Trnshlvtc 01

# 1 2010

Oktober

Transhelvetica Das Kreuz Die sündige Seele, der Herr des Mythenkreuzes, Helvetarien, Kriminalfall, Windowzoo, Nera Verzasca, Waschbären, Schweden, Space Invaders, aufs Kreuz gelegt

sFr. 10.–

LEBENSRAUM

TerraSuisse, das Label für eine nachhaltige Schweizer Landwirtschaft, garantiert seltenen Tieren wie dem Wiedehopf ein Zuhause und fördert damit die Biodiversität. Mehr Infos auf www.migros.ch/terrasuisse

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser Es ist geschafft! Sie halten die erste Ausgabe von

allen Landesteilen Geschichten zusammengetragen,

Transhelvetica, dem Schweizer Magazin für Reisekul-

welche uns die Augen für die Schönheit unseres Landes

tur in Ihren Händen. Dazu gratulieren wir Ihnen – und

wieder geöffnet haben. Die Freude, die wir dabei emp-

freuen uns riesig.

funden haben, möchten wir gerne mit Ihnen teilen.

Wir Schweizer unternehmen jedes Jahr Millionen

Transhelvetica ist so aufgebaut, wie wir es von einem

von Tagesreisen, welche uns zum grössten Teil an

lockeren Berglauf erwarten: erstmal laufen wir uns

Orte in der Schweiz führen. Die Wegstrecke, die

mit Hintergründen und Kurzinformationen warm.

wir bei diesen Ausflügen unter

Danach geniessen wir den Mit-

Füsse, Schienen, Hufe und Rä-

telteil der Wegstrecke, auf dem

der nehmen, nennen wir die

wir uns mit Wanderfreunden

«Transhelvetica».

zu einem bestimmten Thema

Mit dem Magazin Transhelvetica

– beispielsweise dem Kreuz –

haben wir uns der Erforschung

austauschen und zu leichten

dieses Weges und seiner zahl-

Abenteuern inspirieren lassen.

reichen Verästelungen verschrie-

Schliesslich folgen zum gemüt-

ben, denn es beschämte uns,

lichen Auslaufen einige Beiträge

dass wir zwar die knusprigsten

zu Kunst und Kultur, bevor wir

Meerschweinchen von Ecuador

Sie inspiriert und erfrischt zu Ih-

verspeist, die gefühlvollste Mas-

ren eigenen Entdeckungsreisen

sage Indiens genossen, den

aufbrechen lassen.

höchsten Berg Afrikas bestie-

Mit der vorliegenden Ausgabe

gen und die abartigste Archi-

laden wir Sie ein, uns bei un-

tektur

ha-

seren ersten Schritten auf der

ben – aber keine Ahnung davon

«Transhelvetica» zu begleiten.

hatten, dass in Bever gut gegar-

Wir hoffen, dass Sie dabei Ihren

Japans

bestaunt

te Murmeltiere serviert, in Wald

Spass haben und würden uns

die Seele massiert, in Orsières in höchste Höhen

freuen, wenn wir Sie schon bald für die nächsten

gewandert und in Lausanne federleicht schwe-

Etappen bei Ihnen zu hause abholen dürften.

bend gebaut wird. Alles direkt vor unseren Füssen! So sind wir ausge­schwärmt und haben aus

Bild: Alex Wydler

Jon Bollmann

1

28 Aufs Kreuz gelegt

08 Kreuzgenossen

92 Schaufensterzoo 85 Mühle Hunziken 21 Der Waschbär

08 Schenkelklopfer

Sägen & Hobeln 08

Die sündige Seele 90

14 Saure Grüsse

92 Croissant-Rouge

INHALT

Einreise

07 Yoshimi Takano Birchermüesli, leergefegte

SCHWERPUNKT

HELVETARIEN

26 DAS Kreuz

76 Glatte Sachen

Strassen und das Zürcher

Alternatives Reisen

Fussballderby

28 Aufs Kreuz gelegt

Eine Entdeckungsreise

Fundstücke

Nera Verzasca, Kreuzgenossen

Alltagswunder

und Durchsicht

78 Vaudeville Studios

Herkunft

38 Verkehrskreuzungen

80 Ein Freigeist im Sägemehl

Blick hinter die Kulissen

Wie ein Schwingfest zu

der nationalen Verkehrs-

Geigenklängen inspiriert

managementzentrale

10 Nasse Kleidung Plötzlich Farbe

Avantgarde

durch Basel

08 Schenkelklopfer, Kriminalfall, Sägen & Hobeln, Weiss Kreuz,

Gedanken zur Möblierung

Bretter der Heimat

44

Kreuzweg

Auf der Via Crucis von Biasca

85 Mühle Hunziken Die Wunderkammer im Saustall

zur heiligen Petronilla ANGEWANDT

GedankengANG 12 Traumpfad

Mit Franz Hohler über den Weissbergen

50

Kreuz & Quer

Ein Railtrip von Kreuzlingen

Es war einmal Kinderreport

Culinaria Helvetica Wie aus unreifen Trauben

Textile Traditionen

nach La Croix-de-Rozon

im Averstal

14 Saure Grüsse aus dem Wallis

86 Von Appenzeller Saris

60

90 Die sündige Seele

Kreuzspinnen und Engel

Mit Kinderreporter Linus auf

KUNSTSTÜCKE

der Klosterinsel Rheinau

92 Schaufensterzoo, Strassen-

eine Delikatesse wird

farbe, Reality hacking,

GEMEINDEPORTRAIT

Theaterbonbon, Space Invaders, Croissant-Rouge

21 Der Waschbär

64 Ferien auf Balkonien

Ländliche Idylle mit präziser

Saubermann oder Putzteufel?

Vergangenheit

Ausreise

Einwanderer

95 Ab 325 m.ü.M.

Spezialist

Holländische Snowboarder

22 Der Herr des Mythenkreuzes

im Höhenrausch

Hans Reichmuth-Fleckin 96 Schweden/Impressum

07

08

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12

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21

14

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26

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76

86

85

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80

90

92

95

Transhelvetica / Das Kreuz / Inhalt 4

Landkarte: Komun.ch

24 Willkommen in der Steinzeit

38 Kreuz & Quer 60 Kreuzspinnen und Engel 50 Kreuz und Quer

92 Strassenfarbe 86 Von Appenzeller Saris 80 Ein Freigeist im Sägemehl

38 Verkehrskreuzungen 22 Der Herr des Mythenkreuzes

08 Kriminalfall

08 Weisses Kreuz 90 Kunstwanderung 12 Traumpfad 44 Kreuzweg

08 Nera Verzasca 92 Theaterbonbon

einreise

«Krass, wie menschenleer die Zürcher Strassen sind.»

Yoshimi Takano, 30, Zürich

Der Zürcher Software-Ingenieur kam vor fünf Tagen

Ich würde die herzliche und authentische Gastfreund-

von seiner neunmonatigen Reise durch Asien zurück.

schaft anordnen, die ich in Asien so oft erfahren habe.

Er war in Japan, in Südkorea, in China, auf den Phi-

Was könnten die Asiaten von der Schweiz übernehmen?

lippinen, auf Borneo und auf Bali. Da er vor dieser

Den unglaublich gut ausgebauten öffentlichen Ver-

ersten richtigen Reise Job und Wohnung gekündigt

kehr sowie einen gewissen Pragmatismus: die Easy-

hatte, wohnt er nun vorübergehend wieder in seinem

Going-Einstellung kann manchmal auch viel Zeit und

Kinderzimmer.

Effizienz kosten.

Was ärgert Sie in der Schweiz?

Was ist speziell an der Schweiz?

Die teilweise vorhandene geistige Verschlossenheit und

Ich war erstaunt, als die Autofahrer angehalten haben,

die Tendenz sich abzuschotten. Dazu betrübt mich die

um mich über die Strasse zu lassen. Ausserdem war ich

latente Fremdenfeindlichkeit – auf den Philippinen hat

es nicht mehr gewohnt, dass die Tage so lange sein

man sich bei mir dafür bedankt, dass ich die Philippinen

können – um den Aequator herum sind die Tage das

als Feriendestination gewählt hatte!

ganze Jahr hindurch immer ungefähr gleich lang.

Wo ist Ihr Lieblingsplatz in der Schweiz?

Was haben Sie während Ihrer Reise vermisst?

Die Stadt Zürich, die für mich Heimat bedeutet.

Die Menschen, die mir lieb sind, und richtiges

Von welchem Schweizer Restaurant träumen Sie nach

Birchermüesli.

neun Monaten Asien?

Was werden Sie nun zurück in der Schweiz vermissen?

Ich träumte von keinem Restaurant, sondern von Bircher-

Frische Mangosäfte und die abenteuerlichen Essstände

müesli. Leider war die Migros am Flughafen bereits

am Strassenrand. Ausserdem habe ich mich gut an die

geschlossen, so dass ich noch eine Nacht warten musste,

enormen Menschenmassen und das geordnete Chaos im

bis ich mir die frischen Zutaten kaufen und die Mutter

Strassenverkehr gewöhnt – hier scheint mir nun der

aller Birchermüeslis daraus zubereiten konnte.

Strassenverkehr sehr übersichtlich und leise.

Welches war Ihr waghalsigstes Abenteuer in der

Ebenfalls vermissen werde ich den unbefangenen

Schweiz?

Umgang mit Fremden. Während meiner Asienferien

Der Sprung vom 5 m Brett. Das war in der Primarschule.

konnte ich mehr Mensch sein als im täglichen Umfeld

Nun habe ich aber in China das Bergwandern entdeckt

mit seinen eingespielten sozialen Regeln.

und will auch in der Schweiz hoch hinaus.

Schliesslich wird mir die ungezwungen lockere Einstel-

Ihr Kulturtipp für die Schweiz?

lung und Mentalität fehlen, die ich in Asien und speziell

Das Zürcher Fussballderby zwischen dem FC Zürich und

auf den Philippinen erleben durfte.

den Grasshoppers.

Was würden Sie als König der Schweiz von Asien

Was unterscheidet die Schweiz von Schweden?

übernehmen?

Die Schweiz ist die Hauptstadt von Schweden, oder?

Transhelvetica / Das Kreuz / Einreise 8

FUNDSTÜCKE

Schenkelklopfer

Kriminalfall

Sägen & Hobeln

G’hüpft wie g’sprunge

Elementar, lieber Watson, elementar!

Historische Wassersäge

Für die grossen kulinarischen Abenteu-

Als Sir Arthur Conan Doyle der Figur des

Stellen Sie sich vor: es ist 1896 und Sie

er fährt der Schweizer in der Regel nach

Sherlock Holmes müde wurde, entschloss

wollen irgendwo im «G’jätt» aus Holz

China, ins Land der gastronomischen

er sich, diesen mit Getöse zu liquidieren.

ein grosses Hotel zimmern. Die Trans-

Barbaren und Allesfresser. Doch für das

Dazu liess er den smarten Detektiv ins

portwege für Personal und Material sind

kleine Abenteuer und den grossen Auf-

Berner Oberland reisen und stürzte ihn

lange und die Transportkosten für das

schrei der Tierschützer können wir Ih-

bei Meiringen den spektakulären Rei-

Holz werden Sie ruinieren. Trotzdem

nen auch das grüne Kreuz in Echarlens

chenbachfall hinunter.

möchten Sie nicht von Ihrem Vorhaben

am Greyerzersee empfehlen: während

Bis heute pilgern Anhänger des Meister-

abweichen. Als die Erbauer des Kur-

der kurzen Saison zwischen dem ersten

detektivs nach Meiringen, besuchen zur

haus’ Schwarzwaldalp vor ebendiesem

Winterfrost im November bis Ende Jahr

Bewältigung des Verlustes das Sherlock

Problem standen, lösten sie es mit dem

kommen dort die besten Froschschen-

Holmes Museum, lösen die 60 in der

Bau einer eigenen Sägerei ganz hinten

kel diesseits des Jura auf den Teller. Den

Statue vor dem Museum eingravierten

im Reichenbachtal. Für das Zuschneiden

Abenteuerlustigen empfehlen wir die

Rätsel und fahren mit der Bahn bis zur

der Hölzer konstruierten sie eine Säge

Degustationsplatte mit Froschschenkeln

Gedenkplakette für den Verstorbenen.

mit Wasserantrieb, welche eine effizi-

an verschiedenen Saucen, während den

Sollten Sie daran interessiert sein, das

ente Verarbeitung der grossen Stämme

Froschabstinenzlern das weitherum ge-

Haslital mit den Augen eines Krimino-

ermöglichte.

schätzte Fondue chinoise mit Pilzen und

logen zu erfahren, dann empfehlen wir

Das Kurhaus brannte ab, doch die ein-

einer speziellen Bouillon näher gelegt

Ihnen, die Angebote der Sherlock-Hol-

zigartige Sägerei blieb in Betrieb, wur-

werden kann, über dem Sie sowohl die

mes-Gedenkindustrie zu nutzen, bevor

de 1999 sorgfältig restauriert und kann

Froschschenkel ihres Tischnachbarn als

im Sog der Neuverfilmung der Vorlagen

heute wieder besichtigt werden. Und

auch die rustikale Einrichtung ausblen-

durch Guy Ritchie die nächste Welle von

wenn Sie bei der Besichtigung freundlich

den werden.

Holmes-Jüngern und Holmes-Souvenirs

fragen, dann schneidet Ihnen der Säge-

Glauben Sie uns: spätestens nach dem

das Haslital überschwemmen.

meister mit Wassersäge und Wasserho-

gastropolitisch korrekten Fribourger Meringue werden Sie entgegen ihrem kulinarischen Gewissen entscheiden, bald wiederzukommen.

Auberge de la croix verte, Echarlens, T. 026 915 15 15, geöffnet Mi – So 15h croix-verte.ch

Sherlock Holmes Museum: sherlockholmes.ch, Parkhotel du Sauvage, Meiringen BE, Unterkunft des Artur C. Doyle während seiner Schweizerreise und Schauplatz der Sherlock Holmes-Krimiwochenenden: sauvage.ch, Fahrt zum Reichenbachfall: reichenbachfall.ch

bel aus einer lokalen Tanne Ihr persönliches Sagibrettlein.

Säge Schwarzwaldalp, Meiringen, T. 033 971 35 15, geöffnet Mai bis Oktober, schwarzwaldalp.ch

Transhelvetica / Das Kreuz / Fundstücke 8

Bild: zvg, Andrew Bossi, Kurt Hürzeler

Weiss Kreuz

Nera Verzasca

Kreuzgenossen

Herberge am Säumerweg

Robuste Wurst- und Käseproduzenten

Gelebte Utopien

Die Alte Herberge Weiss Kreuz, erbaut

Die Nera Verzasca ist eine bedrohte Zie-

Das Kreuz in Solothurn ist die älteste

um Reisenden nach den Gefahren der

genrasse aus dem Verzascatal, an dessen

Genossenschaftsbeiz der Schweiz. 1973

Via Mala eine Pause zu gönnen, thront

wilden und steilen Hängen sie ihr Futter

erstanden einige Alt-68er die Immobi-

auf einem Felssporn über Splügen und

im freien Weidegang selber sucht. Die

lie, die seit dem 17. Jahrhundert eine

florierte, bis 1823 die Passstrasse über

freiheitsliebende Lokalrasse ist fast das

schummrige Hafenkneipe gewesen war,

den San Bernardino eröffnet wurde: von

ganze Jahr draussen und erträgt dank

um ihre eigenen Lebensentwürfe und

den Kutschen profitierten vornehmlich

dichter Unterwolle sowohl Minustempe-

Utopien zu leben. Dies ist ihnen trotz ver-

die Häuser nahe der Haltestelle, wäh-

raturen als auch grosse Hitze. Sie ist ro-

schiedener Widrigkeiten bis heute gelun-

rend das Weiss Kreuz seiner Gäste und

bust und geländegängig, produziert aus-

gen, was ihnen Gäste aus Fern und Nah

Bedeutung verlustig ging.

gezeichnetes Fleisch und liefert würzige

danken, welche neben der leckeren Küche

Nach einer liebevollen Renovation knüpft

Milch, aus der gesuchte Käsespezialitäten

auch das engagierte Kulturprogramm und

das Haus seit dem Jahr 2000 wieder an

wie Formaggini, Büschon und Formagel-

das Café an der Aare schätzen.

die alten Glanzzeiten an und vermag

la di Capra hergestellt werden. Wir emp-

Zwar gilt im Kreuz, dass Transparenz

dank sorgsamem Umgang mit der Bau-

fehlen Ihnen die Beobachtung der Nera

nicht nur bei der Herkunftsangabe auf der

substanz den Berggänger von heute wie-

Verzasca in freier Wildbahn anlässlich

Menukarte, sondern auch bei der Stim-

der in die Zeit zurückzuversetzen, als

einer

durchs

mung des Personals herrscht. Doch dies

noch keine Kutschen den San Bernardino

Verzascatal: zuerst können Sie sich auf

hat auch seine positiven Seiten: weil selbst

befahren konnten und die Strecke Chur-

dem ethnographischen Rundweg in Odro

die härtesten Genossenschafter nicht alle

Bellinzona zu Fuss drei Tage dauerte.

sowie bei einem kurzen Besuch im Mu-

Probleme ihrer Genossen ertrugen, wurde

Schneller wäre es auch damals gegan-

seum mit Hintergrundinformationen zum

die WG in den oberen Stockwerken auf-

gen, wenn die Säumer so gut verköstigt

Leben in der Talschaft stärken. Danach

gelöst und in einen Hotelbetrieb umge-

worden wären wie heute, denn die Kü-

brechen Sie auf in die Wildnis und legen

wandelt. So kann man heute im Kreuz die

che verwöhnt den müden Wanderer mit

bei jeder Alp einen wurst- und käsetech-

Abende durchdiskutieren und danach ein

regionaler Marktküche, die mit inspirier-

nischen Degustationshalt ein, bis Sie gut

paar Meter weiter oben die Utopien wei-

ten Einflüssen aus dem Süden überzeugt.

gesättigt sind und wissen, von wo Sie in

terträumen.

Alte Herberge Weiss Kreuz, Splügen GR, T. 081 630 91 30, Doppelzimmer sFr. 180.– bis 250.– weiss-kreuz.ch

Bild: pd, Si.Be, pd

Degustationswanderung

Zukunft Spezialitäten beziehen wollen.

Bauernhof- und Restaurantübersicht: verzasca-tourism.ch, www.odro.ch

Hotel Kreuz, Solothurn, T. 032 622 20 20 Doppelzimmer sFr. 90.– kreuz-solothurn.ch

9

Alltagswunder

Nasse Kleidung Text: Anne Bergfeld

Geysire im Herzen von Bern

Schweren Herzens begann ich, bei trübem Regenwet-

Erstens werden rauhe Fasern durch Wasser bis zu ei-

ter meine Sommerkleidung für die Überwinterung in

nem gewissen Masse geglättet, weil die Flüssigkeit sich

dunklen Kisten zu verstauen. Als der längst wieder

wie ein Netz auf der Oberfläche ausbreitet. Die Adhä-

getrocknete Bikini in meine Hände gelangte, fand ich,

sionskraft des Stoffes ist stärker als die Kohäsionskraft

er sah irgendwie fade aus. Der Vergleich mit den Ur-

innerhalb der Wassertropfen. Grössere Mengen Flüs-

laubsfotos liess keinen Zweifel zu: mein Bikini ist er-

sigkeit kleben mit dieser Kraft den Stoff an der Haut

blasst! Irgendwie verständlich, wenn man so lange von

fest. Zweitens wird die Reflexion der Oberfläche durch

seinem Element getrennt wird. Aber kann es wirklich

das Wasser verändert. Je mehr Licht von einer Ober-

sein, dass die Farben von Badekleidung intensiver

fläche reflektiert wird, desto heller scheint sie. Wasser

werden, wenn der Stoff nass ist?

bricht diese Einstrahlung teilweise und leitet sie in an-

Professor Ingo Sick vom Departement für Physik und

dere Richtungen um. Ein nasser Fleck auf normaler

Astronomie der Universität Basel korrigiert meine

Kleidung erscheint demnach dunkler als der restliche

Fragestellung umgehend: «Intensiver würde heissen,

Stoff. Das nasse weisse T-Shirt ist ein eindrückliches

dass die Primärfarben mehr zum Tragen kommen als

Beispiel für die Zusammenwirkung beider Vorgänge.

irgendwelche Farbmischungen. Dafür fällt mir kein

Der Stoff klebt an der Haut und lässt durch die geglät-

Mechanismus ein.»

teten Fasern mehr Licht auf den Körper treffen, da-

Aber etwas geschieht doch, wenn farbloses Nass auf

durch wird dieser sichtbar.

Kleidung trifft? Ansonsten wäre jeder Wet-T-Shirt Kon-

Beim Bikini wird ebenfalls ein Teil der durch Sand,

test zwar ein gutes Training für Fantasie und räumliche

wiederholtes Waschen und Rutschen angerauhten

Vorstellungskraft, aber keinesfalls Anlass für hysteri-

Oberfläche glatt, somit kann mehr Licht in den Stoff

sche Euphorie amerikanischer Studenten im Frühling.

eindringen. Dem Auge fehlt bei der Badekleidung – im

Auch der explosive Wasserhahn einiger öffentlicher

Gegensatz zum Wasserfleck auf dem T-Shirt – ein tro-

Toiletten könnte uns vorm Vorstellungsgespräch nicht

ckener Vergleichswert. Die Farbe wirkt kontrastreicher,

mit dunklen Flecken an ungünstigen Orten nervös wer-

wird dabei etwas dunkler. Oftmals werden die Nylon/

den lassen.

Lycra Mischungen durch spezielle Nassdruckverfahren

Zwei eigentlich simple Faktoren spielen bei allen oben

absichtlich bis tief in die Faser eingefärbt, sodass die-

erwähnten Phänomenen die ausschlaggebende Rolle.

ser Effekt zusätzlich verstärkt wird.

