

Neri: Wie heißt du?

Sklave: Bark. (Er zieht sich eilig zurück.)

Neri: Hört sich an, als ob er aus Marokko stammt.

Bernis: Klingt eher nach nichts. (Ein anderer Sklave serviert Tee.) Neri: Dein Name?

Sklave: Bark. (Er schenkt ein und geht.)

Neri: Wahrscheinlich ist ‚Bark‘ das einzige Wort, das den Sklaven erlaubt ist.

Bernis: Sie sind es selbst. Jeder Sklave heißt Bark. An seinen Namen kann er sich nicht mehr erinnern. Mit dem Tag der Gefangennahme erlischt seine Welt. Das Tal mit der Schafherde. Der eigene Herd. Die Familie. Er wird in die gegenstandslose Wüste gebracht. Gewöhnt sich an die Dankbarkeit gegenüber seinem Herrn, der ihn immerhin ernährt.

Wenn er gefragt wird, sagt er ‚Bark‘. Mehr ist nicht nötig. (Ein Sklave bringt Wasserpfeifen.) Es wird fürstlich. Damit ist klar, dass es der Preis auch sein wird. (Der Sklave bedient Bernis und Neri umständlich.) Wie heißt du?

Mohamed: Ich hieß Mohamed.

Bernis: Wie du jetzt heißt.

Mohamed: Ich hieß Mohamed. (Einer der Posten sieht auf. Mohamed zieht sich zurück. Beginnt, mit Hausgeräten zu hantieren. Nähert sich da398

bei Bernis.) Versteck mich in deinem Flugzeug. (Er entfernt sich.)

Neri: Du mit deiner Sklavenmoral.

Bernis: Merkwürdig war das schon. In Fort Juby treiben die Beduinen Handel. Da wimmelt es nur so von Sklaven. Aber nie hat einer angesichts der Flugzeuge diese Rede gewagt. Merkwürdig. (Die Ältesten treten aus dem Zelt. Der Häuptling wendet sich an Bernis.)

Häuptling: 20 000.

Bernis: Sandkörner?

Häuptling: France.

Bernis: Wir beide sind höchstens 10 000 wert.

Häuptling: Für einen.

Bernis: Ich habe die Rechnung schon verstanden.

Häuptling: 20 000 für einen.

Bernis: Wollt ihr Tunis einnehmen?

Häuptling: Nichts zu reden. Feilschen. 40 000 oder Tod. Bernis: Da ihr im Zelt auf diese stattliche Summe gekommen seid, wollen wir uns im Zelt darüber beraten.

Häuptling: Wache! (Die Beduinen lagern sich um das Zelt. Der Häuptling winkt Mohamed heran. Der hebt den Teppich vom Eingang. Bernis und Neri treten in das Zelt.)

Bernis: Lässt sich der Treibriemen behelfsmäßig flicken? (Neri sieht sich im Zelt um. Löst einen Lederriemen.)

Neri: Damit. (Mohamed tritt ein.)

Mohamed: Der Tee. Er wird kalt.

Bernis: Uns steht der Sinn nach etwas anderem.

Mohamed: Versteckt mich in eurem Flugzeug.

Bernis: Wir sind selbst Sklaven.

Mohamed: Ich war Hirte. Ein Herr über unschuldige Tiere. Hielt die Schnellen zurück, weil hinten Lämmer geboren wurden. Trieb die Langsamen an. Am Abend stand ich inmitten des weißen Vlieses und blickte den Wolken nach. Ich war ein König der Barmherzigkeit. Mohamed hieß ich. Und die Händler nahmen nur mich, um ihre Herden führen zu lassen. Bis diese Herren auftauchten. Aus der Wüste. Hießen mich auch Schafe führen. Und führten mich in einen Hohlweg. Der Häuptling legte mir die Hand auf die Schulter und sagte ‚Bark‘. Aber ich habe nichts vergessen. Ich hieß Mohamed. Nehmt mich mit zu meinen Herden. Nach Marrakesch.

Bernis: Wir fliegen nur Agadir an. Die Linie Marrakesch betreiben Kraftflugzeuge. (Der Eingang wird geöffnet. Der Häuptling bedeutet Bernis und Neri mitzukommen. Bernis strebt dem Flugzeug zu.) Die Verbin399

dung mit der Radiostation muss erst hergestellt werden. (Neri öffnet die Motorhaube. Baut den Riemen ein.)

Neri: Fertig. (Sie steigen ins Flugzeug. Bernis will starten. Vor der Maschine steht Mohamed. Blickt sie stumm an.)

Bernis: Verfluchter Bark.

Häuptling: Sprechen.

Bernis: Hier Südkurier.

Alias: Hier Toulouse. Was ist, Agadir?

Bernis: Sprechen Sie im Satz, Kommandant Alias.

Alias: Sind Sie in Agadir, Bernis?

Bernis: Nein, in der Wüste.

Alias: Koordinaten.

Bernis: Nordwestlich vor einem Beduinenzelt.

Alias: Keine Romantik.

Bernis: Das ist gänzlich unromantisch, denn die Beduinen sind bis an die Zähne bewaffnet. Haben nur keine Munition.

Alias: Was hat das mit Ihrem Dienstauftrag zu tun?

Bernis: Nur so viel, dass wir ihre Gefangenen sind und bald keine Dienstaufträge mehr übernehmen können. Es sei denn, Sie schicken einen Postboten mit Lösegeld.

Alias: Sie wissen, Bernis, dass unser Haushalt ein Defizit aufweist, wir verschuldet sind und Sie nicht einmal den Lohn für diesen Monat erhalten konnten.

Bernis: Wir sind französische Staatsbürger. (Schweigen in der Leitung.) Das hat Ihnen die Sprache verschlagen.

Alias: Zumindest ändert es die Sachlage. Ich werde mich kurzschließen. (Eine Pause tritt ein.)

Bernis: Will der Kameltreiber nicht endlich vor dem Flugzeug verschwinden? Hau ab, Sklave!

Alias: Meinten Sie eben mich, Bernis?

Bernis: Nein, einen Sklaven. Denken Sie mal, Kommandant Alias. Er steht vor unserem Flugzeug.

Alias: Die Summe bitte.

Bernis: Für Bark?

Alias: Sind Sie nicht mit Neri geflogen?

Bernis: Ja, Neri und ich. Aber … Warten Sie eine Viertelstunde. (Er steigt aus dem Flugzeug. Neri folgt ihm verständnislos. Bernis geht zum Häuptling.) Wir wollen handeln.

Häuptling: Nichts handeln. 40 000. Nicht weniger.

Bernis: Mehr.

400

Häuptling: Was? Bernis: 60 000. (Die Beduinen sehen einander verständnislos an.) Zwei und eins macht drei. Wir wollen Bark freikaufen. Den, der Mohamed hieß.

Häuptling: Welcher Bark sagt, er sei Mohamed?

Mohamed: Ich hieß Mohamed.

Häuptling: Sehr kräftig. Sehr gesund.

Bernis: Es bleibt bei 20 000.

Häuptling: Gut, gut. Mit Frankreich sprechen. (Bernis steigt in das Flugzeug.)

Bernis: Südkurier für Toulouse. An Kommandant Alias.

Alias: Hier Toulouse. Erbitte für Ministerium Ablösesumme.

Bernis: 60 000.

Alias: Wollen die Beduinen Toulouse stürmen?

Bernis: Dazu müssten sie erst das Geld haben. Außerdem wollen sie nur bis Tunis. Was ist mit der Summe?

Alias: Geht in Ordnung. Aber wir müssen uns etwas einfallen lassen.

Man erwartet Gegenleistungen.

Bernis: Der Non-Stop-Flug Paris–Saigon ist mir gutgeschrieben worden. Man könnte daran erinnern.

Alias: Ruhm verblasst schnell. Ich dachte an Frankreich–Amerika.

Direkt. Ohne Afrika anzufliegen. Das wäre eine Sensation. Und billiger, als Piloten aus der Wüste freizukaufen.

Bernis: Ich komme über Agadir zurück.

Alias: Warum nicht gleich über Marrakesch?

Bernis: Ich denke, das fliegen nur Kraftflugzeuge an.

Alias: Wir machen eine Ausnahme.

Bernis: Bleibt noch die Frage, wie das Geld hierhergelangt.

Alias: Ich werde Sie suchen lassen. Zünden Sie Feuer an.

Bernis: Ja, die Wüste ist ohne Lichter. Auf Wiedersehen, Kommandant Alias.

Alias: Kommen Sie nur nach Hause, Bernis. (Er schaltet ab. Bernis klettert aus dem Flugzeug.)

Bernis: Gehen wir Tee trinken, Mohamed. (Die Beduinen geleiten sie ins Zelt, Neri folgt. Längere Pause. Ein Flugzeug ist zu hören, landet. Bernis tritt ins Dunkel. Kehrt mit einem Beutel voller Geld zurück. Der Handel wird abgewickelt. Bernis, Neri und Mohamed steigen ins Flugzeug.

Bernis startet und steigt auf.)

Sie begannen sofort mit dem Proben, da die Szene umfangreich war und 401

mehrere Positionswechsel erforderte. Auch die große Zahl an Personen verlangte ein lebendiges Spiel. Vor der Abreise Anfang Juli musste die Gruppe zwei Wochenenden komplett nutzen, um das Stück einzustudieren.

Der Vogelzug Die Spielgruppe fuhr per Bahn an die See. Warner, der den Trabant mit Requisiten vollgepackt hatte, blieb beim Framo, der höchstens 70 Kilometer pro Stunde zustande brachte. In die Berge hätten sie nicht fahren können. Sie kampierten im Middelhagener Gemeindesaal auf Luftmatratzen. Die Frauen schliefen in Georg Warners Zimmer.

Hilde fand einen Umstand verwunderlich. Georg hatte den Schluss noch nicht geschrieben. Er hatte geantwortet, dass er dafür den Leuchtturm brauche. Was er damit meinte, erfuhr Hilde am Abend nach der Ankunft, als Georg ihn dahin mitnahm. Er staunte, dass Georg zu einem so besonderen Ort Zugang hatte.

Noch mehr staunte er, als er die Leuchtturmwärterin kennenlernte.

Sie hieß Genoveva wie die Geliebte von Bernis. Also musste sie Georgs Muse sein. Da diese Beziehung schief gegangen war und der Schluss noch unglücklicher ausfallen dürfte, fragte sich Hilde, ob das im wirklichen Leben auch so sei. Aber Georg und Genoveva waren innig vertraut.

Sie war von Hilde begeistert: „Ich kenne dich. Georg hat viel von dir erzählt. Als ich hörte, wie du im Feuer auf der Raupe standest, hat es mir die Luft genommen.“ Hilde wollte das Du nicht über die Lippen kommen. Aber er fragte, welchen Eindruck Genoveva außerdem vom Revier habe. Sie wurde nachdenklich, suchte nach den richtigen Worten, um sich dann doch ehrlich zu äußern: „Ihr, und ich meine die ganze Gegend, seid verdammt. Wie könnt ihr dort leben?“ Hilde hatte diese Frage noch nie gehört und war weit davon entfernt, sie sich selbst zu stellen. Aber er gab die passende Antwort: „Ein anderes Leben haben wir nicht. Uns geht es wie allen Menschen. Mal sind wir glücklich, mal sind wir’s nicht.“ Damit war Hilde an seine philosophischen Grenzen gestoßen. Um sich noch weiter aufzuschwingen, zog er Rilke zu Rate: 402

„Nun sollen wir versagte Tage lange ertragen in des Widerstandes Rinde; uns immer wehrend, nimmer an der Wange das Tiefe fühlend aufgetaner Winde.

Die Nacht ist stark, doch von so fernem Gange, die schwache Lampe überredet linde.

Lass dich’s getrösten: Frost und Harsch bereiten die Spannung künftiger Empfänglichkeiten.“ Wie auf Bestellung flammte das Licht des Leuchtturms auf und tauchte alles in eine milde Stimmung des Übergangs. Dagegen stand, dass sich plötzlich die Sprechanlage auf dem Pult meldete. Genoveva eilte hin.

Dann sprach sie offenbar mit mehreren Schiffen, auf Russisch, Englisch und Französisch. Bei letzterem Anruf wusste Georg Warner, dass der Melancholiker wieder unterwegs war.

Hilde war so baff wie Warner, als er das Schauspiel mit der Sprechanlage erstmals bestaunt hatte. Daher kam ja die Idee der Radiostationen in der „Windrose“. Hilde erfasste das sogleich. Genoveva spielte offenbar überall mit und hinein.

Jetzt trat sie wieder heran, lobte Rilke, dass er Hilde Widerstand ermöglichte und ihr „die starke Nacht“ gab. Georg übernahm die Erklärung. Er habe hier bei Nacht die „Windrose“ geschrieben, an der Seite von Genoveva. Hilde mutmaßte, dass Warner in dieser Nacht die letzte Szene schreiben würde, und verabschiedete sich, um nicht zu stören.

Genoveva wusste jetzt, was in dieser Nacht geschehen sollte. Sie setzte sich Georg gegenüber. Der sagte, als wolle er ausweichen: „Die Szene wird kurz.“ Das wunderte Genoveva, denn sie ging davon aus, dass Bernis von der sterbenden Genoveva Abschied nimmt. Herlin hatte ihn benachrichtigt. Bernis trifft ihn in tiefstem Selbstmitleid an und teilt ihm mit: „Sie hat mich nicht mehr erkannt.“ Dieser Satz erschütterte auch Georg immer wieder so, als wäre ihm das selbst geschehen.

Und was war mit dem Besuch der Kirche vor dem letzten Flug? Georg schien sich lange auf die Gestaltung gefreut zu haben. Nun sagte kurz: „Das habe ich dir schon gepredigt.“ Dann erklärte er: „Ich habe in drei Szenen das Aufbrechen der Liebe und das Scheitern der Beziehung geschildert. Dahinter will ich nicht mehr zurück. Folglich geht es Bernis nur noch darum, Genoveva abzuweisen, nachdem sie ihn abgewiesen hat.“ Seine Genoveva wollte sich nicht damit zufriedengeben. Warner sagte voller Bitterkeit: „So ist mein Leben. Ich habe oft den Satz gehört: ‚Ich 403

liebe dich, aber ich kann nicht mit dir leben.‘ Er ist unverzeihlich. Ich werde ihm nichts Gegenteiliges hinzufügen.“ Genoveva akzeptierte das, meinte aber, das spreche nicht gegen die ungeheure Dramatik in der Kirche. Georg Warner antwortete: „Es ist alles gesagt. Ich würde den Text auch nicht mehr aufnehmen, wenn du gegangen bist.“ Genoveva zuckte zusammen. Sie umarmte Georg und blickte ihm immer wieder ins Gesicht. Sie weinte. „Ich verlasse dich niemals“, stieß sie aus tiefster Seele hervor. Es dauerte lange, bis sie sich halbwegs beruhigt hatte.

Dann fragte sie, wie Bernis sterben würde. „Wie der kleine Prinz“, antwortete Georg. Die Frage kam prompt: „Durch eine Giftschlange?“ Georg erweiterte das Geschehen: „Mit dem Tod des kleinen Prinzen schaltet der Leser ab. Die Geschichte geht aber noch weiter. Der kleine Prinz benutzt zu seiner Heimkehr den Vogelzug. Das ist auch sehr schön gezeichnet, wie er da an den Vögeln hängt wie die Schleppe eines Drachens und federleicht den Flug dirigiert.“ Genoveva ging zurück an ihre Apparaturen. Jedes weitere Wort hätte Georg aus dem Konzept bringen können. Er sollte schreiben.

10. Szene Personen: Bernis Alias Genoveva Bernis ist wieder einmal in Toulouse gelandet. Kommandant Alias empfängt ihn.

Alias: Eine Frau wartet auf Sie. Bernis: Nein, nicht schon wieder Frau Guillumet.

Alias: Dann hätte ich korrekterweise gesagt ‚Auf Sie wartet Frau Guillumet.‘ (Bernis geht in sein Zimmer. Trifft auf die Frau.)

Bernis: Genoveva?

Genoveva: Ich habe dein Fenster geöffnet, Bernis. (Er sieht hinaus.)

Bernis: Castor und Pollux.

Genoveva: Die Unzertrennlichen.

Bernis: Außerhalb der Ehe gibt es kein Heil.

Genoveva: Ich habe Herlin verlassen.

Bernis: Der sich einen echten ‚Cézanne‘ leisten kann?

404

Genoveva: Wie bitte?

Bernis: Du siehst hier Wechselrahmen mit schlechten Reproduktionen echter Cézannes. Die kann ich im Handumdrehen einpacken, mitnehmen und wieder aufhängen. In Durchgangszimmern. Denn Cézanne hat eine Welt ohne den Menschen gemalt und zerstörte sich jede Form von Gemeinschaft. Ich kenne keinen größeren Schmerz. Dort, wo du herkommst, kann man sich einen echten Cézanne leisten. Um sich über seine Deformationen auszulassen.

Genoveva: Ich habe diese Welt überlebt. Wie du vorausgesagt hast.

(Sie tritt ans Fenster. Fröstelt.) Mein Sohn ist gestorben. Er war das Geheimnis aller Dinge.

Bernis: Der Sohn von Herlin.

Genoveva: Ja. Aber Herlin konnte nicht leiden. In seiner Angst nannte er mich eine herzlose Mutter. Er fegte all die kleinen Sonnenfänger durchs Zimmer, alles, was Licht aufnimmt. Dann zündete er sich eine Zigarette an. Und sprach von den Sünden der Frauen, die sich rächen.

Er hat mir weh getan. Als er sich seiner Rede bewusst wurde, sollte ich ihm verzeihen. (Sie reißt sich vom Fenster los.) Bernis, du hast gesagt, dass du zu mir zurückkehren würdet. Nimm mich mit.

Bernis: Ich komme von weit her. 36 Lichtjahre von hier umarmen sich Castor und Pollux. Fast so weit draußen habe ich einen Menschen gefunden, der mir auf einfache Art erklärte, was das ist – Liebe.

Genoveva: Bernis, es ist jetzt nicht die Zeit zum Träumen. Ich bin da.

Bernis: Ich habe dir den Weg gezeigt, bevor ich in die Anden aufbrechen musste. Dann bin ich allein geflogen. Und eine andere hat mir den Weg gewiesen. Wie ich durchfinde durch den Tod. Genoveva: Ich musste den Tod allein überwinden.

Bernis: Das neue Leben bekommt man geschenkt. Und man sollte es, ohne zurückzublicken, leben.

Genoveva: Bernis, heirate mich.

Bernis: Was soll ich tun?

Genoveva: Du sollst mich heiraten!

Bernis: In der Wüste führen wilde Stämme Sklaven mit sich. In ihr Schicksal ergebene Sklaven. Sie gleichen Menschen, die eine Liebe gelebt haben und sie verlassen mussten. So ist es auch mit der Ehe. Ich habe eine Frau getroffen, deren große Liebe in der Ehe zerstört wurde.

Warum bekommt sie keine Rente wie jemand, der querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt. Vermutlich, weil die Lähmung nicht so zu Tage tritt.

Tu es mir nicht an, dass ich mit dir in einer Durchschnittsehe leben muss. (Er geht. Draußen ist der Flieger startklar. Alias kontrolliert die 405

Ladung.) Alles Liebesbriefe, Kommandant Alias. (Er zieht einen kleinen Packen hervor.) Sehen Sie: an …

Alias: Es stehen keine Adressen drauf.

Bernis: Wer die Briefe empfängt, wird schon etwas damit anfangen können.

Alias: Und die himmlische Jungfrau samt allen Frauen im Paradies?

Bernis: Die haben schon Blaise Pascal gelesen. Ein wenig Jacque Bernis dürfte sie nicht verwundern.

Alias: Geht es Ihnen gut, Bernis?

Bernis: So gut wie selten. (Er schließt die Ladeklappe.) Kommandant Alias. Sie sind mir so vertraut wie der Fuchs dem kleinen Prinzen. Ich hätte Sie gern mitnehmen wollen. (Er steigt ins Flugzeug und fliegt los.

Nach einiger Zeit.) Da ist Gibraltar. Auf der Vogelzuglinie. Ich fliege einfach mit. Irgendwann werde ich nordwärts wiederkommen. Da ist ein Schwarm. Den begleite ich. Nein, ich will mittendrin fliegen. Wie ein Vogel. (Das Flugzeug neigt sich. Bernis steuert in den Vogelzug. Rufe von Graugänsen. Dann ein Zusammenstoß. Bernis stürzt ab.) Das All ist wie eine Blume, die sich öffnet.

Warner las Genoveva den Text vor. Sie war traurig und blieb es. Sollte sie Genoveva bedauern oder Bernis betrauern? Und sich selbst gleich mit? Unheil schwebte über diesem Schluss. Georg Warner wollte sie ablenken, indem er sagte, er habe sich zur Konsequenz des Stückes schon geäußert. Sie, seine Genoveva, sei damit nicht gemeint. Und das Ende von Bernis solle zugleich auf das von Exupéry verweisen. Er war am 31. Juli 1944 südlich von Spanien abgeschossen worden und ins Meer gestürzt. Seine Maschine ist bis heute nicht gefunden worden. Er verabschiedete sich ins All. Georg wollte sich zurückziehen. Der kommende Tag würde ihm durch die Proben einiges abverlangen.

Erfolge In den nächsten Wochen stand die Insel im Zeichen der „Windrose“. Alle einschlägigen Orte wurden bespielt. Lütte und Grete freuten sich, dass auch bei ihnen geflogen wurde. Ihr Selbstverlag florierte. Ein Nebenef406

fekt trat ein. Die Urlauber suchten das Gespräch und manch einer bat darum, die Spielgruppe möge auch bei ihnen auftreten. Die Zuschauer waren die ganze Zeit über im Banne des Flugzeugs und des Fliegens.

Wie Warner richtig vermutet hatte, war die Szene mit dem Flug in die Anden die wirkungsvollste. Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt, zumal sich das Publikum unklar darüber war, wie es ausgehen würde.

Nach der Vorstellung wollte man den kleinen Cowboy nicht mehr von der Bühne lassen. Auch Annalena, die Genoveva in all ihrer Zerrissenheit spielte, wurde mit langem Beifall bedacht.

Die größten Erfolge hatten sie dort, wo Warner bisher nicht mit seinen Texten aufgefallen war, so in Garz und in Putbus. Überwältigend auch die Reaktion in Binz. Warner hatte stets Kontakt zu den Bausoldaten gehalten. Die erschienen in so großer Zahl, dass ihre Ausgangsscheine sicher für längere Zeit aufgebraucht waren. Und an der Wittower Fähre bildeten sich Schlangen von bis zu drei Kilometern.

