turi2 edition #16, Agenda 2022/Nachhaltigkeit

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Hamburger Kleingärtnerei Die „Zeit“ baut eine ganze Markenwelt auf, um junge Leserinnen zu gewinnen. Mord und Totschlag inklusive

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Fotos: SaschaVenturi, Phil Dera, TV Movie

err und Frau Andersen lesen „Zeit“, seit 40 Jahren schon. Er Zahnarzt im Ruhestand, sie Grundschullehrerin. Die beiden bewohnen eine Doppelhaushälfte in Hamburg, wählen SPD und Grüne. Das Ehepaar Andersen gibt es nicht – wer sich Leserinnen der gedruckten „Zeit“ vorstellt, dürfte aber schnell bei einem ähnlichen Bild landen. Dabei ist alles ganz anders. Sagt Malte Winter, beim Zeit Verlag als VizeVerlagsleiter Magazine zuständig für alle Titel, die nicht der Mutter beilegen, aber „Zeit“ im Namen tragen. Deren Zahl ist von fünf auf elf gewachsen, seit er 2015 von Springer nach Hamburg gewechselt ist. Laut Winter ist die Leserschaft bunter als im fiktiven Beispiel. Im Schnitt aber eher 50 bis 60 statt 30 Jahre alt. Ein Ziel der „Zeit“-Ableger um Marken wie „Zeit Wissen“ lautet, Jüngere an die Wochenzeitung heranzuführen. Dafür gibt es das Magazin „Zeit Leo“ für Kinder bis 13. Der „Zeit Studienführer“, ein 300-Seiten-Pamphlet, will Abiturientinnen Uni-Orientierung geben. Studis kriegen „Zeit Campus“. Bundesweit liegt das Heft jedes Semester in Ersti-Tüten. Mit „Zeit Verbrechen“ haben sich die Hamburger ein weiteres Standbein in der Generation Instagram geschaffen. Heft und Podcast erreichen seit 2018 Leute zwischen 20 und 40, vor allem Frauen. Das Magazin erscheint, auch mit recycelten Texten aus der „Zeit“, zunächst zweimal jährlich, 2022 erstmals sechsmal. Die verkaufte Auflage ist von 20.000 auf 55.000 gewachsen. Der Podcast mit Sabine Rückert und Andreas Sentker, obwohl als „Boulevard für Besserverdienende“ kritisiert, zählt zu den meistgehörten in Deutschland. Ein Erfolg, der auf die Mutter abstrahlen soll. Die „Zeit“, sagt Winter, sei mal ein „One Trick Pony“ gewesen – eine Marke, ein Produkt, fertig. Das Portfolio sei mit den Jahren gewachsen, aber bis heute kein „perfekt angelegter Residenzpark“. Vielmehr werde „an vielen Stellen immer wieder Neues erdacht und ausprobiert“. Die Magazine haben eigene Chefredaktionen und eigene Teams. Kleingärten im großen Verlag. Und was hat die „Zeit“ von ihren Sprösslingen? Darüber, wie viele „Campus“-Leserinnen nach der Uni ein „Zeit“-Abo abschließen, gibt der Verlag keine Zahlen heraus, spricht von „Umwandlungsquoten im guten zweistelligen Prozentbereich“. Haben Jüngere Bock, für Journalismus zu zahlen? „Bei ‚Zeit Verbrechen‘ sehen wir: Wenn das Produkt begehrenswert genug ist, geht es“, sagt Winter. „Wie bei Netflix oder Spotify.“ 2021 sind die Abo- und Verkaufszahlen der „Zeit“ gegenüber 2019 deutlich angezogen. Die Wurzel unter den Kleingärten wächst. Elisabeth Neuhaus

Mordserfolge feiern Sabine Rückert und Andreas Sentker mit „Zeit Verbrechen“. Bei Live-Podcasts wie hier 2019 in Berlin hören Hunderte zu

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Nun auch als Hybrid „TV Movie“ wird 30 und erfindet sich neu. Für Fernsehzeitschriften Pflicht-Programm

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as jüngste Mitglied der „TV Movie“-Familie ist das Ergebnis wohlüberlegter Planung. „TV Movie Stream XXL“ informiert alle 14 Tage hybrid über TV- und Streaming-Programm. Mit ihrem 13. Titel im Segment reagiert die marktführende Bauer Media Group auf einen MegaTrend. „Der TV-Markt hat seit der Gründung des Privatfernsehens keinen größeren Wandel erlebt als durch Video-on-Demand“, sagt Nils Grönwoldt. Deshalb, prognostiziert der Verlagsleiter TV-Magazine, werden sich die Programmies zu Bewegtbild-Magazinen weiterentwickeln. Im Vergleich zum Verkaufsrekord von über 2,7 Millionen Stück Ende der 90er hat sich die Auflage von „TV Movie“ geviertelt. Dennoch verdient der Titel Geld, dank höherer Heftpreise und angepasster Kosten, etwa durch automatisierte Produktion der Programmseiten. Mit mehr als 330 Millionen verkauften Exemplaren ist TV-Presse immer noch die größte Zeitschriftengattung. Grönwoldt glaubt, dass der Wunsch nach kuratierten Programminfos anhält. „Das Kernbedürfnis bleibt wie vor 30 Jahren, es ist nur deutlich größer.“ Roland Karle


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