Transhelvetica / Das Kreuz / Alltagswunder

10

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Transhelvetica / Das Kreuz / Gedankengang 12

Gedankengang

Traumpfad Text und Bild: Franz Hohler

Es gibt Spaziergänge, von denen träumt man jahrelang.

Gipfelaufschwungs. Alsbald folgt ihm eine Steingeiss,

Einer davon führt über die Felsrücken der Weissberge

auch sie ohne Eile. Nach einer Weile verschwinden sie

im Averstal.

lautlos hinter der Horizontlinie.

Hat man den ersten Rücken betreten, dessen Anfang oder

Überraschend nahe ist er, der zweite Gipfel, man täuscht

Ende durch einen grossen Steinmann markiert wird,

sich gern in der Steinöde, wenn Bäume und Häuser als

steigt man auf ihm langsam höher wie über eine gewal-

Orientierungshilfen wegfallen. Zur Rechten des Mitt-

tige Treppe. Zur Linken sieht man ins Tal hinunter, zur

leren Weissbergs, auf dem die Spaziergänger jetzt ste-

kleinen weissen Kirche von Cresta, zum Dorf, das sich um

hen, wird der Piz Platta, sein düsterer Nachbar, immer

den Lebensmittelladen schart, zu den Wiesen, auf denen

schwärzer, und vor ihnen erhebt sich aus dem nächsten

die Landmaschinen hin und her kriechen und das Gras in

Tal eine unglaublich dünne Pyramide, eine geologische

Ballen zurücklassen, aber auch zu den Bergen gegenüber,

Frechheit fast.

von denen wie ein Gruss ein leichter Wind herüberweht,

Das Verlassen des Gipfels erfordert Vorsicht, man muss

welcher das Hemd des Spaziergängers angenehm bläht.

gute Stufen im abschüssigen Schutt suchen, aber dann

Der geht nun Schritt für Schritt in die Höhe, nimmt ab

gibt es als Belohnung einen Grat, der einen zum Seiltän-

und zu einen Stein in die Hand, der dünn, scharf und fast

zer macht und mit dem Gefühl erfüllt, endgültig der Tiefe

rechteckig geschnitten ist und denkt sich einen Namen für

und ihrer Anziehungskraft entronnen zu sein.

ihn aus, Marmorschiefer zum Beispiel, oder Blendspat.

Der Abstieg auf die Furgge ist kurz, von hier wird man

Manchmal muss er Felsspalten überschreiten oder um-

durch ein Felsental von afghanischer Kargheit ins Tal

gehen, die münden alle in der bestürzend steilen weissen

hinuntersteigen, zu den gemähten Wiesen, zur Kirche

Wand, Hunderte von Metern fällt sie zur obersten Alp ab.

und zum Lebensmittelladen.

Den Gipfel des ersten Weissbergs erreicht er fast zu früh,

Zwei Stunden hat der Spaziergang gedauert. Allerdings

dennoch ist es der Ort für einen Imbiss aus seinem Ruck-

musste man vorher, und das brauchte etwas mehr Zeit,

sack, der Brotgeruch ist köstlich, vom Tee in der Ther-

zum Fuss der Felswände hochsteigen, und um diese zu

mosflasche steigt ein Räuchlein auf.

überlisten, umging man sie und kletterte dann auf der

Von hier aus erblickt er sein nächstes Ziel, den zweiten

Rückseite einen Kamin hoch.

Gipfel, das Steinsignal ist gut zu sehen. Wie leicht geht

Dieser Kamin sowie das Unwissen über seine Beschaf-

er über den Grat, der in eine Senke absteigt, und wie gut

fenheit war der Grund für das jahrelange Warten des

geht es sich auf dem feinen grünen Schotter, in dem sei-

Felsspaziergängers, denn er wollte ihn lieber nicht allein

ne Schuhe etwas einsinken, als trete er auf Moos. Fel-

erklimmen, und manchmal dauert es ein bisschen län-

senmoos, sagt er sich, das ist Felsenmoos, und er sieht

ger, bis man für ein solches Unternehmen einen zweiten

mit Wohlgefallen, dass hier immer noch Blumen wach-

Spaziergänger gefunden hat, sogar wenn es der eigene

sen, die kleine violette Polster bilden oder mit blauen

Sohn ist.

Tupfen den Himmel abbilden. Mit ihm geht ein zweiter Spaziergänger, der ihn nun auf einen Steinbock aufmerksam macht. Bedächtig quert dieser das Geröll des

Buchtipp: Franz Hohler, «Das Kurze. Das Einfache. Das Kindliche.»

Ein Gedankenbuch, Luchterhand Literaturverlag, München, 2010.

ISBN 978-3-630-62189-0

13

Saure Grüsse aus dem Wallis Text und Bild: Esther Kern

Wie aus unreifen Trauben eine Delikatesse wird depuis 400 avant Jésus-Christ

Weniger Beeren bis zur Ernte reifen lassen – dafür eine bessere Weinqualität. Mit Hilfe dieser Methode haben Walliser Winzer ihre Tropfen zu Spitzenweinen geformt. Grüne Trauben, die beim sommerlichen Ausdünnen herausgeschnitten wurden, landeten lange als Kompost am Boden. Bis ein Winzer und ein Koch die Idee hatten, daraus Verjus herzustellen. Eine Erfolgsgeschichte – die wir im Walliser Salgesch bis an die Quelle zurückverfolgten.

«Ein Cordon bleu ohne Verjus, das geht gar nicht mehr!»,

Verjus als das Säuerungsmittel schlechthin. Die hiesige

sagt Diego Mathier. Generell sei die Zitrone in seiner Pri-

Wiedergeburt des Verjus fand 2005 statt. Anlass dafür

vatküche eigentlich durch Verjus ersetzt worden. «Sogar

war ein Essen von Diego Mathier beim Zermatter Gault-

den Eistee peppe ich mit Verjus auf», so Mathier. Verjus

Millau-Koch Heinz Rufibach. Koch und Winzer kommen

steht übersetzt für «grüner Saft» und wird aus unrei-

ins Gespräch. Mathier erzählt, dass er im Weinberg ge-

fen Trauben gepresst. Winzer Diego Mathier, Chef des

rade grüne Trauben schneidet. Grund: um die Wein-

Weinpro­ duzenten «Adrian & Diego Mathier Nouveau

qualität zu steigern, beschränken viele Winzer die Ern-

Salquenen» in Salgesch im Wallis, gilt als Schweizer

te auf ein Kilo pro Quadratmeter. Die abgeschnittenen

Wiedererfinder des Verjus. Er fährt mich heute an die

Trauben bleiben am Boden liegen. Doch als der Koch

Saft-Quelle, in den sommerlichen Rebberg, wo ich sel-

dem Winzer von Verjus, den er aus alten französischen

ber Hand anlege bei der Ernte der Verjus-Trauben. Nicht

Kochbüchern kennt, erzählt, wird Diego Mathier sofort

nur in Mathiers Küche, sondern auch in der Spitzen­

aktiv: Bereits eine Woche später hat Rufibach eine Fla-

gastronomie sorgte Verjus in den letzten Jahren für auf-

sche frisch gepressten Verjus aus Salgesch in der Post.

regende Geschmacksnoten. Eine neue Küchenzutat – die

Bis ich selber eine Flasche in der Hand halte, vergehen

allerdings so neu gar nicht ist. Bevor die Zitrone ab dem

anstrengende Arbeitsstunden im Rebberg. Hier ernten

16. Jahrhundert in unseren Küchen Einzug hielt, galt

ein halbes Dutzend Mitarbeiter die grünen Trauben.

Transhelvetica / Das Kreuz / Culinaria Helvetica

14

Culinaria Helvetica

15

Diego Mathier erklärt: «Pro Zweig lässt man eine Traube

Pressen noch gefiltert und pasteurisiert. So hält er sich

stehen.» Erst wird entlaubt, so haben Beeren Licht und

mindestens zwei Jahre; einmal geöffnet ist er – im Kühl-

Luft. Hängen mehrere Trauben an einem Zweig, wird in

schrank gelagert – drei Monate verwendbar.

der Regel von oben nach unten geerntet; die untersten Beeren reifen bis zur Weinernte. Den Verjus produziert

Von der Presse in die Küche

Mathier derzeit sortenrein. Das ist jedoch weniger eine

Ich aber kann nicht warten, bis der ganze Prozess abge-

Geschmacks- denn eine praktische Frage. «Nach un-

schlossen ist. In Zermatt steht bereits Heinz Rufibach in

seren Sommer-Betriebsferien ist die Syrah-Traube im

der Küche des Alpenhof Hotels. Die Flasche mit dem fri-

richtigen Stadium – manche andere Sorten sind dann

schen Verjus nimmt er freudig in Empfang, probiert – und

bereits zu süss. Mit dem Verjus suchen wir ja die Säure.»

greift zum pasteurisierten Pendant: «So ganz frisch, das ist mir doch etwas zu viel Säure.» Heute kocht er für mich

Kindheitserinnerungen an verbotene Früchte

und Transhelvetica Mistkratzerli-Brüstchen auf Stangen-

Eine Beerenprobe weckt Kindheitserinnerungen. Nichts

bohnen und Eierschwämmen mit Salgescher Verjus-Sauce.

schmeckte damals besser als halbreife – und darum ver-

Grundlage für die Sauce: Geflügelfonds und Rahm, auf-

botene – Früchte. Noch fast grüne Trauben lockten uns

montiert mit Butter. Ich darf die Sauce ohne Verjus pro-

deshalb ebenso wie die ersten grünen und noch stein-

bieren. Sie schmeckt ausgezeichnet – doch: nach Zugabe

harten Äpfel. Und genau dieses Aroma bringt auch der

von Verjus schmeckt sie ausgezeichnet frisch! Als Rufibach

grüne Traubensaft in die Küche.

2005 als erster Koch im Land und als Schweizer Co-Er-

350 Kisten mit grünen Trauben füllt das Weinberg-Team

finder den Verjus im Angebot hatte, galt der Saft als Sen-

an diesem Augusttag. Das entspricht rund 4 000 Kilo

sation und wurde in der Karte deklariert. Heute macht

Trauben. Mit knapp 2 000 Litern Verjus rechnet Diego

Rufibach das nur noch selten – Verjus ist bei ihm Alltag

Mathier. Er könnte mehr produzieren – doch der Absatz

geworden. Als Profi suche er immer wieder nach neuen,

ist noch nicht so riesig. Darum landen am Ende des Ta-

innovativen Produkten. Und welches Schweizer Produkt

ges doch noch Trauben auf dem Boden. Wie früher, in

nimmt er sich als nächstes vor? «Honig ist ein Problem»,

der Vor-Verjus-Zeit. Verjus-Blütezeiten gab

Verjus

es mehrere. Bereits vor Christus kochte man mit dem grünen Saft, hauptsächlich im Orient. Im Mittelalter galt Verjus – damals auch als Agrest bekannt – nicht nur als Säuerungs-

Bei diesen Produzenten können Sie Verjus kaufen: Weinproduzent

mittel für Speisen, sondern auch als Medizin,

Adrian & Mathier Nouveau Salquenen VS, T. 027 455 75 75, nouveau-salquenen.ch,

etwa als kühlendes, Fieber senkendes Mittel.

mathier.com. Weingut Schloss Salenegg, Maienfeld GR, T. 081 302 11 51,

Wegen der Zitrone ist Verjus in Europa fast

schloss-salenegg.ch, verjusbio.ch. Val Nature Genossenschaft, Susten-Lenk

ganz aus dem Angebot verschwunden. Im

VS, T. 027 473 34 40, valnature.ch, verjusbio.ch

Orient hat sich der Saft über die Jahrhunder-

Hier wird mit Verjus gekocht: Alpenhof Hotel, Restaurant «Le Gourmet»,

te als Küchenzutat gehalten. Am Tag nach der

Zermatt, alpenhofhotel.ch, Reservationen: T. 027 966 55 55, das À-la-

Ernte stehen wir frühmorgens an der Presse.

Carte-Restaurant ist jeweils im Winter geöffnet, diese Saison von

Für seinen ersten Verjus hatte Mathier die

4. Dezember 2010 bis 25. April 2011

Trauben einfach gepresst, den Saft abgefüllt und nach Zermatt geschickt. Mittlerweile ist die eine oder andere Verfeinerung ins Spiel gekommen.

sagt Rufibach. Es gebe zu wenig gute einheimische Ange-

So werden die Trauben heute unter Beigabe von Tro-

bote, hauptsächlich wegen des Bienensterbens. «Ein Trau-

ckeneis verhackt und in die Presse gefüllt. Dank tiefer

benblütenhonig, wäre das etwas?», frage ich Rufibach, der

Temperaturen verlangsamt sich der Oxidationsprozess

mit einem Schmunzeln antwortet. Sicher ist: ein innovati-

und der Verjus bleibt grün – das Trockeneis baut sich mit

ver Winzer wartet im Tal unten auf neue Herausforderun-

dem Schmelzen sofort vollständig ab. Bereits nach einer

gen. Vielleicht essen Koch und Winzer ja mal wieder zu-

Stunde darf ich die erste Kostprobe geniessen. Für den

sammen und es gibt bald noch mehr kulinarische Gründe,

frühen Morgen sehr sauer. Aber der Grundgeschmack

nach Salgesch und Zermatt zu reisen.

macht Lust, ab in die Küche zu gehen. Was ich denn auch tue. Kellermeister Cedric Leyat zapft mir eine Flasche Verjus ab. Für den Verkauf wird der Saft nach dem

Esther Kern, Gourmet-Journalistin und Geschäftsführerin von waskochen.ch, besucht die spannendsten kulinarischen Schauplätze des Landes.

17

H el ve ti ca C

ul in a

ri a

Mistkratzerli-Brüstchen auf Stangenbohnen und Eierschwämmen mit Salgescher Verjus-Sauce Von Heinz Rufibach, Alpenhof Hotel, Zermatt

5 dl Geflügelfond 2,5 dl Rahm

und leicht salzen und auf kleinem Feuer auf die Hälfte einköcheln lassen (ca. 2 Stunden)

2 EL Butter

aufmontieren (eiskalte Butter­ stücke mit Schneebesen oder Mixer einrühren)

2 EL Verjus

beigeben, mixen und mit Salz und Pfeffer abschmecken

4 Brüstchen vom

200 g Stangenbohnen

80 g Eierschwämme

und

1 gehackte Knoblauchzehe

in

1 EL Butter

sautieren

3 EL Gemüsebouillon

beigeben, einige Minuten köcheln, mit Salz und Pfeffer abschmecken

mit Salz und Pfeffer würzen und

1 EL Butter

in der Pfanne knusprig braten

4 Thymianzweiglein

beilegen und 10 Minuten im Ofen bei 160 Grad garen (idealerweise auf einem Gitter mit Tropfunterlage)

gleich gross, gewaschen

½ gehackte Schalotte

Mistkratzerli* 2 EL Olivenöl

halbieren, in Salzwasser weich blanchieren

Servieren

Stangenbohnen und Eierschwämme in tiefe Teller geben.

Etwas Sauce darüberträufeln, Mistkratzerli-Brüstchen darauf anrichten.

* das sogenannte Suprême – Stück, also Brüstchen mit unterem Flügelteil. Bei manchen Metzgern auf Vorbestellung – der echte Metzger-Profi schneidet einem die Mistkratzerli vor Ort in die richtige Form. Aus den Abschnitten kann man beispielsweise einen Fond zubereiten, die Schenkel separat verwenden.

18

UNTERWEGS In der region Salgesch ist ein Winzerdorf im Oberwallis, direkt an

Neben dem Château findet sich Teil eins des Walliser

der Sprachgrenze. Gute Kost und Logis findet man

Weinmuseums, von dem man über den Weinweg in rund

im benachbarten Sierre (Siders). Wir empfehlen das

zwei Stunden nach Salgesch gelangt, zum Teil zwei des

Hotel de la Poste. Das Gebäude aus dem 18. Jahrhun-

Museums. Wer ausschliesslich idyllische Weglein durch

dert wurde 2007 renoviert, die Zimmer sind frisch

steile Reben erwartet, wird allerdings enttäuscht sein:

und ruhig, das Personal ausgesprochen zuvorkom-

vor dem Hintergrund von Geschichtstafeln präsentiert

mend. Im Bistro des Hotels soll man gemäss Diego

sich hier ein moderner Weinbau. Eine Liste der unzäh-

Mathier sehr gut essen – als wir da waren, hatte das

ligen Weinkellereien – durch die man sich natürlich

Restaurant Betriebsferien. Zwei Minuten vom Hotel

durchdegustieren kann – gibts beim Tourist-Office.

entfernt steht das Restaurant Didier de Courten. Der gleichnamige Chef war 2006 Koch des Jahres. Seine

Hotel de la Poste, Rue du Bourg 22, 3960 Sierre,

Küche: künstlerische Arrangements, aussergewöhn-

T. 027 456 57 60, hotel-sierre.ch

liche Kombinationen (z.B. ein ausgezeichneter Fisch

Restaurant Didier de Courten, Rue du Bourg 1, 3960 Sierre,

an Anis-Fenchel-Sauce). Wer es mag, dass Haute Cui-

T. 027 455 13 51, hotel-terminus.ch

sine einhergeht mit korrekten, aber kühl-reservier-

Restaurant Château de Villa, Rue Ste Catherine 4, 3960

ten Kellnern, die einem die komplizierte Menuabfol-

Sierre, T. 027 455 18 96, chateaudevilla.ch

ge leider nicht auf Deutsch erklären, dem könnte es

Walliser Reb- und Weinmuseum, Rue Sainte-Catherine 6,

hier gefallen (Menu ab sFr. 145.–). Für Käse­g erichte

3960 Sierre, T. 027 456 35 25, museevalaisanduvin.ch

geht man ins Château de Villa, das erhöht über der

Tourist-Office Sierre-Salgesch, Place de la Gare 10, 3960

Stadt thront.

Sierre, T. 027 455 85 35, sierre-salgesch.ch

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Schweizer Jugendherbergen. So muss es sein.

HOSTELLING INTERNATIONAL

19

NaturschutzausstelluNgeN

Auch für Frackträger: Naturschutzausstellungen im Zoo Zürich Der Zoo Zürich zeigt insgesamt sieben Naturschutzausstellungen. Sie sind als multimediale Erlebnisse konzipiert und vermitteln kulturelle, geschichtliche und zoologische Hintergründe.

Beim Ausstellungsrundgang entdecken Kinder und Erwachsene gemeinsam, was Mensch und Tier im Gleichgewicht hält, und wie unser Verhalten zum Schutz der Tiere und ihrer Lebensräume beiträgt.

Zoo-Öffnungszeiten: März bis Oktober 09.00 –18.00 Uhr (Masoala Regenwald ab 10.00 Uhr) November bis Februar 09.00 –17.00 Uhr (Masoala Regenwald ab 10.00 Uhr) www.zoo.ch/naturschutzausstellungen

Einwanderer

Der Waschbär Text: Sandra Leite

und dicken Ästen bevorzugt. In Menschennähe richtet er sich auch gerne in Dachböden und anderen Räumlichkeiten ein, womit er zum Teil erhebliche Schäden verursacht. Unterlassen Sie es daher, den Waschbären zu sich nach Hause einzuladen oder ihn zu füttern. Er kann gut für sich selber sorgen.

Schliesslich ist zu erwähnen, dass der Waschbär ein bemerkenswertes Gedächtnis hat. So konnte er sich im Experiment noch nach Jahren daran erinnern, wo er wie an Nahrung kommen kann. Es empfiehlt sich daher, ihm von Anfang an freundlich gegenüberzutreten.

Verbreitung Der erste Waschbär wurde 1976 in Schaffhausen gesichtet. Mittlerweile leben in der Schweiz zwischen Genf und Buchs mehrere hundert Exemplare.

Einer der wohl putzigsten Einwanderer der Schweiz ist der Waschbär. Ursprünglich wegen seines schönen Pelzes aus Nordamerika nach Deutschland importiert, ist ihm vor rund 80 Jahren die Flucht aus den Gehegen der Fellmützenhersteller geglückt, worauf er auf dem alten Kontinent heimisch geworden ist. Seit 30 Jahren auch in der Schweiz. Um Ihnen ein harmonisches Zusammenleben mit Ihrem neuen Nachbarn zu ermöglichen, haben wir ein paar Hintergründe zu diesem drolligen Einwanderer zusammengetragen:

Zu Besuch beim Waschbären

Der Waschbär ist ein vorwiegend nachtaktiver Kleinbär

Unsere Waschbärenwanderung startet in Grandson, wo

von bis zu 70 cm Körperlänge und 9 kg Gewicht. Seinen

wir bis zur abendlichen Schliessung im Schloss den tap-

Namen hat er sich erworben, weil er gerne im Wasser

feren Eidgenossen huldigen, welche Karl den Kühnen in

unter Steinen nach Nahrung tastet – was den Anschein

die Flucht geschlagen haben. Wir wollen jedoch keine Ein-

erweckt, das Znacht würde vor dem Verzehr gründlich

wanderer verjagen, sondern sie lediglich beobachten. So

gereinigt. Typischerweise trägt er eine Gesichtsmaske

wandern wir dem Neuenburgersee entlang ins verträumte

und einen schwarz-weiss geringelten Schwanz.

Concise, wo wir uns für die bevorstehende Besteigung des

Der Waschbär lebt meist in losen Kleingruppen in flussna-

Mont Aubert mit lokalem Wein sowie feinen Käse- und

hen Laubmischwäldern. Er ist jedoch sehr anpassungsfä-

Fleischspezialitäten stärken. Beim Aufstieg pirschen wir

hig und keineswegs auf ein Leben auf dem Lande fixiert:

dann durch den herrlichen Laubmischwald des Waschbä-

manch moderner Waschbär entwickelt urbane Vorlieben

ren, der uns ja vielleicht zu einem Kaffee einlädt.

und bevorzugt ein Leben in der Stadt, wo der Allesfresser vom einheimischen Schrebergartenrübli, über Schnecken bis zum orientalischen Nasi Goreng ein abwechslungsreiches Nahrungsangebot findet.