Der Juli ging vorüber. Die Spielgruppe platzte förmlich vor Selbstbewusstsein. Diesen Sommer würde man lange nicht vergessen. Genoveva versäumte kaum eine Vorstellung, so es ihre Arbeit zuließ. Sie begab sich immer tiefer in die Handlung hinein. Die Auseinandersetzung mit der anderen Genoveva hatte sie in ihrer Absicht bestärkt, bei Georg zu bleiben.

Dessen Erfolge und die der anderen Gruppen, die seine Stücke aufführten, wurden jedoch geschmälert. Bei der Auswertung im Greifswalder Konsistorium wurde „die kleine Pfarrstelle“ wieder bemüht. Es war von einem Kompromiss die Rede. Man wollte Bruder Warner die Verbindung zu seiner „anderen“ Gemeinde erleichtern. Im Kreis Pasewalk befand sich die am südlichsten gelegene Gemeinde, auffällig klein, Fahrenwalde. Georg Warner versprach, sich dort vorzustellen, und löste auf der Rücktour sein Versprechen ein.

Von Pasewalk aus ging es stramm nach Osten. Die Zivilisation schien zu enden. Nicht einmal eine Plattenstraße führte weiter, zwei schmale Betonlinien bildeten die Fahrspur. Untrügliche Zeichen bedeuteten Warner, dass er sich einem militärischen Sperrgebiet näherte. Es reichte bis hin nach Ueckermünde, mit dem berüchtigten Eggesin, wo der Bausoldat „Tag und Nacht“ beim Schanzen den Spaten nicht aus der Hand legte.

Fahrenwalde war höchstens einen Kilometer lang und schien in Tiefschlaf gefallen. Doch der Eindruck täuschte. Warner vernahm ein Geräusch, das er aus heimatlichen Gefilden bestens kannte. Panzer waren unterwegs. Sie donnerten heran und vorbei. Etwa 200 Meter östlich des 407

Ortes verlief die Panzerstraße. Das schreckte Warner keinesfalls ab. Die Gemeinde konnte für ihn sogar ein beachtliches neues Kampffeld sein.

Er orientierte sich an einer kleinen Backsteinkirche. Der Anblick des Pfarrhauses gleich daneben hätte Warner verzücken müssen. Pommerscher konnte es nicht sein. Nur ein Erdgeschoss aus Fachwerk und mit Lehm versetzt, kleine Fenster. Das Dach war, obwohl so weit von der Küste entfernt, schilfgedeckt. Das Bemerkenswerteste aber war das Storchennest auf dem Dach, von dem aus die Jungstörche auf ihren vielleicht neuen Untermieter blickten. Die Altstörche kreisten über dem Nest und versprachen Georg Warner Kindersegen.

Er wurde von mehreren Ältesten empfangen, die ihn neugierig betrachteten. Warner sah sich die Kirche an. Hier hätte er eindringlich Auge in Auge predigen können. Im Pfarrhaus dann saßen sie um einen gewaltigen Tisch. Es kam Warner vor, als wollten die Ältesten eine Beichte ablegen. Sie benannten alle Nachteile, die ihn in dieser Gemeinde erwarteten, von der unbeheizten Kirche und der kaputten Orgel angefangen bis zum nahen Truppenübungsplatz. Warner verblüffte die Ältesten, indem er sagte, das sei für ihn kein Hinderungsgrund.

Dann erzählte er von seiner Situation als Pfarrer einer Gemeinde, die er nicht verlassen könne. Er sagte auch, dass die Zeit befristet sei. Das kommende Weihnachten wäre das letzte in der Kirche, im Jahr darauf werde sie entwidmet und dann abgebaut. Die Abraumbagger würden bald die Straße schneiden, ein Gemeindeteil würde umgepfarrt werden.

Georg Warner war an Ausführlichkeit gelegen. Die Ältesten sollten ihn voll verstehen. Sie verständigten sich während seiner Rede mit Blicken. In welch grausiger Gegend musste dieser Pfarrer zu Hause sein.

Dagegen war Fahrenwalde fast ein Erholungsort.

Warner war sich klar darüber, dass die Zeit drängte. Er wollte diese wunderbare Arbeit behalten. Und das ging nach Lage der Dinge nur in einer kleinen Gemeinde. Welche, war egal. Wo sie sich befand, weniger.

So schien der Kompromiss annehmbar, an der Grenze zu Brandenburg und 50 Kilometer von der Autobahn entfernt. Versprechen wollte Pfarrer Warner dennoch nichts. Er deutete aber an, dass er im neuen Jahr eine Entscheidung treffen wolle. Man ließ Warner ungläubig, aber mit leichter Zuversicht ziehen.

Zu Hause erwartete ihn der Schätzer. Ein Jahr nach Verkündung der Devastierung von Deutsch-Ossig bekam jeder den Wert seines Grundstücks und Hauses mitgeteilt und damit auch, wohin es für ihn ging, ob in die Eigenheimsiedlung nach Kunnerwitz oder in den Plattenbau in Görlitz-Weinhübel. Die Grube konnte man also weiterhin sehen und 408

hören.

Georg Warner führte den Schätzer über das Gelände, in das Nebengelass, die Scheune und das ehemalige Gesindehaus. Schließlich ins Pfarrhaus. Die Unterlagen für das Gelände und die Bebauung hatte er schon vor längerer Zeit eingereicht. Der Schätzer wollte gegenüber dem Pfarrer seine Gesinnung durchblicken lassen. Warners Katze lief ihnen über den Weg, wie so oft gerade tragend. Für das edle Tier, eine Mischung mit langem, dickem Fell und wunderbarer Schwarz-weiß-Zeichnung, kam nur einer infrage. Das war ein kleiner roter Kater, genannt „Lenin“.

Das erzählte Warner dem Schätzer, während sie die Treppen hinaufstiegen. Daraufhin sagte der: „Ich habe mich schon immer gewundert, wie viele Edle sich mit den kleinen Roten einlassen.“ Das Gespräch verlief für Warner überraschend. Der Schätzer sagte, dass er auf Weisung des Bergwerkes Georg Warners Arbeit beim Aufbau des Pfarrhauses über vier Jahre schätzen sollte. Freilich, Warner war Handlanger gewesen und das nicht zu knapp. Aber dass das einmal eine Rolle spielen würde, erstaunte ihn nun doch. Er versprach, auf Grundlage der Abrechnung der Feierabendbrigade seine Arbeitszeit aufzulisten.

Als der Schätzer gegangen war, kam es Warner vor, als wenn seine Arbeit und alles, was er hier erlebt hatte, für immer verschwinden sollte.

Er fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.

Flucht Zu den nächsten beiden Anlässen schnürte Warner ein Paket. Schulanfang und Erntedankfest erhielten ein längeres Stück, „Pachoms Traum“ nach Tolstois „Wie viel Erde braucht der Mensch“. Eine Fassung war als Puppenspiel gestaltet, eine andere als Spielstück. Er selbst blieb bis Erntedank im Revier, wo „Pachoms Traum“ Premiere hatte.

Die See wollte ihm danach nicht recht bekommen. Im Leuchtturm wartete er darauf, dass sich der melancholische Franzose meldete. Er war in ähnlicher Gemütslage. Warner wollte das Ende des Kirchenjahres bedenken, Bußtag und Totensonntag.

Genoveva beteuerte immer öfter, wie sehr sie mit Georg verbunden sei. Dem fiel eines Abends ein: „Bis dass der Tod euch scheidet.“ Er hatte den Titel für sein neues Stück gefunden und erzählte Genoveva, er wolle 409

eine Beziehungsgeschichte schreiben. Die beiden Darsteller, Mann und Frau, würden sich auf ihrem beschwerlichen gemeinsamen Weg daran erinnern, dass ein gewisser Simon von Kyrene gezwungen worden war, Jesus das Kreuz zu tragen. Beim Schreiben ließ Georg den Titel weg, um Genoveva nicht zu erschrecken. … bis dass der Tod euch scheidet Personen: Mann Frau In der Mitte steht eine Leiter. Mann und Frau kommen, die Frau an den Mann gelehnt. Vor der Leiter halten sie an.

Mann: Wir schaffen es.

Frau: Du vielleicht.

Mann: Nicht allein.

Frau: Das sagst du schon die ganze Zeit.

Mann: Weil es stimmt. (Die Frau löst sich von ihm.)

Frau: Was bin ich denn? Eine Last. Warum sagst du es nicht?

Mann: Du bist leicht.

Frau: Am Anfang war ich es. Aber jetzt ist deine Kraft verbraucht.

Mann: Ich bin nur etwas müde. Das ist bald vorbei. Wenn wir eine Pause machen.

Frau: Wie viele Pausen noch? Vor jedem Hindernis werden sie länger.

Mann: Der Weg ist weit.

Frau: Zu weit für uns. Er ist eine Quälerei. Als du sagtest ‚Wir gehen‘, dachte ich, wir schaffen es. Aber ich bin zu schwach. Geh allein weiter.

(Sie lässt sich fallen, ohne dass es der Mann bemerkt.)

Mann: Allein geht’s nicht. An jedem Hindernis habe ich gedacht: ‚Gut, dass du da bist.‘ Warum sagst du nichts? (Er eilt zu ihr. Richtet sie auf.)

Frau: Ich kann nicht mehr.

Mann: Und wenn ich dich stütze? (Er versucht es.)

Frau: Auch dann nicht. (Der Mann sieht sich um.)

Mann: Wir könnten hierbleiben.

Frau: Und sterben?

Mann: Vielleicht.

Frau: Ein schöner Tod. Am Wegrand begraben.

Mann: Und wenn ich dich trage?

Frau: Wie weit?

410

Mann: Bis es nicht mehr geht.

Frau: Das wird bald sein.

Mann: Wir werden sehen. (Er lädt sich die Frau auf. Der Aufstieg beginnt.) Erzähl mir eine Geschichte.

Frau: Und da sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Purpur aus und zogen ihm seine eigenen Kleider an und führten ihn hinaus, dass sie ihn kreuzigten, und zwangen einen, der vorüberging, mit Namen Simon von Kyrene …

Mann: Spring ab! Spring! (Die Frau lässt sich fallen. Der Mann steht noch einen Moment senkrecht auf der Leiter, dann stürzt er von oben zu Boden. Große Pause. Die Frau kriecht zu ihm.)

Frau: Was ist? (Sie rüttelt ihn.) Sag doch was! (Der Mann bewegt sich.

Versucht, sich zu erheben. Bricht zusammen.)

Mann: Ich kann nicht mehr laufen.

Frau: Und wenn ich dir helfe? (Der Versuch misslingt.)

Mann: Es geht nicht.

Frau: Bleiben wir hier.

Mann: Wir haben uns für den Weg entschieden.

Frau: Wir können nicht mehr.

Mann: Dann lass uns träumen. (Sie lehnen sich aneinander.) Der Weg. Frau: War weit.

Mann: Viele Steine.

Frau: Berge von Steinen.

Mann: Kein Wasser.

Frau: Ausgetrocknet.

Mann: Und nachts war es kalt.

Frau: Zu kalt.

Mann: Keine Menschenseele.

Frau: Die uns half.

Mann: Anfangs sind wir gelaufen.

Frau: Dann geschlichen.

Mann: Jetzt können wir nicht einmal mehr kriechen.

Frau: Aus, der Traum.

Mann: Vom Weg zu zweit.

Frau: Unserem Weg. (Große Pause.)

Mann: Du musst allein weiter.

Frau: Das kann ich nicht.

Mann: Ich werde bei dir sein. (Die Frau erhebt sich langsam.)

Frau: Der Weg. Mann: Wird eben sein.

411

Frau: Die Steine.

Mann: Werden weichen.

Frau: Das Wasser.

Mann: Wird sprudeln.

Frau: Die Kälte.

Mann: Wird wärmen.

Frau: Keine Menschenseele.

Mann: Ich bin bei dir. Nun geh. Wir haben uns entschieden. (Die Frau geht schwankend zur Leiter. Der Mann blickt ihr nach. Ihr Gang wird sicherer. Sie steigt auf die Leiter.)

Frau: Und da sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Purpur aus und zogen ihm seine eigenen Kleider an und führten ihn hinaus, dass sie ihn kreuzigten, und zwangen einen, der vorüberging, mit Namen Simon von Kyrene … (Sie hat den Punkt erreicht, von dem der Absturz erfolgte. Der Mann lässt den Kopf sinken. Die Frau steht bewegungslos.)

Simon von Kyrene, der vom Felde kam. (Pause.) – der war der Vater des Alexander und des Rufus – . (Sie überlegt. Steigt langsam von der Leiter.

Geht zum Mann. Lädt ihn sich auf. Geht zur Leiter. Beim Aufstieg.) Und da sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Purpur aus und zogen ihm seine eigenen Kleider an und führten ihn hinaus, dass sie ihn kreuzigten, und zwangen einen, der vorüberging, mit Namen Simon von Kyrene … (Sie steht an der Absturzstelle. Beginnt zu schwanken.) Simon von Kyrene, der vom Felde kam (Sie schwankt stärker.) – der war der Vater des Alexander und des Rufus – (Mit ungeheurer Kraftanstrengung erreicht sie das obere Ende der Leiter. Begibt sich auf die Höhe. Der Mann liegt vor ihr, sodass sie ein Kreuz bilden. Sie schreit.), dass er ihm das Kreuz trüge! (Pause. Sie beginnt den Abstieg zur anderen Seite. Als sie unten angekommen ist, lässt sie den Mann herunter gleiten. Beide gehen aufeinander gestützt ab.)

Genoveva war beeindruckt. Sie schaute aber beim Lesen immer wieder auf Georg. Was mochte ihn zu diesem Stück bewogen haben? Georg konnte es ihr nicht sagen. Ihn würden Ahnungen beschleichen. Genoveva gab zurück: „Das kann doch nur heißen, dass wir bedroht sind, die Trennung bevorstehen könnte.“ Georg wollte das nicht bestätigen, aber auch nicht von sich weisen. Wenn er den Titel genannt hätte, wäre das Gespräch in eine andere Richtung verlaufen.

Es war überraschend, wie vielen Gemeinden Interesse zeigten, allerdings zu Bußtag. Wie im Vorjahr legten sich die Bergener, Stralsunder und Anklamer auf Totensonntag fest. Auch in Middelhagen wollte Ge412

org Warner das Stück aufführen.

Er musste nun reisen, denn das Spiel war für die beiden Darsteller höchst anspruchsvoll. Deshalb begann er umgehend vor Ort mit den Proben. Einmal war es körperlich anstrengend, die Darsteller mussten fast artistische Fähigkeiten mitbringen. Sie brauchten Kraft, sollten aber spielen, als wären sie schwach. Zum anderen kamen im laufenden Text die berühmten atmenden Pausen vor. Die Darsteller mussten sie ausfüllen und ausdeuten. So ergab sich ein komplizierter Sprechrhythmus.

Der Totensonntag war trüb, mit Nieselregen. Am Vormittag wurde in Göhren gespielt, am Nachmittag in Middelhagen. Hier war plötzlich Sturm in den Bäumen um die Kirche. Georg Warner wusste, wer am Werke war. Der Teufel wollte die Geliebte haben. Georg raunte Genoveva zu, sie müssten die Kirche verlassen. Die war sehr erstaunt, denn das Spiel näherte sich dem Höhepunkt. Georg zog sie hinter sich her.

Vor der Tür stand der Skipper, für Genoveva ein Skipper. Mephistopheles wandte sich an beide: „Eine Straße weiter parken die kleinen Geister des Teufels. Sie warten nur, bis der Gottesdienst zu Ende ist.

Deshalb muss Genoveva sofort mit mir kommen.“ Die verstand nichts.

Mephistopheles war an längeren Ausführungen nicht gelegen. Er sagte kurz: „Der Deal des Nautischen Instituts mit den Schweden ist ruchbar geworden. Eine westdeutsche Zeitung hat die Machenschaften offengelegt.“ Genoveva protestierte: „Ich habe ganz und gar nichts damit zu tun.“ Mephistopheles wollte auch hier nicht ausführlich werde: „Die Story ist an Ihrem Namen, Ingrid Castop, festgemacht worden.“ Jetzt hatte es auch Genoveva eilig. Sie musste ihr Vertrauen in den Skipper setzen. Beide entfernten sich rasch. Georg Warner ging wieder in die Kirche. Jaffa würde noch predigen. Dann waren die Namen der Verstorbenen zu verlesen. Es gab Gedächtnislieder, sodass sich der Gottesdienst in die Länge zog. Inzwischen wurde es finster.

Als die Gemeinde die Kirche verließ, standen die „Ledermäntel“ ungeniert zwischen den Gräbern. Als Warner hinaustrat, waren sie auf dem Sprung. Aber die Castop folgte nicht. Jetzt mussten sie zugreifen.

Sie stürmten in die Kirche. Warner ging an der Seite des protestierenden Jaffa hinterher. Er sah, wie ein Rollkommando in Blitzesschnelle durch die Bänke zog. Es war zu hören, dass auf den Emporen Gleiches geschah. Die Truppe erreichte die Sakristei, untersuchte die Kanzel und das Orgelgehäuse.

Dann waren Jaffa und Warner umringt. Einer der Männer fragte: „Wo ist die Castop?“ Warner zuckte die Achseln und gab zurück: „Wo soll die Leuchtturmwärterin sein? Auf dem Leuchtturm.“ Der sei nicht gezün413

det worden, hieß es. Jaffa ging zum Schaltkasten und löschte das Licht.

Das des Leuchtturmes wanderte an der Wand entlang.

Die kleinen Geister des Teufels waren verwundert. Dann wähnten sie sich ihrer Beute sicher. Im Eilschritt verließen sie Kirche in Richtung Leuchtturm, Warner musste mit. Die Treppe des Leuchtturms nahmen sie im Sturm. Georg Warner hätte sich lieber in einem Albtraum befunden, in dem man auf der Stelle trat.

Der alte Leuchtturmwärter sah die eingedrungene Gesellschaft verwundert an. Auf die scharfe Frage nach der Castop sagte er gleichmütig: „Sie hat sich krank gemeldet. Befindet sich also in Stralsund. Falls sie wissen wollen, warum der Leuchtturm zu spät anging, die Erklärung ist einfach. Nach der langen Tagschicht brauchte ich eine Weile, um den Dienst wieder aufzunehmen. Ein alter Mann ist kein D-Zug.“ Die „Ledermäntel“ stoben davon. Georg Warner sackte auf seinen angestammten Stuhl. Der Leuchtturmwärter beachtete ihn nicht, sondern kontrollierte das Radar. Dann sagte er: „Hier sind sie.“ Ob Warner wollte oder nicht, er musste sich das ansehen. Der Leuchtturmwärter sagte: „Sie fahren an der Küste entlang, was außer bei stürmischer See für den Leuchtturmwärter nicht interessant ist. Sehen Sie, eben hat das Boot Saßnitz passiert.“ Er platzierte Georg Warner jetzt so, wie er bei Genoveva gesessen hatte. Dann sagte er: „Als die Sache mit dem Boot geschah, wusste ich, dass etwas faul war, zumal Fräulein Ingrid sehr aufgeregt nach Ihnen suchte. Und nun sagen Sie mir, wo Sie gewesen sind.“ Warner musste auf Vertrauen setzen und antwortete kleinlaut: „Auf Bornholm.“ Der Leuchtturmwärter sagte: „Eine Probefahrt also, der heute die Premiere folgt. Und wie haben Sie das angestellt?“ Warner erklärte: „Wir haben uns unsichtbar gemacht, an ein Containerschiff gehängt.“ Der Leuchtturmwärter hatte erfahren, was er wissen wollte. Er bot Georg Warner an, die Nacht mit ihm auf dem Leuchtturm zu verbringen, wie er es ja viele Male mit Fräulein Ingrid getan habe.

Der Abend zog dahin. Der Alte sagte, er sei kein Patriot. Deshalb habe er den Schuldienst quittiert. Dass er sich auf das gefährliche Komplott eingelassen hatte und Genoveva deckte, hatte aber noch einen anderen Grund: „Als junger Mann war ich ein Charmeur. Keine konnte mir widerstehen. Wenn ich in Ihrem Alter wäre, hätte ich Ihnen die Ingrid ausgespannt, da hätten Sie noch so gut predigen können.“ Er suchte nach seiner entschwundenen unerreichbaren Geliebten und fand: „Sehen Sie, das Boot liegt jetzt vor Kap Arkona. Sie warten auf ein Containerschiff, das nach Norden fährt.“ Er kontrollierte auf dem 414

Radar die Strecke bis zum Überseehafen Rostock und stellte bedauernd fest: „Aber es kommt keins.“ Georg Warner erschrak. Der Leuchtturmwärter teilte seine Sorge: „Wenn derjenige, der das Boot steuert, die Nerven verliert und losfährt, ist es aus.“ Warner blickte schon einmal nach dem roten Knopf und dem roten Telefon. Der Leuchtturmwärter fragte: „Wer steuert eigentlich das Boot?“ Warner antwortete: „Mephistopheles.“ Der Leuchtturmwärter fragte belustigt: „Der von Goethe?“ „Nein, der aus der Hölle“, antwortete Warner schnell. Der Leuchtturmwärter lachte und war zufrieden.

Das Gespräch plätscherte eine ganze Weile dahin, Warner war nervös, der Leuchtturmwärter sichtlich gelassen. Nach Mitternacht sagte er: „So, da wollen wir mal sehen, wo sie sind.“ Er blickte auf das Radar und stellte fest: „An Swinemünde vorbei, in polnischem Hoheitsgebiet.“ Das wollte Georg Warner bewiesen haben. Der Leuchtturmwärter begann: „Wenn ein Fischschwarm auf ein Schiff trifft, entsteht für eine Sekunde eine kleine Erweiterung auf dem Radar. Ich hatte so etwas entdeckt und mich erkundigt.“ Er führte Warner an das Radar heran. Dann sagte er: „Sehen Sie den sowjetischen Tanker? Da haben Sie manchmal eine Sekunde lang ein Blinken.“ Warner kniff die Augen zusammen und sah es. Der Leuchtturmwärter sagte: „Ein Teufelskerl, dieser Mephistopheles, sich das einfallen zu lassen!“ Er schickte den leidgeprüften Georg Warner zuversichtlich nach Hause: „Wegen der Untiefen wird der Tanker bald in internationales Gewässer fahren. Morgen früh legt das Boot in Bornholm an.“ Georg Warner hatte Genoveva verloren. Noch in derselben Nacht fasste er einen Entschluss, den er am 1. Advent verwirklichte. Er nahm Abschied von Jaffa und Middelhagen, wo er gutes Brot und Salz erhalten hatte. Und kehrte nie wieder dahin zurück.

