turi2 edition #16, Agenda 2022/Nachhaltigkeit

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Ist es noch zeitgemäß, Grünflächen mit | 18 Einfamilienhäusern zu verbauen, Folkert Siemens? Grundsätzlich hängt es von der Lage, der ökologischen Qualität der Grünflächen und der Siedlungsstruktur ab. Es ist meiner Meinung nach vertretbar, einen Maisacker in Ortsrandlage zu bebauen. Bei einer Wiese, einem Park oder einer Kleingartenanlage ist das natürlich anders zu bewerten. Das Einfamilienhaus steht in der Kritik, weil es relativ viel Fläche pro Einwohner verbraucht. In Bebauungsplänen werden deshalb meist Vorkehrungen getroffen, um die ökologischen Auswirkungen abzufedern. Wichtig sind etwa Regenwasserrückhaltung, Begrenzung der versiegelten Grundstücks-

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Folkert Siemens ist Chefredakteur von „Das Haus“

fläche und Begrünungsmaßnahmen. Viele bauen ihre Einfamilienhäuser ohnehin viel zu groß – gerade dort, wo das Bauland noch günstig ist. Ich plädiere für eine angemessene Wohnfläche und kluge Architektur, die möglichst wenig Boden

versiegelt und den Ausbau zum Mehr-GenerationenHaus zulässt. Die Bauleitplanung vieler Gemeinden ist vielerorts nicht mehr zeitgemäß. Es werden Neubaugebiete für Einfamilienhäuser ausgewiesen, während der Altbaubestand im Zentrum zum Teil unbewohnt ist. Hier wird ohne Rücksicht auf ökologische Belange die Nachfrage nach neuen Häusern befriedigt. In strukturschwachen Regionen kämpfen die Gemeinden mit Bauland-Angeboten oft um jeden neuen Einwohner. Dabei wächst die deutsche Bevölkerung kaum noch und die Urbanisierung schreitet

voran. Selbst 2020 gab es in Deutschland laut Weltbank einen leichten Anstieg der Stadtbevölkerung um 0,1 auf 77,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Es wäre sinnvoll, gerade hier einen stärkeren Anreiz für die Altbausanierung zu schaffen. In strukturstarken Regionen sehe ich Einfamilienhäuser weniger als Problem. Hier kommt es wegen der hohen Grundstückspreise in der Regel früher oder später zu einer Nachverdichtung. Indem Bestandsgebäude aufgestockt, Grundstücke dichter bebaut oder Einfamilienhäuser abgerissen und durch Apartmenthäuser ersetzt werden.

Ersetzt Urlaub in der Lausitz jetzt den Langstreckenflug, Hansjörg Falz?

Die Erfindung des Wortes „Fernweh“ wird einem Preußen zugeschrieben, der in der Oberlausitz lebte: Hermann Ludwig Heinrich Graf von Pückler-Muskau, späterer Fürst Pückler. Ein echter Tausendsassa, weit gereist, vielfach begabt. Glauben Sie mir, nicht nur der von ihm begründete Muskauer Park, die Lausitz und ganz Sachsen sind eine Reise wert, sondern viele deutsche Destinationen. Die Zeit der weltweiten Reisewarnungen und Reisebeschränkungen hat mir, wie vielen anderen, zugesetzt. Zugleich aber durfte ich feststellen, dass ein Ausflug an die Ostseeküste oder ein Spazier-

gang an der Dove-Elbe in Hamburg Ersatzkraft haben. Man muss nicht immer um den Globus jetten für ein Urlaubsgefühl. In der Dezember-Ausgabe von „Merian“ zeigen wir, dass die weite Welt ganz nah ist: Der ZhangjiajieNationalpark in der Provinz Hunan und die Bastei der Sächsischen Schweiz sehen aus wie bei der Geburt getrennte Zwillinge. Rügens Kreidefelsen und Étretat in der Normandie – Doppelgänger. Dennoch: Im Herbst 2021, als das Weiße Haus touristische Einreisen in die USA für die 26 Schengen-Mitgliedsstaaten wieder erlaubte, schossen die Buchungszahlen für Flüge

in die USA in der EU um 185 Prozent nach oben. Ein Drittel der Deutschen denkt für 2022 über eine Fernreise nach. Nennen wir es den Post-CoronaNachholeffekt. Die Zeit, in der wir gefühlt nirgendwo hin konnten, möchten alle verdrängen. Im Sinne der Nachhaltigkeit ist übrigens nur die nicht angetretene Reise eine gute Sache. Also auch keine Fahrt mit dem Hybrid in den Oberspreewald. Alle Versuche, auf freiwilliger Basis Umweltabgaben bei der Reisebuchung zu etablieren, etwa mit einem Klick auf den Button „CO2 kompensieren“, sind gescheitert. Machen zu wenige. Und so

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Hansjörg Falz ist Chefredakteur von „Merian“

sinnvoll es ist, ein nachhaltig wirtschaftendes Resort im Indischen Ozean zu buchen – solange sie nicht dorthin schwimmen, müssen Reisende wohl akzeptieren, dass sie sich immer nur den Teil-Freispruch von der Sünde erkaufen können.


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