In der Natur verschläft der Waschbär seine Tage hoch oben in den Bäumen, wofür er alte Eichen mit Baumhöhlen Transhelvetica / Das Kreuz / Einwanderer Illustration: komun.ch

21

Der Herr des Mythenkreuzes Von der Verwaltung und der Pflege des Mythen Text: Anne Bergfeld

Anders als in den meisten Sprachen haben wir einen

Klippen im Herzen eines Mannes. Auf die Nachfrage, wie

Begriff, der die tiefe Verbundenheit beschreibt, mit der

es zu dieser grossen Passion für einen Berg kam, reagiert

ein bestimmtes Fleckchen Erde zur Familie wird: Hei-

Reichmuth-Flecklin erstaunt. Er sei Alpinist. Zudem sei

mat. Über die eigenen vier Wände hinaus ist die Ver-

der Mythen der Mythen. Der Mythen, das sei nicht nichts!

trautheit mit diesem Ort in seiner Innigkeit einmalig und

Man schaue sich alleine an, wie viele Ergebnisse man er-

dauert ein Leben lang. In der Heimat ist das Grün des

reiche, wenn man versuche, den Berg zu googeln, oder

Grases ein anderes. Der Geschmack der Luft, die Härte

noch besser: im Telefonbuch nachzuschauen. Der Name des Mythen werde hundert-

des Wassers, die Position eines jeden Baumes, der Abstand zwi-

1 8 98,6 m Klippen im Herzen eines Mannes

fach ver­wen­det, vom Taxi­unter­neh­men, vom Ein­­­kaufs­­zentrum bis

schen den Bergen und wie viel diese vom Himmel preisgeben. Selbst nach Jahr-

hin zum Zürcher Mythenquai. Diese Ehre sei nicht jedem

zehnten in der Ferne überkommt den Heimkehrer die-

Berg gegeben und habe seine Gründe.

ses einmalige Gefühl. Im Rummel der Städte mag man

Wann er das erste Mal dort oben stand, daran könne

dies hin und wieder verdrängen, eine moderne Gesell-

er sich gar nicht mehr erinnern. Als Bub, vielleicht mit

schaft kennt kein Heimweh. Doch spätestens, wenn der

der Schule. Und unzählige Male seitdem. Jeden Morgen

mondäne Stadtzürcher zum Weihnachtsbesuch in das

beim Aufwachen ist der Schwyzer Hausberg das Erste,

Haus seiner Eltern einkehrt und melancholische Szenen

was Hans Reichmuth-Flecklin schon vom Bett aus sieht.

seiner Kindheit in die Landschaft projiziert, wird auch

Erstmals bekomme ich den Eindruck, mit dem Familien-

dem hipsten Anzugträger warm ums Herz. Wir hatten

mitglied eines Berges zu sprechen.

eine Begegnung mit einem Spezialisten seiner Heimat.

Wenn Hans Reichmuth-Flecklin erzählt, wird schnell

Die Eigentümer des Mythen

deutlich, dass sich das Leben des Präsidenten des Ver-

Tatsächlich kommt man in punkto Mythen aus mehreren

eins der «Mythenfreunde» und Geschäftsführers der Ge-

Gründen nicht an der Türklingel von Hans Reichmuth-

nossame Schwyz um und auf einem Berg abspielt. 1 898,6 m

Flecklin vorbei: nicht der Kanton, sondern die Genossame Transhelvetica / Das Kreuz / Der Herr des Mythenkreuzes

22

SPEZIALIST

23

Der Sage nach sei genau dies daraufhin geschehen.

Dass in den letzten fast 150 Jahren noch so manch anderer seinen Weg über 47 Windungen nach oben fand, ist in besonderem Masse einer kleinen Gruppe Schwyzern zu verdanken, die im Spätsommer 1863 von der Schönheit der Aussicht so fasziniert waren, dass sie sie mit möglichst vielen Menschen teilen wollten. Schon ein Jahr später konnte der Weg eingeweiht werden.

Bequem, mit maximal 35% Steigung, können seitdem erfahrene Bergfreunde wie Anfänger das erhabene Gefühl des Gipfels erleben.

Das Mythenkreuz und die zweite Geige Oben angekommen trifft der Wanderer auf ein schlichtes, etwa mannshohes Gipfelkreuz aus Holz, datiert auf anno 1790. Seitdem zwar mehrfach erneuert, da Blitzschlag und Witterung auch die härtesten Balken auf Dauer bezwingen, doch im Grunde leistet Josef Betscharts Holzkonstrukt solide Dienste. Viele Gipfelkreuze erledigen eine einsame, aber bei Berggängern sehr willkommene Aufgabe: sie signalisieren die Ankunft nach einem langen, beschwerlichen Aufstieg. Sie sind Motivation, wenn Grosser Mythen

die Schritte qualvoll werden, bieten verlässlichen Halt für Menschen und durchnässte T-Shirts und lösen Gefühle der

Schwyz ist offizielle Besitzerin des Mythen. So lautet der

Erleichterung, manchmal gar Tränen aus. Das Gipfelkreuz

Grundbucheintrag. Der Wanderweg, der den Gipfel für

ist die Majestät des Berges, sollte man meinen. Doch bevor

nahezu jeden Fussgänger zugänglich macht, ist Werk

vor allem die weniger Bergerfahrenen unter uns bei An-

und Hauptzweck des Vereins der Mythenfreunde.

kunft auf dem Mythen begeistert auf die Knie fallen, sollten sie zumindest wissen, dass es sich beim Objekt der Wert-

Von der Erstbesteigung zum Massentourismus

schätzung nicht um das Mythenkreuz handelt. Zwar mag

Dabei hätte der Gipfel seine erste Begegnung mit

man sich im Falle des Holzkreuzes auf dem Mythen bewun-

menschlichen Füssen vielleicht besser treffen können. In

dernd fragen, wie sehr sich wohl Herr Betschart abgemüht

der Legende heisst es, dass einst ein Übeltäter von einem

haben mag um es dort hinauf zu bringen, und was ihn motiviert hat, als Erster den höchsten Punkt des Ber-

AUsflugstipp

ges zu markieren. Es bleibt rückblickend für ihn zu

Am ersten August nach einem nahrhaften Brunch mit dem

bitter wäre er enttäuscht! Sein Kreuz war zuerst

Schiff von Luzern über den Vierwaldstättersee, bei Brunnen

oben, es trotzt 365 Tage im Jahr beharrlich Wind

das Feuerwerk betrachten und anschliessend mit dem bren-

und Wetter – doch der Stolz der Mythenfreunde gilt

nenden Kreuz im Hintergrund wieder ablegen.

einem anderen. Willkommen an der zweiten Geige.

hoffen, dass seine Absichten nicht auf legendären Ruhm und Berühmtheit seines Namens zielten. Wie

Demgegenüber versetzt das Mythenkreuz, das Weitere Infos: «Wie der Grosse Mythen zum Wanderweg wurde», 125 Jahre Mythengesellschaft/Mythenfreunde, Triner Druck AG, 1988, Schwyz (vergriffen, für 2013 ist eine Neuauflage geplant). mythenregion.ch, rosser-mythen.ch, sac-mythen.ch, genossame-schwyz.ch

wahre, die Mythenfreunde ins Schwärmen! Ein Schweizer Kreuz, vier oder vielleicht sogar fünf Meter hoch, wird traditionell zum 1. August am Berg in extra dafür vorgesehenen Verankerungen aufgehängt. Die Konturen sind mit Pfannen gerahmt, in die Torfmull gegeben wird. Exakt um

Scharfrichter dazu verurteilt wurde, den damals noch

22.00 Uhr am 1. August, direkt nach dem Feuerwerk am

unbestiegenen Berg zu erklimmen. Sollten die Götter mit

See, werden diese Fackeln entzündet und das Mythen­

ihm Gnade walten lassen und er unbeschadet zurückkeh-

kreuz strahlt über das gesamte Tal von Schwyz, bis hin

ren, so würden die Schwyzer ihm die Freiheit schenken.

zu den Schiffen, die in Brunnen angelegt haben.

Transhelvetica / Das Kreuz / Der Herr des Mythenkreuzes

24

doch in den letzten Jahren betätigt er sich prioritär als Wetterschmöcker für den 1. August auf dem Mythen.

Bis spätestens 19.30 Uhr wartet die Truppe oben auf sein Signal. Er nennt es «Point of no return». Wenn jetzt nicht schnellstens mit den Vorbereitungen begonnen wird, kann das Mythenkreuz nicht mehr pünktlich strahlen. 2010 war ein bisschen verzwickt: um 19.30 Uhr wirkte der Himmel noch ruhig und später zogen doch Gewitter auf. Die Kosten für den Verein bleiben, ungeachtet dessen, ob das Feuer entzündet wird oder nicht, immer gleich, denn die aufgestiegenen Helfer müssen verpflegt werden. Doch Hans Reichmuth-Flecklin scheint sich nicht darüber zu grämen, denn er hat das Kreuz im Herzen und in den Augen, die darob zufrieden strahlen: «Kennen Sie das Herz-Jesu Feuer in Südtirol? Wenn das Mythenkreuz brennt, sieht es ähnlich aus. Wunderschön!»

Anziehungskraft des Vereins Mythenfreunde 500 zahlende Mitglieder zählt der Verein der Mythenfreunde zurzeit, ohne dass es ein Programm mit anderen Aktivitäten gäbe. Zwischendurch – als sie ein bissDer Herr des Mythenkreuzes

chen Werbung machten – waren es mal ein paar mehr.

Die 20 Franken Mitgliedschaftsbeitrag pro Person und

Seit der ersten Bundesfeier, also seit 1891, wird dieser

Jahr müssen, zusammen mit der Hüttenpacht vom Gip-

Brauch des illuminierten Kreuzes gepflegt, wann immer

fel, als Einnahmen für die Pflege des Wanderwegs und

das Wetter es zulässt. Anschliessend reinigt man es und

des Mythenkreuzes reichen.

bringt es für die 364 restlichen Tage im Jahr zur Ver-

Den Löwenanteil des Aufwands verschlingt der Un-

wahrung in die Berghütte auf dem Gipfel, wo es unter

terhalt des Wegs; aber auch hier kann Hans Reich-

dem Jahr nur in äusserst seltenen Ausnahmefällen her-

muth-Flecklin auf den Fleiss, die Motivation und das

vorgenommen wird, beispielsweise für die Bundesfeier-

Ehrenamt einiger Liebhaber des Mythen zählen. Denn

spiele 1941, an denen das Feuer 18 Abende hinterein-

Gleichgesinnte scheint es zu geben! Sogar einen 100er

ander brannte.

Club hat es, dessen wenige Mitglieder Myhtenliebe in

Dass das Kreuz in Richtung Schwyz gerichtet wird, be-

extremis betreiben: um dabei sein zu dürfen, muss

stärkt die Anhänger des Glaubens, dies sei die Vorderseite

man innert Jahresfrist mindestens 100 mal zu Fuss

des Mythen. Viele Einwohner Einsiedelns können sich mit

hinaufgehen. Und die Mitgliedschaft muss jährlich er-

diesem Gedanken nicht wirklich anfreunden.

neuert werden. Über den SAC, genauer über die SAC Sektion Mythen,

Das flammende Kreuz an der Wand

ist Hans Reichmuth-Flecklin zum Vereinsleben gekom-

Ursprünglich wurde das Mythenkreuz vom Bundesfeier-

men. Als Sektionspräsident wurde er vor gut 15 Jahren

komitee 1891 in Auftrag gegeben und anschliessend dem

automatisch Vorstandsmitglied der Mythengesellschaft.

Verein der Mythenfreunde (damals noch «Mythengesell-

Als vor einigen Jahren der amtierende Präsident der

schaft») überlassen. Seitdem macht sich in jedem Jahr ein

Mythenfreunde überraschend verstarb, übernahm Hans

Trupp Freiwilliger, überwiegend aktive Vereinsmitglieder,

Reichmuth-Flecklin spontan seine Aufgaben und wurde

auf den gemeinsamen Weg nach oben, um das Kreuz feier­

bald offiziell in dieser Rolle bestätigt.

lich zu präparieren und an der Felswand zu befestigen.

In seinem Beruf bei der Genossame verwaltet er den

Ist die Aufhängung abgeschlossen, klettern schwindelfreie

Mythen und entscheidet gar, welches Grossvieh auf wel-

Vereinsmitglieder den sprossenähnlichen Zwischenräumen

cher Weide steht. Im Vereinsleben pflegt er den Mythen.

des Grundgerüsts entlang, um die Feuer vorzubereiten.

Er habe schon viele Aufgaben gehabt und wahrgenom-

Als Vereinspräsident entscheidet Hans Reichmuth-Flecklin,

men, wovon er einige auch wieder niedergelegt habe.

ob die Witterung für den Festanlass ausreichend stabil

Aber den Mythen, sagt Hans Reichmuth lächelnd, den

ist. Früher hat er oft auch beim Rüsten mitgeholfen,

gebe er nicht her.

25

DAS KREUZ Das Kreuz ist ein Symbol, welches seit Menschengedenken an Höhlenwände, Baumstämme und Toilettenhäuschen geritzt wird.

Religionen und Philosophien sehen darin die einzelnen Elemente, welche in dieser Form zu einer Ganzheit finden. Auch die Schweiz mit Ihrem Reichtum an Kulturen und Mentalitäten hat sich das Kreuz auf die Fahne geschrieben, weshalb wir unseren ersten Schwerpunkt ebendiesem widmen wollen.

26

Fotografie: Peter Muster Bild: Keystone

27

Bei Basel, da denken wir an den FC, die berühmten Museen, den Rhein, das Münster, den Barfüsserplatz und die Läckerli. Sonst noch etwas? Obwohl wir schon einige Male am Rheinknie waren, wollte uns spontan nichts mehr einfallen. Darum entschieden wir uns, die Stadt einmal mit einem anderen Ansatz zu entdecken.

Text: Jon Bollmann, Bild: Alex Wydler

7 Hotel Krafft & Consum 8 Zum Schmale Wurf

5 Hoosesaggmuseum

9 Linde und Fischerstube

Marktplatz Helvetia

4 Caffè.tee.ria

6 Zum Roten Engel Höheners Bioladen

10 Münsterfähre 11 Café zum Isaak 3 Neue Synagoge

Freie Strasse

Lieu dit Paulskirche

1 Kulturecke am Birsig

2 Zolli Basel

Tourismusbüro Basel

29

Transhelvetica / Das Kreuz / Alternatives Reisen 30

Normalerweise fahren wir in Basel

in den Rundlauf ermöglicht. Also los!

dem

im Bahnhof ein, steigen ins Tram

Der Stadtrundgang ist ein Wechsel-

frei nach Luther, ein «Versammlungs-

und rollen direkt ans Ziel unserer

bad der Gefühle. Einerseits trotten wir

haus für die feiernde Gemeinde» ent-

Reise: die Innenstadt, ein Museum

trostlosen Häuserzeilen entlang, die

gegen. Ein schöner Ansatz. Allerdings

oder das Fussballstadion. Doch viel-

uns wuchtig daran erinnern, dass die

wird bei unserem Besuch gerade die

leicht hat die Stadt ja noch mehr zu

neue Garde Basler Top-Architekten wie

nächste Zusammenkunft der Gemein-

bieten? Um dies herauszufinden, neh-

Diener & Diener oder Herzog & deMeu-

de vorbereitet, was bei uns Schaudern

men wir eine zufällige Stichprobe und

ron leider noch nicht so lange am Ru-

auslöst: die Melodien, die der Orgel

wagen uns in weniger bekannte Quar-

der sind. Andererseits stossen wir auf

entlockt werden, erinnern mit ihren

tiere der Stadt.

Sehenswürdigkeiten, die wir ohne den

blechernen, raumfüllenden Dissonan-

Dazu steuern wir direkt in die Touris-

organisierten Zufall kaum aufgespürt

zen an Momente, in denen sich die

musinformation, wo wir uns erstmal

hätten. Die Entdeckungen wollen wir

Damen im Kino hinter ihrer Beglei-

nach

in drei Kategorien einteilen: Kult, Ku-

tung oder im Rollkragenpullover ver-

linarik und Kultur.

bergen. Wir fühlen uns wie im THX-

einem

Stadtplan

erkundigen.

Die Dame hinter dem Tresen, eine Mi-

gewohnten

Kino,

schung aus der Brunnenfigur eines ty-

erste

Frontalunterricht,

Reihe

und

machtlos

pischen Basler Trinkwasserbrunnens

Cuius regio eius religio

gegenüber allem, was auf der übergro-

und der Lehrerin von Calvin (& Hobbes),

Auf der transzendentalen Ebene ist die

ssen Leinwand vor uns geschieht. Sol-

zeigt uns deren zwei: einen einfachen in

gewählte Route eine doppelte Offenba-

len die biblischen Plagen aufgeführt

der Grösse A4, den wir umsonst erhal-

rung: eine düstere und eine erhellende.

werden? Wir verlassen die Kirche

ten, und einen gefalteten im Hosenta-

Das düstere Erlebnis beginnt, als

fluchtartig, bevor die experimentellen

schenformat, für den

Orgelfingerübungen un­

eine Schutzgebühr von

erwünschte Dämonen

Kaum in Basel angekommen, verlangt eine

wecken und freuen uns

geschützt wird, bleibt

grimmige Dame bestimmt und unmissver-

Sonne an der unortho-

uns allerdings verbor-

ständlich schutzgeld von uns. Wir bezahlen.

50 Rappen zu entrichten ist. Wer hier wovor

gen. Die Basler vor Touristen?

in

der

reinigenden

doxen Architektur der Pauluskirche, welche dem Architekten Moser

Touristen

vor den grimmigen Damen im Touris-

sich bei unserem Stadtspaziergang

diverse Aufträge für weitere Bauten

musbüro? Wir bezahlen, setzen uns ins

durch eine beschauliche Wohnge-

(beispielsweise das Kunsthaus Zürich

nächste Café und zeichnen die Route des

gend plötzlich ein Platz öffnet mit

und den badischen Bahnhof Basel) so-

heutigen Stadtrundganges auf die Karte.

einer eindrücklichen Kirche darauf.

wie eine Anstellung als Professor an

Um Neues zu entdecken, orientie-

Deren eigenwillige Architektur zwi-

der ETH Zürich einbrachte.

ren wir uns für einmal nicht an den

schen Romantik und Jugendstil löst

Doch der Gotteshäuser sind viele in

bekannten Wahrzeichen der Stadt,

bei uns Assoziationen mit englischen

Basel und so stehen wir kurze Zeit spä-

sondern nehmen bei der Routenwahl

Gotteshäusern aus, wie wir sie aus

ter unverhofft vor der neuen Synagoge.

den Zufall zu Hilfe: entsprechend

dem verfilmten DaVinci Code kennen.

Der Besuch dieses Monumentes müsste

dem Thema dieser Ausgabe malen

Dazu erkennen wir schnörklige, irisch

eigentlich im Voraus vereinbart werden,

wir ein Kreuz auf die Karte, das uns

inspirierte Täto­ wierungen auf Turm

doch wir haben Glück und werden auf

eine Leitlinie durch die Stadt sein soll.

und Türmchen, die wir so eher von

Nachfrage hin für einen Augenschein

Das könnte man total zufällig machen,

Göläs Oberarmen kennen als von Got-

hineingelassen, der sich bald zu einer

doch weil wir schon lange nicht mehr

teshäusern. Das muss eine spezielle

veritablen Führung durch die Synagoge

in Basel waren, legen wir das Kreuz

Kirche sein.

ausdehnt. Synagogen sind sehr wand-

so, dass uns die Route auch nach

Das Innere ist trotz spärlichem Tages-

lungsfähig und nehmen oft die architek-

Kleinbasel und per Fähre über den

licht

und

tonische Sprache ihrer Umgebung auf.

Rhein führt. Wir finden: soviel Mani-

freundlich. Die ungewöhnliche Raum-

Relevant ist weniger die Form, als viel-

pulation des Glücks darf sein. So ha-

aufteilung – auf Chor und Schiff wurde

mehr die darin stattfindende Versamm-

ben wir bald eine Sightseeing-Route

zugunsten einer grossen runden Kup-

lung der Gläubigen zur gemeinsamen

auf der Karte, welche uns gleich hinter

pel verzichtet – bricht mit der klassi-

Toralesung. Diese kommt bemerkens-

der Elisabethenanlage einen Einstieg

schen Hierarchie der Kirche und stellt

werter Weise problemlos ohne Rabbi

überraschend

einladend

31

aus, denn es lesen die Gemeindemitglie-

dem interessierten Besucher viele Ge-

Culinaria basilea

der im Turnus aus der Tora (die ungefähr

schichten erzählen könnten. Nur beim

Um auf unserem Rundlauf nicht zu ver-

den ersten Büchern Mose entspricht).

Andreasplatz beschäftigen wir uns noch

hungern oder zu verdursten, haben wir

Dabei tritt derjenige, der zur Tora geru-

einmal mit Sakralbauten, denn wäh-

stets nach flüssigen und festen Häpp-

fen wird, zum Vorlesepult und berührt

rend wir dort eine Auszeit nehmen vom

chen Ausschau gehalten. Dabei konnten wir vom Kinderfutter im Zolli

die bereitliegende Torarolle mit den züzeligen Fäden, welche

bis zum Häppchen im Trois Rois

Jüdische Gemeinde in Basel

dem religiösen Juden aus dem Wams herausbaumeln und ihn wie Knoten im Taschen­tuch an

die ganze Bandbreite der Basler Kulinarik degustieren – was wir im Sinne eines optimalen Leserservices bereitwillig auf

die religiösen Gebote erinnern.

Danach beginnt die Toralesung

Die erste urkundliche Erwähnung von Ju-

uns genommen haben.

mit mindestens drei Versen pro

den in Basel stammt aus dem Jahr 1213.