In der Nacht hatte es noch Sturm gegeben. Jetzt war das Meer vor dem Mönchgut glatt wie ein Tisch. Nur einige Bernsteinsucher waren unterwegs. Georg Warner nahm einen kräftigen Schluck Meerwasser. Dann winkte er über das weite Meer. Das grüßte adventlich leuchtend zurück.

Georg Warner fuhr mit dem Trabant nach Greifswald und stellte ihn im Hof des Konsistoriums ab. Die Schlüssel warf er zusammen mit seiner Kündigung in den Briefkasten. Dann ging er zum Bahnhof und fuhr heim.

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Zwölftes Kapitel

Klarheiten Georg Warner war mit Predigtentwürfen befasst. Er musste das Unsagbare sagen, nämlich „Friede auf Erden“ und dass es das letzte Weihnachten in der Kirche sei. Warner besaß Vorlagen aus dem Jahr 1944 in Schlesien, da es zwei Wochen später auf die Flucht ohne Wiederkehr ging, mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht. Ergreifend waren diese weihnachtlichen Abschiedsgottesdienste, vor allem einer aus Brieg. Man wusste, was zu erwarten war.

Dann stießen Warner die Worte an: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Er verwarf seinen letzten Entwurf, in dem es um das Gestern ging.

Er legte sich auch auf den 24. Dezember 1987 fest. Also heute, nicht morgen, sonst wird Verheißung zur Vertröstung. Er führte aus: „Wir haben die Geburt dieses Kindes nicht irgendwann nötig, morgen ist für uns schon Ewigkeit. Wir wollen den Ruf der Engel über verdunkeltem Land mit kräftigem Anspruch hören: ‚Heute ist euch der Heiland geboren. Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird.‘ Jede Verkündigung, die dahinter zurückbleibt, jedes Wort, das wir uns in diesen Tagen zu sagen haben, muss sich an dieser Freude prüfen lassen.

Was erwarten wir hier? Doch wohl die Freude der Weihnacht. Oder ist jemand aus einem anderen Grund hergekommen? Heute feiern wir die Geburt Jesu unter uns. Wir feiern nicht die Geburt des Lichtes. ‚Über denen, die da wohnen im finsteren Lande, scheint es hell. Denn uns ist ein Kind geboren.‘ Uns ist ein Kind geboren, nicht der Kirche. Die Kirche ist ohne uns ein toter Steinhaufen. Und ich möchte gegen den 416

gefährlichen Irrtum angehen, es würden Steine und Möbel umgesetzt.

Das sind wir, samt unseren Vorfahren, samt den Meistern, ja, mit allen Menschen guten Willens. Wir sind in unser Menschenrecht eingesetzt worden.“ Das aktuelle Beispiel nahm Warner vom dritten Gipfeltreffen zwischen Reagan und Gorbatschow am 8. Dezember. Beschlossen wurde die Doppel-Null-Lösung zur Vernichtung aller nuklearen Mittelstreckenraketen. Dieser Vertrag wies unmittelbar auf Weihnachten hin.

Warner zitierte: „‚Das Volk – das ist kein abstrakter Begriff. Es besteht aus Menschen, und jeder Mensch hat ein Recht auf Leben und den Anspruch auf Glück. Das geheiligte Recht des Menschen hat jetzt einen neuen, globalen Inhalt bekommen.‘ Hören wir genau hin. Es ist da nicht von Recht schlechthin die Rede, auch nicht von Menschenrecht. Und auch nicht schöngeistig vom heiligen Recht. Es heißt: das geheiligte Recht des Menschen! Das steht fest, ist weder machbar noch zerstörbar. In dieses Recht werden wir eingesetzt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter.“ Warner wäre nicht Warner, wenn er einen eleganten Bogen um das Gegenwärtige geschlagen hätte. So verdeutlichte er: „Wir befinden uns hier in der Zerreißprobe unseres Bekenntnisses. Christlich ist nicht zugleich menschlich, obwohl Christus Mensch wurde, damit wir das und nur das sein können. Wir danken allen von auswärts, die uns heute zur Seite stehen, hier mit uns ein Volk sind. Wir wollen aber nicht verschweigen, dass uns mangelnder Beistand, samt den Anfeindungen, die unsere von der Umsiedlung betroffenen Gemeindeglieder erleben, die größte Anfechtung bedeutet. Heute ist uns der Heiland geboren, nicht morgen. Uns allen, in allen Kirchen, soll heute ein Licht aufgehen und das Geheimnis der Menschwerdung aufdecken.“ Georg Warner hatte eine sehr gefasste Gemeinde vor sich gehabt. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen. Das ergab ein starkes Gefühl der Gemeinschaft. Dann kam tatsächlich Freude auf. Erstmals blickte Warner nicht mit Grausen auf den Tag der Entwidmung.

Wenn der Gedanke ihn zu beherrschen begann, wurde ihm kreatürlich schlecht. Wenn die Gemeinde zu Pfingsten ebenso bewusst und klar in den Abschied ging wie heute, konnte man loslassen und getrost von dannen gehen.

An den Weihnachtsfeiertagen und zu Silvester war immer noch die Bewegung auf das Ende hin aufzunehmen und zu bedenken. Zu Silvester waren wieder Mose und das wandernde Gottesvolk gefragt, das 417

am Tage von einer Wolkensäule geführt wurde, in der Nacht durch eine Feuersäule. Es geht nahe heran: „Jetzt steht die Feuersäule am Horizont. In der Nacht. Wo Weg und Steg verborgen sind und nicht einmal die Wolke erkennbar ist. In einen wolkenverhangenen Tag hinauszumüssen ist schon schwer, in die Nacht aber, ist furchtbar. Die Nacht selbst aber wird dem Wanderer auf dem Weg in die neue Heimat zur Hilfe. Feuer führt. Feuer, das weh tut. Ewig kann man nicht in sicherer Entfernung auf das Feuer zugehen, einmal kommt der Moment, wo man ins Feuer geschickt wird, durchs Feuer hindurchmuss.

Also führt das Feuer. Werden wir auf die Entscheidung zugeführt.

Angst vor dem Verbrennen ist schlechte Führung. Wer meint, die Hitze nicht aushalten zu können, irrt. Jeder bekommt nur so viel Feuer, wie er aushalten kann. Angst vor dem Feuer zu haben, ist Angst vor der Entscheidung. Ihr könnt noch so viele Umwege gehen, einmal werdet ihr übers Feuer springen müssen. Auch hier wieder ein Muss. Ich sage es noch einmal, nicht durch die Blume, sondern durch Feuer und Wolke: Angst vor dem Verbrennen ist schlechte Führung. Der Wolke, der vor uns liegenden, undurchschaubaren Zukunft nicht zu trauen, ist schlechte Führung und Unglaube. Sich in Sicherheit wiegen, bedeutet Tod. Worauf setzen? Auf die große Improvisation. Improvisation bestimmt den Augenblick. Von der Hand in den Mund oder – aus dem Mund in die Hand. Ich habe in den letzten Jahren unter euch davon leben müssen. Von dem Wort des Augenblicks, euch in die Hand gegeben. Das heißt, meine Worte haben nur dann Sinn, wenn sie satt machen. Vielleicht ist dieses oder jenes Wort zur eisernen Ration geworden. Aber das hatte ich nicht in der Hand. Die eiserne Ration, das ist nicht mehr mein Wort. Mein Wort beruht auf Improvisation. Zu 90 Prozent ist das Wort planbar und machbar. Zehn Prozent sind unwägbar. Zehn Prozent sind Grenzüberschreitung. Zehn Prozent sind Dichtung.

Der Dichter kann ohne die Kanzel leben, die Kanzel aber nicht ohne Dichtung. Dort, wo der Prediger aufhört, fängt der Dichter an, das heißt, der Kämpfer, der Aufrührer.

Wir sind aus der Sicherheit gegen unseren Willen herausgerissen worden. Vor uns liegt die Wüste mit ihren Schrecken und großen Verheißungen. Über uns schon die Wolke, unmittelbar vor uns die Feuersäule. Ich möchte uns in das neue Jahr und in die Jahre vor uns mit den Worten schicken, mit denen Gott Mose einst nach Jahren zurückblicken lässt: ‚Gedenke des ganzen Weges durch die Wüste. Ich demütigte dich und ließ dich hungern, um dich zu erziehen wie ein Mann seinen Sohn.

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Denn der Mensch lebt von allem, was aus dem Munde Gottes geht.‘“

Straßendurchbruch Am 11. Januar 1988 wurde die Straße nach Klein Neundorf gesperrt.

Für Georg Warner bedeutete es die Trennung seiner Gemeinde. Erst in der Dämmerung machte er sich auf den Weg. Vorher hatte er noch eine Einsegnung zur Goldenen Hochzeit vorgenommen. Es war Schnee gefallen. Wo sonst Autos fuhren, waren Warners Fußspuren die einzigen Lebenszeichen. Rechts gähnte die Grube des ehemaligen Friedhofs. Auf halbem Weg stand der große Abraumbagger an der Chaussee. Noch im Januar würde er die Straße schneiden.

An beiden Straßenseiten lagen die gefällten Obstbäume. Sie mussten frisch geschlagen worden sein, denn ein herber Duft ging von ihnen aus.

Vor den Grundberg war ein Wall geschoben worden. Da das Gelände daneben schlammig war, blieb Warner nichts anderes übrig, als darüber hinwegzuklettern. Er kam sich vor wie ein Flüchtling. Wie viele mögen auf diese Weise versucht haben, davonzukommen. Er aber würde bald den Rückweg antreten. Jetzt also war man gefangen. Oben ging das Leben weiter, unten im Tal würde es immer enger werden.

Auf dem Grundberg standen noch die alten Eichen. Es war zu vermuten, dass der Abraumbagger auf Deutsch-Ossig zuschwenken würde.

Aber auch der Berg würde über kurz oder lang weichen müssen.

In Klein Neundorf stattete Warner nur Don einen Besuch ab. Sie unterhielten sich im Flüsterton, als wenn ein Schwerkranker im Hause liegen würde. Georg trank ausnahmsweise einen Grog. Das sollte heimwärts die Stimmung ein wenig heben. Don sprach davon, dass der Tag einen großen Einschnitt bedeute. Plötzlich herrsche Stille auf der Straße, die für immer bleiben würde. Nach der Auskohlung würde ein See das Dorf begrenzen. Zu dem nahen Kunnerwitz hatte man bisher kaum eine Beziehung gehabt. Alle Verbindungen bestanden zu Deutsch-Ossig. Bald würde Deutsch-Ossig als Siedlung zwischen Klein Neundorf und Kunnerwitz liegen. Die Kohleersatzbauten wuchsen hier und da schon aus dem Boden.

Don kam auf die Entwidmung zu sprechen. Georg Warner gestand 419

ein, dass er sich damit nur gelegentlich und in Gedanken beschäftigt hatte. Allerdings wollte er kein Stück spielen lassen. Die „Mayflower-Band“ sollte mit Teilen des „Grünen Requiems“ einen Beitrag leisten. Die Spielgruppe würde aber mit Texten zum Einsatz kommen.

Georg Warner brach auf. Der Grog hatte gewärmt, aber nicht die Stimmung gehoben. Auf dem Grundberg befühlte Warner in der Dunkelheit einige Eichen. Es war ihm, als nehme er Abschied. Auch eine furchtbare Einsamkeit überfiel ihn plötzlich. Er dachte an Genoveva, erstmals wieder. Jegliches Gefühl war wie abgeschnitten gewesen. Seine Beklemmungen steigerten sich noch, als er im Schnee nur seinen eigenen Spuren begegnete. Er rannte schließlich. Dabei kam er sich wie Robinson vor, als der einem Fußabdruck begegnet war, der nur vom Teufel stammen konnte.

Zu Hause angekommen, hätte es sich gut gemacht, wenn Mephistopheles erschienen wäre. Einmal konnte dieser Tag nicht ohne Botschaft vom Teufel vergehen. Zum anderen hätte Georg Warner erstmals etwas über den Verbleib von Genoveva erfahren können. Er wollte alles, was ihn bewegte, in einen Text packen, den er dem gequälten Hiob widmete: der teufel und gott zum verwechseln ähnlich denn der schrei unrecht gebiert nur sein eigenes echo recht recht recht es geschieht dir recht von nichts kommt nichts ein schwirrendes fangseil begrenzt den teufelskreis die schleichwege zum überlisten des schicksals sind in finsternis gelegt kein entrinnen 420

die ehre ist weggefetzt dem entehrten dringt jeder schlag in die seele krone des menschen das diadem der kopfschmuck weggenommen das gesicht ist gezeichnet nach und nach zerstört die scheunen und ställe mit vieh das haus und der hausrat der abbruch zwingt zum gehen wohin kreisförmig auf den punkt gebracht ein baum der entlaubt entästet gefällt ist und dem nun die wurzel ausgerissen wird die brüder entfernt die verwandten abgewendet es spricht sich herum dass bei hiob nichts mehr zu feiern ist 421

nicht einmal die notleidenden bleiben in der not mann ohne frau vater ohne kinder ratloser ratgeber geliebte dir bin ich ein land fremder geworden erbarmt euch erbarmt euch ihr meine freunde denn gottes hand hat mich getroffen würden doch meine worte in felsen gehauen hilf dir selbst so hilft dir gott andern hat er geholfen und kann sich selbst nicht helfen er hat gott vertraut hat der lust an ihm erlöse er seinen sohn doch der schrie laut und verschied und die erde bebte und die felsen wurden zerrissen und die gräber taten sich auf und standen auf viele leiber der heiligen es war ein mann im lande uz der hieß hiob der war fromm und rechtschaffen gottesfürchtig und mied das böse 422

Der Text verfolgte Georg Warner noch einige Tage. Er ging nicht mehr zur Grube, weil er eine Steigerung befürchtete und einen Ausgang wie auf dem Friedhof, als er seinen ersten Hiob-Text verfasst hatte: „der teufel und gott zum verwechseln ähnlich“. Was, wenn Georg Warner sie tatsächlich verwechselte?

An einem Abend Ende Januar hielt er es nicht mehr unten im Dorf aus. Es zog ihn im Eilschritt hinauf. Gegen den Abendhimmel sah er schon von Weitem einen kahlen Berg vor sich. Also doch. Der Erdwall sollte nur am Passieren der Straße hindern und war jetzt nicht mehr notwendig, da der Bagger die Straße durchbrochen hatte. Deshalb hatten nun auch die Eichen im Wege gestanden.

Georg Warner ging ganz nahe an den Grubenrand heran. Nur wenige Meter entfernt schaufelte der Bagger das Erdreich weg. Dieser zornige Entschluss, sich ihm fast in den Weg zu stellen, hätte für Georg Warner tödlich enden können. Er zog sich dann auch nur zurück, um die ganze Gegend überblicken zu können.

Plötzlich gab es einen unerhörten Knall. Die Erde schütterte. Dort, wo er vorhin gestanden hatte, brach die Böschung ab und stürzte in die Tiefe. Das hatte des Teufels Antwort sein sollen. Der Ausleger neigte sich, schob sich ineinander. Die Schaufeln lösten sich. Durch die Luft fuhr ein Sausen wie von Geschossen. Warner warf sich instinktiv auf die verschlammte Straße.

Wieder aufblickend sah er, wie der Abraumbagger sich in sich selbst verdrehte. Einzelne Teile brachen ab. Dann neigte er sich, kippte um und entzog sich Warners Blicken. Kurz darauf drangen Schreie zu ihm.

Warner hastete vorwärts. Im Halbdunkeln erkannte er einen Haufen Schrott. Er versicherte sich, dass sich nichts mehr bewegte. Dann kroch er über die an der Böschung liegenden Schaufeln hinab zum Führerhaus.

Es war keiner schwerwiegend verletzt bis auf Vincent. Seine Beine waren eingeklemmt, er musste furchtbare Schmerzen haben. Er war bei vollem Bewusstsein, stöhnte aber nur. Er lag bereits in einer Lache von Blut. Georg Warner drückte gemeinsam mit einem Kumpel die Arterien ab.

Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, bis die Grubenwacht durch den Tagebau herbeigeeilt war. Mithilfe schwerer Technik wurde Vincent freigeschnitten. In dem Augenblick, da das geschehen war, kamen schon Krankenwagen die Straße heraufgefahren. Der Bereitschaftsarzt versorgte Vincent, band die Beine ab, legte Kompressen an. Der Verletzte bekam eine Bluttransfusion. Dann wurde er mit großer Eile abtrans423

portiert.

Ein weiterer Krankenwagen blieb zurück. Die Grubenwacht leuchtete den Unfallort aus. Dann ging es an die Suche nach der Baggerbesatzung in den anderen Arbeitskabinen. Wie durch ein Wunder waren alle am Leben. Es gab Prellungen und Schürfwunden, aber keine Verletzung in der Art wie bei Vincent.

Der Leiter der Grubenwacht, den Warner von der Rutschung P her kannte, sagte zu ihm, er solle sich morgen bei der Grubenleitung zur Zeugenaussage melden. Kriminalpolizei und Staatssicherheit waren noch nicht eingetroffen. Bevor Warner in einem Auto der Grubenwacht aus der Gefahrenzone gebracht wurde, blickte er noch einmal nach oben. Dort glänzte eine große weiße Fläche. Vincent hatte den Bagger in einen gigantischen Findling gefahren.

Erst als Warner zu Hause angekommen war, löste sich der Schock. Er zitterte am ganzen Leib. Es war ihm, als müsse die Antwort im Briefkasten liegen, und er öffnete ihn. Er hielt einen Brief in den Händen, mit unbekanntem Absender. Die Briefmarke stammte aus Dänemark.

Warner eilte ins Haus. Mit zitternden Händen öffnete er im Arbeitszimmer den Brief. Er war von Genoveva. Sie hatte, so sehr es sie betrübte, erst eine Weile gewartet, damit der Brief ihn auch erreichen würde.

Das sei ein harter Verzicht gewesen. Sie hatte auf Bornholm das Angebot bekommen, in Schweden ihre wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen. Sie hatte abgelehnt, einmal, um damit zu zeigen, dass sie keinen Geheimnisverrat betrieben hatte, zum anderen hätte sie dabei riskiert, „aus Versehen“ von einer Klippe zu stürzen. Sie sei nun Leuchtturmwärterin auf der südlichen Seite von Bornholm, sodass sie ihm immer heimleuchten könne.

Der Brief war beherrscht, ohne dass Genoveva ihre Gefühle unterdrückte. Sie plane schon, aber das stehe erst in einem späteren Brief.

Dann beschrieb sie ihr tiefes Mitgefühl für den geliebten Georg, dass und wie er nach ihrer Vorstellung in dieser verfluchten Gegend leben müsste. Sie traf genau die Stimmung des heutigen Tages. Dann ging sie noch auf Weihnachten und den Jahreswechsel ein. Sie habe schon da einen Brief auf den Weg bringen wollen, aber sie habe gewusst, dass Georg eine Gemeinde, an sich die Menschheit, trösten müsse. Da wollte sie nur bescheiden dazugehören.

Georg Warner hatte unlängst eine Flasche „Gamza“ erstanden. Die war bauchig und in ein Plastekörbchen eingeschlossen. Es handelte sich um eine bulgarische Imitation von „Chianti“. Dass er die Flasche leerte, stieg nicht in sein Bewusstsein, als er den Brief immer und immer wie424

der las. Aber sie verhalf ihm dazu, dass er schließlich über dem Brief einschlief und selige Träume hatte.

Bei der Grubenleitung gab er seine Eindrücke von dem Unglück zu Protokoll. Kumpfe war nicht zugegen, andernfalls hätte er nicht geantwortet. Auch kein anderer erkennbarer Stasi-Mitarbeiter saß ihm gegenüber. Der Sicherheitsbeauftragte der Grube fragte nicht danach, wie er eigentlich auf den havarierten Bagger gelangt sei. Nur eine Frage war polizeilicher Natur. Warner sollte darüber Auskunft geben, wie nach seiner Meinung das Unglück geschehen konnte. Er sagte, er habe keinerlei bergmännische Kenntnisse und wolle sich daher nicht in Fantastereien ergehen.

Am Hagenwerderer Biertisch wollte er sich nicht der öffentlichen Meinung und den Gerüchten aussetzen. Er wartete bis Freitag ab, „Bunte Bilder“. Hilde hatte es auch schon gedrängt, mit Georg zusammenzutreffen. Sie zogen sich zurück. Hilde begann: „Vincent ist Deutsch-Ossiger.“ Das war Georg Warner gänzlich neu. Merkwürdig, dass er ihm in Deutsch-Ossig nie begegnet war. „Er wohnt draußen, in einem der drei einsamen Häuser.“ Ja, dort standen welche, in etwa in einer Flucht mit dem Friedhof. Damit sie nicht so einsam blieben, hatte man eine Schweinemästerei hinzugesetzt. „Es wird für Vincent günstig ausgehen. Nichts mit Sabotage oder dergleichen. Es gibt ein psychologisches Gutachten“, berichtete Hilde. Er war im Krankenhaus gewesen und hatte sich den Hergang von Vincent bestätigen lassen: „Vincent hätte den Findling orten können. Aber an jenem Abend rückte sein Haus immer näher, bis er meinte, er müsse es jetzt wegbaggern. Deshalb war er handlungsunfähig.“ Die Anklage lief auf Vernichtung von Volkseigentum hinaus. Das Gericht ließ Vincent aber mit dem metaphysischen Spruch ziehen, es habe sich um „höhere Gewalt“ gehandelt. „Wie wahr“, dachte Warner. Auf einen Bagger ließ man Vincent aber nicht mehr.

Georg Warner schrieb an Genoveva. Er antwortete ihr an die Deckadresse, die sie als Absender benutzt hatte, obwohl er nicht annahm, die Briefe würden ungelesen die Grenze passieren. Er berichtete, was seit Weihnachten geschehen war. Das Unglück schilderte er fast minutiös.

Ein Vorwort an Mitlesende hatte er über den Brief gesetzt: „Falls dieser Brief nicht ankommen sollte, trete ich euch so in den Arsch, dass der Stiefel stecken bleibt.“

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Das Licht erlischt Wie nicht anders zu erwarten, wurde Pfarrer Warner vom Görlitzer Konsistorium beauftragt, den Gottesdienst zur Entwidmung auszuarbeiten. Das Unerwartete stand schwarz auf weiß in dem Schreiben: Der Bischof solle die Predigt halten, wohl in seiner eitlen Herrlichkeit.

