turi2 edition #11 Fußball (in schweren Zeiten)

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Plötzlich Lebensretter Seit Christian Seifert die Geschäfte der DFL führt, jagt ein Rekord den nächsten. Doch jetzt macht die Zukunft erstmal Pause – und Seifert wechselt in den Notfallmodus

N

och nie hat Christian Seifert so viele Superlative über sich gelesen. Der Haken: Die Erwartungen, die damit einhergehen. Er ist „der oberste Krisendoktor der Bundesliga“, der „wichtigste und mächtigste Mann des deutschen Fußballs“. Seifert „muss den Fußball retten“, „hält das Steuer“ und „steht vor einer Herkulesaufgabe“. Der Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga DFL pendelt gerade zwischen Hoffnungsträger, Lichtgestalt und Wunderheiler. Attribute, die ihm vielleicht schmeicheln, ihn aber unzutreffend beschreiben. Seifert tritt eloquent und selbstbewusst auf, formuliert druckreif, stellt sich jeder Kontroverse. Er ist geschickt darin, Probleme in Kern und Einzelteile zu zerlegen, die richtigen Fragen zu stellen und gescheite Antworten zu geben. Ob protestierende Fans, fehlgeleitete Videoschiedsrichter, explodierende Transfersummen: Äußert sich Seifert dazu, findet nicht jeder gut, was er sagt. Aber seine Argumente sind fast immer bestechend logisch. Nach dem Ausbruch der weltweiten Pandemie rang auch der LigaChef länger als gewohnt um Lösungen. „Es fühlt sich an wie in einem Science-Fiction-Film“, sagt Seifert bei der Pressekonferenz nach dem ersten Treffen mit den Profiklubs zur Corona-Krise. „Lasst uns da durchkommen.“ Der DFL-Chef hat auf Notfallmodus geschaltet, er sieht blass und angestrengt aus. Doch seine Stärken zeigt er auch jetzt: Seifert

strahlt trotz allem Ruhe aus, analysiert gedankenschnell. Und begreift sofort, was die Stunde schlägt. Die Bundesliga hat ihren Spielbetrieb so lange wie möglich aufrechterhalten, auf klare Ansagen aus der Politik und Beschlüsse der Behörden gewartet. Kritiker empfanden das als zu zögerlich und wenig empathisch. Und sie schimpfen über Spiele vor leeren Rängen. Christian Seifert macht jedoch früh klar, was davon abhängt. „Wer Geisterspiele rundheraus ablehnt, muss sich keine Gedanken mehr machen, ob wir demnächst mit 18 oder 20 Proficlubs spielen. Denn dann wird es keine 20 Proficlubs mehr geben.“ Je länger die Zwangspause anhält, desto mehr verschärft sich die Finanzlage für den bezahlten Fußball. Seifert: „Es geht ums Überleben.“ Als Seifert 2005 zur DFL kommt, ist er im Fußball ein unbeschriebenes Blatt. Für den Verein seiner Geburtsstadt, den FC Rastatt 04, gibt er in der Jugend einen passablen Libero. Mit 11,3 Sekunden auf hundert Metern ist er zügig unterwegs, aber für höhere sportliche Weihen nicht gemacht. Bewunderte Kicker seiner Kindheit sind Franz Beckenbauer und Günther Netzer. Er nennt es heute „ein Privileg, solch außergewöhnliche Persönlichkeiten wie sie kennengelernt zu haben“. Beruflich zieht es den Südbadener in die Medien, also studiert er Kommunikationswissenschaft, Marketing und Soziologie, steigt danach bei der damaligen ProSieben-

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Vermarktungstochter Media Gruppe München (MGM) ein und bis zum Leiter des Produktmanagements auf. 1998 wechselte er als Marketing-Direktor zu MTV, zwei Jahre später in den Vorstand von Karstadt Quelle New Media. Bei seinen vorherigen Stationen hat Seifert Futur und Fortschritt inhaliert, er wusste schon 2005, wie epochal die digitalen Medien den Fußball verändern würden. Als er vor 15 Jahren bei der DFL anfing, setzte die Bundesliga in einer Saison knapp 1,3 Milliarden Euro um – heute bringt allein die Vermarktung der Medienrechte mehr Geld ein und der Liga-Umsatz hat sich mehr als verdreifacht. Erstmals knapp über vier Milliarden Euro Umsatz machte die Bundesliga 2018/2019. Auch ein Verdienst von Christian Seifert. Der Zuschnitt der Rechtepakete, die rechtlich diffizile Abstimmung, der gesamte Verkaufsprozess – darin hat der DFL-Chef eine Meisterschaft entwickelt. Die nächste Auktion sollte im Mai 2020 stattfinden. Das Kartellamt hat grünes Licht gegeben, Eckdaten sind bekannt. Doch die Ausschreibung wurde wegen Corona gestoppt. Die Zukunft macht Pause, die Lebensretter führen Regie. „Der Absturz“, hat Seifert vor zwei Jahren im Interview mit der „Zeit“ gesagt, „kann schneller kommen, als man denkt.“ Roland Karle Videos, Infos und Links unter turi2.de/koepfe

Foto: picture alliance

CHRISTIAN SEIFERT


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