Trendig ist die Kulturecke am

Vorleser, wobei kein Absatz mit

Diese erste mittelalterliche Gemeinde wurde

Birsig im Nachtigallenwäldeli,

einem für Israel unheilvollen

im Januar 1349, als in Europa die Pest wü-

wo wir auf eigenwillige Loka-

Inhalt beginnen oder abschlie-

tete, grausam verbrannt, weil man ihnen die

le stossen, die der ebenso ei-

ssen darf.

Schuld für die Epidemie zuschrieb.

genwillige Zermatter Künstler

Bei unserem Besuch findet ge-

Die wenigen Juden, die sich danach wieder

Heinz Julen mit seinen Stühlen

rade keine Lesung statt – aber

in Basel ansiedelten, wurden 1400 aus Basel

und Leuchtern ausgestattet hat:

wir dürfen in den gegen Jerusa-

ausgewiesen und konnten sich erst 1799 wie-

die Barracca Zermatt, welche

lem ausgerichteten Toraschrein

der in der Stadt niederlassen – wo sie dann

im Winter Walliser Bergroman-

hineinschauen, in dem die Rol-

1805 eine neue Gemeinde gründeten. Ihre

tik an den Rhein trägt, sowie

len aufbewahrt werden. Lei-

Ansiedlung war lange Zeit umstritten und

das Restaurant Acqua, wel-

der gilt auch in der Synagoge:

führte zu Aussagen wie dieser aus dem Juli

ches mit Leckereien und edlen

«mit den Augen schauen!»,

1839: «Baselland hat den Juden jeden Auf-

Tropfen italienischer Proveni-

denn da die Herstellung der

enthalt auf seinem Gebiete, ausser an den

enz ins alte Wasserwerk lockt.

von Hand geschriebenen Rol-

Markttagen, untersagt. Alle Handlungsdiener

Wer – zu Recht! – intensiv völ-

len sehr aufwändig und teuer

jüdischen Glaubens sollen binnen einigen Ta-

lert, der kann danach in den

ist, werden die Rollen nie am

gen das Land verlassen.»

angegliederten

Pergament angefasst sondern

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

und Kuppel die Kalorien wieder

nur an den Holzstangen gehal-

wendete sich das Blatt: 1868 konnte die alte

wegschmelzen lassen.

ten – so bleibt die Schrift lange

Synagoge eingeweiht werden und ab 1872

Kulinarisch

leserlich. Da sich unser hebrä-

wurden Juden ins Bürgerrecht aufgenommen.

bodenständig geht es auf dem

isches Vokabular auf ein paar

1897 fand in Basel der erste Zionistenkongress

Marktplatz zu und her, an dem

wenige Worte vom Lagerfeuer

statt, an welchem Theodor Herzl die Basis für

täglich Leckereien von nah

beschränkt (Stichwort «Hevenu

die Gründung des Staates Israel 1948 legte.

(Chlöpfer!) und fern angebo-

Clubs

traditionell

Annex

und

ten werden. Für das Highlight

shalom aleichem»), können wir

sorgt aber das Hotel Krafft in

aber auch ohne weiteres auf eine Leseprobe verzichten und bewun-

hektischen Rummel der Altstadt, richten

Kleinbasel, eines der schönsten Hotels

dern die kunstvoll verzierten Pergamen-

wir unseren Blick auf den Boden, wo

der Stadt. Es wurde 2005 bestimmt,

trollen rein visuell.

wir eine Markierung aus andersfarbigen

aber rücksichtsvoll renoviert und ver-

Im weiteren Verlauf des Tages stossen

Pflastersteinen entdecken. Diese mar-

eint heute die besten Ingredienzien

wir noch auf viele Kirchen und Kapel-

kieren die Umrisse der ehemaligen Ka-

aus 100 Jahren Hotellerie: Parkett

len, doch unser Appetit nach Religion

pelle St. Andreas, welche 1792 abgeris-

aus der Gründerzeit, Designklassiker

ist nach den Blechbläsern der Paulus-

sen wurde und Platz gemacht hat. Unser

von Vitra, massgefertigte Möbel aus

kirche und der Führung in der neuen

Tisch steht an der Stelle des ursprüng-

den 50er Jahren, behutsames Licht

Synagoge fürs Erste gestillt. Darum er-

lichen Altars, doch wir verschieben ihn

und moderne Bäder. Wer hier näch-

sparen wir uns weitere Besichtigungen

dahin, wo wir den ehemaligen Standort

tigt wird glücklich. Als das Haus 2008

von Gotteshäusern, obwohl etwa das

des Weihwasserbeckens vermuten. Das

um eine Dependance erweitert wurde,

Münster oder die Elisabethenkirche

Wasser schmeckt uns köstlich.

konnte man den Jugendstil-Boden des Transhelvetica / Das Kreuz / Alternatives Reisen

34

ehemaligen Hotel National in Montreux

wenn man am Aeschenplatz steht

übernehmen, mit dem man die Laden-

und aus allen Himmelsrichtungen von

bar Consum verzierte. Gerne würden

Bausünden beleidigt wird.

wir die vorzüglichen Plättchen von Sa-

Dasselbe gilt für die Kuriosa, welche

lami- und Käsespezialitäten sowie ein

sofort auftauchen, wenn der Blick

Glas aus der beeindruckenden Samm-

frei wandern darf – etwa zur Basler

lung von über hundert Weinen direkt

Wallstreet oder zum Sitz der Spitex

vom Boden essen – aber das wäre dann

Basel – an der Feierabendstrasse.

doch nicht ganz comme il faut.

Dazu treffen wir beim Eingang zum

Für den währschaften Imbiss möch-

Zolli auf einen gräuslich gestalteten

ten wir Ihnen die etwas schmuck­

Brunnen, auf dem das Zürcher Wap-

losen Restaurants Linde und Fischer­

pen prangt. Wir gehen davon aus,

stube empfehlen, welche sich vor

dass sich die Basler mit dem Anbrin-

allem dadurch auszeichnen, dass

gen eines Zürcher-Wappens auf dem

das Bier tadellos und frisch ist: das

hässlichsten Brunnen der Stadt über

Ueli Bier wird nämlich im eigenen

den grossen Rivalen lustig machen

Keller gebraut und passt bestens zu

wollten. Später lernen wir aber, dass

allen Gerichten auf der Speisekarte.

die Zürcher den Brunnen anlässlich

In der Linde haben einige Tische so-

des «Brunnenaustausches» von 1980

gar ihren eigenen Bierhahn, was bei

ans Rheinknie geliefert haben. Man

durstigen Gesellschaften von Inter-

kann wohl von Aussortieren sprechen.

esse zu sein scheint.

Im Gegenzug haben die Basler einen

Und schliesslich wollen wir Ihnen

ihrer kunstvollen Basilisken-Brunnen

auch den Schmalen Wurf nicht vor-

an die Limmat geschickt – der heute

enthalten. Dieses kleine Lokal mit viel

an der Zürcher Sihlporte ein tristes

Kultur hat sich unter anderem da-

Dasein zwischen Tramgleisen und

durch verdient gemacht, dass es im

Transitstrasse fristet.

EM-Sommer 2008 gegen das Rhein­

Natürlich kann man Basel nicht ohne

ufer hin zusammen mit den Som-

Museumsbesuch bereisen. Und ob-

mergärten der angrenzenden Betrie-

wohl wir nun wirklich nicht auf der

be Hecht und Krafft die «Bierinsel»

klassischen

schuf: während in der Fanzone aus-

wegs sind, stolpern wir noch über

schliesslich Carlsberg ausgeschenkt

eines: das Hoosesaggmuseeum, wel-

wurde, gab es auf der Insel weiterhin

ches gerade mal so gross ist wie eine

Biervielfalt zu geniessen. Dass die

halbe Haustüre. Die Bewohner des

Uefa die drei Lokale zur Strafe hinter

Imbergässlein 31 kuratieren es seit

einem blickdichten Zaun verstecken

1996 mit monatlich wechselnden

wollte, tat dem Spass hinter Gittern

Ausstellungen.

aber keinen Abbruch und verleitet

Museumsbesuche machen uns im-

uns dazu, hier auch Jahre später

mer etwas müde. Darum sind wir

noch ein Solidaritätsbier zu heben.

sehr verständnisvoll, wie wir auf die

Es schmeckt. Und dem signierten Bild

pausierende Helvetia treffen. Nach

beim Tresen nach zu urteilen, hat es

einem Gang durch die Stadt stellte sie

hier auch Lionel Ritchie gefallen.

Schild, Speer und Koffer ab, legte den

Museumsroute

unter-

Mantel über die Brüstung und ruht Cultura et curiosita

sich nun nachdenklich rheinabwärts

Basel setzt in der Eigenwerbung nicht

blickend aus. Wir setzen uns einen

umsonst auf Kunst & Kultur. Dieser kann

Moment zu ihr hin, lassen den Blick

man nämlich nur aus dem Weg gehen,

zum Horizont schweifen und genie-

wenn man die Augen schliesst – oder

ssen die Nähe zu Muttern.

35

Spalentor Transhelvetica / Das Kreuz / Alternatives Reisen 36

Leider sind nicht alle Skulpturen, mit

Fuhrwerke Ware auf den Platz brach-

Im Zug packen wir die Eindrücke des

denen die Stadt möbliert wurde, von

ten oder Turniere darauf ausgetragen

Tages noch einmal aus und machen

Arp, Tinguely, Luginbühl oder Eichlin.

wurden. Heute ist der Münsterplatz

eine

Bei der Heuwaage wundern wir uns

mangels Läden und dank den beiden

res Stadtspazierganges. Dabei finden

beispielsweise über die kontroverse

Restaurants abseits des hektischen

wir in unserem Gepäck eine schöne

Skulptur «lieu dit», welche so aussieht,

Treibens der Unterstadt eine Oase

Sammlung an neuen Impressionen aus

als hätten Plastiken von Bernhard Lu-

der Ruhe und aber auch als Veran-

verschiedenen Quartieren, welche un-

ginbühl und Niki de Saint Phalle eine

staltungsort für männiglich Anlässe

serem Bild von Basel eine ganz neue

wüste Nacht miteinander verbracht.

etabliert. Mit seinen intakten Häuser-

Prägung gegeben haben. Wir haben

Dafür ist Basel eine Hochburg der

zeilen und dem majestätischen Müns-

viel Neues entdeckt und gleichzeitig

kleine

Auslegeordnung

unse-

Streetart – was wir schon der hohen Qualität von Graffitis ansahen, die uns bei der Einfahrt in den Bahnhof SBB die Tristesse der einbetonierten Gleisfelder vergessen liessen. Beim Nachtigallenwäldeli künden perfekt gesprüh-

Colligatio et informatio 1. Die Kulturecke am Birsig besteht aus dem Club Kuppel, geöffnet Di, Do,

te Tiere den Zolli an und in den Gassen

Fr & Sa abends kuppel.ch; dem Restaurant Acqua, geöffnet Di – Fr zum Mittag- und

der Altstadt finden wir schöne Sieb-

Abendessen, am Sa nur abends acquabasilea.ch; dem Club Annex theannex.ch und

druckplakate, Kleber und Schablonen-

der Baracca Zermatt, in welcher von November bis April Fondue aufgetischt wird

Bilder, welche allerdings nicht immer

baraccazermatt.ch, alle im Nachtigallenwäldeli

zum dahinterstehenden Gebäude pas-

2. Zolli Basel, täglich 8 – 17.30h (je nach Jahreszeit auch länger), zoobasel.ch

sen möchten.

3. Israelitische Gemeinde Basel, Leimenstrasse 24, nach Vereinbarung, T. 061 279 98 50, igb.ch

Zeitreise Auf unserem gesamten Rundgang

4. Caffè.tee.ria Paganini, Birmannsgasse 1, Mo – Fr 8 – 18h, Sa 9 – 17h, caffe-paganini.ch

geniessen wir das grösstenteils er-

5. Hoosesaggmuseeum, geöffnet rund um die Uhr, hoosesaggmuseum.ch

halten gebliebene Stadtbild, halten

6. Zum Roten Engel, Andreasplatz 15, T. 061 261 20 08, Mo – Sa 9 – 24h, So 10 – 22h

da und dort inne und versuchen uns

7. Hotel Krafft & Consum, Rheingasse 12 & 19, T. 061 690 91 30, Zimmer ab

vorzustellen, wie es in Basel vor ein paar hundert Jahren zugegangen sein muss. Als wir in der Münsterfähre sitzen und uns von der Strömung über den Rhein spülen lassen, sehen wir vor dem geistigen Auge die bessern Leute, welche sich den hohen Brückenzoll leisten können, über die

sFr. 170.-, hotelkrafft.ch 8. Zum Schmale Wurf, Rheingasse 10, T. 061 683 33 25, täglich 11 – 24h, So bis 23h, schmalewurf.ch 9. Linde und Fischerstube, Rheingasse 45, T. 061 692 94 95, täglich bis 24h (Linde So geschlossen), uelibier.ch 10. Rheinfähren fahren täglich und bei jeder Witterung, ausser bei Hochwasser. Sommer 9 – 19h, Winter 11 – 17h, 1 Fahrt sFr. 1.60, faehri.ch 11. Café zum Isaak, Münsterplatz 16, T. 061 261 47 12, täglich 11 – 23.30h, zum-isaak.ch

mittlere Brücke laufen, während wir das Bugwasser der günstigen Fähre unter uns durchglucksen lassen.

ter weiss er dazu auch optisch zu

das Gefühl gewonnen, dass wir hier

Auf dem Münsterplatz lassen wir uns

überzeugen und es verwundert nicht,

noch weit mehr finden könnten, wenn

noch weiter durch die Zeit treiben, als

dass hier die Crème de la Crème von

wir uns noch ein paar Mal durch die

wir im Kopfsteinpflaster eine Inschrift

Basel wohnt.

Stadt schlängelten. So packen wir den

finden, welche den Standort des ältes-

Aufgewacht in der Gegenwart wer-

Tag zufrieden zusammen und freu-

ten Brunnens der Stadt, einem 20m

fen wir uns ins Getümmel der Freien

en uns schon auf den nächsten Be-

tiefen Sodbrunnen aus der Römer-

Strasse, dem Rodeo Drive Basels, wo

such – für den wir uns einen grossen

zeit, markiert. Da der Platz seit 2007

die besten Labels ihre Verkaufspunkte

schönen Baslerstab auf die Karte ma-

vom Verkehr befreit ist, kann man

haben. Wer will, kann sich hier noch

len werden.

sich – bei einem feinen Stück Scho-

etwas Gutes tun oder kaufen, bevor

koladekuchen im Café Isaak! – auch

der Rundlauf durch Basel endet und

gut vorstellen, wie im Mittelalter die

uns wieder nach Hause entlässt.

37

Nationale Verkehrsmanagement zentrale Per aspera ad Astra Text: Jon Bollmann, Bild: Alois Jauch

Wenn morgens und abends der Berufsverkehr anschwillt und sich in der Ferienzeit die intrakontinentalen Verkehrsflüsse auf dem Schweizer Stras­sennetz kreuzen, dann rotieren in Emmenbrücke die Spezialisten des Bundesamtes für Stras­sen, damit wir möglichst reibungslos ans Ziel kommen.

Transhelvetica / Das Kreuz / Verkehrskreuzungen 38

39

Blauer Himmel, gute Sicht. Sie ge-

ist einer Stras­ senampel nachempfun-

niessen den Wind in den Haaren, die

den: rot, orange und grün. So erzählt

Sonne wärmt Ihnen die Haut und

Wijnhoff in immerwährendem Dunkel-

Sie freuen sich auf den sich nähern-

orange davon, was hier in den letzten

den Apéro mit guten Freunden. Doch

Jahren aufgebaut wurde: Auslöser

plötzlich stockt der Verkehr und Sie ste-

für den Aufbau der Verkehrsmanage-

hen unvermittelt im Stau, der das An-

mentzentrale war die Neugestaltung

stossen in grössere Ferne rücken lässt.

des Finanzausgleiches, mit welchem

Wenn Sie nicht zu denjenigen Leuten ge-

Verkehrsmanagement, Unterhalt und

hören, die aus unerfindlichen Gründen

Betrieb der Nationalstras­sen per 2008

jeden Tag im selben Stau stehen, also

vollumfänglich zu einer Bundesaufgabe

unerwartet aufgehalten werden, dann

werden sollte. Zuvor war dies Aufgabe

werden Sie sich vermutlich über den

der Kantone, welche diesen Auftrag mit

unvorhergesehenen Stopp ärgern, den

unterschiedlicher Weitsicht ausführten.

weiteren

umkalkulieren

So konnte es sein, dass man im Tessin in

und ein, zwei Telefonate machen. Da-

den Gotthard hineingewunken wurde,

nach kuscheln Sie sich in ihrem Autositz

obwohl bei der Wetterlage auf der Al-

in die Position für Schritttempo und re-

pennordseite angezeigt gewesen wäre,

cken – ein Zeichen der Ohnmacht – die

etwas weniger Fahrzeuge in den Tunnel

geballten Fäuste in die Höhe.

zu schleusen, um einen Rückstau in den

Tagesablauf

Tunnel hinein zu vermeiden. Und wenn Im Blickfeld der Kameras

dann die Urner den Schnee geräumt

Wenn Sie sich gerade unter einem Ver-

hatten, war es keineswegs sicher, dass

kehrsschild, bei einem Tunneleingang

auf der anderen Seite des Seelisberg

oder an einem anderen neuralgischen

nicht doch noch Schneeketten ange-

Punkt des Nationalstras­sen­netzes be-

bracht gewesen wären – welche man

finden, so stehen die Chancen

Kreuzungen

gut, dass Ihre Geste der Unzufriedenheit registriert wird.

Rund um die Uhr senden hunderte von Kameras im ganzen

In der Schweiz rollt rund 80% des gesamten Verkehrs über die

Land Bilder an die Verkehrs-

Stras­sen. Die grösste Kreuzung der Schweiz befindet sich beim Au-

managementzentrale (VMZ) in

tobahnabschnitt Rothrist, wo auf einer Länge von rund 10 km der

Emmenbrücke, wo eine Grup-

gesamte Ost-West-Verkehr mit dem Nord-Süd-Verkehr kreuzt. Hier

pe von Spezialisten im Auftrag

treffen täglich über 80 000 Fahrzeuge aufeinander, was im Schnitt

des Bundesamtes für Stras­sen

über 24 Uhr ca. ein Fahrzeug/Sekunde bedeutet. Mehr Verkehr hat

(Astra) den Verkehr auf den

es in den Agglomerationen von Genf/Lausanne, Bern, Basel, Luzern

Nationalstras­sen

und Zürich – mit Spitzenwerten in Basel Schweizerhalle von täglich

überwacht.

Das Ziel dieser Observation

gegen 140 000 Fahrzeugen.

ist es, heikle Verkehrslagen zu erkennen und so zu beeinflussen, dass kein Stau auftritt. Wenn

bei der Baustelle in Luzern wieder

Ihr Motor also im Leerlauf dreht, dann

hätte demontieren können. Heute sind

wird in der VMZ agiert.

zwar noch dieselben Leute und Maschinen im Einsatz wie vor dem NFA,

Entstehung VMZ

doch die koordinierte Planung und

Der VMZ-Leiter, Marc Wijnhoff, emp-

Entlöhnung erfolgt zentral durch das

fängt uns in seinem Büro im 3. Stock.

Astra. Dessen zentraler Fokus liegt auf

Durch die Fenster dringt ein immerwäh-

dem flüssigen Verkehr für das gesamte

render Sonnenuntergang in sein Büro,

Nationalstras­sennetz, wozu die zuwei-

denn die Hülle des bei der Autobahnaus-

len bis knapp vor die Kapazitätsgren-

fahrt Emmen-Nord gelegenen Gebäudes

ze belasteten Nationalstras­sen besser Transhelvetica / Das Kreuz / Verkehrskreuzungen

40

bewirtschaftet werden sollen. Mittler-

in der Wasserröhre. Er wird zum Hin-

weile ist die Verkehrsmanagement­

dernis, lässt die auffahrenden Autos

zentrale in Emmenbrücke seit zwei

abbremsen, verursacht Wirbel und

Jahren in Betrieb. Hier laufen alle

stört den Durchfluss. Gemäss Studien

Infor­mationen zusammen, welche den

können derartige Fahrer eine Ketten-

Verkehr auf den Nationalstras­ sen be-

reaktion auslösen, weil Autofahrer auf

einflussen können: Polizeimeldungen,

vor ihnen aufleuchtende Bremslich-

Baustelleninfos, Zahlen der in die Stras­

ter reagieren. Dadurch entsteht eine

se eingelassenen Verkehrszähler, Wet-

bis zu 30 km/h schnelle Bremswelle,

terprognosen sowie Fernsehbilder der

die sich entgegen der Fahrtrichtung

Verkehrsströme.