Die Absicht war Warner deutlich. Man mutmaßte, er würde eine staatsfeindliche Predigt halten. Georg Warner war zutiefst enttäuscht, aber auch erbost über den Maulkorb.

Doch Sie sollten sich hinsichtlich der Verkündigung schwer täuschen!

Warner würde, einschließlich des „Grünen Requiems“, so viele Texte verfassen, dass sie für immer im Gedächtnis blieben. Jetzt ging er mit Ehrgeiz ans Werk. Als Erstes stellte er fest, dass es kein Entwidmungsformular gab. Bei den etwa 50 Kirchen, die der Braunkohle bis jetzt zum Opfer gefallen waren, ein schwerwiegendes Versäumnis.

Aber ihm kam eine Idee, die nicht besser sein konnte. Der komplette Gottesdienst zur Einweihung der Kirche im Jahr 1718 lag gedruckt vor.

Er stellte also die Einweihung auf Entwidmung um. Die Bibelverse behielt er bei, was aufreizend genug war. So sollte es gleich mit Psalm 103 losgehen: „Lobe den HERRN, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen!

Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.“ Die Antwort bildete das Lied „Preis, Lob und Dank sei Gott dem Herren“. Es folgte „Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt“ als Bibeltext, noch nicht nach dem „Grünen Requiem“. Jetzt hatte die „Mayflower“-Band ihren Vortrag, das „Baggerlied“ („Wenn der Bagger die Erde aufreißt“), den „Psalm eines Umweltschützers“ („Gott der paradiesischen Landschaft“) und eben den „Fährmann“ („Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt“).

Im Evangelium zu Pfingsten wird der Tröster gesendet, daraufhin der Glaube bekannt. Die Predigt des Herrn Bischof sollten zwei Lieder rah426

men, hinten heraus wie zum Trotz das Deutsch-Ossig-Lied „Lobe den Herren, o meine Seele“.

Die „DENKSCHRIFT der Evangelischen Kirchengemeinde Deutsch-Ossig“ war die schwierigste Aufgabe. Georg Warner war über Tage damit befasst. Er hielt sich hierbei an den Duktus der „Barmer theologischen Erklärung“ als die der Bekennenden Kirche. In Anlehnung begann die „DENKSCHRIFT“ auch mit einem Bibelwort: „‚Jesus Christus spricht: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. (Matthäus 28, 18–20)‘ Das Wort der Heiligen Schrift weist die Zukunft als für den Menschen unverfügbar aus. Es ist nicht erlaubt, das Ende einer Gemeinde für alle Zeiten festzulegen oder den zukünftigen Bestand zu behaupten.

In Christus ist jede Gemeinde im Sinne der Sendschreiben der Offenbarung aufgehoben. Gericht und Verherrlichung sind ihm in die Hand gegeben. Allein durch sein Wort und unter der Niedrigkeit des Kreuzes wird seine Gemeinde durch die Zeit geleitet. Sie ist in der Zeit unter die Sünde gegeben und teilt Schuld und Verantwortung mit allen Menschen. Es ist ihr aufgegeben, durch Wort und Sakramente das harte Gesetz ihrer Zeit zu überwinden, im Vertrauen auf die Zukunft hin.

Es ist ein Offenhalten der Geschichte und ein Durchhalten der Hoffnung für die ganze Schöpfung, wenn die Evangelische Kirchengemeinde Deutsch-Ossig auf die Rekultivierung der Landschaft setzt. Bei einer Wiederbesiedlung der Landschaft sind die Rechte einer Kirchengemeinde in Görlitz-Königshufen abzurufen, wohin als sichtbares Zeichen ihrer Identität die Kirche Deutsch-Ossig umgesetzt wird. Mit dem Ende der Evangelischen Kirchengemeinde Deutsch-Ossig wird diese nicht aufgelöst, sondern im hier beschriebenen Sinne geschlossen.“ In dem Zusammenhang waren einschlägige Abkündigungen vorzunehmen, deren schwerwiegendste die Umpfarrung von Klein Neundorf zum 1. Juni darstellte. Dann wurde der Kirchenältesten gedacht, die über mehrere Jahre die schweren Entscheidungen zu tragen hatten. Besonders hob Georg Warner die Jugendarbeit hervor und erinnerte an wesentliche Beiträge im Revier. Schließlich sollte auch der Pfarrer der Partnergemeinde Edewecht zu Wort kommen, der das Geschehen weit über einen freundschaftlichen Dienst hinaus begleitet hatte. Ein langes Fürbittgebet schloss sich an, durch Bibelwort und jeweiliges Bedenken des Geschehenen und des Dankes bestimmt. Darauf sollte das Abend427

mahl gefeiert werden. Ja, und dann war es so weit: „Wir hören in Anwendung auf die Entwidmung der Deutsch-Ossiger Kirche den Beschluss zu ihrer Einweihung: ‚Heilige Dreieinigkeit!

Dir zu Lobe, dir zu Ehren war dies Gotteshaus geweiht.

Nimm es nun in deine Hand.

Halte die bei Wohlergehen, deren Treue Tag und Nacht war besorget und bedacht, dass es also möchte stehen!

Schreibe die in deine Hand, die dein Wort hier mussten sagen!

Ewig sein dir anverwandt, die in diesem Hause waren und im Ernste nach dir fragen.‘ So sei denn die ‚Kirche zur Heiligen Dreifaltigkeit‘ Deutsch-Ossig entwidmet.

Der Herr segne dich und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.

Der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.

Amen. Amen. Amen.“ Nachdem Georg Warner das Opus entworfen hatte, wurde er ernstlich krank. Er litt an Wundrose, was er als eine Art innerer Reinigung interpretierte. Am 1. Mai, jenem stets ominösen Tag, machte er wieder seine ersten Schritte.

Pfingsten rückte unweigerlich heran. An den Sonntagen davor wurde noch getauft und konfirmiert. In der Deutsch-Ossiger Kirche gab es bis zu 400 Sitzplätze, wenn die vier Seitenlogen ebenfalls genutzt wurden.

An diesem 22. Mai 1988 kamen aber beinahe 800 Menschen. Und die begehrten so gut wie alle das Abendmahl. Der Gottesdienst zog sich über drei Stunden hin. Das waren drei Stunden Abschiedsschmerz, denn die Gemeinde wollte sich nicht verabschieden. Das betraf nicht nur die Kirche, sondern die Einheimischen waren sich bewusst, dass 428

dies auch ihr Abschied sein würde. Georg Warner war sehr gefasst. Er wusste um die mögliche Kraft seiner Abschiedstexte.

Bei der Entwidmungs-Handlung hob der Bischof jeden im Gottesdienst gebrauchten Gegenstand einzeln hoch und entwidmete ihn.

Ganz am Ende würde alles aus der Kirche getragen werden: die Bibel, die Agende, das Kruzifix, Hostienteller, Hostiengefäß, Kelch, die Altarleuchter. Georg Warner hatte sich ausbedungen, die Bibel aus der Kirche zu tragen.

Zuvor aber war als letztgültige Handlung der Entwidmung das Licht auf den vier Altarleuchtern zu löschen. Alle Dienste waren eingeteilt, auch dieser. Georg Warner stand auf der Kanzel und begleitete jeden Entwidmungsakt des Bischofs mit einem Bibelwort. Als es an die Leuchter ging, geschah nichts mehr. Es herrschte lautlose Stille, ja Erstarrung.

Georg Warner verließ schließlich nach endlosen „Gedenkminuten“ die Kanzel und begab sich zum ersten Leuchter. Er musste ihn herabheben und aufpassen, dass er sich nicht mit Wachs begoss. Das verlangte ablenkende Konzentration. Als er den Leuchter abgesetzt hatte, löschte er das Licht. Ein Aufschrei wie aus einem Mund erhob sich in der Kirche. Gleiches geschah beim zweiten Leuchter. Georg Warner aber durchfuhr ein Wärmestrom und er hörte sich sagen: „Ich komme wieder.“ Am nächsten Tag schrak er um fünf Uhr morgens hoch. Es war Pfingstmontag, aber es würde keinen Gottesdienst mehr in der Kirche geben. Georg Warner stand auf und ging zum Schreibtisch. Dort fasste er den vergangenen Tag zusammen: dein wort ist meines fußes leuchte und ein licht auf meinem wege als das licht vor deinem altar ausgelöscht wurde breitete sich finsternis über den grund der seele es war als würde das licht das ewig im verborgenen scheint 429

dem schatten des todes preisgegeben requiem aeternam dona eis domine et lux perpetua luceat eis herr gib ihnen die ewige ruhe und das ewige licht leuchte ihnen kein gesang kein gedicht kein ergreifendes wortgebilde kann je auch nur einen derer die gestorben sind lebendig werden lassen dein wort ist kann nicht sein der bloße buchstabe wörter ohne sinn dein wort ist mensch geworden dein wort ist das licht was ist der mensch dass du seiner gedenkst christus

Denkmalpflege Unmittelbar nach Pfingsten setzten sich Handwerker in der Kirche fest.

Im Nu wurde sie zu einer Baustelle und verdreckt. In der Kirche wurde geraucht. An den Wänden zogen sich Stromkabel entlang, als sollte schweres Gerät zum Einsatz kommen.

Jetzt wurden Fenster und Türen verschäumt. Der Schaum bildete Wülste und wurde zu einer Styropor ähnelnden festen Masse. Etwas befremdlich wirkte die Aussage des Bauleiters, dass in die Kirche Kampfgas eingelassen werden würde, das nicht entweichen dürfe. Diese Maßnahme sollte Schädlinge im Holz töten.

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Ein Kommando der Kampfmittelbeseitigung rückte an und die Handwerker verließen die Kirche. Der Bauleiter erklärte Warner dessen Aufgabe, bevor die Arbeiter zurückkämen. Nach drei Tagen wären Fenster und Türen zu öffnen, die auch nachts offenbleiben sollten. Er solle sich nicht wundern, dem Gas sei ein Warnstoff beigegeben. Es werde noch mehrere Tage lang nach Essig riechen. Vom Kommando redete keiner ein Wort. Jeder blickte äußerst finster drein. Sie ließen das Gas ein. Als die drei Tage um waren, öffnete Warner die Türen und schaffte Durchzug. Dann nahm er sich die Fenster vor. Er stieß die Schallluken der Glocken auf. Auf dem Glockenboden lagen tote Tauben. Sie hatten wohl ihre Jungen nicht verlassen wollen. Aus der kleinen, Seitenloge, die Warner jetzt aufschloss, hatte sich das Gas noch nicht verflüchtigt.

Er bemerkte gerade noch, dass ihm schwindlig wurde und er ohnmächtig zu werden drohte. Er eilte ins Freie, würgte und übergab sich. Der Hals war verätzt, er war heiser und trank in den nächsten Tagen mehrere Liter des „Grubenmittels“ Milch.

Die Handwerker kehrten zurück, mit ihnen Restauratoren von der Denkmalpflege aus Dresden. Auch ein Fotograf war dabei, um den Abbau und die Verpackung in Kisten zu dokumentieren. Die Handwerker begannen umgehend mit der Demontage der Kirchenbänke. Die Restauratoren nahmen sich den Taufengel vor.

Nach einer Woche war der Engel zerlegt. „Breit aus die Flügel beide.“ Ohne Flügel war der Engel eine schöne, anmutige Frau. Auch die Lilie als Zeichen des ewigen Lebens und die Krone, in die die Taufschale eingefügt wurde, waren extra ausgelegt. Eine Karteikarte hing an jedem Stück, die Nummer wurde in ein Register eingetragen, die aufnahmebereite Kiste akkurat beschriftet. Ein kleiner Himmel breitete sich auf dem Fußboden aus, Sonne, Mond und Sterne der Aufhängung. Dann wurde der Engel mit seinen Utensilien samt „Himmel“ in die Kiste gebettet. Er wurde noch einmal fotografiert und dann konnte der lange Schlaf in der Görlitzer Nikolaikirche beginnen.

Mit dem Fotografen Hüttich, den das Schicksal von Deutsch-Ossig und dessen Kirche ebenso berührte wie den Pfarrer, ging Warner eine intensive Arbeitsgemeinschaft ein. Sie beschlossen eigene Veröffentlichungen. So sollte die Kirche selbst, jeder Gegenstand und die Malerei im Bild festgehalten werden. Georg Warner wollte jeweils Texte mit sakralen Aussagen beisteuern. Warner zog seine Predigten heran und damit den Bibelbezug. Auch frühere Texte, so der unlängst nach der Entwidmung geschriebene vom Erlöschen des Lichtes, bezog er ein. Der erste Text sollte „was wir zu erwarten haben“ sein. Um dem geplanten 431

Buch mit dem Untertitel „Die Kirche Deutsch-Ossig in Text und Bild“ eine inhaltliche Bestimmung zu geben, schlug Warner eine Zeile aus der Abendmahlsliturgie vor: „In Wahrheit ist es würdig und recht“, wo es fortgesetzt heißt, dass Gott Dank zu sagen sei.

Das Geschehen im Ort musste festgehalten werden. Hüttich war fast täglich unterwegs und fotografierte Menschen, den Verfall und das Vorrücken der Bagger. Zusammen mit Warners Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und Predigten sollte dies der „Deutsch-Ossig-Report“ werden.

Außerdem war Georg Warner mit der „Chronik der Kirchengemeinde Deutsch-Ossig“ befasst. Er hatte also genug zu tun.

Und auch die Menschen brauchten Zuspruch. Hinter dem Tunnel der Bahnhofstraße wurde schon gepackt. Im Januar würden diejenigen folgen, die in den Plattenbau „Deutsch-Ossig-Ring“ in Görlitz-Weinhübel ziehen sollten. Erneut erschütterte ein Selbstmord die Gemeinde. Warner hatte für den Sonntag einen Jubelpsalm zur Schöpfung aufgearbeitet. Doch die Predigt im Gemeinderaum war schwer und brach in sich zusammen. In Wahrheit wollte niemand etwas hören.

Eines Tages bemerkte Warner, bevor er durch das Eingangstor zum Kirchhof trat, dass der Engel in der Kirchenmauer freigelegt war, ein gotisches Relief in einem gleichseitigen Dreieck. Dieses wies auf die Dreifaltigkeit hin. In einer Hand hielt der Engel die drei Nägel der Kreuzigung Christi. Er holte Hüttich schnell herbei. Das Foto ergab von der Mauer mit dem Engel her einen Blick durch die Bäume auf die Kirchturmspitze.

Georg Warner konnte einen seiner Lieblingstexte verarbeiten, den „Traum Jakobs von der Himmelsleiter“. Der hatte ihn all die Jahre begleitet, denn zum Ende des Studiums war er Gegenstand seiner Prüfungspredigt gewesen. Jetzt schrieb Warner: wie die bäume sich wiegen im wind herzblatt reis und krone sprossen im geäst steigen engel auf geleiten 432

den träumenden nach norden westen osten süden immer und ewig treibt der wind den staub über die erde Das Kruzifix im Hintergrund der Kanzel, der stille Christus, war im wahrsten Sinne des Wortes abgelichtet worden. In der Kirche befanden sich allenthalben Strahler. Schräg von unten angeleuchtet, warf der Strahlenkranz über seinem Haupt Schatten auf die Arme des Gekreuzigten.

Ein gänzlich anderes Bild ergab sich nach der Abnahme. Die als Hintergrund gemalte, futuristisch anmutende abbruchreife Stadt erhielt auf einmal eine neue Sinngebung. Ohne den Gekreuzigten war sie hoffnungslos dem Untergang geweiht. Das inspirierte Georg Warner zu einem verstörenden Text. weh weh du große stadt du starke stadt in einer stunde ist dein gericht gold und silber edelstein perlen köstliche leinwand purpur und seide scharlach elfenbein holz erz eisen marmor myrrhen wein und öl 433

weihrauch sklaven pferd und wagen menschenseelen weh weh du große stadt du starke stadt in einer stunde bist du verwüstet und ein starker engel hob einen stein auf warf ihn ins meer und schrie das licht der lampe soll nicht mehr leuchten Der Gekreuzigte lag in der Kirche umgedreht am Boden. Die durch die Handgelenke gehenden Nägel waren aus Eisen und halb herausgezogen überdimensional groß. Die Figur war auf den Nagel des rechten Armes gestützt. So ragte der andere Arm in die Höhe. Es schien, als gehöre dieser Arm, ausgestreckt und die Hand wie suchend, zu einem Sterbenden, der im letzten Moment um Hilfe fleht. Was sonst nie zu sehen war, hier aber hervorstach, war ein Rücken, dessen sämtliche Muskeln angespannt waren. Caspar Rodewitz konnte bei dieser Ansicht noch einmal als großer Künstler gelten. Georg Warner wollte einen zornigen Text schreiben, milderte ihn dann aber ab. Er sollte die Kirche und die Kreuzesnachfolge betreffen: sie wollten sein im reich zur rechten und zur linken jetzt da die plätze frei hängen da andere verbrecher 434

wer unterscheidet schon zwischen kriminell und politisch nur die kirche die ist immer nicht da wo sie sein sollte leidensscheu kreuzesscheu sie muss aber seinen kelch trinken ob sie will oder nicht die plätze sind frei mit sicherheit Am 31. Juli war Abnahme der bisherigen Arbeit durch das Institut für Denkmalpflege Dresden. Es gab viel Lob, für die Handwerker, für die Restauratoren und auch für Pfarrer Warner, der wider Erwarten den Ausbau unterstützt hatte. Warner dachte mit Blick auf den Fotografen Hüttich: „Wenn die wüssten, was wir sonst noch zu Wege gebracht haben.“ Jetzt wurden die nächsten Maßnahmen festgelegt. Die Emporen waren abzubauen, ebenso die Hauptempore mit der Orgel. Nur so konnte die Deckenmalerei, die sich bis in den unteren Bereich der Kirche hinzog, bearbeitet werden.

Landnahme Von Genoveva erhielt Georg regelmäßig Post. Sie hatte ihn um die Adresse des alten Bischofs gebeten. Wozu, sollte Warner jetzt erfahren. Er wurde aufs Konsistorium bestellt. Anders als erwartet ging es nicht um Deutsch-Ossig. Sauertöpfisch teilte man ihm mit, dass er zu einem Kongress in die Partnerkirche Oldenburg fahren solle. Georg Warner, von Jugend an daran gewöhnt, dass man ihn nicht einmal ins sozialistische Ausland ließ, war erstaunt. Wollte man ihn der Versuchung aussetzen, im Westen zu bleiben?

Er nahm den Vorschlag an und trat Mitte September seine Reise über 435

Marienborn an. Der Grenzort mit all den Schikanen und Kontrollen, die auf dem Rückweg noch intensiver ausfallen sollten, machte einen gespenstischen Eindruck. Im Zug herrschte kollektive Anspannung, als würde man mit Sack und Pack abgeführt werden. Niemand sprach ein Wort, vorher war die Unterhaltung rege gewesen. Als Erstes wurden die Papiere kontrolliert und abgestempelt, dann folgten Zöllner, die nach dem Inhalt der Koffer fragten und Stichproben vornahmen. Die Reisenden antworteten im Flüsterton. Als die Grenze passiert war, brach sich freudig Erleichterung Bahn. Warner hatte in der DDR viel erlebt, aber das Eingemauertsein trat nirgendwo so deutlich zu Tage wie in diesem Zug. Man kam aus psychopathischen Zuständen.

Warners Reise ging über Bremen. Dort stieg er aus. Er besuchte Nostradamus, dem er sein Kommen nicht angekündigt hatte. Nostradamus starrte ihn ungläubig an. Dann entfuhr es ihm: „Hast du es auch endlich geschafft, Georg.“ Der klärte ihn auf, dass er zu Besuch sei und unterwegs zu einem Kongress in Oldenburg.

Er wurde hineingebeten. Die Wohnung war klein und wies außer westlichem Standard nichts Besonderes auf. Nostradamus stellte Warner seine Lebensgefährtin vor. Sie musste von hier sein, denn sie blickte ihn die ganze Zeit über neugierig an, als sei der Pfarrer ein exotisches Tier aus dem Zoo. Viel Aufklärungsarbeit hatte Nostradamus anscheinend nicht geleistet.

Der war einsilbig. Georg Warner hatte ihm zwar gelegentlich geschrieben, aber der Austausch war ins Stocken geraten. So erzählte er von dem zurückliegenden Jahr. Auch die Havarie ließ er nicht unerwähnt. Nostradamus fragte beklommen nach Karl. Georg gab Auskunft: „Im nächsten Mai sind seine fünf Jahre um, einschließlich den zwei Jahren, die er nachdienen musste. Da er degradiert wurde, schiebt er jetzt als einfacher Soldat Wache, gar nicht so weit entfernt, am Flugplatz Rothenburg. Er bewacht dort ein Tanklager. Ausgang bekommt er selten.

Der Dienst könnte nicht trister sein. Von seinem Wachturm aus starrt er die ganze Zeit in eine Kiefernschonung. Mal sehen, welchen neuen Klassenstandpunkt er nach Ende seiner Dienstzeit erlangt haben wird.“ Georg Warner hatte von Anfang an vorgehabt, Nostradamus zu aktivieren. So sagte er jetzt, dass er am Tag nach dem Kongress einen Gottesdienst halten würde, für den er die Partnergemeinde Edewecht ausgewählt habe. „Du wirst mit von der Partie sein.“ Nostradamus war sichtlich erschrocken, aber er merkte, dass er Georg nicht widersprechen durfte. Der gab ihm umgehend Texte und den Termin. Georg wollte weiter. Und das aus einem bestimmten Grund.

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Als er in Oldenburg aus dem Zug stieg, musste er nicht lange umherschauen. Fast neben seinem Abteil stand Genoveva. Der Funke sprang sofort über. Es war genau wie auf dem Leuchtturm. Eng umschlungen strebte das Paar dem Hotel zu. Im Zimmer angekommen, rief Genoveva: „Ich habe dich so vermisst, Georg.“ Dann liebten sie einander, übrig blieben nur zwei glückliche Erschöpfte.

Der Kongress befasste sich mit der Partnerschaft der Oldenburgischen und der Görlitzer Kirche. Es gab von westlicher Seite viel materielle Unterstützung. Aber das wirklich Verbindende konnte nur die geistliche Gemeinschaft schaffen. Hier wurde, hauptsächlich über Gruppenarbeit zu verschiedenen Themen, nach neuen Wegen gesucht. Warner befand sich in einer angeregten Runde, in der man über den Gemeindeaufbau nachdachte, in Städten und Industriegebieten. Er schilderte auch die besondere Situation der Umsiedlung. Der Edewechter Pfarrer gab seine Eindrücke von der Entwidmung wieder, die ihn immer noch bewegte.

