turi2 edition #11 Fußball (in schweren Zeiten)

Page 162

JESSICA LIBBERTZ

Die, die der Ball traf

S

ie erinnert sich an „einen ziemlichen Rumms“ und dass sie gefragt hat, ob der jetzt im Bild gewesen sei. Dann an nichts mehr. Nicht daran, dass sie 30 Sekunden später schon eine Entschuldigung von Khalid Boulahrouz angenommen, die Frisur gerichtet und professionell weiter moderiert hat. Als habe sie nicht gerade live im Fernsehen einen Ball mit voller Wucht an den Hinterkopf bekommen. Dieser Moment, in dem die SkySportmoderatorin Jessica Libbertz, geborene Kastrop, auch Nicht-Fußballfans ein Begriff wird, ist zehn Jahre her. Er wurde millionenfach auf YouTube angeschaut, Stefan Raab und andere TV-Witzbolde lachten darüber in ihren Shows. Als der Ball sie trifft, ist Jessica Libbertz schon mehr als 15 Jahre lang Sportjournalistin und ein Leben lang Fußballfan. Schon ihre Urgroßmutter und Großmutter hatten Schalke 04 angefeuert und die Begeisterung für den Ballsport auch an Jessicas Vater und schließlich sie selbst weitergegeben.

„Hätte man das inszenieren wollen, hätte es nie geklappt“, sagt Libbertz

„Bei uns zu Hause war Fußball Frauensache“, sagt Libbertz. Dass sie das einzige Mädchen ist, das mit den Jungs am Montag darüber spricht, wie der 1. FC Kaiserslautern gespielt hat, fällt ihr erst in der Schule auf. In der Sportredaktion der Lokalzeitung, später bei der „Bild“, seit 2004 als Sportreporterin bei Sky (das damals noch Premiere heißt), als erste Moderatorin der Champions League in Deutschland: Libbertz war oft die einzige Frau unter Männern, „der Kanarienvogel unter Spatzen“. Sie kenne es nicht anders, sagt sie. Barrieren im Stadion habe sie „so gut wie nie“ erlebt. „Ich bin länger dabei als Christian Streich mit dem SC Freiburg in der Bundesliga. Das ringt vielen Respekt ab.“ Neben ihrem Job als Moderatorin von Bundesliga, Champions League und Uefa-Pokal ist Libbertz heute auch als Autorin und Speakerin erfolgreich. Und Botschafterin der Deutschen Sportlotterie, „um Sport auch abseits des Speckgürtels Fußball zu fördern“. Sie ist sich aber auch einig mit DFB-Präsident Fritz Keller, wenn sie den Fußball „eines der letzten Lagerfeuer der Gesellschaft“ nennt. „Das müssen wir konsequent verteidigen gegen die Fehlgeleiteten in den Fanblöcken, müssen den Mund aufmachen gegen Rassismus und Diskriminierung.“ Als die Störer der Schweigeminute für die Opfer von Hanau im Frankfurter Stadion von „NazisRaus“-Rufen übertönt wurden, hat sie eine Gänsehaut bekommen. „Genau so muss das laufen.“ Damit der Fußball aber wirklich in der Mitte der Gesellschaft ankommt, glaubt Libbertz, muss sich noch einiges ändern. Zwar sei „die Beziehung von Frauen und Fußball besser geworden“ in den letzten Jahren – starke Identifikationsfiguren fehlen aber noch immer: „Wir haben tolle Nationalspielerinnen, aber bei zwei der wichtigsten Fuß-

162 · turi2 edition #11 · Fußball

ballclubs keine Frauenmannschaft. Da kann ich nur sagen: Schämt euch, Borussia Dortmund und Schalke 04!“ Auch die Medien, sagt Libbertz, müssten begreifen, dass Frauen nicht nur hübsch lächelnd oder jubelnd zeigbar sind, sondern in ebenso athletischen Posen wie Männer. Jessica Libbertz ist weder der erste, noch der einzige Mensch, der einen Ball am Spielfeldrand abbekommen hat. Ob das Interesse so groß gewesen wäre, wenn sie keine blonde Frau, sondern ein Mann gewesen wäre, ist fraglich. „Ich glaube, die Szene war einfach zu perfekt“, sagt sie selbst. Der Ball, der während ihres letzten Satzes vom anderen Ende des Spielfeldes kommt und genau aufs Ende ihrer Moderation trifft. „Hätte man das inszenieren wollen, hätte es nie geklappt.“ Für Libbertz folgen damals Auftritte bei TV Total, Markus Lanz und im US-Frühstücksfernsehen. Sie wird Moderatorin einer Show bei ProSieben und im New-York-Urlaub erkannt als „the woman who got hit by the ball“. Ein bisschen, sagt Libbertz heute, habe ihr das damals Angst gemacht: Das Gefühl, plötzlich von allen gekannt zu werden – und dass das gar nicht so glücklich macht, wie gedacht. Einerseits ist Jessica Libbertz deshalb froh, dass sie der Ball damals getroffen hat und nicht heute: „Ich hatte damals 5.000 Freundschaftsanfragen auf Facebook – heute wäre ich nach der Szene wahrscheinlich Influencerin. Gott bewahre.“ Andererseits glaubt sie, heute könnte sie entspannter mit Folgen und Followern umgehen. Ihr neuestes Buch heißt „No Shame“ und handelt nicht vom Fußball. Sondern davon, wie stark es macht, das Gefühl der Scham zu überwinden. Anne-Nikolin Hagemann

Fotos: picture alliance (1), YouTube (2)

Für Sky-Moderatorin Jessica Libbertz war Fußball früher Frauensache. Eigentlich ist er es noch immer


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.