Daraus

versuchen

bewegt und nach kurzer Laufzeit zu

die Spezialisten ein Gesamtbild der

einem spontanen Stillstand des Ver-

Verkehrslage zu erstellen, woraus sie

kehrs führen kann. Wenn jedoch der

Prognosen über Ort, Grösse und Dau-

Verkehr ab einer bestimmten Dichte

er des Staus erstellen. Diese

bewegungsmelder

werden dann über ViaSuisse und GPS an die Autofahrer weitergegeben,

welche

ent-

sprechend auf die Meldun-

Heute unterhält das Astra für die 1 789 km Nationalstrasse rund 500

gen reagieren können. Ziel ist

Kameras, will diese Zahl aber auf 1 000 – 2 000 steigern. Dazu kom-

es, die Zahl von heute 11 829

men unzählige Kameras der Kantonspolizeien sowie weiterer Ämter,

jährlichen Staustunden signifi-

die damit ihre eigenen Interessen verfolgen. Jede Kamera am Stras­

kant zu reduzieren, denn nicht

senrand hat ihren eigenen Zweck und den dazugehörenden Funkti-

nur der oekologische, sondern

onsumfang. Die Kameras der VMZ, welche nur die Verkehrssituation

auch der volkswirtschaftliche

vermitteln müssen, erkennen beispielsweise aus Datenschutzgrün-

Schaden dieser Störungen ist

den keine Gesichter oder Nummernschilder. Aufgrund dieser unter-

enorm. Vor diesem Hinter-

schiedlichen Bedürfnisse, Einschränkungen und Techniken breitet

grund sind die 20 Leute, wel-

sich der Kamerawald am Stras­senrand kontinuierlich aus. Die meis-

che in der VMZ im Schichtbe-

ten Kameras sind an bestehenden Strukturen (Brücken, Verkehrs-

trieb arbeiten, gut investiertes

schilder, etc.) befestigt und mit Emmenbrücke verkabelt. In abge-

Geld. Doch vorderhand haben

legenen Gebieten oder bei kurzfristigen Installationen (Baustellen)

die Augen in Emmenbrücke

geschieht die Informationsübertragung zur Zentrale über das Mobil-

noch weitgehend beobachten-

funknetz, die Stromversorgung über Sonnenkollektoren.

de Funktion, denn die Zentralisation und Synchronisation der Infrastruktur braucht Zeit. Und

gesamthaft gebremst wird, dann ist

selbstverständlich hat jeder Kanton ein

die Chance gross, dass alle Automo-

eigenes System, um die Signalisations-

bilisten der gemeinsamen Geschwin-

anlagen zu steuern. Darum müssen die

digkeit gewachsen sind. Damit wird

Beobachter vom Astra jeweils mit ihren

weniger gebremst und der Verkehr

Kollegen der lokalen Kantonspolizei

läuft störungsfrei. Wenn Sie nun in

sprechen, wenn sie für einen Stras­

gemütlicher Sitzposition, mit den Ar-

senabschnitt die Geschwindigkeit re-

men im Himmel im Stau sitzen, dann

duzieren möchten. Und das tun sie oft,

denken Sie an Ihre Beobachter in Em-

denn unterschiedliche Tempi sind ein

menbrücke. Grüssen Sie sie mit spon-

wichtiger Faktor für die Staubildung.

tanen Plakaten oder lassen sie Prali-

Gemäss Wijnhoff rollt der Verkehr über

nen ausliefern – vielleicht wird man

die Stras­sen wie Wasser durch Röhren:

dann ihren Stau vor demjenigen auf

mit Vorliebe gleichmässig und störungs-

dem Rest des Autobahnnetzes aufzu-

frei. Wenn nun ein einzelner Fahrer

lösen versuchen.

langsamer fährt als alle anderen, so verhält er sich so störend wie ein Stein Transhelvetica / Das Kreuz / Verkehrskreuzungen 42

XXXX

Die Via Crucis von Biasca «Der Kreuzweg in der Atheisten Hochburg» Text: Omar Gisler, Bild: Rémy Steinegger Die meisten Reisenden Richtung Süden lassen das Städtchen Biasca links liegen – zu Unrecht, denn der Kreuzweg zu den Wasserfällen der Heiligen Petronilla ist etwas vom Schönsten, was das Tessin zu bieten hat. Benito Mussolini erbrachte dort einst den Beweis, dass Gott nicht existiert.

Transhelvetica / Das Kreuz / Die Via Crucis von Biasca 44

45

45

Am Anfang war das Wort, und dieses wurde im

Tamagni und Mauro Valsangiacomo ausgeschmückt

4. Jahrhundert von Gefolgsleuten des Mailänder

wurden. Sie ersetzten die verblassten Fresken.

Bischofs Ambrosius in die drei Täler Leventina,

Während des rund zwanzigminütigen Spaziergangs

Riviera und Blenio gebracht. Dort, wo sich die

gibt es aber noch mehr zu entdecken als bloss Zeug-

Stras­ se zum Gotthard und Lukmanier gabelt, lie-

nisse der Volksfrömmigkeit. Nach dem siebten Bild-

ssen die Mailänder Kirchenfürsten ein Gotteshaus

stock stösst man beispielsweise auf die Überreste

errichten. Und was für eines! Die dreischiffige Pfei-

des in den Felsen gehauenen Kanals, der einst das

lerbasilika Santi Pietro e Paolo in Biasca gilt als ei-

Wasser der «Froda» (der Begriff für Wasserfall im

nes der wichtigsten romanischen Baudenkmäler der

lokalen Dialekt) ins Dorf brachte. Zwischen dem

Schweiz. Der Bau der Mutterkirche der ambrosia-

zehnten und elften Bildstock wiederum erhebt sich

nischen Täler geht auf das 12. Jahrhundert zurück,

auf der Bergseite eine imposante Trockenmauer, die

doch ihr Ursprung dürfte noch viel, viel älter sein.

das Gelände eines alten Granitsteinbruchs begrenzt.

Erbaut mit Bruchstein der Region, wächst sie in den Fels – besonders gut sichtbar ist das im Chor, wo der

Petronilla – Schutzpatronin der Reisenden

nackte Granit hervortritt. Wie sehr der unbekannte

Wesentlich spektakulärer ist indes die Stein­b rücke,

Baumeister der Landschaft Tribut gezollt hat, zeigt

die bei den Wasserfällen über den Froda-Bach

sich auch darin, dass er sich um die vorschriftsge-

führt. Unmittelbar hinter der Brücke befindet sich

mässe West-Ost-Ausrichtung foutierte, um das Ant-

die Wallfahrtskirche Santa Petronilla, der End-

litz der Kirche den beiden Talschaften Leventina und

punkt des Kreuzweges. Sie ist insofern ein Unikat,

Blenio zuwenden zu können. So thront das Gottes-

als dass sie der einzige Sakralbau im Tessin ist,

haus in stolzer Abgeschiedenheit mitten unter alten

welcher der Heiligen Petronilla geweiht ist. Diese

Edelkastanien am Berghang.

war der Legende nach die Tochter des Apostels Petrus

Ein Blick in die Kirche lohnt sich auch für Leute, die

und ist die Schutzpatronin der Reisenden sowie der

mit Religion nichts am Hut haben. Die Betrachtung

Stadt Rom. Somit verbindet die Kapelle auf subtile

der Wandmalereien aus dem 13. bis 17. Jahrhundert

Weise die Hauptkirche von Biasca mit dem Petersdom

gleicht einer Reise durch fünf Jahrhunderte lombardischer Malkunst. Besonders gut erhalten ist etwa der Sennenheilige Luzius, der mit seinem grossen Käselaib in der linken Hand von einem der Seregnesi gemalt wurde (der Legende zufolge wurde Luzius

in der kirche wartet der

von seinem Herrn umgebracht, da er aus

sennenheilige Luzius mit einem Grossen

ein und derselben Menge Milch zweimal Käse machen konnte, welchen er dann an

laib käse in der hand

die Armen verteilte). Ein weiterer Blickfang sind die roten und schwarzen Figuren, die ein unbekannter Maler zwischen den dekorativen Flächen in den Gewölbekappen verteilt hat: ein Pferd als Sieger über den satanischen

in Rom, dem Ziel zahl­reicher Pilger, die, vom Gotthard

Wolf, ein Schmied als Meister des Feuers mit dem

oder Lukmanier her kommend, Biasca passierten.

wachsamen Hahn, Schlange und Löwe als Symbole

Darüber hinaus wurde Petronilla auch bei Fieber und

des Bösen sowie dessen Überwindung oder der Pfau

Krankheit angerufen. Die Leute von Biasca errich-

als Zeichen der Unsterblichkeit. Auf einen Menschen

teten die Kapelle im 17. Jahrhundert, als schwere

des Mittelalters muss dieser bunte Bilderreigen ge-

Pestepidemien die Eidgenossenschaft heimsuch-

wirkt haben wie ein Videoclip.

ten. Dass Petronilla bei schwerer Krankheit zu Hil-

Ein natürliches Kontrastprogramm bietet der Kreuz-

fe gerufen wurde, geht aus ihrem eigenen Schick-

weg, der gleich neben der Kirche beginnt. Die Via

sal hervor. Der Überlieferung zufolge weigerte sie

Crucis führt durch lichte Kastanienhaine an vier-

sich, den heidnischen Sohn eines hochrangigen rö-

zehn Bildstöcken vorbei, die 1998 mit Mosaiken der

mischen Beamten zu heiraten. So wurde bekannt,

Künstler Giuseppe Bolzani, Max Läubli, Giancarlo

dass sie eine Anhängerin des Christentums war.

Transhelvetica / Das Kreuz / Die Via Crucis von Biasca

46

Um ihr ein Martyrium zu ersparen, bat ihr Vater

abruptes Erwachen. Im Historischen Lexikon der

Gott um Hilfe in Form einer Krankheit. Petronilla

Schweiz erfahren wir dazu Folgendes: «Kennzeich-

verstarb schliesslich friedlich im Schlaf.

nend für die Geschichte von Biasca in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ist die beachtliche Anzahl

Bergsturz brachte Tod und Verderben

von Atheisten sowie eine Reihe von Zwischenfällen

An dem idyllischen Platz am Bach mit der wunderbaren

antiklerikaler Art. Noch 1980 war Biasca die schwei-

Aussicht auf Biasca und Umgebung fällt es einem zwar

zerische Gemeinde mit dem höchsten Anteil an Kon-

schwer, an Tod und Verderben zu denken. Dennoch

fessionslosen. Ursache dieses Phänomens ist wohl

wurde Biasca mehrmals vom Schicksal heimgesucht.

der Einfluss der Einwanderer und Eisenbahnarbei-

Nicht nur während den furchtbaren Pestepidemien der

ter im 19. Jahrhundert.» Die Baustellen entlang der

Jahre 1584 und 1629/30. Von der grössten Katastro-

Gotthardstrecke und die Granitsteinbrüche hatten

phe zeugt der Schuttkegel am Eingang des Blenio-Tals,

zahllose Arbeiter aus Italien angelockt. Arbeitsbe-

die sogenannte Buzza di Biasca. Das Gestein donner-

dingungen und Löhne waren jedoch derart misera-

te in der Nacht des 30. September 1513 vom Monte

bel, dass sich hier die erste Gewerkschaftsbewegung

Crenone ins Tal hinunter und begrub das schlafende

des Tessins mit ihrem Organ «Lo scalpellino» («Der

Dorf unter sich. Doch dies war erst der Anfang der Tra-

Steinmetz») formierte. Nebst sozialistischen kamen

gödie. Das Geröll bildete nämlich einen über sechzig

auch anarchistische und atheistische Ideen in Mode,

Meter hohen Damm, der den Fluss Brenno staute. So

und zwar sowohl unter den Zugewanderten als auch

entstand in den darauffolgenden Monaten ein fünf Kilo-

unter den Einheimischen. Schliesslich haben die

meter langer See mit einer Wassermenge von 200 Mil-

Biaschesi der Obrigkeit schon seit jeher getrotzt.

lionen Kubikmetern, der das Dorf Malvaglia vollständig

Bei der Brücke, die zur Petronilla-Kapelle führt,

(bis auf die halbe Höhe des Kirchturms!) unter Was-

erinnert eine Gedenksäule daran, dass die Einwoh-

ser setzte. Die umliegenden Weiler und Felder wurden

ner von Biasca den Statthalter Mailands im Jahre

ebenfalls überflutet. Am 20. Mai 1515 brach der Damm.

1292 – also bloss ein halbes Jahr nach dem Rütli-

Die sich ins Tal ergiessenden Wassermassen verwüste-

Schwur – dazu zwangen, ihnen weitgehende Freihei-

ten Biasca, die Riviera, die Region Bellinzona und die

ten zu gewähren. Eine unumstrittene Autorität war

Magadino-Ebene. Zahlreiche Menschen verloren ihr

auch die Kirche nie. Die Jäger schossen schon mal

Leben, und die Schäden waren enorm. Zerstört wurde

auf die Kirchturmspitze, wenn sie ein Gewehr aus-

etwa die 1487 errichtete Torretta-Brücke in Bellinzona

probieren wollten.

sowie Teile der Mauer, welche die Brücke mit den Burgen verband. Der Verkehr zwischen den beiden Ufern

«Gott existiert nicht»

des Ticino bis zum Lago Maggiore blieb während Jahr-

So störte man sich in Biasca denn auch nicht son-

hunderten unterbrochen, was zur Folge hatte, dass

derlich an dem Grossmaul namens Benito Mussolini,

Locarno zur Randregion verkam.

das im Juli 1902 auftauchte und die Priester als

Die Bewohner Biascas beschuldigten ihre Nachbarn

«schwarze Wächter des Kapitalismus» verhöhnte. Er

von Malvaglia, sich durch Zauberei vom aufgestauten

gebe Gott zehn Sekunden, um ihn mit einem Blitz zu

See befreit zu haben. Es kam deswegen sogar zu einem

bestrafen, tönte der junge Mann auf dem Dorfplatz.

Prozess, bei dem die Bewohner von Malvaglia von jegli-

Und als nach zehn Sekunden nichts dergleichen ge-

cher Schuld freigesprochen wurden. Trotzdem blieb das

schah, lächelte er: «Seht ihr? Gott existiert nicht.»

Klima zwischen den beiden Orten durch Zweifel und

Der junge Mussolini kam immer wieder nach Biasca.

Verdächtigungen noch lange Zeit vergiftet. Das schwer

Nicht zuletzt wegen einer Kellnerin im «Ristorante

beschädigte Biasca verlor für Jahrhunderte seine Be-

del Ponte», mit der er eine Liaison hatte. Später, als

deutung: der Sitz der Kreisverwaltung wurde nach

er nicht mehr der mittellose Landstreicher, sondern

Osogna verlegt, und viele Leute verliessen das Dorf.

Italiens mächtiger Duce war, machten in Biasca die

Selbst das nahegelegene Pontirone-Tal mit seinen Alpen

wildesten Gerüchte die Runde: Hatte der Faschisten-

zählte zwischenzeitlich mehr Einwohner als Biasca.

Führer einen Stammhalter gezeugt? Mussolini ist nicht die einzige historische Figur, die im kollekti-

Linke Ideen kamen auf

ven Gedächtnis haften geblieben ist. Legenden und

Erst mit der 1882 eröffneten Gotthardbahn erwach-

Anekdoten ranken sich auch um den jungen Bäcker

te Biasca aus seinem Dornröschenschlaf. Es war ein

und Anarchisten Sante Geronimo Caserio, der aus

47

Mailand floh, wo ihn die Polizei als Organisator einer anarchistischen Demonstration suchte. 1894 übergab ihm der Anwalt Pietro Gori in Biasca den Dolch, mit dem Caserio später in Lyon den französischen Staatspräsidenten Sadi Carnot niederstechen sollte. Statt nach dem Attentat zu fliehen, tanzte Caserio um die Kutsche des Präsidenten herum und rief: «Vive l'anarchie!»

Caserios irdische Existenz endete im Alter von 21 Jahren unter der Guillotine. Doch die Erinnerung an den Bauernsohn ist in Biasca bis heute lebendig geblieben. In einer Ballade wird seine Trotzreaktion folgendermassen besungen:

Entra la corte, esamina il Caserio e gli domanda se si era pentito: Cinque minuti m’avessero dato, un’altro presidente avrei ammazzato!

Gegenüber dem Geschworenengericht, so die Übersetzung, habe Caserio keinerlei Reue gezeigt: «Hätte man mir fünf Minuten Zeit gegeben, dann hätte ich noch einen weiteren Präsidenten ermordet.» – Am Ende war das Wort.

Transhelvetica / Das Kreuz / Die Via Crucis von Biasca 48

XXXX

XXXX Luzius, Sennenheiliger

KREUZ UND QUER Ein Railtrip von Kreuzlingen nach La Croix-de-Rozon Text: Elisabeth Lösch Gebrauchsanweisung für eine Tour de Suisse

Transhelvetica / Das Kreuz / Kreuz und Quer 50

Bild: Jon Bollmann / Elisabeth Lösch

Alteisenberg in Kreuzlingen

Häuserberg in Genf

Zürich

Neuchâtel Transhelvetica / Das Kreuz / Kreuz und Quer 52

Bild: Elisabeth Lösch

Prolog Stellen Sie sich vor, Sie verspü-

Das Zeitfahren Sie kennen die Schweiz

werfen und der Herausforderung

ren den Drang zu etwas Heldenhaf-

und auch die Geographielehrerin hat-

stellen. Der Weg ist das Ziel, es geht

tem. Einer persönlichen Pioniertat. Et-

te immer Ihre vollste Aufmerksamkeit

los, Sie kommen mit!

was wirklich Grossem. Sie überlegen,

genossen. Aber Kreuzlingen… Wo war

was das sein könnte. und müssen fest-

das noch mal genau? Wo ist überhaupt

Die Etappen

stellen, dass Die Vermessung der Welt

der Schulatlas in all den Jahren hinge-

Das kostet Überwindung, aber Sie

vor einigen Jahren bereits jemand an-

kommen? Und was hat es zu bedeu-

werden mit den frühen Sonnenstrah-

deres sehr erfolgreich vorgenommen

ten, dass La Croix-de-Rozon gar nicht

len belohnt.

hat. Sie suchen also weiter nach etwas

in seinem Index zu finden ist?

Gipfeli und Kafi sitzen Sie also im

von ähnlichem Format. und denken

Uh, das tönt nach intensivem Recher­

Abteil. Das kuschelige warme Bett

an eine Durchkreuzung der Schweiz.

chebedarf. Bei dieser Tour de Suisse

im Hinterkopf fragen Sie sich gerade

Helvetia durchkreuzen, sich so ein

steht das Tempo also gleich ganz am

noch mal, was Sie hier eigentlich tun.

Bild von der Vielfalt des Landes ma-

Anfang im Mittelpunkt, nämlich bei

06:37

chen, es in seiner Gesamtheit erfas-

der Vorbereitung. Kein Wunder, im-

fahrt stehen bevor. Womit anfangen?

sen, und das alles an einem einzigen

merhin queren Sie das Land. Fangen

Zuerst einmal machen Sie noch ein

Tag! Von Kreuzlingen am

05:30

06:30

Stehen Sie früh auf.

Gut versorgt mit dem

Abfahrt, rund zehn Stunden Zug-

kleines

Nickerchen.

Sie

Routenwahl

befinden sich erst auf der

wie

Recherchieren Sie Ihre eigene Route, von Ost

gen. Ignorieren Sie das

stellt man so etwas auf die

nach West, von Nord nach Süd, Fünf-Seen-Tour.

etwas verstörende früh-

Beine, noch dazu ohne ei-

Oder bleiben Sie uns auf der Spur. Einfache Pla-

morgendliche Beziehungs-

genes Auto? Vergessen Sie

nung mittels Online-Fahrplan der SBB.

problem eines jungen Pär-

Bodensee nach La Croixde-Rozon bei Genf – das hat Originalität und verspricht Abwechslung!

Doch

Anreise zum eigentlichen Ausgangspunkt Kreuzlin-

nicht, Sie sind hier in der

chens im Abteil, das nach

Schweiz! Vergessen Sie also

dem langen Ausgang auf

lieber das Auto, nehmen Sie

dem Heimweg ist.

das schweizerischste aller

07:50

Fort­bewegungsmittel, fah-

etwa 90 Minuten Aufent-

ren Sie Bahn!

halt. Zugegeben, es gibt

Es gibt mehr Gründe Ihren

wenige plausible Gründe,

geruhsamen Sonntag zu

an einem frühen Sonntag-

opfern als die Schweiz

morgen diese Stadt entde-

Kantone hat, glauben Sie

cken zu wollen. Vielleicht

mir. Vielleicht wollen Sie

Ankunft in Kreuzlingen,

versuchen Sie, den Kreis-

Ihr Halbtax endlich richtig gründ-

Sie am Samstag an: Ideen sammeln,

verkehr mit den meisten Verkehrs-

lich ausnützen oder Sie haben noch

recherchieren (etwa 350 Kilometer),

schildern zu finden. Oder Sie nützen

wunde Füsse vom letzten Viertau-

Fahrpläne checken, Route verfeinern

die Zeit für ein herzhaftes Zmorge

sender, vielleicht wollen Sie Ihre neue

(zuerst Anreise nach Kreuzlingen,

mit Zopf und Gipfeli, zum Beispiel

Liebe mit einem aussergewöhnlichen

dann Durchquerung, anschliessend

in der Bäckerei Knusperhüsli an der

Ausflug beeindrucken oder Ihre neue

Rückreise), Bahntagesticket organi-

Bärenstrasse 4.

Ex-Liebe während der Bahnfahrt see-

sieren, weiterrecherchieren, Sonn-

09:29

lisch verarbeiten, eine Wette gewin-

tagsverpflichtungen absagen (als Er-

Die helvetische Durchquerung be-

nen oder eine Wettschuld einlösen,

satz Postkarten versprechen), ins

ginnt. Was ist zu tun? Schauen Sie

eine Alternative zum Marathonlauf

Grüne hinaus – oder regenwetterbe-

aus dem Fenster! Schauen Sie und

finden oder einfach einen noch nicht

dingt ins Graue, trotzdem – guter

beobachten Sie, lassen Sie Ihre Ge-

iPhone-infizierten Ort. Was auch im-

Laune, offen für alles Neue und Ent-

danken schweifen. Anfangs die Sicht

mer Sie zu diesem Abenteuer bewegt,

deckenswerte am Wegesrand und an

auf den Bodensee, auf weite, sanft

die Handlungsanleitung dazu fin-

den Kreuzungen. Sich nicht mehr

hügelige, fast flache Landschaften,

den Sie hier. Finden Sie einen freien

ganz jung, doch ungebrochen dyna-

auf Obstplantagen, Wiesen, Getreide-

Sonntag und legen Sie los!

misch der Abenteuerlust in die Arme

felder. Sind die Zacken da hinten die

Kreuzlingen – Weinfelden.