Erregt schilderte er das Erlöschen des Lichts.

Nachdem jeder wieder in seine Gemeinde entsendet worden war, reiste Georg mit Genoveva. Sie würden bis zum nächsten Tag in Edewecht bleiben. Dann hatte Genoveva eine Überraschung vor. Nostradamus traf pünktlich ein und war viel aufgeräumter als in Bremen. Die Texte sagten ihm zu, da sie von einer Landnahme handelten. Georg Warner hatte bereits seine Erntedankfestpredigt geschrieben und wollte sie auch in Edewecht halten, nur etwas abgewandelt. Sein Thema war die Frage, wie viel Lebensraum der Mensch benötige, um in allen Belangen wachsen zu können. Ihm kam entgegen, dass auf lutherischem Kirchengebiet, wozu der Raum Oldenburg zählt, Erntedank am letzten Septembersonntag gefeiert wird, und der war heute. Seltsam nur, dass der Festgottesdienst auf dem Marktplatz abgehalten wurde und er von einer Bühne predigte. Im Osten wäre das undenkbar gewesen.

Nach dem Gottesdienst ging es zum „Griechen“, was für Georg Warner nicht nur kulinarisch eine ganz neue Erfahrung war. Genoveva und Nostradamus unterhielten sich angeregt und stellten sich einander vor.

Sie hatten ja, wenn auch anders verlaufen, die Flucht als gemeinsames Thema. Das Gespräch gelangte an einen empfindlichen Punkt, nämlich Warners Heimkehr. Sie sprachen jetzt leiser, aber durch Genovevas eindringliche Worte konnte Georg immer noch folgen. Er hörte sie sagen: „Georg muss unbedingt raus, je eher, desto besser, bevor er in einem Lager verschwindet und untergeht. Ich werde ihm Lösungen vorschlagen.“ So konnte sich Georg Warner immerhin schon vorbereiten. Die „Überraschung“ geschah am nächsten Tag. Auf Genovevas Bitte hin 437

hatte der Pfarrer ein Dienstauto zur Verfügung gestellt. Mit diesem sollte es inkognito nach Holland gehen. Die Fahrt führte über Ostfriesland.

Ziel war Flevoland und dort Urk am Ijsselmeer. Genoveva hatte sich gut vorbreitet. Sie stellte Georg die Landnahme vor, als Flevoland innerhalb weniger Jahre vom Ijsselmeer abgetrennt, nach und nach durch Polder eingedämmt und trockengelegt wurde. In Flevoland waren die Erfolge greifbar und begreifbar. Durch den fruchtbaren Meeresboden war die Landschaft zu einem einzigen Garten geworden.

Genoveva hatte zu Georg gesagt, ihre Reise solle seiner Gesundung dienen. Diese setzte ein, denn er war mit dem Vergleich befasst. Auf der einen Seite wurde Land durch die Braunkohlenbagger genommen, auf der anderen Seite wurde Land in gleicher Größenordnung gewonnen.

Georg Warner fragte sich, ob Genoveva vorhatte, mit ihm nach Holland zu gehen. Die Sprache wäre für sie schon einmal kein Problem gewesen, denn sie beherrschte Plattdeutsch und konnte sich mit den Holländern verständigen.

Es ging nun über den Nordpolder nach Urk, das früher eine Insel mit einem alten Fischerdorf gewesen und nun der älteste Teil Flevolands war. Auf dem Damm sollte Georg halten. Ein Denkmal stand dort, das an die Ertrunkenen der Landnahme erinnerte. Auf Gesteinsblöcken standen über 300 Namen. Georg Warner las die einzelnen, auch weit zurückreichenden Jahreszahlen und dann die Namen der Verunglückten, die wohl den plötzlichen Springfluten nicht mehr entrinnen konnten.

Er hielt sich mehrere Stunden in dem Gelände auf. Seine Gesundung machte mit der Erkenntnis Fortschritte, dass nicht nur die Braunkohle, sondern auch die Landgewinnung Opfer forderte. Über allem stand das Wort aus der Offenbarung des Johannes „… und das Meer ist nicht mehr“.

In Urk war das Getriebe des Sommers vorbei. Der Hafen für die Segelschiffe war fast leer. So wirkte Urk mit seinen unzähligen kleinen Gassen und idyllischen Winkeln beschaulich. Unter einem Rieddach hatte Genoveva eine Ferienwohnung gebucht. Es war auf einmal wie in Middelhagen, auch hier zeichnete nachts der nahe Leuchtturm die Wände. Das war ein Nest, hier ließ es sich kuscheln.

Doch die Zeit verging, und der Abschiedsschmerz meldete sich. Erste Tränen flossen. Dann wurde es ernst. Genoveva wollte mit Georg reden.

Sie bat sich aus, sie nicht zu unterbrechen. Er versprach es. Genoveva sagte: „Georg, ich weiß aus sicherer Quelle, dass die DDR einem Umsturzversuch vorbeugen will. Es werden Lager geplant und Namenslisten 438

angelegt, wer darin verschwinden soll. Da dies nach sowjetischem Vorbild erfolgt, brauche ich dir nicht zu erklären, was dann geschieht. Erich Honecker hat schon einmal verkündet, die Mauer werde noch in hundert Jahren stehen. Das erinnerte an Goebbels, der vor dem Untergang prophezeit hatte, dass der Geist des Nationalsozialismus noch in hundert Jahren die Welt beherrschen werde. Das heißt analog: bevor die Kommunisten untergehen, reißen sie alles mit. Ein dritter Weltkrieg ist einkalkuliert. Was zählen da Menschenleben? Am 7. Oktober 1989 besteht die DDR 40 Jahre. Weitere 40 wird das Volk nicht hinnehmen wollen.

Du kannst dich auf diesen Zeitpunkt hin schon immer mit einer Revolution befassen. Und die wird nach Lage der Dinge mit Pech und Schwefel, Blut und Tod einhergehen. ‚Pech und Schwefel‘ kannst du sicherlich zuordnen. Ich liebe dich, bis das der Tod uns scheidet. Aber ich will nicht auf so grausame Art von dir geschieden werden. Ich will mit dir zusammen alt werden, und, auch wenn das kitschig klingt, Kinder und Kindeskinder mit dir erleben.

Nimm es als einen ganz freien Entschluss und entschließe dich ebenso frei. Ich möchte, dass wir heiraten, möglichst noch in Edewecht, wenn wir zurück sind. Das wird dann eben nur eine Art ‚Kriegstrauung‘. Ich habe die dänische Staatsbürgerschaft beantragt. Sie wird mir demnächst gewährt werden. Wenn du und ich die Familienzusammenführung aus Ost und West beantragen würden, hätte das wohl keine Aussicht auf Erfolg. Ich gelte als Republikflüchtling. Dich könnte man eventuell loswerden wollen. Alles auf Sand gebaut. Aber als Dänin könnte ich dich immer noch im letzten Augenblick herausholen, falls du dich mir nicht sofort in die Arme werfen willst.“ Georg Warner war zwar durchaus mit Gedankenspielen und Mutmaßungen befasst gewesen. Aber so klar hatte ihm noch niemand den Kopf geradegerückt. Er wollte jetzt nicht darüber diskutieren. Er sagte nur, was Genoveva noch nicht wusste: „Am 31. August 1989 endet die Kirchengemeinde Deutsch-Ossig. Danach bin ich frei.“ Die Nacht war tränenreich. Ohne dass sie im Auto noch groß redeten, fuhren sie zurück nach Edewecht. Dort trennten sich ihre Wege, Genoveva fuhr zu ihrem Leuchtturm, Georg in die Finsternis.

Im Zug verspürte er das Bedürfnis, auszusteigen und zurückzukehren. Das ihm vorherbestimmte Ziel fraß an ihm. Die ganze Zugfahrt über war er mit einem Text befasst. Noch auf westlichem Boden beschäftigte er sich mit der vermeintlichen Einsamkeit des Offenbarers Johannes, der, auf die Insel Patmos verbannt, dort bis zu seinem Tod 439

blieb. Diese Insel wandelte sich für Georg Warner in eine schwarze.

Hoffnungslos. Auch die nun wieder unerreichbare Geliebte wollte er mit einbeziehen. So schrieb er: ich euer bruder war auf der insel geblieben umspült von trübsal harrte ich auf das hornsignal was du siehst schreibe in ein buch flaschenpost die ich ins meer warf auch für dich ein buch mit sieben siegeln ist das sterben Georg Warner wusste nicht weiter. Es war alles gesagt. In Minden, da eben der Zug hielt. Georg Warner fuhr weiter mit, ab durch die Porta Westfalica. Das Schweigen der Reisenden setzte pünktlich ein. Der Zug erreichte Marienborn. Dann ging es laut und heftig zu. Es wurde gefilzt und gefilzt. Mit Georg Warner waren die Zollbeamten umgehend fertig.

Er hatte nichts an die Lieben daheim mitzuführen oder zu schmuggeln.

Auch Bücher fanden sich bei ihm nicht. Kurz angebunden sagte er: „Die kaufe ich mir in der deutschen Bücherei in Budapest.“ Im Gang standen Großmütter, die sich vorkamen, als hätte man sie als Kinder beim Stehlen eines Apfels erwischt. Ihre Koffer wurden umgedreht. Dabei wurden sie ununterbrochen angeschrien. Warner war an Flucht, Vertreibung und Umsiedlung erinnert. Wie beschämend rechtlos waren doch diese DDR-Bürgerinnen. Der auf sie ausgegossene Hohn der Arbeiter- und Bauernmacht war umso größer, als jeder anzusehen war, wie schwer sie gearbeitet hatte. Welch eine Infamie! Warner ergab sich in den Tunnelblick, der ihm als Herzkrankem schon auf dem Weg nach Wittenberg geholfen hatte. Er kam sich feige vor. Er hätte sich entschließen sollen, dem Gesindel kräftig die Schnauzen zu polieren, den Zöllnerinnen gleich mit. Doch dann hätte ihm später wohl ein Satz Zähne gefehlt.

Erst in Magdeburg hob er wieder den Kopf. Die alte Frau neben ihm zeigte ihm voller Stolz und Tapferkeit, was sie nicht gefunden hatten.

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Ein kleines Buch für ihren Enkel, das beim Blättern neue Ansichten ergab. Was war das für ein … Staat. Der war Warner in Schönefeld wieder gegenwärtig. Der Zug schwenkte nach Süden, was der Weg nach Osten war.

Der bisher stumm gebliebene Text tat sich auf. Warner stieß auf das „Hornsignal“. Er hatte es immer wieder vor den Sprengungen in der Grube gehört. Bald würden die Häuser der hinteren Bahnhofstraße auf das Signal hin fallen. Wie damit einverstanden sein? Er hatte geschrieben: „ein buch mit sieben sigeln ist das sterben“. Ja, die Siegel mussten geöffnet werden, in letzter Vollmacht. Dann konnte man auch sagen: „blast“. Löwen mussten brüllen, der Engel wie ein Löwe und der Löwe aus Juda, Christus. Der Text setzte sich in Sprengkraft fort: ein starker engel stieg herab der regenbogen krönte ihn gleich einem brüllenden löwen schrie er auf und sieben donner antworteten ihm es hat überwunden der löwe von juda aufzutun das buch mit den sieben siegeln blast Georg Warner war wieder bei sich. Er kehrte heim. Auf dem Bahnhof in Görlitz erwartete ihn Hilde. Er sei in großer Sorge um Georg gewesen.

Der antwortete ihm: „Ja, in der Ferne meint man, allem entronnen zu sein, um so bedrängender kommt es einem dann wieder vor.“ Dann zitierte er Grillparzer: „‚Der Läufer rennt, allein das Ziel läuft mit.‘“ In Deutsch-Ossig angekommen, strebte Warner gleich der Kirche zu.

Die Emporen waren verschwunden, Gerüste waren aufgestellt, damit man an die Malerei herankam. So offenbarte sich Warner jetzt deut441

lich das Deckengemälde mit dem Lamm auf dem Buch mit den sieben Siegeln. Der Löwe wurde zum Lamm, das der Welt Sünde trägt. Georg Warner vollendete seinen Text: und das buch öffnete sich das lamm das erwürget ist hat mit seinem blut erwirkt die menschen aus allen sprachen

Von Erntedank zu Totensonntag Erntedankfest fand im Hausflur statt. Der Tradition gemäß wurden Obst und Feldfrüchte gespendet. Auch dem kleinen Erntedankaltar am Fuße der Treppe war anzusehen, was sich seit dem vergangenen Jahr ereignet hatte. Im Vergleich war nur noch ein Drittel Erntegaben vorhanden.

Es ging Georg Warner in der Predigt um das rechte Maß. Als Text diente ihm der Prophet Sacharja, der eine Vision hatte. Er sah einen Mann mit einer Messschnur. Den fragte er: „Wo gehst du hin?“ Der Mann antwortete: „Jerusalem auszumessen und zu sehen, wie lang und wie breit es werden soll.“ Der historische Hintergrund war, dass Babylon gefallen war. Die Perser entließen die durch die Babylonier unterdrückten Völker. Das Volk Israel, an die Wasser von Babylon weggeführt, konnte heimziehen, unter dem Befehl von Serubbabel, der Jerusalem aufbauen sollte. Nach 70 Jahren! Der Prophet Sacharja mahnt zu dem Vorhaben einen neuen Geist an. Und der stellt sich nicht ein. Die Leute verachten die Anfänge.

Nun ließ sich die Situation nicht eins zu eins vergleichen. Die Deutsch-Ossiger mussten gehen, wurden zwangsumgesiedelt. Was aber die Anfänge betraf, waren sie den Israeliten gleich. Keiner blickte hier nach vorn. Was man verlor, war nichts gegen das, was man gewinnen konnte.

Warner führte den notwendigen neuen Geist aus, „der sich umsetzt in Steine, Wände und Dach. Und in dem Haus selbst muss ein neuer Geist 442

herrschen. Sonst ist alles Mühen vergeblich. Wie werden wir leben? Das ist die Frage, die nach einer Antwort verlangt. Wo werden wir leben?

Da kann es nur heißen: an einem Ort nirgendwo. Wenn wir das ‚Wie?‘ beantworten können, wird uns das ‚Wo?‘ nicht an einer Beheimatung hindern. So etwa schon Sacharja.

Der ließ sich in seiner Zukunftsvision nicht aufhalten und nahm auch die Zweifler mit: ‚Denn wer den Tag des geringsten Anfangs verachtet, wird doch mit Freuden sehen den Schlussstein in Serubbabels Hand.‘ Das wird in Anspielung auf den gänzlich neu zu errichtenden Tempel gesagt.“ Warner wusste, dass die Gemeinde über die jeweilige persönliche Situation hinaus mit ihrer Kirche befasst war. In Königshufen hatte sich noch nicht das Geringste getan. Dagegen musste er nun anpredigen: „Jetzt sind wir hier versammelt, schon als Geschiedene von unserer Kirche, die wir mit ungeheurer Anstrengung für den Auszug vorbereiten. Zu dieser Stunde wird der Altar abgebaut. Von Anfängen am neuen Ort kann keine Rede sein. Aber die Vision war schon zu sehen. Im Gemeindeblatt von Görlitz. Eine Fotomontage, die unsere Kirche inmitten des Neubaugebietes zeigt. Manch einer meinte: ‚ein Luftschloss‘. Die meisten von Deutsch-Ossig waren empört, wegen der fehlenden Anfänge in Königshufen.

Weit gefehlt. Die Anfänge liegen in Deutsch-Ossig. Wir sind die, die das Werk in Gang gesetzt haben. Begonnen wurde es aber schon früher, durch unsere Vorfahren, die hier den Grund gelegt haben – im Nordischen Krieg, unter schwedischer Oberhoheit. Und die Nachfolger brauchten das ganze 18. Jahrhundert, um den Bau zu vollenden.

Die Anfänge hörten nie auf. Es ist ein Irrtum, von einer Vollendung zu irgendeiner Zeit zu reden. Weil wir uns selbst erneuern müssen. Weil der Geist Gottes uns zum Leben ruft. Unser Anfang zur Umsetzung der Kirche bestand in der Bezeugung des Lebenswillens, an dem schließlich niemand vorbeikam. Verflucht nochmal! Oh ja, viele hätten vieles anders sehen wollen. Aber da standen wir davor – und haben bestanden.

Es ist nicht durch Heer oder Kraft geschehen wie in Babylon und Jerusalem. Wir waren machtlos und doch nicht überwindbar.“ Georg Warner hatte in Edewecht allgemeiner gepredigt und sich den dortigen Gegebenheiten zur Ermutigung angepasst. Diesen Teil aber hatte er zum Vergleich herangezogen. Was jetzt noch blieb, wiederum durch Erfahrung negativ aufgeladen und jedem gegenwärtig, dass man zum letzten Erntedankfest versammelt war. Dem gab Georg Warner zum Abschluss eine Richtung: 443

„Unsere Erntegaben. Sie sind mehr denn je Zeichen dafür, dass geerntet wird. Wir haben uns nicht aufgegeben. Wie die Frucht zugleich den Samen für die Ernte birgt, so ist hier schon unter uns das Neue angelegt.

Saat und Ernte sind untrennbar miteinander verbunden. Solange wir leben, werden wir auch säen. Mit unseren Vorfahren und Nachfahren.

Was morgen sein wird, ist gestern gewesen. Einer gibt den Anfang an den anderen weiter. Bis Gott seine Ernte einbringt. Amen.“ Nach dem Gottesdienst wirkte auf Warner das Reizklima nach, das er nun auch für sich dargestellt wissen wollte. Er wählte aus den Fotografien von Hüttich das alte gotische Fenster an der Südseite des Turmes aus, dann ließ er anhand des Turmbaues zu Babel die Zeit vorbeirinnen: rechts des flusses ein verhau ossek am andern ufer ein turm niemsky ossek es hatte alle welt eine sprache als sie nun nach osten zogen wurde deutsch mit ihr geredet links des flusses der pulverturm deutsch ossig am andern ufer ein verhau wendisch ossig und so redeten sie fort deutsch wendisch polnisch böhmisch ungarisch kroatisch schwedisch bis sie den gotischen turm 444

in eine kirche einbanden eingeweiht im nordischen krieg von einem schwedischen feldgeistlichen so hatte der herr ihre sprache verwirrt Es waren jetzt nur noch aller 14 Tage Gottesdienste zu halten. Warner gestaltete den Plan so, dass Totensonntag nicht begangen wurde. Der Verstorbenen würde die Gemeinde zu Silvester gedenken. Es gab keine herausragenden Feiertage mehr. Und der, der immer für eine Besonderheit gut war, sollte dem Schweigen anheimfallen.

Georg Warner hatte sich seit einiger Zeit das schöne Neißetal mit dem wilden Durchbruch des Flusses für seine Wanderungen auserkoren. Um sich noch mehr zu ertüchtigen, nahm er oberhalb auch den Klosterwald mit. Der war undurchdringlich. Neben hoch aufstrebenden abgestorbenen Bäumen lagen deren Brüder über jedem Weg und Steg. Die Kraftwerke Hagenwerder und Hirschfelde wie auch das polnische Turow sorgten bei jedem Wind für Nachschub an Rauch und Schwefel. Nur die Hauptwege waren frei.

So ging Warner von der Gaststätte „Bergfrieden“ an durch den Klosterwald, bis dieser vor Rosenthal und Schlegel endete. Hier schwenkte er in weitem Bogen zur Neiße hinab. Er ging den Wolfsweg. Die Gegend war so einsam, dass sich der Namensgeber hier sichtlich wohlgefühlt hätte. Der Weg war halbwegs frei, da an den Seiten Jungwuchs stand.

Im Neißetal konnte der Rückweg auch vier Kilometer lang sein. Danach musste Warner in einer steilen Schlucht nach oben. Manchmal ging er die Tour auch andersherum, vom Kloster Marienthal aus. Das tat er besonders, wenn er sich Anfechtungen aussetzte. Dann stürzte das Wasser der Neiße auf ihn zu.

Zu Totensonntag focht ihn nichts an. Er ertrug sogar die Gedanken an den Friedhof. Er dachte auch an das ferne Wittenberg, ihn belustigte die faustische Szene, die er dort vor Jahren erlebt hatte. Aber da fiel ihm auch Tofana ein und er brach seinen Gedankengang ab. Es ging bereits auf den Nachmittag zu, bei Windstille und bedecktem Himmel zog eine frühe Dämmerung herauf. Als er den Wolfsweg hinter sich hatte, lag die Neiße wie üblich trübe da. Bei Hirschfelde leitete das Kraftwerk Turow 445

verflüssigte Asche ein. Die Neiße selbst roch stets billig. So als würden die Uferbewohner ständig duschen oder baden und dazu einfachste Seife benutzen.

Die Konturen des Neißetales verschwammen bereits, als Warner beim Kreuz auf dem Felsen ankam. Ein stiller Gekreuzigter schaute von dort herab. Warner hatte hier bisher keine Einkehr gehalten. Jetzt sah er, dass eine Nonne angeeilt kam. Wie er später erfuhr, war das Kreuz auf dem Felsen der äußerste Punkt, bis zu dem die Zisterzienserinnen gehen durften.

Die Nonne stand da und blickte hinauf. Georg Warner stellte sich neben sie, um das erblicken zu können, was sie sah. So standen sie eine Weile. Warner erlaubte sich einen Seitenblick. Die Ordensschwester war wenigstens zwei Köpfe kleiner als er. Da ihr Körper verhüllt war und die Haube nur das Gesicht freiließ, überraschte Warner die jugendliche Anmut und Feinheit des Gesichtes. Bei der hier gebotenen Andacht widerfuhr ihm, was ihn mitunter am Altar heimsuchte: „Warum fällt mir das jetzt ein?“ Er war keinesfalls mit der Weiblichkeit der Nonne befasst, sondern irrte in seinen bisherigen Beziehungen umher.

Plötzlich hörte er neben sich: „Sie können nicht beten.“ Wenn Warner sich jetzt hätte offenbaren dürfen, hätten sie wohl in tiefer Nacht noch dagestanden. Es war nicht so, dass er nicht beten konnte. Er wollte es nicht, denn es kam dabei immer ein Rechten mit Gott heraus. Christus besaß für ihn eine zu menschliche Gestalt, als dass er das Wort an ihn gerichtet hätte. Maria war ihm fremd, obwohl sie ihm vielleicht in seinen gelegentlichen Qualen hätte Antwort geben können.

