turi2 edition #14 Social Media

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„Hast du eine Idelogie?“: Der notorische Duzer Jung macht auch bei AfD-Vorsitzendem Alexander Gauland keine Ausnahme

Für immer Jung Tilo Jung stellt Politikerinnen freche Fragen. Und ist damit seit acht Jahren ziemlich alleine – in der Bundespressekonferenz und auf YouTube

Fotos: Screenshots

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a sage noch mal einer, die Jugend von heute könne sich kaum länger konzentrieren als eine Stubenfliege. Das Publikum von Tilo Jung kann das. Kaum eines von Jungs Interviews ist kürzer als eine Stunde, sein Aufwachen-Podcast, den er fünf Jahre lang mit dem Soziologen Stefan Schulz produziert hat, kommt schon mal auf fast sieben Stunden Sendezeit. Zehntausende sehen oder hören sich das an, die Mehrheit gehört nicht zum alten Eisen. „Wir werden mehrheitlich von Jüngeren geguckt, aber von Älteren bezahlt“, sagt Jung im Interview mit dem Gewerkschaftsmagazin „Journalist“. Seine Zielgruppe sind die 18- bis 35-Jährigen. Ende Oktober 2021 entwächst Jung dieser Zielgruppe: Er wird 36 Jahre alt. Die Rolle des naiven, unbedarften Reporters hat Jung sich auf den Leib geschneidert – seit 2013 ist er in der Pose unterwegs und sich der Macht der vermeintlich einfachen Fragen sehr bewusst. 2014 wird er Mitglied der Bundespressekonferenz und anfangs unterschätzt – und verspottet. Als er mal mit pinkfarbenem Pullover in dem Saal mit der charakteristischen blauen Wand sitzt, spekuliert das Podium bei angeschaltetem Mikrofon darüber, ob Jung wohl schwul sei. Mit seiner Mischung aus gespielter Unbedarftheit und gezielter Unangepasstheit – er trägt weder Sakko noch Schlips – führt Jung das Establishment der Berliner Politik regelmäßig aufs Glatteis. Dabei hat sich inzwischen eigentlich herumgesprochen, dass „jung

und naiv“ mit „unvorbereitet und unkritisch“ nichts zu tun hat. Dennoch: Das innere Augenrollen, mit dem Regierungssprecher Steffen Seibert auf seine Fragen antwortet, ist bei Jung-Fans legendär. Seit 2016 veröffentlicht Jung ganze Bundespressekonferenzen im Netz, Tausende wollen das sehen. Ob im Interview mit AfD-Rechtsaußen Andreas Kalbitz, Ökonomin Maja Göpel oder Telekom-Chef Tim Höttges: Jung hat seine Fakten immer parat und praktisch keine Hemmschwelle. Mehr als 500 Folgen hat die Gesprächs-Reihe „Jung & naiv“ inzwischen. Er will keine Partei ergreifen, das Publikum solle eigene Schlüsse ziehen, erklärt Jung in einem Zoom-Gespräch mit der Aktivistin Luisa Neubauer, „ich will das Medium sein, das euch das ermöglicht“. Dass er selbst für eher linke Werte steht, spritzt aus vieler seiner Fragen heraus, egal wie naiv und unbedarft sie daherkommen. Inzwischen dürfte sich das auch wirtschaftlich lohnen: Allein Jungs YouTube-Kanal kommt auf rund 150 Millionen Abrufe bei 423.000 Abonnentinnen. Über die Podcast-Plattformen dürften noch mal zehntausende Fans dazukommen. Seine Videos sind durch YouTubeWerbung monetarisiert, parallel läuft eine DauerCrowdfunding-Kampagne. Unterstützerinnen, die mindestens 20 Euro pro Monat überweisen, erscheinen im Abspann der „Jung & Naiv“-Folgen als „Produzenten“. Im März 2021 stehen dort die Namen von rund 500 Menschen.

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