53

Glarner Alpen? (Ja). Nehmen Sie über

Anfang zumindest eine Ansichtskarte

herrschaftlichen Gebäude hin. Fribourg

den Panoramafensterausblick eine gro-

von einem Ort Ihres Ausfluges.

selbst zeigt sich auf der Durchreise von

be Bestandsaufnahme der agrarischen

Nach Zürich wird es etwas gedräng-

der unwirtlichen Seite: grauer Regen-

Flächennutzung der einzelnen Kantone

ter, sowohl im Abteil als auch in der

schleier, unattraktive Hausrückseiten.

vor. Nehmen Sie sich dabei auch gleich

Landschaft. Die Strecke ist nicht be-

Einstweilen wird es im Interregio mul-

vor, wieder mehr frische heimische

sonders attraktiv, jeder Tagespendler

tikulti. Vor Ihnen spricht man gewähl-

Produkte zu kaufen. Stellen Sie sich

zwischen der politischen und der Life-

tes British English, gegenüber speisen

den Fragen, die Ihnen unterwegs un-

style-Metropole wird das bestätigen.

zwei Chinesen geruchsintensives asi-

weigerlich in den Sinn kommen: Schät-

Eine gute Gelegenheit für einen Blick

atisches Fast-Food, schräg davor zwei

zen Sie die Anzahl der schwarzweiss-

in die mitgebrachte Zeitung!

Romands in Wanderbekleidung. Hinter

gefleckten Kühe auf Schweizer Weiden.

Sie kommen in Fahrt, Ruhe macht

Ihnen unterhält eine junge kosmopoliti-

Und wieviele Arbeitsstunden werden

sich breit. Lassen Sie sich nicht durch

sche Amerikanerin das Abteil mit quä-

eigentlich mit Apfelernte zu-

kender

gebracht?

lautstarken Erzählungen aus

Begleitung

Freuen Sie sich, dass Sie sich im Abteil befinden, wenn es draussen zu regnen beginnt.

ihrer

Frauenstimme bisherigen

und

Lebensge-

schichte (When I went to high school…).

Und vergessen Sie nicht, in

Diese Reise kann völlig ohne elektronische

Der Zug fährt auf Romont zu,

Weinfelden umzusteigen.

Reisebegleiter angetreten werden. Lassen Sie

idyllisch sieht dieser auf ei-

Weinfelden – Zürich – Bern.

Laptop und iPod zuhause, ja, im Ernst. Schla-

nem Hügel gelegene Ort aus.

Es geht beschaulich weiter.

gen Sie über die Stränge und vergessen Sie

Sie verspüren spontan Neu-

Szenarien

ein

Ihr Mobiltelefon daheim. Schaffen Sie so den

gierde den Ort zu erkunden?

Jauchefass unter dem Apfel-

einladenden Freiraum für kreative und für

Steigen Sie aus! Der nächste

baum parkiert, ein Motormä-

nicht-nutzen-orientierte (doch nicht nutzlose)

Zug kommt bestimmt.

her auf der Wiese abgestellt,

Gedanken, eine Art Hygienemassnahme für Ihr

Nach Romont geht es wieder

eine Leiter unter einem wei-

Wohlbefinden. Nehmen Sie allenfalls eine Zei-

an einigen schönen grossen

teren

Spazier-

tung mit oder das Buch, das schon seit Wochen

Bauernhäusern vorbei, die ge-

gänger auf Feldwegen, mit

auf Ihrem Nachttisch liegt. Oder: seien Sie sich

rade sowenig verwahrlost aus-

und ohne Hund, ein Postauto

einfach selbst genug!

sehen, dass man es als char-

09:59

unterwegs:

Apfelbaum,

vor der Haustüre parkiert.

mant bezeichnen kann. Viele

Denken Sie sich dazu eine

Weiden, schwarzweisse Kühe,

Geschichte aus! Einfahrt in Zürich:

schreiende Kinder im Abteil irritieren.

langgezogene Hügel. Spazier­wege zwi-

plötzlich sehr viele Gleise, Leitungen,

Nehmen Sie die fröhliche Gelassenheit

schen den Höfen machen Lust auf Ge-

Kabel, Baukräne, ehrfurchtgebietende

der angeregt plaudernden Sonntags-

hen, auf ein Glas warme Milch und ein

Zeugen

ausflügler zum Vorbild.

Stück selbstgebackenes Brot mit Butter.

der

Errungenschaften

der

Vorsicht, dabei kommt schnell unkriti-

Technik. Interessieren Sie sich für die

12:04

eigenwillige architektonische Ästhetik

– Lausanne – Genf.

sche Romantik in Bezug auf das Land-

der grossen Schweizer Bahnverkehrs-

In Bern steigen Sie um. Ein paar Blicke

leben auf, aber ein bisschen Träumen

knotenpunkte! Schauen Sie einmal

in die Zeitung, längere Blicke durch das

ist erlaubt.

nach, was sich die der SBB in letzter

Fenster. Die Landschaft zieht vorbei, sie

Zwischenstationen, Weiterfahrt, ein

Zeit in Sachen Infrastruktur so alles

fixieren abwechselnd einen Punkt in

Apri­ ko­ senverkäufer an der Land-

hat einfallen lassen.

der Ferne, einen in der Nähe und wun-

strasse. Ein Blick in die Zeitung, ein

Bei Zürich-Altstetten sehen Sie eine

dern sich über die Funktionstüchtigkeit

bisschen dösen, einige Worte mit den

grosse Halle, Sie vermuten eine Post-

des menschlichen Auges. In der Kurve

Mitreisenden wechseln, ein bisschen

zentrale. Das weckt umgehend Ihr Ver-

erhaschen Sie einen Blick auf die Lok.

den Unterhaltungen im Abteil lau-

trauen in Kompetenz und Pünktlichkeit

Wie schnell fährt eigentlich so ein Zug?

schen (Then I went to New York…).

der Zusteller. Bei dieser Gelegenheit

(Bis zu 160 Stundenkilometer).

Gönnen Sie sich während der Fahrt

nehmen Sie sich vor, wieder einen Brief

Noch vor Fribourg fallen Ihnen drau-

einen weiteren Cappuccino. Konzen­

zu schreiben (idealerweise haben Sie

ssen einzelne alte Bauernhöfe auf, ein-

trieren Sie Ihre Aufmerksamkeit auf

Papier und Bleistift dabei). Oder für den

zelne grosse Häuser, eine Allee zu einem

die angenehme Wärme des Getränks,

Bern – Fribourg – Romont – Palézieux

Transhelvetica / Das Kreuz / Kreuz und Quer 54

das lenkt davon ab, dass es eigentlich

nenblumen, auf der anderen Uferseite

nicht nach Kaffee, aber zumindest

Frankreich, Weinstöcke, der Vorsatz

auch nach nichts anderem schmeckt.

im Herbst zum Wandern wiederkom-

Sie fragen sich, ob die Landschaft be-

men zu wollen, akustisch untermalt

reits mediterraner wird und suchen

von einer herzzerreissenden amerika-

nach Indizien. Sie können es nicht

nischen Lovestory (All those things…

wirklich sagen, wohl eher nein. Zu-

Then I told him…). Unspektakuläre

dem regnet es und, seien wir ehrlich,

Einfahrt in Genf.

mediterran verlangt doch zwingend

13:56

Sonnenschein. Während Sie so nach-

Am Genfer Bahnhof marschieren Sie

denken und überlegen, dabei kau-

geradewegs zum Tram No 13. Es bringt

en und schlucken und wieder vom

Sie zuerst an wenig attraktiven hohen

mitgebrachten Sandwich abbeissen,

Gebäuden

plötzlich von einer Sekunde auf die

Imbissen, Cafés, Billigläden, und als

andere: Wasser, See, Rebberge, Pa-

Entschädigung danach durch hübsche

norama. Sie verschlucken sich, es

Gassen mit niedrigen, ein- bis zwei-

dauert ein, zwei Momente bis der

stöckigen Häuschen, très français. Ab

Gedanke Genfer See sich formulieren

Carouge Rondeau nehmen Sie für das

kann. Wow!

letzte Stück stadtauswärts den Bus

Sie schauen, staunen, freuen sich. Der

No 44, der Busfahrer gibt eine freund-

Regen peitscht zwar gerade das Was-

lich bejahende Antwort auf das rade-

ser, dennoch leuchten die Rebberge

brechende Französisch, mit dem Sie

grün, kleine Weingüter und winzige

fragen, ob das Tagesticket auch hier

Häuser sind über die pittoreske Land-

gilt. Der Bus kurvt über einen Hügel.

schaft verstreut. Sie sind ergriffen,

Und dann: La Croix-de-Rozon, place.

aufgeregt, hüpfen an der Fensterschei-

14:30

be auf und ab. Beeindruckende Pers-

Voilà. Atmen Sie tiiiief durch. Sie sind

pektiven wechseln sich ab! Sie warten

am westlichsten Punkt Ihrer Reise an-

auf die Aahs und Oohs der Mitreisen-

gekommen und fühlen sich innerlich

den, vergeblich, es bleibt ruhig, man

leer. Dieses gedankliche Vakuum kann

schläft. Nur mit Mühe widerstehen Sie

spontan auch von äusserlichen Impul-

der Versuchung, das Abteil mit einem

sen nicht aufgefüllt werden, denn hier

Ausruf der Begeisterung zu alarmie-

gibt es nichts. Wäre In the middle of

ren (der berühmte Genfer-See-Effekt).

nowhere nicht bereits anderswo, hier

Aber Sie bleiben ruhig, im Hintergrund

könnte es sein.

Geplänkel von Geschwistern auf einem

Place bezeichnet das Ortszentrum, ein

Familienausflug und ein gequäktes

Minikreisverkehr (in Kreuzlingen hat

You know, you get older…

man grössenmässig schon anderes ge-

Einfahrt in Lausanne. Französisch,

sehen), auf der einen Seite eine Tank-

auf den ersten Blick. Ein zweiter und

stelle, auf der anderen ein geschlos-

dritter vielversprechender Blick in die

senes Restaurant, geschätzte fünf bis

Strassen und Gassen um den Bahn-

sechs Häuser darum gruppiert, die

hof lässt Sie neugierig werden auf die

breiteste Strasse führt 100 Meter vom

Stadt, im Geiste notieren Sie: Lau-

Kreisverkehr weg zur Endstation des

sanne besuchen und besichtigen. Nach

Busses, La Croix-de-Rozon, douane,

Lausanne geht es dann flacher weiter

Zollstelle. Sonst nichts. Kein Kreuz.

am See entlang, durch die allmählich

Der erste Gedanke: Hilfe, Sie müssen

tatsächlich ein wenig mediterran an-

wieder zurück. Das ist richtig. Aber

mutende Landschaft. Felder mit ab-

nicht sofort. Nehmen Sie sich Zeit,

geblühten, gelblich gewordenen Son-

halten Sie inne und seien Sie stolz auf

Genf – La Croix-de-Rozon

vorbei,

an

Take-away-

La Croix-de-Rozon

55

Haus mit Umschwung in Kreuzlingen

Umschwung mit Haus in La Croix-de-Rozon Transhelvetica / Das Kreuz / Kreuz und Quer 56

Bild: Jon Bollmann

Station zum Einfüllen grenzwertiger Importprodukte

Croix de Rozonvon 1 Importprodukten GrenzwächterstationLazum Einführen

Bild: Elisabeth Lösch / Jon Bollmann

57

sich. Ihre Erstdurchkreuzung verlangt

Es erwarten Sie weder Ruhm noch

Andacht, ein erhebender Moment! Falls

Lorbeeren. Der gewonnene Reichtum

er weniger als acht Minuten dauert,

besteht vielmehr im Seele-baumeln-

können Sie denselben Bus wieder zu-

lassen, in der beruhigenden Wirkung

rücknehmen, der nächste fährt nämlich

der langen Bahnfahrten, denken Sie an

erst in einer Stunde, zumindest sonn-

die inspirierenden Bilderabfolgen der

tags. Finden Sie ein kleines Café im

vorbeifahrenden Welt. Das ist Reisen,

belebteren Genf und lassen Sie es sich

nicht Urlauben. Ihr prägendstes Bah-

gutgehen. Oder machen Sie ein paar

nerlebnis seit Interrail!

Schritte nach der langen Fahrt, zum Beispiel vom Rondeau Carouge entlang

Epilog Gratulieren Sie sich zu Ihrer

der Rue Ancienne. An der No 36 finden

Nordost-Südwest-Traverse, das hat doch

Sie das ô calm, das steht für comme à la

den Duft von Eroberung, nicht wahr?

maison und guten Kaffee.

Verweilen Sie ein biss-

Checkliste

chen am Place du Marché.

Beobachten Sie im Parc des Bastions die Spieler beim Riesenschach, oder

Minimalgepäck: SBB-Tageskarte (mit Halb-

besser, spielen Sie mit!

tax in der 2. Klasse, sFr. 54.–), ausreichende

Anschliessend

nehmen

Zahl an Wasserflaschen, Lieblingskekse, Land-

Sie die folgende, herr-

karte, Fahrplan, Taschentücher, Fotoapparat.

liche Bahnroute für die

Fakultative Erweiterung: Zeitung oder Buch

Rückreise,

idealerweise

Die Vermessung der Welt von Daniel Kehl-

während der Abendsonne

mann, Papier & Bleistift für Notizen oder spon-

und mit Sitzplatz auf der

tane Postkarten an die Daheimgebliebenen.

richtigen Seite im Abteil, nämlich in Fahrtrichtung rechts: Genf – Nyon – Morges – Yver-

Ein Land komfortabel und umwelt-

don-les-Bains – Neuchâtel – Biel – nach

freundlich zweimal durchqueren, an

Hause. Erfreuen Sie sich am fantasti-

einem einzigen Tag, dabei noch ein

schen Panorama entlang der Seeufer

Buch lesen, den Gedanken nachhän-

des Lac Leman, des Lac de Neuchâtel

gen, fremde Lebensgeschichten hören,

und des Bieler Sees. Lassen Sie sich

die schönsten Bilder vorbeiziehen se-

glücklich und erschöpft zurückbrin-

hen. Auch das ist Schweiz.

gen mit einem der stündlich abge-

Rattern Ihre Gedanken noch weiter,

henden Züge. Und wundern Sie sich

obwohl Sie längst wieder zuhause

nicht, wenn die ebenfalls zurückrei-

sind? Dann beschliessen Sie das Tour-

senden, angeregt plaudernden Sonn-

de-Suisse-Wochenende im Zeichen des

tagsausflügler

Kreuzes am besten mit dem berühm-

mittlerweile

etwas

nach Bier riechen.

testen Fadenkreuz des Sonntagabendprogramms. Schauen Sie Tatort!

Die Wertung Am Ende der Tour gibt es einen Sieger: Sie selbst. Klopfen Sie sich auf die Schulter, dafür, dass Sie sich frühmorgens beim Aufstehen selbst besiegt, zu einem aussergewöhnlichen Tag entschlossen und der abwechslungsreichen Schweizer Landschaft Tribut gezollt haben.

Transhelvetica / Das Kreuz / Kreuz und Quer 58

Bild: Jon Bollmann

Schwedische Ambiance am Bodensee

59

Kreuzspinnen und Engelsgetier Text: Marianna Prenger, Bild: Marianna und Linus Prenger

Ein Reisebericht des 5-jährigen Kinderreporters Linus, Insektenforscher und Religionsanalytiker, zur Klosterinsel Rheinau

«Es beginnt die Reportage! Hallo, hallo die Werbung ist angefangen. Der See, der von Berlin hierher fliesst, hat ganz viele Libellen heute. Der Rheinsee? Nein: der Rhein ist ja ein Fluss! Auch Grashüpfer und Schmetterlinge sind heute ganz viele da, in Rheinau am Rhein. Und es gibt schöne, schöne Bäume zum Druntersitzen. Wir sitzen unter dem Walnussbaum und uns fallen ganz viele Walnüsse auf den Kopf. Der Report handelt davon, wie die Natur beschaffen ist. Zuerst gab es den Fisch und dann kamen die Menschen, der Fisch kann schwimmen. Der Mensch kann auch schwimmen, aber nicht atmen unter Wasser und wenn er zu einem Krokodil schwimmt, wird er gefressen und die anderen werden auch gefressen, wenn sie zum Krokodil schwimmen.»

Transhelvetica / Das Kreuz / Kinderreport 60

Kinderreport

Aus dem Zugfenster sehen wir, wie auf der Auto-

Deutschland ist doch im Wald!» Auf der anderen Seite

bahn die Autos an uns vorbeifahren. Linus ist im

des Rheins wächst der Wald bis ans Ufer ins Wasser

Unklaren, ob wir fahren oder ob die Welt an uns vor-

hinein, ein ungewohntes Bild in der Schweiz. «Schau

beifährt. Eine Frage der Perspektive – im vorliegen-

mal, das ist so: da drüben ist es gross, also der Wald

den Fall derjenigen des 5 - jährigen Reporters. Der

ist gross und am anderen Ufer, da wo wir sind, da ist

von ihm erwähnte Thurbo ist die Thurgau - Bodensee-

es klein. Also sind wir in der Schweiz und dort drüben

bahn, die uns nach Marthalen bringt. Dort steigen wir

ist Deutschland!» erklärt Linus. Ein praktisches Unter-

ins Postauto um. «Super erst der Turbozug und nun

scheidungsmerkmal, wenn unklar ist, ob man sich in

das Postauto! Das Postauto fährt nämlich schneller als

der Schweiz oder in Deutschland befindet. «Die Hexe

der Bus!» Geschwindigkeit, Zeit, Bewegung. Für den

Schrumpeldei wohnt da drüben im Wald!» In Deutsch-

Kinderreporter sind das variable Grössen. Sonnenblu-

land? Ist die gross? Schrumpeldei tönt jedenfalls wie

menfelder säumen die Strassen. «Salatöl kommt doch

ein deutscher Name. Erstaunlich, wie Worte und

aus den Sonnenblumen, aber wo hat’s denn das Öl in

Namen klangmalerisch einem Land zugeordnet wer-

der Blume? Blumen haben doch Nektar drin?! Und da!

den können. «Schau mal eine Ente mit kaputtem Fuss,

Ein Gefängnis, mitten in der Natur!» In der Tat ist da

sie zieht den Fuss hinterher, der ist lahm. Arme Ente!

ein Gebäude mit hohen, stacheldrahtverstärkten Mau-

Entlein du brauchst keine Angst zu haben! Man müsste

er – und die Menschen darin sind Gefangene. Gefangen

sie zu einem Tierarzt bringen, um sie zu verarzten!»

in ihren Köpfen und gefangen hinter diesen Mauern.

In der forensischen Sicherheitsstation der Psychiatri-

Alle Engelsorten

schen Klinik Rheinau. Gleich danach ist Endstation:

«Und hier ist eine kleine Mini - Minikirche! Ich glau-

Post Rheinau! Die Klosterinsel und das Gut Rheinau,

be das ist ein Kerker!» Der, gemessen an der Grösse,

einer der grössten Schweizer Landwirtschaftsbetriebe,

ein schweizer Kerker sein müsste. Wie wir die kleine

sind unser Reiseziel. Rund um die Insel hat der Rhein

Kapelle an der Inselspitze erreichen, ist der Reporter

heute kaum Strömung, weil er einige hundert Meter

von Gefängnis, Gerichtssaal und Gipsskelett noch im-

flussaufwärts von einer Schleuse gestaut wird – ein

mer in Gruselstimmung. «Ich glaube in dem Kerker ist

idealer Badeort für kleine Nochnichtschwimmer. Hier

ein Skelett von einem toten Menschen. Ich möchte lie-

wollen wir den Tag geniessen, draussen grillieren und

ber da rüber! Gehen wir da über den Fluss zum Baden?

im Freien übernachten.

Beim Hof?» Als wir in die Kapelle eintreten, entspannt sich der Gerichtsreporter, denn «da sind Engeltiere.

