turi2 edition #16, Agenda 2022/Nachhaltigkeit

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Hüter der Historie Das Deutsche Rundfunkarchiv arbeitet daran, Geschichte in Ton und Bild für die Nachwelt zu erhalten. Jetzt soll das Image der stillen Archivarin weg

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ernd Hawlat hat ein Lieblingsstück. Ein Radio-Interview mit Auto-Pionierin Bertha Benz von 1933. Mit zarter Stimme schwäbelt sie darin über die schwierige Rolle der Zündung bei der Erfindung des Motorwagens. Die Aufnahme knistert und rauscht, auch wenn sie längst als Datei auf dem PC liegt. Siebeneinhalb Minuten ist sie lang. Bernd Hawlat, Vorstand des Deutschen Rundfunkarchivs, genießt jede Sekunde: „Dass man diese außergewöhnliche Frau hören kann, wissen viele nicht“, schwärmt er. „Hier spricht Geschichte lebendig zu uns.“ Seit seiner Gründung 1952 ist das Deutsche Rundfunkarchiv, eine gemeinnützige Stiftung von ARD und Deutschlandradio, auf Zeitreise, sammelt Edison-Walzen und Schellackplatten aus dem frühen 20. Jahrhundert, Programmzeitschriften aus der Weimarer Republik und Tondokumente aus der NS-Zeit. Orchesterstücke sind da zu hören, Dankesworte von Boxer Max Schmeling, Propaganda von Joseph Goebbels. Der Schwerpunkt liegt bis heute auf Audios von Beginn der Tonaufzeichnungen bis 1945, ins Fernsehen steigt das DRA erst ab 1992 ein. Nach dem Mauerfall wachsen Ost und West auch dokumentarisch zusammen: Radio- und TV-Archive der DDR bis 1991 gehen ans DRA, das zunächst in Berlin-Adlershof, ab 2000 in Potsdam-Babelsberg, einen zweiten Standort neben Frankfurt am Main bekommt. Den Kernbestand des Archivs bilden heute rund 140.000 Programmstunden. Gut zwei Drittel sind davon bisher digitalisiert, bis 2034 sollen es 100 Prozent sein. Dass Neues in größerem Umfang nach Frankfurt oder Babelsberg kommt, etwa über Nachlässe, ist selten. „Wir sind mehr

dabei, das, was wir haben, in Datenbanken auffindbar zu machen, indem wir es mit Metadaten anreichern“, sagt Hawlat. Metadaten sind Kontext-Infos, sie geben beispielsweise Auskunft darüber, wer auf einer Aufnahme zu hören und wann sie entstanden ist. Beim DRA arbeiten sie immer auch ein bisschen gegen die Zeit. Ton- und Bildträger sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Bänder altern und werden spröde. „Teilweise lassen sich Bänder nur noch ein einziges Mal abspielen. Das muss glücken, weil es ab dann Konfetti ist und der Inhalt darauf für immer verloren“, erklärt Hawlat. Technikerinnen beim DRA bereiten die teils mehr als 100 Jahre alten Dokumente daher behutsam auf und versuchen digital, manchmal auch physisch, zu erhalten, was darauf über Generationen hinweg gespeichert war. Ein wichtiger Teil des Jobs ist es, das Know-how im Umgang mit in die Jahre gekommenen Tonbandgeräten oder Phonographen an jüngere Kolleginnen weiterzugeben. Neben den Inhalten soll auch das Wissen um die alte Technik nicht aussterben. „Senderelevante“ Dokumente werden bei der Digitalisierung priorisiert. Dazu gehören Walter Ulbrichts berühmtes Dementi „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ oder Günter Schabowskis „sofort, unverzüglich“. Dauerbrenner, wie Hawlat sie stolz nennt, die immer wieder gefragt seien. Es sind Aufnahmen wie diese, die oft in TVDokus oder Museen landen. Noch schöner sei aber, wenn das Team den DRA-Nutzerinnen aus Redaktionen, Forschung und Kultur unbekanntere Schätze empfehlen kann: „Uns fallen manchmal tolle Sachen in die Hände. Auf sie versuchen wir, aufmerksam zu machen.“ Das DRA sieht sich auch als Recherche-

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partner. Das Bild der introvertierten Archivarin will man ablegen – und Mitarbeiterinnen mit Kommunikationsskills gewinnen, die Bestände gut vermarkten können. Dazu passt, dass sich das DRA zu seinem 70. Geburtstag 2022 vorgenommen hat, präsenter in der Wahrnehmung der Menschen zu werden. Ein großer Schritt auf diesem Weg war der Start von „ARD Retro“ im Oktober 2020. ARD, Deutschlandradio und DRA beginnen damals damit, insgesamt 40.000 historische TV-Beiträge aus den 50er und 60ern nach und nach online zu stellen, auch aus der DDR. Die Videos stehen zeitlich unbegrenzt in der ARD-Mediathek. Dieses Angebot soll wachsen, auch um HörfunkMaterial. Für Hawlat eine Frage der Nachhaltigkeit: „Wir müssen alte Dokumente für kommende Generationen immer wieder neu interessant machen.“ Um das zu schaffen, wünscht sich Hawlat, selbst Jurist, mehr rechtliche Freiheiten beim Bereitstellen der Inhalte. „ARD Retro“ endet 1966 – dem Jahr, in dem das deutsche Urheberrechtsgesetz in Kraft tritt. „Wir könnten viel offensiver nach außen gehen, wenn wir an weniger Stellen durch das Urheberrecht reglementiert wären“, sagt Hawlat. Manches dürfe nur zögerlich oder gar nicht über die digitale Theke gehen, weil sonst „Ahnenforschung“ bei der Urheberin erforderlich sei. Derzeit erlöschen die Rechte 70 Jahre nach deren Tod. Früher limitierte die Haptik des Bestands den Zugang. Man musste in den Keller, auf Leitern steigen, Bänder aus Regalen ziehen. Jetzt also das Gesetz: „Wenn wir irgendwann hoffentlich durch dieses Nadelöhr durch sind, kann die breite Öffentlichkeit mehr Freude an unseren Archivschätzen haben“, so Hawlat.


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