Die Nonne erhielt also keine Auskunft. So sagte sie nach einiger Zeit: „Halten Sie sich an geistliche Texte.“ Da hätte Warner nur die Sammlung aus seinem und Hüttichs Buch „In Wahrheit ist es würdig und recht“ durchgehen müssen. Christus schaute immer noch still herab, er zwang Georg Warner zu nichts.

Dann kam so etwas wie Vertrautheit auf. Die Nonne sagte: „Ich heiße Klara. Wenn man in einen Orden eintritt, darf man sich einen Namen wählen. Ich habe den von der Schwester des Franziskus angenommen.“ Warner blickte wieder zur Seite. Nein, neben ihm stand eine Zisterzienserin, keine Franziskanerin. Aber sie fühlte sich wohl der Gnadenlehre des Heiligen Franziskus verpflichtet.

Sie betete. Als sie mit ihrem Gebet fast zu Ende gelangt war, sagte sie, dass sie den „Sonnengesang“ des Franziskus vor sich hin gesprochen habe, den er am Ende seines Lebens betete. Warner war dieser sofort gegenwärtig. Klara sah ihm das und noch anderes an. Dann sagte sie: 446

„Wir wollen gemeinsam beten.“ Sie begann und Warner fiel ein: „Gelobt sei mein Herr durch unseren Bruder, den leiblichen Tod, dem kein Lebender entrinnen kann. Wehe denen, die in Todsünde sterben werden.

Selig die, so sich in deinem heiligen Willen finden, denn der zweite Tod kann ihnen nichts Böses antun.“ Freilich, es war Totensonntag. Da passte dieser Gebetsteil. Die Nonne wandte sich jetzt zu ihm um. Auch Warner stand ihr gegenüber. Sie blickte ihn durchdringend an. Dann sagte Klara: „Sie sind Pfarrer Georg Warner. Ich habe von Ihnen gehört. Wem ich gegenüber stehe, ist mir durch eine Erleuchtung bewusst geworden: Sie sind vom Leid stigmatisiert.“ Sie schaute nach der Uhr. Die vorgegebene Viertelstunde war abgelaufen. Sie senkte die Augen und sagte scheu zu ihrem nunmehrigen Bruder im Geiste: „Ich bin jeden Tag zur gleichen Zeit hier.“ Dann eilte sie davon.

Georg Warner hatte noch ein Stück Weges vor sich. Beschwingt stieg er durch die steile Schlucht. Was für ein geglückter Totensonntag war das gewesen!

1989 Den Dezember verbrachte Warner mit Besuchen, um diejenigen vorzubereiten, die im Januar ausziehen würden. Im Dorf war es dunkel, keine Adventsstimmung verbreitete sich. „Gott will im Dunkel wohnen – und hat es doch erhellt?“ Das Adventslied zog diesmal nicht bejahend um die Häuser.

Ein anderes Geschehen drängte sich Warner auf. Es war das Unsägliche aus Kafkas „Schloss“. Der Landvermesser K. eilt durch Schnee und Kälte, um von den Behörden die versprochene Arbeit zu erhalten.

Makabrerweise soll er Vermessungen vornehmen, um Dein und Mein festzustellen. Die Leute im Dorf versteifen sich darauf, dass alles dem Schloss gehöre. K. scheitert auf erbärmliche Weise. Ein grandioser Stoff für dieses Deutsch-Ossig. Warner begann mit Skizzen zu einem Stück.

Es würde jedoch Fragment bleiben.

Georg Warner ahnte, was Weihnachten auf ihn zukäme. Zum Jahreswechsel mussten auf das Jahr 1989 hin klare Aussagen gemacht wer447

den. Dieses Jahr musste insgesamt eine große Veränderung bringen. Bei der Offenen Arbeit fanden sich nur noch wenige ein, der „harte Kern“.

Manchen grauste es vor dem sterbenden Dorf. „Blues“ stand auf dem Programm. Zu hören und zu diskutieren gab es Renft, „Wer die Rose ehrt“. Warner horchte auf, als die „Stern Combo Meißen“ aufgelegt wurde, „Was bleibt nach dem Tode, wenn nicht bleibt der Ruhm“. Das Lied handelte von Scott und seinem vergeblichen Kampf um den Südpol.

Spontan sagte Georg Warner: „Das spielen wir, zu Silvester.“ Es war, als erwache die verbliebene Gruppe aus der Lethargie. Sie planten umgehend. Die Techniker hatten das Sagen. Die bei der „Windrose“ verwendeten Strahler waren noch vorhanden. Dann galt es, Hörspielgeräusche zu beschaffen. Es gab mehrere Schallplatten mit solchen.

Dabei ging es vor allem um Wind. In dem Maße, wie dieser zunahm, sollte über einen Widerstand das Licht schwächer werden, bis es erlosch. Und ein alter, großer Schlitten musste aufgetrieben werden.

Georg Warner ging ans Schreiben. Sobald ein Abschnitt fertig war, probten sie. Spielort war der gewölbte Hausflur des Pfarrhauses. Warner schrieb sich selbst die Rolle des Scott zu, die er auch spielen würde. Seine beiden Weggefährten sollten Don und der kleine Cowboy übernehmen. Hilde musste die Technik bedienen.

Heilig Abend kam heran, an den Feiertagen würde kein Gottesdienst sein. Warner hatte reichlich Stühle in den Hausflur gestellt, auch die Tür zum Gemeinderaum sollte offen bleiben. So stand er dann am Treppenaufgang vor etlichen leeren Plätzen. Nur 45 Leute hatten den Mut gefunden, hier Christnacht zu begehen. Die anderen waren in umliegende Kirchen geflohen.

Georg Warner legte einschließlich des Geschehens in Bethlehem zwei Texte aus, die er immer wieder gegeneinander abwägte und dabei fragte, welcher der gültige sei: „‚Ich komm: weiß nicht, woher.

Ich geh, weiß nicht, wohin.

Mich wundert, dass ich fröhlich bin.‘“ Diesen Vers dichtete er um: „ ‚Ich komm‘: 448

weiß wohl, woher.

Ich geh‘, weiß wohl, wohin.

Mich wundert, dass ich traurig bin.‘“ Am Ende war die Gemeinde halb traurig und halb fröhlich. Mit dem Lied „Fröhlich soll mein Herze springen“ verabschiedeten sich alle.

Silvester war so finster, als sollte es nie wieder Licht werden. Die Spielgruppe hatte kräftig Werbung betrieben. Jetzt waren alle Plätze besetzt.

Gleiches galt für den Gemeinderaum, obwohl man von dort nichts sehen konnte. Das Stück wurde zum Hörspiel. Die Aufführung wurde durch Texte gerahmt, vorher durch solche, die das „Alte“ bejahten, danach durch „Neue“, bei denen auch der Verstorbenen gedacht wurde.

Der Kampf um den Südpol Personen: Scott Wilson Bowers Unter einer sinkenden Sonne ziehen Scott, Wilson und Bowers ihren Schlitten. Wind stellt sich ihnen entgegen.

Scott: So sieht es also aus, das gelobte Land.

Wilson: Wir hätten wissen müssen, dass es hier auch nicht anders ist.

Bowers: Nur etwas kälter.

Wilson: Und öder.

Bowers: Es ist das alte Lied.

Wilson: Nichts Neues unter der Sonne.

Bowers: Nur Sieger und Besiegte.

Scott: Das scheint nur so.

Wilson: Es ist so. Amundsen war vor uns am Pol. Scott: Wer ist Amundsen? Tausendmal bin ich ihm begegnet, bei jeder Niederlage.

Wilson: Worin liegt da der Sinn?

Scott: Im Weiterziehen.

Wilson: Bis du wieder auf Amundsen triffst?

Scott: Kann sein.

Wilson: Als ewiger Zweiter?

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Scott: Schon möglich.

Wilson: Aber der Zweite gilt nichts. Gar nichts. Nur dem Sieger wir applaudiert. Ihm gehört der Ruhm.

Scott: Der Ruhm. Den fressen die Motten.

Wilson: Weshalb sind wir dann losgezogen?

Scott: Ich wollte ein Ziel erreichen, das mein Ziel ist. Land sehen, das noch keiner betreten hat.

Wilson: Außer Amundsen.

Bowers: Sieh es ein, Scott. Der Kampf um den Südpol ist entschieden.

Scott: Er beginnt erst.

Bowers: Der Südpol ist entdeckt.

Scott: Was nur beweist, dass es nicht unser Ziel war. Unser Pol wartet noch unentdeckt hinter dem Horizont.

Bowers: Uns reicht eine Niederlage.

Scott: Haben wir nicht ein Ziel? Bowers, Wilson.

Wilson: Hatten. (Er reißt eine Kiste auf.) Hier sind meine Steine. Seltene Steine. (Ein irres Lachen schüttelt ihn, als er zwei Steine vorzeigt.)

Granit, Sandstein. Sandstein, Granit. Alles schon bekannt. Wir haben uns mit dir lächerlich gemacht, Scott. Der erste Zirkus am Südpol, mit drei Clowns.

Scott: Verlierer sind immer lächerlich. So gesehen gibt es nur zwei Sorten von Menschen. Die einen und die Clowns. Doch wer kein Clown sein will, wird irgendwann unterliegen. (Die Sonne sinkt, der Wind nimmt zu. Wilson fällt unbemerkt zurück. Die Einöde verschluckt ihn.)

Bowers: Seit Stunden kein Wegzeichen.

Scott: Ich wollte abkürzen.

Bowers: Das ist unser Ende.

Scott: Ein neuer Anfang. Wir müssen die eingefahrenen Gleise verlassen.

Bowers: Nur sie geben Sicherheit.

Scott: Aber führen nicht zum Südpol.

Bowers: Du riskierst unser Leben.

Scott: Das ist der Preis.

Bowers: Er ist mir zu hoch.

Scott: Wir müssen ihn zahlen.

Bowers: Ich nicht. Ich habe Angst, Scott.

Scott: Daraus entsteht der Mut. Bowers: Ich will nicht mutig sein. Ich will leben.

Scott: Dann wirst du es verlieren. (Bowers setzt sich auf den Schlitten.)

Bowers: Ich zieh nicht weiter. (Scott hockt sich neben ihn.)

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Scott: Kein Weg ist im Alleingang zu schaffen.

Bowers: Du brauchst niemanden, Scott. Du hast deine fixe Idee vom Südpol. Und wer sie nicht teilt, den lässt du hinter dir. Wie Wilson.

Scott: Wilson ist nur etwas müde. Er holt uns bald ein.

Bowers: Und wenn er nicht kommt?

Scott: Wer einmal zum Südpol aufgebrochen ist, vergisst ihn nicht.

(Er spannt sich vor den Schlitten.) Wir wollen weiter.

Bowers: Ich nicht. Ich will leben. (Er geht in der Spur zurück, ohne dass es Scott bemerkt. Die Sonne sinkt hinter den Horizont, der Wind verstärkt sich.)

Scott: Als Junge bin ich jeden Tag den gleichen Weg zur Schule gegangen. Bis ich dachte – ‚Wenn du so weitermachst, kommst du aus den eingefahrenen Gleisen nicht mehr heraus.‘ Und so bin ich jedes Mal einen anderen Weg nach Hause gegangen. (Pause.) Er wurde immer länger. Schließlich führte er querfeldein. (Pause.) Aber es kam der Tag, da ich alle Wege kannte. Ich ließ meine Finger über die Karte wandern.

Immer weiter. Und da entdeckte ich ihn, den Südpol. Seitdem war ich besessen von diesem Ziel. Ein ganz neuer Weg tat sich auf. Ich habe das Ziel nicht mehr aus den Augen gelassen. Habe Schläge und Niederlagen einstecken müssen. Bin mit anderen gezogen und allein. Habe geliebt und die Bitterkeit des Hasses kennengelernt. Manchmal war der Südpol nahe, manchmal weit entfernt. Und als ich ihn erreichte, blieb mir nur die Enttäuschung. Es war schon einer vor mir da. Bis ich begriff, das ist nicht der Südpol. (Pause.) Wir müssen nach neuen Wegen suchen.

Müssen? Wir können es. (Finsternis umgibt ihn. Der Wind ist zum Orkan geworden.) Von Scott wird man sagen: ‚Er ist in seinen Schuhen gestorben.‘ (Nur Scotts Stimme ist noch zu vernehmen.) Ich habe immer gekämpft. Hab nie aufgehört damit. Wusste gar nicht, was das ist – aufhören.

Es waren viele junge Leute erschienen. Die Offene Arbeit schien wieder vollzählig zu sein. Auch Karl hatte man Urlaub gewährt. Der verabschiedete sich dann fröhlich von Georg. Sein Vers für 1989 stammte aus seinem Lieblingslied. Seinen Klassenstandpunkt hatte er wesentlich daraus gezogen, da sein Großvater Spanienkämpfer gewesen war: „Dem Faschisten werden wir nicht weichen, schickt er auch die Kugeln hageldicht.

Mit uns zieh’n Kameraden ohnegleichen, und ein Rückwärts gibt es für uns nicht.

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Die Heimat ist weit, doch wir sind bereit.

Wir kämpfen und siegen für dich, Freiheit.‘“ Dann sagte er: „Georg, alter Kamerad, ich weiß jetzt, wer der Faschist ist. Es gibt nur noch ein Vorwärts.“

Der Ausweg Wenn Georg Warner im Klosterwald und an der Neiße unterwegs war, richtete er es so ein, dass er pünktlich am Kreuz auf dem Felsen war.

Dabei wollte er sich den erfrischenden Lauf von Klara gönnen. Atemlos war sie nie. Dann standen sie schweigend etwa fünf Minuten beieinander und blickten hinauf zum Gekreuzigten. Das nannte sich „Meditation“.

Wie gewohnt eröffnete Klara das Gespräch. Sie fragte, was Georg Warner eben schreibe. Er hätte konsequent „Landvermesser K.“ anführen können. Tat er aber nicht. Er machte sich über jemanden Sorgen, den er schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte, Mephistopheles. Jetzt bot sich die Gelegenheit, darüber zu reden. So sagte er: „Ich befasse mich mit Faust.“ Er bekam geringschätzig zu hören: „Ach, Goethe.“ Um den ging es Warner zwar nicht, aber er wollte hören, was Klara an ihm zu kritisieren hatte. Es konnte einem dazu eine Menge einfallen, bis dahin, dass man den ganzen „Faust“ in seinem grenzenlosen Streben ablehnte.

Die Nonne stieg gleich am Beginn von „Faust“ ein, dem Prolog im Himmel. Der findet sich bei Hiob. Dieser wird von einem rechthaberischen Gott verwettet, weshalb ihn Hiob dann zu Recht heftig angreift.

Erst wird ihm alles genommen, seine Kinder werden getötet. Er hält aber an Gott fest. In einer zweiten Runde mit dem Satan wird er in dessen Hand gegeben und von Kopf bis Fuß mit Aussatz gestraft. An sich eine widergöttliche Geschichte, zumal Gott und der Satan ebenbürtig sind. Warner hatte geschrieben: „der teufel und gott zum verwechseln ähnlich“.

Die Nonne sagte: „Mephistopheles verspottet Gott. Im Monolog am 452

Ende des himmlischen Gesprächs sagt er dann deutlich, wer er ist: ‚Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern Und hüte mich, mit ihm zu brechen.

Es ist gar hübsch von einem hohen Herrn, So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen.‘“ Jetzt war Warner in seinem Element: „Goethe hat das‚ Volksbuch von Doktor Faustus‘ ausgebeutet, aber hinsichtlich Mephistopheles’ verdreht. Der ist nicht der Teufel, sondern sein Widerpart. Aber er ist ein höllischer Geist. Und darin liegt seine Tragik, denn als Mensch wäre er einer der Barmherzigsten.“ Klara schaute ihn von der Seite her an und konstatierte: „Das sagen Sie als Dichter.“ Georg Warner echauffierte sich: „Nein, als sein …“ Er hatte gerade noch die Bremse gezogen. „Freund“, hatte er sagen wollen. So konnte er ausführen: „Mephistopheles sehnt sich von Anfang an nach dem Heil, das ihm durch seine höllische Geburt verwehrt ist. Das bestimmt die ganze Person.“ Klara schob nur kurzweg ein: „Da muss ich wohl etwas überlesen haben.“ Georg Warner wurde noch erregter: „Das tun die meisten Leser, aber das ist mir unerklärlich.“ Klara forderte ihn auf: „Dann geben Sie mir den Schlüssel an die Hand.“ Warner war dazu eilfertig bereit: „Mephistopheles sagt bei seiner Vorstellung: ‚Wenn ich als ein Mensch geboren wäre, so wollte ich Tag und Nacht meine Hände mit Danksagung gegen Gott im Himmel aufheben, dass er seinen Sohn mit dem menschlichen Fleisch und Blut bekleidet hat; sich des menschlichen Geschlechtes annimmt, dass er es von des Todes Gewalt erlöse; der Teufel ärgster Feind worden und dem Menschen das ewige Leben gibt; dagegen muss der Teufel in der Hölle wiederum büßen, was er verderbet hat.‘“ Die Nonne Klara antwortete nicht sofort. Etwas stimmte hier nicht.

Der Dichter hat immer ein Stück Papier zwischen sich und seinem Schreiben. Dieser Georg Warner aber besaß keine Distanz. Es war so, als hätte er seinen Mephistopheles erlebt. Und der könnte durchaus ein Freund sein, um den er bangte. Die Nonne wusste, dass sie eben zu einem der geheimsten Wünsche von Warner vorgestoßen war. Alles hing von ihrer Antwort ab. So sagte sie: „Pfarrer Warner, Sie möchten, dass Mephistopheles erlöst wird.“ Seine stumme Reaktion sagte, dass er das für unmöglich hielt. Die Nonne wollte ihm Zuversicht geben: „Denken Sie an die Schächer, die mit Jesus gekreuzigt wurden. Die Verbrecher haben Todsünden be453

gangen. Einer bittet Jesus, seiner zu gedenken, wenn er in sein Reich kommt. Christus antwortet: ‚Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.‘“ Klara eilte diesmal nicht davon. Sie zog sich still von Georg Warner zurück. Der blickte nach oben. In dem verlöschenden Tageslicht war es ihm, als wenn Mephistopheles neben Christus am Kreuz hing.

Der Gewerbeschein Es war der 3. Februar 1989. Georg Warner konnte es nicht lassen, mir immer wieder von diesem Tag zu erzählen. Es kam ihm vor, als habe er den Lohn für seine schriftstellerischen Mühen erhalten und sich ein Weg aufgetan.

Er war mit dem Bus um acht Uhr morgens nach Görlitz gefahren.

Er wollte einkaufen, aber die Geschäfte öffneten erst um neun. Er ging die Berliner Straße hinab. Schmutzige Schneehaufen türmten sich auf dem Bürgersteig. Der Winter drückte aufs Gemüt. Warner war weder so noch so gestimmt, er wollte lediglich einkaufen. Aber die Aussicht, noch eine Stunde auf den Bürgersteigen herumzurutschen, machte ihn leicht trübsinnig.

Am Ende der Berliner Straße befand sich der Rat des Kreises. Bevor Warner ihn erreichte, bemerkte er erstmals, dass das Konsistorium direkt danebenlag. Das passte. Warner hätte sich dort aufwärmen können und die Zeit totschlagen können, indem er einige dumme Fragen über sich ergehen ließ. Aber dort saßen seine „Fürsten“. Und das Sprichwort sagt: „Gehe nicht zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst.“ Im Rat des Kreises lag seit undenklichen Zeiten sein Antrag auf ein Gewerbe. Er hatte ihn als Protest gegen das Veröffentlichungsverbot gestellt, das ihm wegen des „Grünen Requiems“ auferlegt worden war. Jetzt war ihm danach, einmal nachzufragen. Er steuerte die Finanzabteilung an, der auch der Bereich „Liegenschaften“ zugeordnet war. Dessen Leiterin hatte er oft in Deutsch-Ossig getroffen. Sie fragte ihn stets scharf nach der Zukunft, als hätte sie einen sechsten Sinn. Der stellvertretende Vorsitzende der Finanzverwaltung war jener Mann, den Warner sehr sachlich bei der Verkündigung des Falls von Deutsch-Ossig erlebt hatte.

Seine Untergebenen riskierten in Deutsch-Ossig eine „große Lippe“.

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Die von den Liegenschaften sprach gegenüber Warner gelegentlich von Unrecht. Es war nicht zu übersehen, dass in der Finanzabteilung ideologische Absetzbewegungen im Gange waren. Was Warner damals noch nicht wusste, war, dass die Genossen anhand der Zahlen bereits sahen, dass die DDR bankrott war.

Die Leiterin der Liegenschaften war stets zynisch. Vor Kurzem erst war er ihr in Deutsch-Ossig begegnet. Sie schleuderte ihm entgegen: „Planen Sie keine Revolution, Herr Warner. Gehen Sie einfach mit erhobenen Händen hinaus und ziehen den leeren Geldkasten hinter sich her, in dem nur noch die Winde wehen. Rufen Sie nicht mehr: ‚Wer hat Lust, davonzulaufen!‘, sondern: ‚Wann kommt die deutsche Einheit!‘“ Dann lachte sie schallend und wischte ihre Aussage weg.

Georg Warner ging durch ein schönes Gründerzeithaus, stieg die Treppen hinauf, bis er die Gewerbeabteilung gefunden hatte. Er kannte die üppige Frau nicht, wohl aber sie ihn. „Herr Warner, warum kommen Sie erst jetzt?“, rief sie. Wenn man an langes Warten gewöhnt ist, kann eine solche Frage nur verblüffen.

Sie reichte ihm mehrere ausgefüllte Bögen herüber. Dann sagte sie: „Sie haben für Ihr Gewerbe ‚Dramatiker‘ angegeben. Das ist, wie Sie selbst wissen, zwiespältig. Als Beruf steht jetzt ‚Schriftsteller‘ da, was ja alles beinhaltet, was geschrieben wird.“ Warner erklärte sich einverstanden und unterschrieb. Die Frau sagte: „Herr Warner, ich weiß um Ihre schwere Verantwortung in Deutsch-Ossig und dass Sie da nicht herauskönnen. Sie lösen Ihr Gewerbe durch eine Mitteilung aus, wenn es Ihnen möglich ist, den Beruf zu ergreifen.“ Nach fünf Minuten stand Warner wieder auf der Berliner Straße. Er dachte bei sich: „So einfach ist das also. Man tritt einfach ein, wurde schon lange erwartet und auf einmal hat man den unerreichbaren Beruf in der Tasche.“ Spontan fiel ihm ein, wie er sich gelegentlich selbst klassifiziert hatte: „Man nennt mich hier den Denker.“ Es hatten aber andere gedacht. Vielleicht war es auch so, dass sie fanden, er solle sich endgültig offenbaren.