Für den Jüngsten das Gericht

Das da liest eine Zeitung!» Die Zeitung ist direkt am

Als Erstes besichtigen wir das Kloster. «Die Kirche

Kreuz Jesu’ angebracht und auf ihrem Titelblatt steht

sieht aus wie ein Gerichtssaal! Schau mal wie hoch

gross INRI. «Wieso Henry?» Eigentlich auch ein schö-

die Wände sind! Und der Pfarrer redet wie ein Rich-

ner Name. Angesichts der Deckenmalereien klärt Linus

ter! Und wow, was ist da drinnen? Ist der gestorben

uns auf: «Ein Engelmensch, ein Engelhirsch, ein Engel­

und dann da reingebracht worden? Ist das ein Skelett?

adler, ein Engelhund! Sind das alle Engelsorten, die es

Schau mal da oben an der Decke: der Krieger wollte

gegeben hat früher?!»

sie umbringen. Und hier die Engel: schau mal! Die sind

«Wieso reden die Menschen in der Kirche nicht? Der

zerbrochen beim Herz!» Plötzlich realisieren wir, dass

Priester vorhin hat doch auch laut geredet?»

wir ungewollt zu Hochzeitsgästen geworden sind. Die

Diese Ungleichbehandlung ist ungerecht und müss-

furchteinflössenden Bilder und Altare im Auge, setzen

te aufgehoben werden. Bis es soweit ist, könnte man

wir uns ruhig zur Hochzeitsgesellschaft und werden

Boot fahren. Dass dafür keine Zeit mehr ist, versteht

vom Priester mit den Worten begrüsst: «Es ist ein wun-

der Kinderreporter nicht. Geschwindigkeit, Zeit, Bewe-

derschöner Ort, in welchem sich die Schönheit Gottes

gung. «Für die kleineren Menschen vergeht die Zeit

widerspiegelt.» Im Richtersaal mit Gruselkabinett?

langsamer – und deswegen haben sie Zeit, zum Boot

Das ist uns dann doch zuviel und wir gehen gleich wie-

zu fahren! Lass uns also Boot fahren!»

der hinaus an die Sonne. Linus weiss, dass wir uns

Dieses Phänomen ist allerdings nur einem auserwähl-

nahe der deutschen Grenze befinden. An der Spitze

ten Personenkreis bekannt. «Das wissen nur die Ast-

der Insel, wo der Rhein wieder zusammenfliesst, sagt

ronauten: für die kleinen Menschen vergeht die Zeit

Linus: «Oh wir sind jetzt in Deutschland! Oder nein,

langsamer und die Astronauten haben Zeit, um zum

wo ist denn Deutschland? Da drüben im Wald? Ja;

Raumschiff zu fliegen!» Kurz vor dem vollständigen Transhelvetica / Das Kreuz / Kinderreport

62

Nachvollzug der Relativitätstheorie stören die Kirchen-

gesehen, die habe ich jetzt entdeckt!» Die neue Spezies

glocken den Gedanken, die Hochzeit scheint zu Ende.

heisst Cetoniinae Linusensis. Mit diesem Triumph in der Tasche gelangen wir zur Badestelle, von der aus

Die Kreuzspinne wohnt bestimmt in der Kirche!

man einen schönen Ausblick auf die Kapelle hat. Die

«Ich finde Hochzeiten recht komisch, weil ich nicht

Tauben von der Hochzeit kreisen über unseren Köpfen

weiss, warum man das macht. Nur weil man sich

und um die Klosterinsel paddeln Leute mit Gummi­

gerne hat?» Das scheint für den Reporter kein aus-

booten und Luftmatratzen. Linus findet es toll und

reichender Grund zu sein. Doch der Gedanke springt

analysiert die Gegend betreffend einem Schlafplatz.

relativ schnell weiter, denn die Hochzeitsgesellschaft

«Schön sieht das hier aus!» – «Hier muss man aufpas-

hat sich auf dem Platz vor dem Kloster um zwei Körbe

sen, dass einen die Brennnesseln nicht stechen – oder

versammelt. «Da sind Tauben in den Körben! Warum

man muss drüber rennen (das ist nämlich der Trick;

hat man Tauben auf Hochzeiten? Heiraten die auch?»

dann haben sie keine Zeit einen zu stechen)!» – «Und

Auf einem der Körbe steht «Liebe und Kraft». Eine

was ist das? Eine unreife Walnuss? Riech mal, die

kleine Spinne sitzt auf dem Wort Kraft. «Die will viel-

riecht megafein!» Hier soll das Nachtlager aufgeschla-

leicht auch Kraft. Oder sie will auch heiraten?!» Die

gen werden; und am Nachmittag spendet der Baum

Tauben öffnen Linus die Augen dafür, dass es Hoch-

auch noch Schatten.

zeiten nicht nur bei Menschen gibt, sondern auch bei allen Insekten, die in Schwärmen oder Gruppen vor-

Live von der Rheinau

kommen. «Hier feiern die Bienen eine Bienenhochzeit.

«Zum Glück haben wir das Moskitonetz, es gibt hier

In diesem Busch!» Überhaupt sind Insekten faszinie-

am Wasser viele Mücken und das Netz kann man am

rende Tiere – wenn man nur genügend nahe ist. Ein

Ast vom Baum aufhängen. Die Nüsse sind zwar noch

klarer Vorteil unseres Reporters, der auch Insekten-

grün, aber man kann sie zermalmen. Und schau: jetzt

und Spinnenforscher ist und seinen Blick nach unten

werden sie feucht und wir können sie den Fröschen zu

richtet, anstatt zu den vergoldeten Türmchen mit ih-

essen geben. Frösche essen nämlich alles!»

ren trompetenden Engeln.

Reporter, Insektenforscher und Froschspezialist. Am

«Schau ein Babyfeuerkäfer! Der ist herzig – und die

Zielort angekommen und mit Decken, Moskitonetz und

Spinne! Ich glaub, das ist ein Zimmermann. Nein, ein

Grilladen für den Abend eingerichtet, kann es nun rich-

Zimmermann ist nicht so dick. Die sind nicht so gross

tig losgehen: «Und jetzt kommt das Naturquiz! Frage

und haben dafür lange dünne Beine! Schau mal das

eins: werden Walnüsse vom Baum runtergeschüttelt?

weisse Kreuz: eine Kreuzspinne! Die wohnt bestimmt in

Frage zwei: werden Walnüsse vom Baum runterge-

der Kirche!» Da Rheinau auch für seinen Wein bekannt

holt? Frage drei: fallen sie von selbst runter? Nach den

ist, stehen vor vielen Gebäuden Piratenschnapsfässer.

Walnüssen kommt das Erdbeerquiz und morgen wird

«Schau mal, hier gibt es aber viele Piraten, wenn es so

das Wetter ganz grauenvoll!

grosse Fässer hat!». Diese sind aber vermutlich gerade

Auf den Feldern wachsen Bohnen, die Bohnen werden

auf einer Piratenfahrt; wir finden jedenfalls leicht Platz

irgendwann gebären. Dann gibt’s Bohnenkinder! Hier

im Restaurant, wo wir nach den ganzen Abenteuern

gibt es auch ein Haferfeld und ich habe nun Schluck-

im Schatten der Kastanienbäume ungestört eine Glacé

auf bekommen. Wenn man das alles riecht: Lavendel,

geniessen können. Für unser Abendessen an der Grill-

Korn, Walnuss und all diese Düfte, dann geht der

stelle kaufen wir Käse, Cervelat, Brot und Früchte im

Schluckauf los!»

Hofladen von Gut Rheinau. Alles biologisch und das meiste aus eigener Produktion. Die Verkäuferin würde den wild gestikulierenden Kinderreporter gerne als

Restaurant Augarten, Rheinau, T. 052 319 12 67, augarten-rheinau.ch Hofladen Gut Rheinau, T. 052 304 91 60, geöffnet samstags

Fliegenverscheucher behalten, denn auch mit diesen Insekten kennt er sich aus. Doch leider ruft das Bad am kleinen, schweizerischen Rheinufer, gegenüber der Klosterinsel. Immerhin ruft das Bad nur leise, so dass noch Zeit bleibt für weitere Naturbeobachtungen. «Ein Babyfrosch, ganz ein kleiner, schau!» – «Und Brombeeren!» – «Saure Brombeeren!» – «Diese Käfer sehen aus wie Ameisen mit Fühlern! Solche habe ich noch nie

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GEmeindePortrait 40 km2, 600 – 1550 m.ü.M., 4 400 Einwohner, 503 Kühe, 9 Hotels, 3 Museen, Präzisionsindustrie, erste urkundliche Erwähnung 1177

Bild: Nico Schärer

SAINTE-CROIX Ferien auf Balkonien Text: Jon Bollmann

Wenn Sie auf dem Balkon des Jura stehen und den Blick 체ber das Mittelland in die Berge schweifen lassen, dann werden Sie den Drang versp체ren sich hinzusetzen, einen Satz Pr채zisionswerkzeuge oder Pinsel zu erstehen und in einem alten Haus ein Atelier mit Blick in die Alpen einzurichten.

66

Transhelvetica / Das Kreuz / Gemeindeportrait Bild: Nico Sch채rer

67

Bei «Ferien auf Balkonien» denkt der Städter an

die Josephs sind mehr als Skiverkäufer: vor ein paar

seinen 2 m -Balkon, den er in der ersten August-

Jahren haben sie ihre Liebe zur Geschichte des Alter-

woche mit Fähnchengirlanden dekoriert. Zwischen

tums entdeckt und seither verschiedene Überreste aus

den Stühlen steht ein kleiner Tisch, darauf ein

römischer Zeit. Auf dem Chasseron, der höchsten Er-

Aschenbecher, ein Dächlikäppli von hohem Affek-

hebung der Gemeinde, haben sie eine Tempelanlage

tionswert («Vom Fischen in Alaska mitgebracht!»),

ausgegraben, in deren Umfeld sie zahlreiche römische

eine Gala und ein zerfleddertes Taschenbuch, das

Münzen fanden. Beflügelt durch diesen Erfolg nah-

jedem seriösen Buchhändler umgehend die Scha-

men sie weitere Gebiete in der Gemeinde unter den

mesröte ins Gesicht treiben würde. In der Luft

Metalldetektor und förderten an drei Standorten tau-

hängt der Duft von Kokosöl und am Balkon die rot

sende Münzen, Speerspitzen, Schuhnägel, Schwerter

2

68

leuch­ tenden Geranien, welche Zufriedenheit ver-

und Broschen ans Tageslicht. Daraus konstruierten

breiten und verdankenswerter Weise den direkten

sie eine Geschichtstheorie, gemäss derer es auf dem

Blick auf die bratenden Leiber, die Kräutertöpfe

Gemeindegebiet zu einer Schlacht zwischen Galliern

und die lustigen Tonfiguren beeinträchtigen.

und Römern gekommen sein soll. Die internationalen

Wer mit dieser Auslegeordnung nicht viel anfangen

Spezialisten, mit denen die Josephs zusammenar-

kann, aber trotzdem unbeschwerte Ferien auf Balkonien

beiten, unterstützen diese Theorie, was die Hobby-

geniessen möchte, dem möchten wir als Alternative

Historiker beflügelt, das Gemeindegebiet weiter auf

Sainte-Croix auf dem «Balcon du Jura Vaudois» ans

römische und gallische Spuren abzusuchen. Hier

Herz legen. Dieser Balkon ist grosszügig angelegt, er-

wird Geschichte geschrieben!

laubt ausgedehnte Spaziergänge über aussichtsreiche

Unbestritten ist, dass über Jahrhunderte Heere und

Hochebenen und bietet sowohl bei der Verpflegung,

Händler den Jura bei Sainte-Croix überquerten und

als auch bei der Pflanzenwelt eine deutlich höhere

damit Salz, Religion, Technik und einen Hauch von

Vielfalt als die heimischen zwei Quadratmeter. Trotz-

Welt in die Gemeinde trugen. Daraus entstand der

dem ist der In-Faktor relativ bescheiden, so dass man

Wunsch der Einheimischen, mehr zu sein als einfache

in extremis gar die Gala und die Mütze aus Alaska mit-

Bauern, weshalb sie mit dem Abbau und der Verarbei-

nehmen kann (tun Sie's nicht) ohne Gefahr zu laufen,

tung von Eisenerzen begannen. In der Folge setzte in

auf entfernte Bekannte zu treffen.

der Region die Industrialisierung ein, welche ab 1740

Das Erlebnis Sainte-Croix beginnt in Yverdon, wo Sie

die Uhrenindustrie und die Spitzenklöppelei auf den

vom ICN «Annemarie Schwarzenbach», benannt nach

Plan rief. Aus der Heimarbeit, mit welcher die einfa-

der weitgereisten lesbischen Schriftstellerin und Künst-

chen Leute abends ihre Bilanz verbesserten, entstand

lerin, in den violetten Regionalzug «L’Arnon», benannt

dann eine Tradition für Präzisionsmechanik, welche

nach einem lokalen Bach, umsteigen und damit die Tal-

bis heute gepflegt und verwaltet wird. Als Uhren und

stufe überwinden. Fitten Ausflüglern sei empfohlen, die

Spitzen um 1860 in eine Krise stürzten, sattelten die

Strecke auch zu Fuss zu erwandern, denn tief unten

findigen Heimwerker rasch auf Musikdosen und wei-

in der Schlucht, der malerischen Gorges de Covatanne,

tere Produkte aus dem Umfeld der Präzisionsmecha-

hat der Arnon eine märchenhafte Welt in den Kalk ge-

nik um. Ende des 19. Jahrhunderts konnten noch ein-

fressen, die sich nur zu Fuss entdecken lässt.

mal mehrere Fabriken eröffnet werden.

Römer und Gallier

Der Hüter der Heimwerkermaschinen

Auch die weitere Erkundung der Gemeinde bedarf

Der Hüter der Geschichte dieser Heimwerker ist Dr.

etwas Kondition, denn das Gemeindegebiet ist weit-

Jürg Wyss, ein ehemaliger Hausarzt, der bei seinen

läufig und geht fliessend in den französischen Jura

zahlreichen Hausbesuchen immer wieder auf Werk-

über. Grenzenlose Wanderungen und Langlaufaus-

zeug und Maschinen gestossen ist, mit denen die

flüge bieten sich geradezu an, wozu im Winter die

Heimarbeiter ihre Arbeiten vereinfacht hatten. Nach

französischen und schweizerischen Loipen mitein-

der Automatisierung der Fabrikation fertigten die Un-

ander verbunden werden. In Auberson, einem Wei-

ternehmen bald firmenintern, womit die Bedeutung

ler der Gemeinde Sainte-Croix, treffen wir auf Josette

der Heimarbeit fast über Nacht verschwand. Da die

und Paul-André Joseph, die einen ausschliesslich auf

Familien keine Verwendung mehr hatten für die teil-

nord­ isches Skifahren ausgerichteten Laden betrei-

weise recht aufwändigen Konstruktionen, hat Jürg

ben. Wahrscheinlich der letzte in der Romandie. Doch

Wyss viele dieser Maschinen, von denen ein grosser Transhelvetica / Das Kreuz / Gemeindeportrait Bild: Alex Wydler

Teil auf Kundenwunsch hin gefertigte Einzelstücke

Dorf anzutreffen, wie etwa ein Karussellhersteller, eine

sind, vor dem Schrottplatz gerettet und in seine Kol-

Zirkus­schule, ein Harfenbauer sowie eine Intarsienlege-

lektion aufgenommen. Nach 30 Jahren Sammlerei und

rei für die Spieldosen der Manufaktur Reuge.

mit Beginn seiner Pension hat Jürg Wyss diesen Zeitzeugen nun ein liebevolles Museum gegönnt, dessen

Höhenluft und ihre Folgen

Besuch sich ausserordentlich lohnt. Zum Entsetzen der

Damit die Präzisionsarbeiter an der frischen Höhenluft

Feuerpolizei hat Jürg Wyss bei der Einrichtung aus-

nicht unterzuckern, gibt es in Sainte-Croix eine Vielzahl

schliesslich mit Originalmaterialien gearbeitet. Das gilt

von Restaurants und Läden, in denen man die regio-

auch für die elektrischen Leitungen, die in erster Linie

nalen Käse- und Wurstspezialitäten sowie das von der

Hitze produzierenden Glühlampen, den Betrieb der

lokalen Brauerei gebraute Bier geniessen kann. Hierfür

Maschinen (für den er sich extra eine Dampfmaschi-

empfehlen wir Ihnen einen kleinen Trab auf Schusters

ne beschafft hat) und den massiven Hauptschalter für

Rappen über das geschützte Moor von La Sagne bis

Elektrizität, den umzulegen sich anfühlen muss, wie

zum Café de la Gittaz, wo in einem alten Bauernhaus

wenn man das erste Mal eine ganze Stange Frauenfürze entzündet: magisch. Die ganze Anlage wird über ledrige Transmissionsriemen betrieben, welche mit Rindersehnen

LA Mécanique d’art

zusammengehalten werden. Die Maschinen

Neugierigen Geistern empfehlen wir dringend einen Ab-

einzeln an die Hauptwelle an- und wie-

stecher in die Museenlandschaft von Sainte-Croix, in der,

der abkoppelnd, erklärt Jürg Wyss mit viel

neben dem Atelier von Jürg Wyss, das Musikdosen- und

Leidenschaft und Wissen den Weg von den

Automatenmuseum (CIMA) auffällt. Dieses gehört in die Ka-

Rohlingen aus der Fabrik in die verschiede-

tegorie der skurrilen Museen, für deren Besuch man den

nen Heimarbeitsstätten bis zu den fertigen

inneren Schweinehund überwinden muss – was sich aber

Musik­dosen, welche von Sainte-Croix aus die

auf alle Fälle lohnt. Denn wenn Sie, wie wir, bei Musikdosen

Welt und Japan erobert haben.

an die Drehörgelchen Typ «Happy Birthday» denken, wer-

Als wir wieder ans Tageslicht heraustreten

den Sie überrascht sein, was die Drehörgelchen aus dem

scheint uns die Welt unglaublich hell und

Jura so alles können: in den alten Fabrikationsräumen der

unglaublich ruhig. Letzteres hat allerdings

heutigen Weltmarktführerin im Musikdosenbusiness, der

auch damit zu tun, dass die letzte Blütezeit

Firma Reuge, wird die Herstellung und Entwicklung dieser

von Sainte-Croix lange her und die Bevöl-

kleinen Wunderwerke liebevoll und anschaulich dargestellt.

kerung ausgewandert ist. So wuchert heute

Highlight der Ausstellung sind riesige Maschinen aus dem

Efeu über die hübschen alten Jurahäuser im

19. Jahrhundert, deren Walzen über 12 000 Metallstiftchen

Dorfzentrum, und die alten Industriehallen

aufweisen und 18 verschiedene Lieder auswendig spielen

von Hermes (Schreibmaschinen), Thorens

können – wobei neben dem klassischen Örgeli auch Xylo-

(Radios, Feuerzeuge), Paillard (Phonogra-

phone, Kastagnetten, Trommeln und weitere Instrumente

phen, Grammophone, Radios) oder Bolex

zum Einsatz kommen.

(Filmkameras, Projektoren) dienen als Notunterkünfte für Asylbewerber – sofern sie noch nicht abgerissen worden sind.

Doch im Dorf spiegelt sich neben der Krise auch der Ideenreichtum und die kreative Schaffenskraft wieder, was sich in der spürbaren Präsenz von Künstlern äussert, die das günstige Raumangebot in einer inspirierenden Gegend schätzen und manches verlassene Schaufenster mit ihren eigenwilligen Installationen zweckentfremdet haben. Doch auch andere Spezialisten, welche die Kreativität des Künstlers mit der Fertigkeit der Präzisionsmechaniker verheiraten, sind im

Hier wird Musik gemacht

69

70

Transhelvetica / Das Kreuz / Gemeindeportrait Bild: Alex Wydler

Das Atelier des Dr. Wyss

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währschafte Leckereien auf den Tisch kommen. Dabei

Die Qual der Wahl. Und wenn Sie sich danach keinen

müssen Sie nur aufpassen, dass Sie nicht zu lange in

Meter mehr bewegen wollen, dann können Sie im Grand

der Traumlandschaft verweilen, denn es muss noch ge-

Hôtel des Rasses unterkommen, einem ursprünglich

nügend Zeit sein, um nach der Stärkung auf

Geschichte

die Aiguille de Baulmes hinauf zu steigen, wo Sie ob dem atemberaubenden Panorama zum Mont Blanc und den Alpen vergessen werden, dass Ihr Puls erhöht ist und Sie in

Die erste urkundliche Erwähnung von Santa Crux findet sich

der dünnen Bergluft etwas schneller schnau-

in einem Dokument von Papst Alexander III aus dem Jahre

fen als noch während dem Mittagessen.

1177, als die Gemeinde in erster Linie Wegstrecke in der an-

Das Gipfelerlebnis der Aiguille können Sie

sonsten undurchdringlichen Wildnis zwischen Pontarlier (F)

noch toppen, wenn Sie den Chasseron er-

und Yverdon war. Um diese Strecke – und ihr Stammgebiet

klimmen, der mit 1607 m.ü.M. gleich hoch

am Neuenburgersee – zu sichern, errichteten die Herren

ist wie der Chasseral im Neuenburger Jura.

von Grandson 1315 das Château de Sainte-Croix, dessen

Oben steht – unmittelbar neben den Ruinen

Burgruinen noch heute stehen. Nach dem Sieg der Eidge-

des ehemaligen römischen Tempels – ein

nossen von 1476 gegen Karl den Kühnen (der dabei seinen

Bergrestaurant mit einfachen Schlafmög-

Hut verlor) vergrösserten die von Grandson die Pufferzone

lichkeiten und einer frischen Marktküche,

zum Burgund, wozu sie die Grenze ihres Herrschaftsgebie-

wo Sie den Abend mit einer unvergleich-

tes weiter gegen Osten verlagerten und die Siedlungsbildung

lichen Aussicht und einem Glas Wein aus-

anstiessen. 1536 fiel Sainte-Croix dann an die übermäch-

klingen lassen können. Auf dem Weg hinauf

tigen Berner, unter deren Herrschaft sie blieben, bis 1798

oder hinunter können wir Ihnen ausserdem

Napoleon das Gebiet dem Kanton Léman zuschlug, der in

den Besuch des Refuge de la Casba, einer ur-

der Mediation im Kanton Waadt aufging.

chigen Bergbeiz mit leckeren Croûtes au fromage, sowie das Café-Restaurant des Cluds, einem eher schmucklosen Beizli, welches sich auf Filet

auf Engländer ausgerichteten Hotel mitTennisplatz,

Mignon an einer gesunden Doppelrahm-Morchel-Sauce

Cheminée, freundlichem Personal und einer atembe-

mit reichlich Pommes frites spezialisiert hat, empfehlen.

raubenden Aussicht auf das Mittelland.

