turi2 edition #16, Agenda 2022/Nachhaltigkeit

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Sind wir süchtig nach Konsum, Josephine Tröger?

Ja – zumindest in vielen Lebensbereichen. Aber: Das muss nicht so sein. Menschen haben viele Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen. Das beginnt bei Nahrung und Kleidung und hört bei sozialen Beziehungen und Kulturerlebnissen auf. Allerdings sollten diese so befriedigt werden, dass es uns selbst und unserem Umfeld langfristig nicht schadet. Aktuell sieht das leider ganz anders aus: Der „Earth Overshoot Day“ verdeutlicht, dass wir in Deutschland ab der Hälfte des Jahres auf Pump leben – ab diesem Tag nämlich verbrauchen wir durch unseren Konsum mehr Rohstoffe, als innerhalb eines Jahres nachwachsen. Wir leben also über ein gesundes Maß hinaus. Und obwohl wir sehr genau wissen, welche Folgen das für uns Menschen schon heute hat, schaffen wir es nicht, unseren Lebensstil anzupassen. Oft denken wir, materieller Konsum mache glücklich. Den „Kaufen“-

Button zu klicken, verleiht tatsächlich kurzfristig ein positives Gefühl. Die Forschung zeigt aber, dass Wohlbefinden und Konsum nicht unbedingt miteinander zusammenhängen: Ab einem gewissen Niveau an Konsum wächst das Wohlbefinden nicht weiter an. Im Gegenteil: Materialistisch eingestellte Menschen führen eher weniger zufriedenstellende Beziehungen und sind unglücklicher. Werbung verstärkt diesen Effekt, da sie materialistische Werte befeuert. So entsteht das Gefühl, noch mehr konsumieren zu müssen. Metaphorisch kann das durchaus als Sucht bezeichnet werden – auch wenn dieses Verhalten anders als die pathologische Sucht sozial akzeptiert und sogar wirtschaftlich erwünscht ist. Glücklicher werden wir davon langfristig aber nicht. Aus dieser „Abhängigkeit“ heraus kann der Fokus auf die Befriedigung anderer psychologischer Grundbedürfnisse helfen: Autonomie, Kompetenz

und soziale Eingebundenheit. In einer Umgebung, in der sich diese Bedürfnisse erfüllen lassen, fällt es Menschen leichter, Herausforderungen zu meistern und sich auf ihre eigentlichen Ziele zu konzentrieren. Materieller Konsum muss dann nicht mehr als Ersatz oder Mittel zum Zweck herhalten. Wie kann das konkret aussehen? Zum Beispiel können Unternehmen dafür sorgen, dass flexibleres Arbeiten und Arbeitszeitreduktion leichter möglich sind. Denn es hat sich gezeigt, dass weniger Arbeitszeit mit mehr Zeitwohlstand und weniger umweltschädlichem Konsum verbunden ist. Verfügen Menschen freier und selbstbestimmter über ihre eigene Zeit, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie diese sinnstiftend(er) investieren, sich sozial engagieren oder lieb gewonnene Dinge reparieren, anstatt Neues zu kaufen. Das ist natürlich nur eine Möglichkeit, wie veränderte Strukturen dazu beitragen können,

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auf ein gesünderes Maß an Konsum zurückzukommen. Eine weitere Möglichkeit ist, mehr Gelegenheiten und Orte zu schaffen, an denen sich Menschen begegnen, soziale Eingebundenheit spüren und gemeinsam ihre Kompetenzen stärken. Repair-Cafés, in denen man sich treffen kann, um gemeinsam Dinge zu reparieren, sind ein Beispiel hierfür. Wenn wir wirklich wollen, dass Menschen maßvoller und gesünder konsumieren, müssen wir das als Wert in allen gesellschaftlichen Strukturen verankern. Heißt: Wir sollten politische Maßnahmen so gestalten, dass sie diesem Wert entsprechen und Menschen dabei unterstützen, dass sie erstens ihre Bedürfnisse genauer hinterfragen und diese zweitens auch tatsächlich ressourcenschonender befriedigen können. So kann es uns gelingen, aus der Spirale des Mehrkonsums als Antwort auf unbefriedigenden Konsum zu entkommen.

Fotos: privat, PR, Anne-Nikolin Hagemann

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Josephine Tröger ist Umweltpsychologin am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe


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