Als er am Konsistorium vorbeikam und die trutzigen Mauern emporblickte, kam ihm ein: „Ihr denkt, mich in der Hand zu haben, jetzt habe ich euch in der Hand.“ Der Winter verging und das zeitige Frühjahr begann. Georg Warner kam nicht mehr vom Friedhof – nun in Görlitz und Kunnerwitz – herunter und aus dem Krematorium heraus. Die Leute starben „wie die Fliegen“. Wer nicht ausziehen wollte, blieb einfach da. Das betraf fast alle ehemaligen größeren Bauern. Sodann die ehemaligen Flüchtlin455

ge. Einer war in der Nacht nach seiner Umsiedlung in den Weinhübler Deutsch-Ossig-Ring gestorben. Ein anderer hatte sich vorher erhängt.

Georg Warner war in seinen Predigten vor allem mit Nachrufen befasst.

Das Mitleiden zerrte an ihm. Die Wundrose blühte wieder einmal, er hatte 40 Grad Fieber. Und weibliche Tröstung war nicht in Sicht. Genovevas Briefe warnten eindringlich vor der Lage in der DDR, verbreiteten Endzeitstimmung. Wie wenn man ins Kino geht, einen schrecklichen Film sieht und dann meint, er sei real.

Einen Tag vor seiner Erkrankung war Warner noch im Rat des Kreises gewesen. Er betrieb Briefwahl. Wählte einen von der Bauernpartei in Zodel und Ludwigsdorf und bescherte so seiner ehemaligen Vikariatsheimat einen Abgeordneten im Kreistag und ein Ratsmitglied. Der Grund dafür, dass Warner zum frühestmöglichen Zeitpunkt wählen ging, war Resignation. Er hatte im Pfarrkonvent geäußert, dass er nicht an der Wahl teilnehmen werde. Daraufhin wurde er ins Konsistorium bestellt und ein Oberkonsistorialrat beschied ihm: „Bruder Warner, Sie stehen schon vor dem Erschießungskommando. Sie brauchen nur noch Ihr Hemd zu öffnen.“ Ach, waren die feige. Ihrer Feigheit wollte Warner Genüge tun.

Auf dem Eigen Georg Warner hielt zu Pfingsten noch einmal mit der Gemeinde Abendmahl. Er erinnerte an das Jahr zuvor und bewertete den Zeitraum, der dazwischen lag. Er nahm sich als Beispiel einen Mann, der eine gespaltene Zunge hatte und die Lüge in Wahrheit verkehrte. Den Schluss setzte er wie ein Orakel: „Lasst uns nichts Falsches sagen, denn es wird immer später.“ Am 22. Mai, dem Jahrestag der Entwidmung, saß Pfarrer Warner in seinem Arbeitszimmer. Auf dem Tisch standen die Abendmahlsgeräte, die er in Gebrauch gehabt hatte: Kelch, Kanne, Hostiengefäß, Hostienteller. Hinzu kamen die ebenfalls entwidmeten alten Geräte. Ein kleiner Kelch war von der Partnergemeinde gespendet worden, damit Warner das Sterbesakrament geben konnte. Eine halbe Stunde später erschien ein Mitarbeiter des Konsistoriums. Sie unterzeichneten das Übergabeprotokoll, das Hab und Gut der Gemeinde hin zur Erlösung wurde ein456

gepackt. Der Mitarbeiter verabschiedete sich.

Georg Warner war so elend zumute wie selten zuvor. Nach Lage der Dinge würde er kein Abendmahl mehr spenden, aus „seinen“ Gefäßen mit Sicherheit nicht. Er blieb den ganzen Tag über am Tisch sitzen. Er lauschte der Standuhr und ließ den Tag mit deren Schlägen verrinnen.

Dann raffte er sich auf und fuhr zum Kloster, wanderte ins Neißetal.

Warner war gespannt, wie ihm die hellsichtige Nonne Klara begegnen würde. Als sie neben ihm stand, bemerkte sie, dass er weder betete noch meditierte. Ihr erster Einwurf war überraschend: „Die Äbtissin Lea kennt Sie. Sie hat Ihren Werdegang und Ihr Tun verfolgt. Sie weiß, dass Sie sich in Ausweglosigkeit und großer Bedrohung befinden. Die Äbtissin trägt den Bischofsrang und ist allein dem Papst verpflichtet.

Sie sollten sich unter ihren Schutz begeben. Wenn Ihnen etwas zustößt, erfährt der Heilige Vater davon.“ Georg Warner wollte dem eben Gehörten keinen Glauben schenken.

Wie kam der Papst dazu, einen evangelischen Pfarrer zu schützen, der sich obendrein als „Weltkind“ erwiesen hatte? Doch eine solche Diskussion wollte er mit Klara nicht führen. Er fragte stattdessen, wie er den Schutz der Äbtissin erlangen könne.

Die Nonne gab präzise Auskunft. Sie hatte wohl mit der Äbtissin gesprochen: „Die Hochfläche, die sich hinter dem Neißerücken anschließt, wird ‚das Eigen‘ genannt, mit Dörfern und einer Stadt. Es war einst Klostereigen. Die Gemeinden sind sowohl katholisch als auch evangelisch. Insgesamt ist die Äbtissin immer noch Schutzpatronin, um ihre Hand über die Menschen auf dem Eigen zu halten.“ Die restliche Zeit verbrachten sie in Schweigen, dann lief Klara dem Kloster zu. In Ostritz angekommen, stand Warner eine Weile an der Kreuzung. Ihm gegenüber erhob sich ein steiler Berg. Er hatte sich gelegentlich gefragt, wo er wohl hinkommen würde, wenn er da hinauffuhr. Jetzt tat er es. Eine weite Landschaft öffnete sich, die etwas ausgeräumt wirkte. Hier wurde intensiv Landwirtschaft betrieben. Bald war zu sehen, dass das Eigen klar durch bewaldete Höhenzüge begrenzt war.

Warner fuhr durch die Dörfer und das Städtchen Bernstadt. Die Dörfer waren hübsch, weniger dem Verfall preisgegeben als andere. Das lag an den Fachwerkhäusern, die sie prägten. Das wirkte freundlich. Dittersbach gefiel Warner sehr gut. Aber er hatte das Gefühl, dass er sich verkriechen sollte. Ganz am Ende des Eigens, hinter dem Kleinen Nonnenwald und vor dem Königsholz mit dem Sonnenhübel lag Neundorf.

Hier waren die Menschen zusammengeblieben. Obwohl entlang der kleinen Straßen gesiedelt worden war, schien es, als wohnten alle um 457

ein imaginäres Zentrum miteinander. Eine Kirche besaß der Ort nicht.

Georg Warner stieg aus und „eroberte“ Neundorf zu Fuß. An der unteren Seite stieß er auf ein kleines Fachwerkhaus, so putzig, wie für einen Dichter geschaffen. Das Untergeschoss mit dem typischen Umgebinde und der ehemaligen Webstube war aus schwarzen Balken gebaut.

Die Fensterläden waren geöffnet und wirkten einladend. Das Fachwerk des Obergeschoss war filigraner mit seinen kleinen Feldern und hatte etwas Anmutiges. Eine Wiese erstreckte sich hinauf zur Straße, 50 Meter vom Haus entfernt lag ein Weiher. „Oh, ihr Frösche und Mücken“, dachte Warner. Aber der Weiher gehörte unbedingt dazu. Warner fühlte sich mit einem Mal den Romantikern des 19. Jahrhunderts verbunden. Sonderlich viel Romantik hatte er in seinem bisherigen Leben und Schreiben nicht verbreitet.

Das Haus schien unbewohnt. Das bestätigte ihm ein Bauer und schickte ihm zu einem Enkel der ehemaligen Besitzerin. Mit klopfendem Herzen fragte Warner, ob das Haus zu kaufen sei. Der Mann nannte ihm eine lächerlich geringe Summe, die für Georg Warner trotzdem zu hoch war. Dessen ungeachtet tat er seine Absicht kund, Grundstück und Haus zu kaufen. Ein Vertrag wurde aufgesetzt, der ihm das Vorkaufsrecht sicherte.

Bald danach kündigte sich Besuch an. Die Notarin des Braunkohlekraftwerks Oberlausitz erschien, mit ihr die Leiterin der Liegenschaften, diesmal nicht aufmüpfig. Die Notarin tat ihre Sorge kund: „Herr Warner, Sie sind der einzige Deutsch-Ossiger, der noch keine Bleibe hat. Es wird aber bald notwendig sein, dass Sie ausziehen. Zwingen Sie uns bitte nicht dazu, Ihr Haus zwangsräumen zu lassen.“ Warner hatte schon 1986 im sogenannten Erstgespräch angegeben, dass er Eigentum erwerben wolle. Er hatte geahnt, dass er bis zum Schluss hier ausharren und dann wohl in keinem Pfarrhaus Unterkunft finden würde. In eine Einraumwohnung im Weinhübler Plattenbau wollte er nicht ziehen. Das entsprach nicht seinen Lebensgewohnheiten.

Die Notarin sagte: „Wie Sie wissen, ist bei der Schätzung des Pfarrhauses auch Ihre jahrelange Arbeitsleistung mit eingeflossen. In den nächsten Tagen wird Ihnen eine Summe auf Ihr Konto überwiesen.“ Das löste Georg Warner die Zunge: „Ich ziehe nach Neundorf auf dem Eigen.

Ich habe mir bereits das Vorkaufsrecht für ein kleines Umgebindehaus samt Grundstück gesichert.“ Die Frauen saßen kerzengerade. Dann schrieben sie vor Erleichterung in hohem Tempo. Warner gab gleich die Hausnummer mit an. Von den „Liegenschaften“ kam: „Neundorf liegt im Kreis Löbau. Ich werde mich um alles kümmern.“ Dann wurde sie 458

doch süffisant: „Schließlich sind Sie, Herr Warner, ein ‚Fall‘, der uns sehr am Herzen liegt.“ Die Notarin war noch nicht beruhigt und fragte: „Was soll ich als Datum Ihres Auszuges angeben.“ Warner entgegnete: „Den 31. Juli.

An diesem Tag ist Exupéry 1944 abgeschossen worden. Ich habe nach seinen Erzählungen ‚Die Windrose‘ geschrieben und aufgeführt.“ Das überforderte die Frauen. Aber das Datum wurde festgehalten und dick unterstrichen.

Die Notarin wusste, dass Warner für überraschende Wendungen gut war. So legte sie ihm ein Formular vor, in dem er seinen Willen zum Auszug aus Deutsch-Ossig am genannten Tag schriftlich fixierte.

Sie zeichnete gegen. Die Frauen verabschiedeten sich und gingen beschwingt von dannen, als hätten zentnerschwere Lasten auf ihrer Seele gelegen. Diesen Warner, der den Staatsorganen und der Öffentlichkeit so viele Provokationen hatte zuteilwerden lassen, würden sie bald (für immer?) loswerden. Mit Sicherheit verschwand er in den Kreis Löbau.

Als Warner das nächste Mal auf sein Konto schaute, erlebte er Unerwartetes. Es war Geld überwiesen, und der für seine Verhältnisse äußerst stattlichen Summe sah er an, dass der Schätzer die „kleinen Roten“ und wohl auch die „großen Schwarzen“ tatsächlich nicht leiden konnte.

Warner kaufte zügig Haus und Grundstück. Es blieb ihm sogar noch eine Summe übrig, für die er einen alten Trabant erstehen konnte. Er ließ ihn aufmöbeln, indem die einzigen Eisenteile, die Schweller, rekonstruiert wurden. Ein wertvolles Teil, so wichtig wie der Motor, wurde angebaut, eine Anhängerkupplung. In der sozialistischen Wartegemeinschaft war es wichtig, das Erstandene auch transportieren zu können.

Georg Warner begann an seinem Haus zu werkeln. Innen ließ er alles so, wie die alte Frau vor ihm gewohnt hatte. Am meisten beeindruckte ihn der Küchenofen mit seinen Herdplatten und umlaufenden Kacheln, die dafür sorgten, dass die Wärme erhalten blieb. Auch eine Pfanne für warmes Wasser war eingebaut. Auf seiner solchen hatte er als Vierjähriger bei seiner geliebten Oma gesessen. Ja, alles war so anheimelnd, wie es bei seiner Großmutter gewesen war. Im Obergeschoss wollte er schlafen. Welch ein Duft von trockenem Holz. Dort war auch die Kornkammer gewesen. Durch die jahrelange Nutzung lag die Erinnerung an reifes Getreide noch in der Luft.

Warner schaffte seine Habseligkeiten nach Neundorf und musste feststellen, dass er weit mehr besaß, als er geschätzt hatte. Den großen geborgten Hänger überlud er bei der ersten Fuhre und kam gerade so den Ostritzer Berg hinauf. Danach tastete er sich über sanfter ansteigende 459

LPG-Straßen heran.

Bei der äußeren Gestaltung seines Hauses war er mit Eifer bei der Sache. Er strich die Balken und das Fachwerk mit Petroleum, bis das Holz in wunderbarem Schwarz leuchtete. Die Fächer weißte er und die Fensterläden strich er in leuchtendem Grün. Er blieb nicht im Haus, sondern wohnte nach wie vor in Deutsch-Ossig. Erst am 31. Juli wollte er ganz nach Neundorf ziehen.

Die Bäuerliche Handelsgenossenschaft in Hagenwerder, gleich neben dem Bahnhof, war nun öfter sein Ziel. Es gab keinen Kalk und hatte es in diesem Jahr auch bisher, obwohl es schon weit fortgeschritten war, noch nicht gegeben. Ein Zufall brachte Warner näher an das auch für ihn wichtige begehrte Baumaterial. Der Leiter der BHG hatte sich an ihn gewandt. Ob er, falls er losen Kalk statt welchen in Säcken bekomme, ihn im Nebengebäude des Deutsch-Ossiger Pfarrhauses zwischenlagern dürfe. Warner hatte selbstverständlich zugestimmt.

Eben benötigte er Gehwegplatten aus Beton, die in Hagenwerder hergestellt wurden. Einmal im Monat war Ausgabe. Die ersten Kunden fanden sich um sechs Uhr morgens vor der BHG ein, obwohl erst um neun Uhr geöffnet wurde. Auch hier bestrafte die Zu-Spät-Gekommenen das Leben, oder was es sonst war.

Warner befand sich in aussichtsreicher Position. Die sozialistische Wartegemeinschaft diskutierte hin und her. Binnen drei Stunden waren nahezu alle Fassetten der Mangelwirtschaft aufgelistet. Vor allem über den fehlenden Kalk wurde lamentiert. Kurz vor neun trat die Kassiererin heraus. Die Gespräche verstummten, da man auch ihr Macht zumaß. Sie blickte die Reihe entlang, entdeckte Warner und rief: „Sie sollen zum Chef kommen. Er hat 20 Sack Kalk für Sie.“ Warner trat auf Zehenspitzen aus der Reihe und ging ins Büro. Die Gesichter in der Warteschlange waren beredt: „Hat Beziehungen“, „Hat so viel Geld, dass er schmieren kann“, „Ist ein Verwandter“, „Gehört zur Stasi.“ Das dachten freilich nur die von weiter her Angereisten. Einer der Einheimischen klärte auf: „Das ist Pfarrer Warner.“ Die anderen Ortsansässigen orakelten jetzt, ob in der Verwandtschaft des BHG-Leiters jemand gestorben sei. Nach altem Brauch erhielt der Pfarrer für eine Beerdigung unter der Hand kleine materielle Zuwendungen, bei Eiern angefangen. Hier musste es sich um eine besonders zu Herzen gehende Beerdigung gehandelt haben.

Für Warner hatte die Zahl 20 nun einen besonderen Charakter bekommen. Er bezahlte seine 20 Sack Kalk, lud sie hinter der BHG auf und fuhr nach Neundorf. Erst am Nachmittag, als sich die Schlange in 460

Nichts aufgelöst hatte, holte er seine morgens gekauften 20 Gehwegplatten ab.

Klara war beglückt, auch über sich selbst. Neben dem Gebet, Georg Warner konnte nun begründet danken, drehten sich ihre Gespräche um Praktisches und Georg kam es vor, als hätte Klara am liebsten mitgewerkelt.

Ein anderer Kontakt fiel ihm wesentlich schwerer. Warner hatte sich seit längerer Zeit nicht an Genoveva gewandt. Sie schrieb kurze Briefe mit der wiederkehrenden Frage: „Warum meldest Du Dich nicht?!“ Warner beschrieb das Eigen. So, wie er es empfand, und das sollte Genoveva beruhigen. Dann teilte er ihr mit, dass er bald hier leben würde.

Er schilderte das Haus und wie glücklich er sei. Er gab ihr die Adresse an, die ab dem 31. Juli gelte. Den Brief schloss er mit den Worten: „Und dann warte ich nur noch auf Dich …“

Auszüge Am 31. Juli war die Pfarrwohnung stubenrein. Warner spielte mit den Schlüsseln. Hielt schließlich den großen Haustürschlüssel in der Hand.

Es fiel ihm ein, ihn zu bedichten. Den runden Tisch und einen Stuhl hatte er sich für die letzte Fuhre aufgehoben. Jetzt setzte er sich und begann zu schreiben: für die eine tür werfe ich die schlüssel ins haus himmel kreuz donner für die himmelfahrt werfe ich die tür ins schloss Er schaffte Stuhl und Tisch hinunter und lud sie in den Anhänger. Sein Blick traf die großteils schon leeren Häuser. Ein Fenster war eingeschlagen, die Gardine wehte heraus. Warner blickte die Straße hinunter zur 461

Kirche. Ein Gerüst war gestellt, bald würde die Turmkrönung abgenommen werden. Hier hatte Georg Warner zwölf Jahre lang gekämpft. Er ging noch einmal ins Haus, setzte sich im ehemaligen Arbeitszimmer auf den Fußboden und schrieb seine Abschiedszeilen: „Ich will den Namen Gottes loben mit einem Lied und will ihn hoch ehren mit Dank.

Durch ihn uns frohe Befreiung geschieht, dass wir an ihm bleiben ein Leben lang.“ verplant verlassen und verdammt zu kreuz gekrochen allesamt verkohlt verladen und verloren zum schächertode auserkoren verstummt verblutet und verreckt am dritten tage auferweckt Jetzt konnte er gehen. Unterwegs fand er, dass er in ein neues Leben aufbrach. Dass er das tun würde, hatte er niemandem gesagt. Seine Leute standen nun vor verschlossenem Haus. Es öffnete niemand. Auch Tage später nicht. Hilde war schon nahe daran, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Dann verbreitete sich in der Grube das Gerücht, Pfarrer Warner sei ausgezogen. Wohin, wusste keiner.

Hilde ging schließlich zielstrebig einer Spur nach, und die führte zur Notarin. Von ihr erfuhr er, dass Herr Warner nach Neundorf verzogen sei. Ja, deren gab es viele. „Wohl aber nur eines auf dem Eigen“, bekam er zur Antwort. Zusammen mit Karl fuhr Hilde dorthin. Sie durchstreiften den Ort. Dann sahen sie Georg auf einer Hausbank sitzen, als hätte er ganz und gar nichts zu tun.

Der erzählte, wie er zu dem Haus gekommen war. Auch, dass am Ende des Monats Schluss mit Pfarrer Warner sei. „Ab 1. September bin ich freier Schriftsteller.“ Hilde wollte wissen, wie es mit der Offenen Arbeit weitergehen solle. „Gar nicht“, sagte Georg bestimmt, „es gibt kein Deutsch-Ossig mehr, somit auch keine Offene Arbeit und keine Spielgruppe.“ Der Schnitt konnte nicht radikaler sein, doch Georg Warner hatte sich entschieden, vor Wochen schon. Wenn er sich lösen und einen Neuanfang wagen wollte, musste sein Bruch mit der Vergangenheit im Revier alles umfassen. Deshalb hatte er niemanden an seinem persönlichen Abschied Anteil nehmen lassen. Die beiden Freunde hatten das Gefühl, dass sie gehen sollten. Karl sagte noch, er würde wie462

derkommen, dann wolle er mit Georg eine kleine Reise unternehmen.

Warner fiel ein, dass er etwas Wichtiges aufgeschoben hatte. Er ging ins Haus und setzte sich an den Küchentisch. Dann schrieb er seinen Antrag auf Entlassung aus dem Dienst. Es kamen ihm viele Begründungen ein, aber er beließ es bei dem Fakt.

Karl war schneller wieder da als erwartet. Sie fuhren mit dem Trabant nach Hirschfelde. Karl erörterte die politische Situation, dass Polen schon frei sei, Ungarn seine Grenzen öffne. Die Sowjets hatten sie ziehen lassen. Karl wendete ein: „Das wird mit uns nicht geschehen, Georg. Aber der 40. Jahrestag der DDR muss der letzte sein. Nach dem 7. Oktober wird gekämpft.“ Ein solches Szenario hatte Warner längst befürchtet. Karl wollte Georg zeigen, wie man sich vorbereiten konnte. Hinter Hirschfelde lag eine Spülkippe. Die Asche aus dem Kraftwerk wurde verflüssigt und auf die Kippe geleitet. Karl arbeitete jetzt hier.

Sie gingen hinauf. Ein unbeschreiblich schlammiger Teich war zu sehen. Um diesen herum standen die Bäume wie Gerippe. In Erinnerung an die Rutschung P konnte sich Warner beim Bruch der Dämme eine gigantische Schlammlawine vorstellen. Durch eine Deckung von Gebüsch führte Karl seinen Freund ans Ufer. Dann langte er mit einem Haken in die Brühe. Er zog eine Kiste halb heraus und sagte: „Waffen, Maschinenpistolen vom feinsten, wasserdicht.“ Er ließ die Kiste zurückgleiten.

Georg Warner sah Schreckensbilder vor sich. Ihm wurde übel. Karl ins Gewissen zu reden, war wohl zwecklos. Der brachte von sich aus den größten Einwand: „Wir werden uns nicht wehrlos abschlachten lassen.“ Die Konspiration war schon weit gediehen.

