turi2 edition #15 – Menschen, Medien und Marken in Bewegung

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Fotos: picture alliance, privat

Mehr Stop als Go

Verleiher preisen ihre E-Scooter gerne als Mobilitätsinnovationen an. Für Forscherin Spitzner sind sie „Spielerei“. Wichtiger sei ein besserer ÖPNV – und freie Wege für Fußgängerinnen

Bewegen sich Männer anders fort als Frauen? Meike Spitzner, Verkehrsforscherin am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie erklärt, warum Männer als Maßstab im Straßenverkehr ein Problem sind

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ft wird andersherum gefragt, nämlich danach, was das Besondere an der Mobilität von Frauen sei – und was demnach „zusätzlich“ berücksichtigt werden sollte. Ist es aber nicht eher erstaunlich und etwas Besonderes, was sich an männlicher Mobilität beobachten lässt? Warum weist die Mehrheit der Männer seit Langem eine so große Auto-Affinität auf? Warum fahren sie im Schnitt mit dem PKW so viel schneller, energieintensiver und aggressiver als Frauen? Warum fahren sie so auffällig viel weitere Wege, obwohl klar ist, wie klimaschädigend jeder weitere Autokilometer ist? Warum haben und wollen viel mehr Männer als Frauen einen Dienstwagen als Ausdruck von Wertschätzung ihrer Arbeit? Warum fragt niemand nach den Gründen, Strukturen und Zusammenhängen, aus denen diese Phänomene hervorgehen? Genau diese scheinen auf Seiten der Verkehrsplanung und -politik, eine bedeutende Rolle zu spielen. Wie erklärt sich sonst, dass die autorelevante Infrastruktur häufig zu Lasten aller anderen sozial- und umwelt-

verträglicheren Mobilitätsnetze bevorzugt wird – unter anderem bei der Verteilung des knappen öffentlichen (Straßen-)Raums? Warum gibt es in Deutschland ein sogenanntes Dienstwagenprivileg, obgleich doch die Statistiken ausweisen, dass dadurch jedes Jahr klima- und umweltunverträglichere Neuwagen zum Autobestand hinzukommen? Problematische Modelle von Maskulinität und deren Erhebung zum Maßstab für alle und alles (Androzentrismus) sind die Treiber dieser Phänomene. Und darunter leiden auch Männer, nämlich diejenigen, die dem problematischen Maskulinitätsmodell nicht entsprechen (wollen). Wir wissen, dass unter jüngeren Männer-Generationen eine geringere Priorisierung von Autos und von Infrastruktur, die diese privilegiert, zu entdecken ist. Die Frage ist: Was sind die Gründe dafür und geben diese Anlass zu Hoffnung, wird sich gar „das Problem einfach auswachsen“? Leider finden sich Anzeichen, dass dem nicht so ist: Neue Mobilitätsangebote wie Carsharing oder E-Scootersharing scheinen genauso vornehmlich „männliche“ Bedürf-

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nisse zu befriedigen, denn sie werden vor allem von Männern genutzt. Ihre Praktikabilität für normale Alltagsbewältigung ist fraglich. Die Begleitung eines älteren Menschen oder von Kindern ist mit solchen Angeboten kaum möglich. Es ist eine genderbedingt spezifische Vorstellung von Realitäten, wenn unter dem (Mobilitäts-)Aspekt Arbeit die unverzichtbare alltägliche Versorgungsarbeit für sich selbst, die Partnerin oder Dritte im Haushalt vergessen wird. Dieses unbezahlte Wirtschaften scheint ökonomisch und verkehrssystemisch nicht zu zählen. Zudem wird strukturelle maskuline Gewalt im öffentlichen Raum – immerhin ein häufiger und rationaler Grund, trotz ökologischen Bewusstseins nicht aufs Auto zu verzichten – kaum thematisiert. Kurz: Androzentrische Denkweisen in Politik, Forschung, Technik und Wirtschaft, die problematische Maskulinität verabsolutieren, produzieren nicht nur Ungleichheit und ungleiche Mobilitätschancen, sondern schädigen zugleich die Umwelt und das Klima – darin liegt die Brisanz.


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