turi2 edition #16, Agenda 2022/Nachhaltigkeit

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Wie viel Objektivität geht bei „aktivierendem Journalismus“ verloren, Florian Gless? Müsste die Frage nicht zunächst lauten: Wie objektiv kann Journalismus sein? Schon bei der Auswahl eines Themas und meiner Gesprächspartner treffe ich subjektive Entscheidungen. Und selbstverständlich habe ich eine Haltung zu dem Sachverhalt, über den ich schreibe. So zu tun, als wäre das nicht so, halte ich für eine Illusion, eine Form von Selbstverleugnung. Unsere journalistische Unabhängigkeit besteht doch auch darin, zu entscheiden, wie wir zu einer Sache stehen. Das ist Meinungsfreiheit. Die Diskussion um Objektivität im Journalismus scheint mir andere Fragen zu verschleiern, die wir uns in Zeiten von Fake und Fox News täglich stellen (müssen): Was darf Journalismus? Wo sind die Grenzen? Welche Rolle hat er in einer Gesellschaft, die sich Teilhabe und Mitgestaltung wünscht? Wir beim „stern“ sind überzeugt, dass moderner

Florian Gless ist Co-Chefredakteur beim „stern“

Journalismus neue Wege finden muss. Er sollte sein Handwerkszeug nutzen, um über die sachliche und kritische Information hinaus Publikum, Politik und Wirtschaft zum Handeln zu animieren oder aufzufordern. Dafür müssen wir hin und wieder den Spielfeldrand verlassen – und mitspielen. Wir nennen das „aktivierenden Journalismus“. Es geht uns nicht mehr nur darum, Fakten, Missstände und Wissenslücken aufzulisten, sondern Möglichkeiten aufzuzeigen: Wie kann etwas besser gelingen? Was können die Leser tun? Wie können wir als Journalisten Teil einer Lösung sein? Dafür verlassen wir partiell – etwa bei der Klimakrise – unsere distanzierte Position und ergreifen Partei. Ob das noch Journalismus ist? Solange wir journalistische Standards einhalten und darlegen, wofür wir stehen, sehe ich keine Argumente dagegen. Machen wir uns gemein mit einer Sache? Ja. Schauen wir weg, wenn etwas schiefläuft? Natürlich nicht. Beim „stern“ stehen wir für die Idee, dieses Land und das Leben auf der Erde zukunftssicher zu machen. Miteinander, füreinander, zuversichtlich, konstruktiv. Tolerant, demokratisch und divers.

Ich bin total für Nachhaltigkeit, an mir soll’s nicht liegen. Ich gehe einer sitzenden Tätigkeit nach, verbrauche also wenig Energie. Mein Mac ist von 2013. Mein aktuelles Buch sammelt die besten Kolumnen aus zehn Jahren, besteht also gewissermaßen aus Kolumnen-Recycling. Vom Lastenrad im Vorgarten und der Solaranlage auf dem Dach gar nicht zu reden. Warum ich das erwähne? Weil ich sagen soll, was ich von grüner Werbung halte. Sie ahnen es: nicht viel. Ich werde sofort misstrauisch, wenn mir Unternehmen verkaufen wollen, wie politisch vorbildlich sie sind. Ich halte den Kapitalismus für ein inhärent opportunistisches System. Wenn der Kapitalist ein Bedürfnis sieht, das noch nicht ausreichend befriedigt ist, überlegt er sich ein Angebot dazu. So funktioniert auch grüne Werbung. Ein Problem dabei ist, dass man sich auf die Nachhaltigkeit nicht verlassen kann. Die gleichen Leute, die heute ihr ÖkoHerz entdecken, hängen morgen die hellblaue AfDFlagge raus, wenn sich der politische Wind gedreht hat. So läuft das leider bei Opportunisten. Manchmal soll der grüne Anstrich auch davon ablenken, dass man sich an anderer Stelle ganz anders verhält, knallkapitalistisch eben. Wenn alle davon reden, wie wichtig

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Jan Fleischhauer ist Kolumnist beim „Focus“

ein Umdenken sei, sagt der clevere Konzernboss: „Dann stellen wir halt in der Führungsetage ein paar Leute von Greenpeace ein, streichen die Currywurst in der Kantine und sagen ‚Audianer:innen‘ statt Beschäftigte. Solange sich sonst nichts ändert, ist alles okay.“ Im neuen Buch von Sahra Wagenknecht steht eine interessante Anekdote. Als Knorr im Sommer 2020 ankündigte, seinen Saucenklassiker von „Zigeunersauce“ in „Paprikasauce ungarischer Art“ umzubenennen, war die Erleichterung groß. Riesenlob für die Einsichtsfähigkeit des Unternehmens! Dass die Firma den Mitarbeitern in Heilbronn zeitgleich einen neuen Tarifvertrag mit deutlich schlechteren Bedingungen aufgezwungen hatte, fand hingegen kaum Beachtung in den Nachrichten. Manchmal wundere ich mich über die Naivität meiner Freunde auf der linken Seite. Ich dachte, sie wüssten, wie Kapitalismus funktioniert.

Fotos: GuidoRottmann, picture alliance, PR

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Wie sehr nervt grüne Werbung, Jan Fleischhauer?


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