Die Fahrt ging jetzt zur Neiße zwischen Hagenwerder und Deutsch-Ossig. Karl wies auf einen Baum hin, der die Form einer Kugel hatte. Daran hatten sich schon 1945 die Grenzgänger orientiert, um noch Eigentum von der östlichen Seite herüberzuholen. Die Braunkohle kam hier so hoch, dass sich eine Furt bildete. Karl lüftete sein Geheimnis um den Kugelbaum: „Hier bringen Polen in der Nacht die Kisten herüber.“ Nachdem Georg in alles eingeweiht war, wollte Karl zu Fuß nach Hagenwerder zurückgehen. Georg sollte mit der Abfahrt noch eine Weile warten. Der begab sich zum Kugelbaum. Plötzlich trat Mephistopheles hervor. Es stand also wieder einmal etwas an. Warner war überglücklich, ihn zu sehen. Mephistopheles aber hatte seine Gefühle im Zaum und sagte ernst: „Es will einer sein Versprechen einlösen.“ Ohne weitere Erklärung ging es nach Deutsch-Ossig, Georg Warner 463

fuhr auf den Hof des Pfarrhauses. Mephistopheles holte Schlüssel hervor und öffnete die Hintertür. Gleiches tat er vorsichtig mit der Vordertür. Er instruierte Georg: „Ich muss erst in einem Bogen auf die andere Straßenseite. In fünf Minuten öffnest du die Tür, bleibst aber dahinter stehen.“ Warner fragte sich, um was für Spiel es sich hier handeln könnte. Als die Zeit abgelaufen war, öffnete er die Tür. Von der anderen Straßenseite fiel ein Schuss, dann fuhr die Kugel in die Tür. Warner fuhr zusammen.

Da nicht weitergeschossen wurde, lugte er vorsichtig hinter der Tür hervor. Er sah, wie Mephistopheles Hauptmann Kumpfe vor sich her führte. Er hielt ihm ein Stöckchen ins Genick, das dieser für den Lauf einer Pistole halten musste. Vor der Tür angekommen, nahm er Kumpfe die Pistole ab, entfernte das Magazin und nahm die Kugel aus dem Lauf.

Dann gab er dem Hauptmann die Pistole zurück. Er redete eindringlich auf ihn ein, aber Warner konnte nichts verstehen. Schließlich rannte Kumpfe Richtung Kirche davon, wo sein Lada stand.

Mephistopheles kam ins Haus und schloss die Tür ab, dann die Hintertür. Georg fragte ihn, was Kumpfe so erschreckt habe. „Ich habe ihm geschildert, wie es für ihn in der Hölle aussieht“, sagte Mephistopheles.

Dann stieg er ins Auto. Er wollte offensichtlich mitfahren. Georg erkundigte sich, wohin er wolle. „Zu dir“, gab der Geist zur Antwort, „ich werde ab jetzt bei dir wohnen.“ Obwohl sich Georg freute, seinen alten Gefährten wieder bei sich zu haben, gab ihm dessen Absicht Rätsel auf. Mephistopheles erklärte: „Was denkst du, was der alte Mephistopheles mit Kumpfe getan hätte.

Hochgeworfen und in der Luft zerrissen.“ Georg wurde aus der Rede nicht schlau. So setzte Mephistopheles hinzu: „Keine höllischen Kräfte mehr.“ Auf der Fahrt nach Neundorf erzählte er, dass ihn der Teufel fristlos entlassen habe. Zuvor hätte er ihm alle seine „Verdienste“ unter die Nase gerieben, um dann zusammenzufassen: „Du hast meine schöne DDR kaputtgemacht.“ Die rächte sich erst einmal furchtbar, und zwar an Karl. Der wurde abgeholt und geradewegs ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen gebracht. Da konnte man freilich sagen: „Wen der Teufel holen will, den holt er.“ Mephistopheles gab sich mit der Dachkammer zufrieden. Noch vor der Morgendämmerung saß er auf der Hausbank. Dann verfolgte er in höchster Anspannung den Aufgang der Sonne. Das wiederholte sich jeden Tag. Als Georg einmal belustigt sagte, „Faust“ sei jetzt nur noch ein 464

Märchen, antwortete Mephistopheles: „Goethe. Komm mir nicht mit dem. Ich bin so berühmt, dass ich sogar in der Bibel stehe.“ Um das Buch Hiob konnte es sich nicht handeln, denn dort wettet der Satan.

Wer wollte dann dieser zum Menschen gewordene Höllengeist sein?

Der verschlüsselte die Erkennung und sagte: „Steht im Buch des Propheten Hesekiel.“ Der bibelfeste Georg Warner musste eine Weile suchen, bis er die Stelle gefunden hatte. Hesekiel hatte die Hälfte seiner Prophezeiungen schon hinter sich, bis da von einem stand, den der Herr straft: „Weil sich dein Herz überhebt, als wäre es eines Gottes Herz.“ Deshalb habe er ihn „zu Boden gestürzt“, habe ihn untergehen und nicht mehr hochkommen lassen. Warner klappte überrascht die Bibel zu.

Es geschahen Merkwürdigkeiten. Ein Witz erzählte von dem Insassen einer Nervenheilanstalt. Als der Direktor nach ihm gefragt wird, sagte er: „Der wollte abhauen.“ Da gehöre man aber ins Gefängnis, meint der andere. „Schon“, meint der Direktor. „Aber die Flucht geschah nach Polen.“ Jetzt hätte die Anstalt angesichts der Massenflucht nicht mehr ausgereicht.

Es musste sich DDR-weit herumgesprochen haben, dass der beste Ort zur Flucht das Kloster Marienthal sei. Dort befand sich wegen einer früheren Mühle und einem Sägewerk ein breites Wehr. Darüber ließ sich nachts zwar nicht trockenen Fußes, aber dennoch leicht die Neiße nach Polen überqueren. Warschau und Prag meldeten Ankünfte der Flüchtenden. Täglich wurden die Schlangen der abgestellten Autos auf allen Wegen zum Kloster hinab länger. Die Autokennzeichen zeigten, dass sich hier die Republik ein Stelldichein gegeben hatte.

Georg Warner und Mephistopheles hockten missmutig am Wehr und schauten nach Polen. Sie waren allein. Ihre Lage konnten sie nicht recht deuten. Grimmige Scherze flogen hin und her. Georg Warner sagte, er komme sich vor wie ein Zwitter. Mephistopheles setzte dagegen: „Und ich wie eine Zelle, die sich teilt. Dann gäbe es zwei Unglückliche von meiner Sorte.“ Nicht, dass er der Hölle nachtrauerte. Aber als Mensch zu leben, war für ihn überraschend beschwerlich.

Dann rechnete sich jeder aus, welche Chancen er vertan hätte. Der aus dem Dienst entlassene Pfarrer, jetzt Schriftsteller, fand, er hätte gleich in Urk bleiben sollen. Was danach kam, war der Mühe nicht wert gewesen. Mephistopheles beklagte seine Gewissenhaftigkeit, das blöde Boot wieder zurückgebracht zu haben statt auf Bornholm zu bleiben.

Plötzlich sprang er auf und lief zu einem Auto. Dann hob er einen auf dem Weg liegenden Nagel auf und zerkratzte den Lack. Es war Kumpfes 465

Lada. Mephistopheles wollte sich über den Hauptmann empören, aber er rang nur immer wieder nach Luft. Auch bei Georg setzte Schnappatmung ein. Als sie gingen, entfuhr es Warner: „Der Bursche wird drüben untertauchen und irgendwann als feiner Mann zurückkehren. Von seiner Vergangenheit wird er dann nichts mehr wissen wollen.“

Wunder Mit dem Tag der Republik wurde alles anders. Im Fernsehen sah man die Repräsentanten der Arbeiter- und Bauernmacht. Sie lächelten und lachten fackeltragenden Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend zu.

An ihrer Seite ein ernster Michail Gorbatschow. Einige Stunden später waren die Gesichter erstarrt und Gorbatschow lächelte. Er hatte die ersten Tumulte in Berlin dazu genutzt, den Genossen zu sagen, dass die Sowjetunion den Erhalt ihrer DDR nicht unterstützen werde.

Ein Witz machte daraufhin die Runde. Die FDJ hatte seit Kurzem ihren eigenen Jugendsender. Nach der Postleitzahl des Berliner Stadtteils Adlershof, in dem das Fernsehen der DDR saß, hieß er „Elf 99“. Umgehend jagte der Spruch durchs Land: „‘99 sind wir nur noch 11.“ Aber die DDR gab es so schon nicht mehr. Denn Unmengen von Bürger zogen auf die Straßen, wollten nicht mehr länger entmündigt und wollten ein Volk sein. Der neue Staatsratsvorsitzende Egon Krenz wurde entlarvt. Als Wolf in Großmutters Bett liegend, wurde er auf einem Plakat gefragt: „Großmutter, warum hast du so große Zähne.“ Und Günter Schabowski, eine gewichtige Person des SED-Politbüros, wurde „Schah Bowski“ geschmäht. Joseph Fröhlich hätte an diesem Volk nicht nur seine Freude gehabt, er hätte auch noch etwas lernen können.

Waren alle Ziele erreicht? Mitnichten. Der harte Kern des Widerstands plante den restlosen Untergang der DDR. Auch Georg Warner gelangte in diese Runde, Mephistopheles weidete sich lieber an Sonnenaufgängen. Wortführer war der Kraftwerksingenieur und „Mayflower“-Bassist Stichalowski. Der hatte bereits in Görlitz maßgeblich die Wahlfälschung aufgedeckt. Dann war er ein wesentlicher Mann des Neuen Forums geworden. Aber mit einer Fähigkeit konnte er geradezu Druck ausüben.

Als leitendem Ingenieur in Hagenwerder hatte er die Möglichkeit, das Kraftwerk zum Stillstand zu bringen.

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Es gab offensichtlich ein Netzwerk, das sich auf einen Generalstreik einigte. Einer musste die Initialzündung geben. Und die konnte nur heißen: „Licht aus!“ Hagenwerder versorgte neben der Region hauptsächlich die Stadt Dresden und das Stahl- und Walzwerk Riesa mit Strom.

Mit Dresden hatte man nichts im Sinn, da sollten nur Tatsachen geschaffen werden. Aber zu Riesa bestand ein enger Kontakt.

Georg Warner traf bald nach dem Erlebnis am Neißewehr mit Klara zusammen. Nach der Meditation sagte sie: „Ich habe Sie aus meinem Fenster mit einem Freund am Wehr sitzen sehen. Sie waren beide nicht sonderlich glücklich, aber Ihr Freund schien auf mysteriöse Art zutiefst unglücklich zu sein.“ Warner kam eine Idee hin zur Glückseligkeit. Er sagte zu der Nonne, dass sein Freund wegen des Propheten Hesekiel depressiv sei. Das konnte Klara nicht verstehen. Freilich war Hesekiel ein Unheilsprophet, aber nach so langer Zeit müsse man seine Aussagen nicht wörtlich nehmen. Georg Warner konterte: „Doch, doch. Er nimmt sie mehr als wörtlich. Besonders eine Stelle lässt ihn nicht zur Ruhe kommen.“ Die wollte die Nonne nun hören. Warner zitierte: „Du warst das Abbild der Vollkommenheit, voller Weisheit und über die Maßen schön.

In Eden warst du, im Garten Gottes, geschmückt mit Edelsteinen jeder Art, mit Sarder, Topas, Diamant, Türkis, Onyx, Jaspis, Saphir, Malachit, Smaragd.

Von Gold war die Arbeit deiner Ohrringe und des Perlenschmucks, den du trugst; am Tag, als du geschaffen wurdest, wurden sie bereitet.

Du warst ein glänzender, schirmender Cherub, und auf den heiligen Berg hatte ich dich gesetzt; ein Gott warst du und wandeltest inmitten der feurigen Steine.

Du warst ohne Tadel in deinem Tun von dem Tage an, als du geschaffen wurdest.“ Klara setzte fort: „Bis an dir Missetat gefunden wurde.“ Warner sagte offen und ehrlich: „Und eben das quält meinen Freund. Liebe Schwester Klara, ich bitte darum, dass Sie dieses Loblied sprechen, nur das Loblied 467

ohne ‚Missetat‘. Immer wenn sie hier vor dem Kreuz stehen. Ich bitte darum, dass Sie für meinen Freund stellvertretend beten. Er selbst vermag es nicht.“ Der Countdown lief. Am 9. November sollte die DDR nach und nach in Finsternis getaucht werden und nie wieder das Licht erblicken. Noch in der Nacht zu diesem Tag bemerkte Georg Warner Unruhe im Haus.

Er traf auf Mephistopheles, der sich rasierte, endlich den Skipper ablegte. Bald war er gekleidet wie ein junger Wanderbursche, mit einem Tuch um den Hals. Eine Fiedel hätte sich gut gemacht und der Gesang: „Heute wollen wir das Ränzlein schnüren, Lachen, Lust und Frohsinn mit hinein. Golden scheinet uns die Sonn’ zur Freude, lockend klingt der Amselruf vom Hain. Jauchzt die Fiedel, sing ein Liedel, lass die Sorgen all zu Haus.“ Mephistopheles blickte Georg an, als wolle er ihn überzeugen, dass die Leichtigkeit echt sei. Dann ging er hinaus und setzte sich noch vor Morgengrauen auf die Bank. Nach einer Weile gesellte sich Georg hinzu. Er sah jetzt im ersten Dämmerschein, dass Mephistopheles goldene Ohrringe trug. Dann bemerkte er, dass er schluchzte. Tränen rannen ihm übers Gesicht, die er nicht gebändigt bekam. Worum trauerte er?

Mephistopheles sagte: „Das sind Freudentränen. Noch heute werde ich im Paradiese sein. Ich kehre heim zu Gott.“ Georg Warner zog sich zurück. Durch das Fenster sah er, wie Mephistopheles mit dem ersten Sonnenstrahl aufbrach. Er ging der Sonne entgegen. Als sie groß und leuchtend über dem Horizont erschien, hatte ihr Licht Mephistopheles aufgenommen.

Als der Tag zur Neige ging, fuhr Georg Warner zum Kraftwerk. Eingeweihte und ausgewählte Leute fanden im Schaltraum des riesigen Maschinenhauses zusammen. Die Turbinen arbeiteten. Stichalowski saß am Schaltpult. Überall im Kraftwerk und in der Grube waren jetzt verlässliche Leute auf ihren Posten. In der Grube hatten Hilde und Vincent das Kommando.

18 Uhr war vereinbart. Wie zu Silvester wollte der Zeiger die letzten fünf Minuten nicht mehr wandern. Dann war es doch so weit. Stichalowski bediente die Steuerung. Das Licht in Grube und Kraftwerk erlosch, auch in der gesamten Umgebung. In Dresden wurde es stockfinster. Im Stahl- und Walzwerk Riesa wurden die Hochöfen abgeschaltet.

Drei Tage konnte das Kraftwerk in Hagenwerder außer Betrieb „warm“ gehalten werden, dann war der Ofen aus.

In der Schaltzentrale war ein Notstromaggregat installiert worden.

Ein Fernseher lief, um zu sehen, wann die Aktion in den Nachrichten 468

durchschlug, falls nicht auch in Berlin erfolgreich das Licht ausging.

Schabowski breitete sich im Äther aus. Er hatte eine neue Reiseverordnung zu verkünden. Was er von einem Blatt ablas, verblüffte ihn selbst, denn er erklärte damit die Reisefreiheit für DDR-Bürger ohne Einschränkung. Auf die Frage eines Journalisten, ab wann diese gelte, sagte Schabowski unsicher, wenn er es recht verstehe, ab sofort.

Dann brachen alle Dämme, auch im Ostfernsehen. Um 23 Uhr befahl Stichalowski: „Hochfahren!“ Und es wurde wieder Licht. In einer neuen DDR? Oder ohne Kohlebagger und Kraftwerksruß? Mit diesen Fragen kehrte Georg Warner in sein idyllisches Neundorf zurück.

Was andernorts geschah, hätte er eigentlich wissen müssen. Auch Genoveva verfolgte die Nachrichten. Um 24 Uhr war sie am Hafen und löste das Tau von einem Einhandsegler. Dann verließ sie Bornholm und fuhr auf eine schwarze See hinaus. Richtung konnte sie nur mit den nautischen Instrumenten halten. Der Wind war so frisch, dass sie schnell vorankam. Sie hatte neben dem dänischen Pass auch ihren DDR-Ausweis bei sich. Mit dem wollte sie es zuerst versuchen.

Als die Schiffe der Küstenwacht auftauchten, steuerte sie eines direkt an. Backbord liegend ließ sie sich hinaufziehen. Dann zeigte sie ihren Ausweis und sagte, dass sie nach der Maueröffnung eine Spritztour unternommen habe und nun zurückkehre. Der Kapitän gab zu verstehen, dass ihre Besuchsreise etwas ungewöhnlich sei, aber das entspreche dem neuen Gesetz über die Reisefreiheit. Genoveva ging wieder von Bord und nahm Fahrt auf.

Sie ließ sich vom Leuchtturm auf Kap Arkona anziehen und war gegen vier Uhr morgens an Land. Mit einem Taxi fuhr sie nach Altenkirchen. Um fünf Uhr fuhr sie mit dem Bummelzug nach Stralsund, von da aus gelangte sie nach Berlin. Bevor der Tag sich neigte, war sie in Görlitz. Sie fuhr weiter nach Hagenwerder. Unterwegs, an der Grube vorbei, im Nieselregen der Kühltürme, an der Kraftwerksasche fast erstickt, dachte sie: „Welch furchtbare Gegend. Sie ist viel schlimmer, als ich sie in meinen finstersten Träumen gesehen habe. Hier hat mein Geliebter jahrelang gelebt.“ Durch die Beschreibung des Eigens fand Genoveva Bernstadt. Dorthin fuhr ein Bus. Oberhalb musste der Kleine Nonnenwald liegen und dahinter Neundorf. Sie ging zu Fuß. Im Wald war es schon duster. Als sie heraustrat, grüßte eine Windmühle. Na also, Wind gab es schon einmal.

Beim Anblick des kleinen Hauses war sie entzückt. Als sie um die Ecke bog, saß Georg nachdenklich auf seiner Bank. Er sagte: „Ich beob469

achte den Sonnenuntergang.“ Der war zwar längst vorbei, aber Genoveva wollte mit ihm schauen. Sie setzte sich neben ihn. Erst fanden sich ihre Hände, dann rückten sie näher zueinander und küssten sich. Als die Nacht herabgesunken war, trug Georg Genoveva ins Haus.

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Der Autor Dieter Liebig wurde am 5. August 1951 in Daubitz in der Oberlausitz geboren. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Von 1970 bis 1976 studierte er Theologie in Halle, Leipzig und Naumburg. Danach lebte und arbeitete er im Industriegebiet Hagenwerder, von 1980 bis 1989 war er Pfarrer der Kirchengemeinde Deutsch-Ossig. Nach der Inanspruchnahme des Ortes durch den Braunkohlenbergbau und der damit verbundenen Schließung der Kirchengemeinde am 31. August 1989 wurde Dieter Liebig freiberuflicher Schriftsteller. Von 1990 bis 1994 war er Landrat des Kreises Görlitz-Land und Vorsitzender der Euroregion Neiße, danach Oberverwaltungsrat im Landkreis Löbau-Zittau. Seit 2001 lebt Dieter Liebig wieder als freiberuflicher Schriftsteller.

Seit 1973 hatte er Unterricht in Dramatik genommen, drei Jahre später wurde sein erstes Stück aufgeführt. Danach schrieb Dieter Liebig Einakter im absurden Stil, später wandte er sich geschichtlich-politischen Themen zu. 1978 gründete er die Spielgruppe Hagenwerder, später Deutsch-Ossig, die seine Stücke in Kirchen aufführte. 1983 erschien eine erste Sammlung seiner Werke bei „Werk und Feier“. Nach Erscheinen seines Hörspiels zur Umweltproblematik „Waldhüter“ und der Veröffentlichung des „Grünes Requiems – Totenmesse für die Natur“ 1985 durfte Dieter Liebig nicht mehr veröffentlichen.

Ab 1986 verschärfte sich die erbitterte Auseinandersetzung um den Braunkohlenbergbau. Seitdem setzte sich Dieter Liebig für den Erhalt von Deutsch-Ossig, gegen die geplante Abbaggerung des Ortes ein. Bis 1993 erschienen fünf seiner Deutsch-Ossig-Bücher, darunter die reich bebilderte Dokumentation „terra infirma – unsichere Erde.

Deutsch-Ossig-Report“ und das „Grüne Requiem“. Die Jahre 1990– 2005 sind regional im Deutsch-Ossig-Report II „Etwas bleibt immer übrig“ zusammengefasst.

Mit Liebigs gänzlicher Orientierung auf das Schreiben 2001 standen Texte im Vordergrund, die vertont und aufgeführt wurden, etwa „insula nigra – die schwarze Insel“ oder das „Jakob-Böhme-Requiem“. 2003 gründete er die Spielgruppe Hochkirch, die seine Stücke aufführt. Weitere Werke waren unter anderen 2004 der Roman „Kap der guten Hoffnung“ nach Motiven des „Fliegenden Holländers“, 2008 das Drehbuch zum Dokumentarfilm „Westerbork-Auschwitz“, 2012 sein Roman „(K) ein Weg westwärts“, 2014 „Nathanael – Die Shakespeare Companie“.

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Außerdem im VIADUKT-Verlag erhältlich: Dieter Liebig: Deutsch-Ossig – Edition Chronik der Kirchgemeinde Deutsch-Ossig Grünes Requiem/Der grüne Jakob In Wahrheit ist es würdig und recht.

Mit Fotos von Matthias Lüttig Etwas bleibt immer übrig.

Deutsch-Ossig-Report II 1990–2005.

Mit Photos von Matthias Lüttig terra infirma – unsichere erde.

Deutsch-Ossig-Report I. Mit Photos von Matthias Lüttig Faustisch – ein Deutsch-Ossig Roman … 1813 …

Armin Stolper: Lebenslange und arbeitsreiche Liebeserklärung an Gerhart Hauptmann Armin Stolper: Lausitzer Bekenntnisse Andrea Selbdritt: Kreuzg(ew)itter. Romanessay über Schizophrenie und Inzest Hannelore Klar: Wir müssen weit gehen, liebes Kind Ingrid Kranert: Auf Annas Spuren. Die Geschichte einer Familie aus Niederschlesien und der Grafschaft Glatz

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Demnächst erscheinen: Wolf-Dieter Fiedler: Rothwasser - eine Ortschronik aus der Görlitzer Heide Jakob Böhme: Gebetbüchlein für alle Tage der Woche Ralf Gleide: Die Auseinandersetzung mit der dunklen Wurzel der Natur - zur Aktualität Jakob Böhmes

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