Individuelle Einzelanfertigungen vereinfachten die Heimarbeit

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Transhelvetica / Das Kreuz / Gemeindeportrait Bild: Alex Wydler

Hauptschalter und Verkabelung fĂźr das Atelier von Dr. Wyss

73

Info und links 9 Refuge de la Casba

11 Hotel du Chasseron

10 Restaurant Les Cluds

8 Grand Hôtel des Rasses 6 Cinéma Royale 7 Café Jeudi 12

4 Spieldosenmanufaktur Reuge

1 Brasserie Trois Dames 5 Manufacture de harpes David 2 Centre Internationale de la Mécanique d’Art 3 Atelier de mécanique ancienne du Dr. Wyss

N 0

1

Brasserie Trois Dames, Rue de France 1, T. 024 454 43 76,

6

Direktverkauf jeden ersten Samstag des Monats 10 – 13h,

brasserietroisdames.ch

2

Fondation du CIMA, Centre Internationale de la

3

8 Grand Hôtel des Rasses, Les Rasses s/Sainte-Croix, T. 024 454 19 61, geöffnet Dezember bis Oktober,

um 14h und 15:30h, musees.ch

grandhotelrasses.ch

Atelier de mécanique ancienne du Dr. Wyss,

Spieldosenmanufaktur Reuge, Rue des Rasses 26, T. 024 455 22 22, Besichtigung auf Vereinbarung, reuge.com

5

Café Jeudi 12, Rue Neuve 1, T. 024 454 35 37, jeudi12cafe.ch

geöffnet Di – So, Führungen werktags um 15h, am Wochenende

Rue de l'industrie 1, T. 079 713 86 20, geöffnet nach Absprache 4

Cinéma Royale, Av. De la Gare 2, T. 024 454 22 49, cinemaroyal.ch

7 Mécanique d’Art, Rue de l’industrie 2, T. 024 454 44 77,

Manufacture de harpes David, Rue des Rosiers 22, T. 024 454 33 60, werktags von 09 – 12h und 14 – 18h,

200 m

9

Refuge de la Casba, 20 Minuten Fussmarsch oberhalb Sainte-Croix, T. 079 607 87 92

10 Restaurant Les Cluds, Les Cluds-Bullet VD, T. 024 454 25 94, restaurantlescluds.ch 11 Hotel du Chasseron, Chasseron, T. 24 454 23 88, durchgehend geöffnet, chasseron.ch

david-harps.com 12 Gemeinde Sainte-Croix: sainte-croix.ch

74

Transhelvetica / Das Kreuz / Gemeindeportrait

MADE IN SWITZERLAND. GEPRÜFT IN SCHOTTLAND. Seit der Erfindung der wasserdichten Golfuhr von

nach jedem Schlag ein-

Jaermann & Stübi spielen fast doppelt so viele Golfer

mal auf die

in Schottland, sagt man. Golf-

Uhr. Respekt

spielen im Regen ist plötzlich

vor der armen,

en vogue. Wasserdicht bis

alten Mutter Na-

100 Meter, zählt die Golf-

tur braucht der Trä-

uhr die Schläge, zeigt

Jaermann & Stübi nicht

den Spielstand und

sie es regnen lässt, desto länger und härter wird Golf

macht Vergleiche mit

gespielt. Lange Stunden der Nässe mögen dem

dem Handicap. Schwar-

Polish der Golfschuhe etwas anhaben, der Glanz

ze Wolken über dem

einer Golfuhr von Jaermann & Stübi in Gold oder

Green? Schmeissen Sie nicht

Edelstahl macht das aber locker wieder wett. Und

das Handtuch. Werfen Sie lieber

das Wichtigste: Egal, wie gut oder schlecht Ihr Score

Bleistiftstummel und die

am Ende eines Regentages aussieht, Sie sind immer

durchnässte Scorecard weg, und drücken Sie

Mechanisches Automatikwerk Mechanische Golf-Counter-Komplikation Eingebauter Schock-Absorber Handgefertigt in Kleinstserie www.jaermann-stuebi.com

ger einer zu haben. Je fester

der Gewinner. Sie haben Mutter Natur geschlagen.

Glückwunsch! Lang lebe das Golfspiel.

Helvetarien

Glatte Sachen Text: Karl Grauhans

Wer in Neu-Oerlikon auf einen Archi-

Bewohner hat ein Heim, Investor erhält

zeitgemäss ist, aber eine Lebens­freude

tekturrundgang geht, kann die gross-

Rendite,

kann

ausstrahlt, wofür manch einer tief ins

zügig angelegten Gartenanlagen sowie

Rechnung

profitieren.

Portemonnaie greift. Wie würde eine

die perfekten Mehrfamiliensiedlungen

Leider geht ob diesen primär ökono-

moderne Umgebungen aussehen, wenn

bewundern, mit denen Planer und

misch motivierten Abläufen oft unter,

die strengen Geometrien der Gebäude

Investoren auf ehemaligem Industrie-

dass mehr zum Wohnen gehört als ein

gebrochen würden durch Nischen und

gelände ein modernes Wohnquartier

modernes und erschwingliches Dach

Winkel, Niveauunterschiede, Farben-

erschaffen und dafür internationale

über dem Kopf. Der Mensch braucht

spiel und organische Materialien? Oder

Preise erhalten haben.

zu seinem Glück auch psychisches und

wenn Kinder Bälle aus Blumenbeeten

Auf unserer Stadtwanderung durch

physisches Wohlbefinden, das sich erst

herausfischen und auf Bäume klettern

das Quartier im Norden von Zürich

über die Interaktion mit seiner Umwelt

könnten, die aus einem natürlichen

trafen wir denn auch mehrheitlich ori-

einstellt. Darum bevorzugen viele Leu-

Boden herauswachsen?

ginelle Bauten an, die mit durchdach-

te alte, längst nicht mehr dem Stand

Uns ist bewusst, dass die Forderung

ten Wohnungen überzeugten und dank

der Technik entsprechende Überbau-

nach Gras statt Kies und Individualität

einer vernünftigen Preispolitik eine

ungen gegenüber modernen Siedlun-

statt Industrienorm mit Mehraufwand

attraktive

anboten.

gen, welche alle technischen Ansprü-

verbunden ist. Doch wir sind über-

Trotzdem mussten wir erstaunt fest-

che befriedigen. Sie möchten in einer

zeugt, dass der Mensch ein Genusstier

stellen, dass auf den Strassen und Plät-

Umgebung wohnen, die lebt und in der

ist und es ihm gut tut, wenn er in ei-

zen eine Stimmung vorherrscht, wie

sich die Jahreszeiten nicht nur aus der

ner lustvollen Umgebung leben kann.

man sie normalerweise von Ferien­

aufgestauten Menge von Niederschlag

Schliesslich gibt er täglich viel Geld aus

haussiedlungen im November kennt:

ableiten lassen. Farben, Laub, raffi-

für Dinge, die er auch günstiger haben

trist, kalt, grau. Warum? Was ist schief

nierte Details, Moos, Imperfektionen,

könnte: gutes Essen, schöne Kleider,

gelaufen? Dazu vorneweg die Arbeits-

matte Oberflächen und krumme Linien

stilvolle Möbel oder Nippes. Diesem

weise von Generalunternehmen im

vermitteln den Eindruck von Wärme

Bedürfnis nach Genuss sollte auch die

Zeitraffer: Überbaubares Grundstück

und Leben, in denen sich Menschen zu

Architektur nachkommen, weshalb wir

finden,

Durchmischung

Generalunternehmer stellen.

Alle

hause fühlen.

fordern, dass bei der Planung von neu-

von potentiellen Bewohnern abklären,

Um unsere Gedanken zu visualisieren,

em Wohnraum der Wert von krummen

Renditevorstellung des Investors eru-

haben wir der schönen neuen Welt

Linien, Pflanzen, Schnörkel und Far-

ieren, Baubudget errechnen, Gebäude

von Neu-Oerlikon eine Wohnsituation

ben berücksichtigt wird.

planen, bauen und verkaufen. Resultat:

gegenübergestellt, welche zwar nicht

Bedürfnisse

und

Kaufkraft

Transhelvetica / Das Kreuz / Glatte Sachen 76

Bild: Tim Franklin / Roland Zumbühl

für die Förderung der Ausbildung Jugendlicher aus schweizerischen Berggegenden

helfen Sie uns helfen Seit der Gründung im Jahr 1961 setzt sich die Pestalozzi-Stiftung mit grossem Engagement für die Aus- und Weiterbildung junger Menschen aus schweizerischen Berggebieten und Randregionen ein.

Ausbildungen dauern immer länger und werden immer teurer.

Nach der Grundausbildung werden oft Zusatzausbildungen und Spezialisierungsstudien nötig, um in der sich rasch ändernden Arbeitswelt mithalten zu können.

Pestalozzi-Stiftung | Fraumünsterstrasse 17 | 8022 Zürich | Telefon 044 210 40 80 office@pestalozzi-stiftung.ch | www.pestalozzi-stiftung.ch Post: Konto 80-5928-4 | Bank: Wegelin & Co., St. Gallen, Konto CH42 0876 5102 0248 4200 0

77

AVANTGARDE

Vaudeville Studios

en erent des n I Die ar vantg stratoren A r e l lu d unser den I ie Han n e r f ate habe e Studios ltung Inser ill sta er Ge en a u d ev V d i r e be d nd sen gelas nebenstehe der ATE INSER

Vaudeville Studios sind Martin Brunner (1978), Grafiker und

Sie legen viel Wert auf Details und Humor, auch wenn diese

Vize-Europameister der Velokuriere, sowie Roger Zürcher

dem normalen Betrachter verborgen bleiben: so soll jüngst

(1979), Trickfilmer der alten Schule und Weltmeister der

zum Gaudi der Eingeweihten einer aufgeregt davonsprin-

Velo­kuriere. Nach Jahren der Studien und Wanderschaft auf

genden Trickfilmfigur für ein einziges Bild die Hose etwas zu

der ganzen Welt haben sie sich beim Velokurieren gefunden

weit nach unten gerutscht sein. Das menschliche Auge sieht

und zusammen eine Firma gegründet, bei der sie den Inhalt

das nicht – die Trickfilmer aber sehr wohl.

ihrer bunt gefüllten Messenger Bags zusammen schütten.

vaudeville-studios.ch

Was ist das beste Vaudeville-Theater der Schweiz?

Womit belohnt Ihr Euch nach einem erfolgreichen

Die Herzbaracke, wo das Shooting für dieses Portrait statt-

Projekt?

gefunden hat herzbaracke.ch.

Wir lieben die Urlandschaften der Schweiz, wie etwa den

Wo feiert Ihr ein neues Mandat?

Tamangur im Unterengadin, den Creux du Van im Neuen-

Im Zürcher Kreis 4, beispielsweise bei La Catrina, Kurz-

burger Jura oder die Bödmeren im hinteren Muothatal.

gasse 4, Mo – Sa von 18:00 – 01:00 Uhr, lacatrina.ch, oder in

Was sind Eure Zukunftspläne?

der Totalbar, Tellstr. 19, 16:00 – 24:00 Uhr, totalbar.ch.

Wir wollen uns so positionieren, dass wir nur das machen

Wo findet Ihr Inspiration?

müssen, was uns Spass macht und die richtigen Aufträge

Unterwegs auf dem Fahrrad oder auf der Sitzbank in der

den Weg zu uns finden.

Parkanlage oben am «Himmelsleiterli» in Zürich Fluntern, mit einer tollen Aussicht über die Stadt.

Womit stärkt Ihr Euch für die Nachtschicht?

Mit südindischem Curry und Lassi bei Kobal an der Kanzleistrasse 76 in Zürich, offen täglich von 17:30 – 23:30 Uhr, und unter der Woche auch über Mittag.

Transhelvetica / Das Kreuz / Avantgarde 78

Bild: Nico Schärer, Interview: Jon Bollmann, Sammelanzeige: Vaudeville Studios

79

Transhelvetica / Das Kreuz / Spezialist 80

Fotografie: Alex Wydler Tobias Preisig, Jazzmusiker

Herkunft

EIN FREIGEIST IM SÄGEMEHL Text: Eva Stroppel Bild: Corinne Kramer

Jazzmusik und Schwingfest passen so wenig zusammen wie Fussball und Lackschuhe. Der Jazzgeiger Tobias Preisig schafft es aber, jedes Jahr eine Brücke zwischen den verschiedenen Welten zu schlagen.

Sägemehl tanzt im Sonnenlicht. Es riecht nach fri-

Schwingfest. Sein Vater ist im Appenzell aufgewach-

schem Holz und Sommer. Jodelklang und Bratwurst-

sen, Onkel Jürg und Tante Päuli leben heute noch dort.

duft liegen in der Luft. Die Schwinger streifen die

Nach ein paar Runden über das Areal trifft er sie, setzt

Leinenhose über und versuchen ihre Gegner im Ring

sich zu ihnen auf die Tribüne und verfolgt die Schwing­

auf den Rücken zu werfen. Eins, zwei, vorbei. Viele

kämpfe im Kreise der eingeschworenen Fans. Tobias

Schwingkämpfe sind schon nach wenigen Augen­

ist das Grossstadtkind aus Zürich, Weltenbummler und

blicken entschieden. Mit jedem Gang trennt sich all-

Musiker. Der Jazzgeiger und Freigeist wirkt ein wenig

mählich die Spreu vom Weizen. Erfahrene Schwinger

fremd unter den bodenständigen Leuten vom Land.

gewinnen meistens im Handumdrehen gegen die

Und doch ist seine Verwandtschaft mächtig stolz auf

Neulinge. Der Appenzeller Kantonal Schwingertag ist

ihn. «Wann hast du denn das nächste Konzert?», fragt

eine Tradition. Vor allem die Männer aus der Regi-

Tante Päuli. Tobias lädt sie ein. Onkel Jürg antwor-

on besuchen das alljährliche Ereignis. Dächlikappe,

tet ungerührt: «Ist es dir auch recht, wenn ich nicht

kurze Hose und verwaschenes Shirt. Schliesslich ist

komme? Du kannst ja vorher bei uns noch kurz vorbei

man hier auf dem Land. Gerne köpfen die Zuschauer

schauen.» Welten prallen aufeinander, aber eine ge-

schon morgens um 9 Uhr ein erstes Bier.

wisse Bewunderung schwingt dennoch mit.

Mittendrin sitzt Tobias Preisig. Er fällt auf, mit seinem

Ein Raunen geht durch die Reihen. Abderhalden Jörg

Hemd und den Cowboystiefeln. Kommt jedes Jahr ans

tritt zum ersten Kampf an. Ein Griff, ein gekonnter

81

Schwung und schon liegt der Gegner auf dem Rücken.

er, wo es nur möglich ist. Bloss keine Routine, die den

Das war nicht anders zu erwarten. Der amtierende

Alltag verkommen lassen könnte. Auch seine Geige

Schwingerkönig Abderhalden Jörg gilt als Favorit.

klingt jedes Mal anders, wenn er darauf spielt. Je nach

Kinder schleppen Harasse mit Getränken durch die

Stimmung, Umgebung und Intuition lässt er sie singen

Reihen, immer darauf bedacht, ein gutes Geschäft zu

oder wehklagen.

machen. Man kennt sich. Der Nachbar steckt den Klei-

Einmal im Jahr taucht er am Schwingfest in die Welt

nen gerne noch ein Trinkgeld zu, wenn er sich eine

von Tradition und Ursprung ein. Die Trachten gefallen

Erfrischung kauft. Tobias wird von vielen begrüsst.

ihm, die Volksmusik passt. Tobias hat als Kind selber

Man weiss, der mit den langen Haaren ist dem Preisig

«Stubete» mit seinem Vater und Grossvater gespielt.

seiner. Man hat ihn hier nicht vergessen, den Feingeist.

Er nimmt noch ein Bier und klatscht mit den anderen,

Irgendwie gehören sie alle zusammen. Auch wenn der

als der Schlussgang gewonnen ist. Eine ehrfürchtige

Vater vor vielen Jahren nach Zürich gegan-

TOBIAS PREISIG

gen ist, ein Appenzeller ist und bleibt ein Appenzeller. Tobias geniesst die Stimmung, das Bodenständige, das «Echte» wie er es nennt. Am Schwingfest ist nichts gekünstelt.

Mit seinen Appenzeller Wurzeln fühlt sich Tobias Preisig bei

Der Sieger, der den letzten Gang gewinnt, be-

den bodenständigen Schwingern zuhause. Der Grossstadt-

kommt einen Muni. Die anderen einen Kranz

cowboy liebt diese urchige Tradition und lässt sich von der

oder einen Sachpreis. Profi ist hier niemand.

Stimmung inspirieren. Seine Musik ist vom Moment und

Es ist per Statut verboten, vom Schwingen

der Umgebung geprägt. Das Appenzeller Schwingfest ist ein

zu leben. Auch Werbebanner und Reklamen

hervorragender Ort, um den Jazz zu suchen. Tobias Preisig

sieht man hier kaum.

ist 1981 geboren und lebt in Zürich. Er hat an der Swiss

Die Sponsoren müssen sich damit zufrie-

Jazz School in Bern und an der New-School University,

den geben, dass ihre Logos hinter den Bän-

Departe­ment Jazz, in New York studiert. Er verbrachte eini-

ken hängen. Aber das System funktioniert.

ge Monate in Paris, liess sich inspirieren und tauschte sich

Schwingen ist ein Volkssport und soll es auch

mit Musikerkollegen aus. Am Zürcher Konservatorium stu-

bleiben. Man will keine Werbeträger, die

dierte er klassische Musik. Zurzeit tourt er mit seiner Band

auf einmal in den Schwingerhosen aus dem

durch die Schweiz und Europa und wird von der Presse be-

Fernseher lächeln und sich einen Kaffee aus

jubelt: «Poetische Klangbilder», «Musik mit Seele», «Welt-

der neuesten Ma­schine lassen. Keinen Geor-

klasse». Der Jazzgeiger hat 2010 seine erste CD «Flowing

ge Clooney im Nadelstreifenanzug – viel lie-

Mood» beim New Yorker Label ObliqSound aufgenommen.

ber echte Mannsbilder mit Muskeln, die sich

Eine Hommage an seine Heimatstadt Zürich. tobiaspreisig.com

gegenseitig ins Sägemehl schwingen. Tobias kennt sowohl die Ruhe seiner Heimat als auch das Hekti­sche auf der Welt. Er hat in New York

Stimmung legt sich über das Areal. Den ganzen Tag

studiert und in Paris den Freejazz entdeckt, ist mit be-

haben die Schwinger gekämpft und geschwitzt. Und

kannten Bands getourt und schon mit verschiedenen

schliesslich hat Abderhalden Jörg gewonnen. Sein Sieg

Jazzgrössen gemeinsam auf einer Bühne gestanden.

gehört dazu wie das Amen in der Kirche. Der Muni

Er ist eigenwillig, liebt seine Freiheit und braucht die

wird zu ihm geführt. Ein kräftiger Bursche, ganz wie

Musik zum Überleben. Er ist stets auf der Suche nach

sein neuer Besitzer. Tobias saugt die ganze Stimmung

neuen Abzweigungen auf seinem Lebensweg, um den

in sich auf, verinnerlicht Gerüche, speichert Klänge

Alltag zu durchbrechen. Ein bisschen Chaos bereichert

und ist mit neuen Eindrücken erfüllt, die vermutlich

Tobias Alltag. Kaffeetassen stehen herum. Der kleine

schon bald auf seiner Geige wieder zu hören sind.

Garten verwildert.

Er leiht sich das Auto seines Kumpels und bringt drei schwarze Hemden zum Fotoshooting mit. «Wir könn­ ten Fotos mit dem schwarzen Hemd machen, oder mit diesem hier, oder mit dem anderen schwarzen.»

Er weiss, was er will und was er kann. Da ist er ganz Appenzeller. Rituale und Wiederholungen vermeidet

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1 4. Internationale KurzfIlmtage WInterthur 1 0.—14. november 2010

Zombie AttAck

( Partner )

( Medienpartner )

www.kurzfilmtage.ch

Bretter der Heimat

Die Wunderkammer im Saustall Text: Simon Jäggi

Wir haben eine Stunde und fünfzig Minuten gespielt.

historisches Schaudern. An der Wand hängen Plakate

Wir haben das Publikum euphorisch hinterlassen. Alles

aus drei Jahrzehnten. Darauf stehen Namen wie Dizzie

gegeben. Die Hütte war rappelvoll. Und dann kommt

Gillespie, Gabriella Ferri, Randy Newman, Myriam

dieser graue Knorrli in den Backstagebereich und

Makeba, Astor Piazzolla. Und die Legende besagt, dass

macht uns zur Sau. Zwei Stunden seien hier Standard

ein ganz Grosser einst angefragt habe, ob der «Stall in

für ein Konzert, keine Band ginge darunter. Kein Merci,

der Nähe von Bern» noch frei sei. Er wolle sich inkog-

kein Kompliment. Wir gehören zu den Jungs, die sich

nito auf seine Europa-Tournee vorbereiten. Bob Dylan

in der Schule selten geprügelt haben. Das war in die-

war das. Dylan entschied sich letztlich dann doch für

sem Moment das Glück von Mühle-Pesche. Die Mühle

ein Loft in New York. Aber dieser Saustall in Rubigen

Hunziken ist er, und er ist die Mühle Hunziken: Mühle-

hat seine Freunde auf dem ganzen Planeten.

Pesche. Der kleingewachsene 68-jährige Alt-68er ist le-

Denn die «Mühli» ist das, was man im Mittelalter eine

gendär für Vieles. Für seine schlechte Laune etwa. Aber

Wunderkammer genannt hat: Ein Ort des Staunens.

auch für seine eigenwilligen Ansagen, die er vor und nach

Über drei Stöcke sind die Holzräume zugestellt mit

den Konzerten hält. Für seine kritische Haltung zu Kul-

ausgestopften Tieren, mit überdimensionalen Figu-

tursubventionen – und zu den absurden Verteilmecha-

ren, einer riesigen Orgel. Besonders lieb ist mir der

nismen. Für seine kurlige Brille. Für seine anachronis-

Fuchs, der eine Taube serviert.

tischen Geschäftsmethoden – Verträge schliesst er keine

Nach dem ersten Gig haben wir uns eigentlich ge-

ab, bei ihm zählt noch ein Ehrenwort. Und auch für die

schworen, nie mehr in der Mühle Hunziken zu spie-

Hektoliter Herzblut, die er in seinem Lokal vergossen hat.

len. Durchgezogen haben wir es nicht. Als wir wieder

Es waren die Jahre der Hippies, als Mühle-Pesche

angefragt wurden, haben wir sofort zugesagt. Zu wohl

dieses Rocky-Tocky-Haus in Rubigen bei Bern über-

fühlen sich unsere Lieder in diesem Kuriositätenka-

nahm. 37 Jahre ist das her. Erst führte er den Mühlen-

binett. Dafür habe ich mir diesen Mühle-Pesche mal

Betrieb weiter und züchtete Schweine. Aber es kam,

vorgeknüpft. Eineinhalb Stunden haben wir auf der

wie es meistens gekommen ist, wenn ein bekifftes Blu-

Bühne gesessen und diskutiert. Und wenn heute einer

menkind ins Agrarwesen einsteigt. Über die Schweine

ein schlechtes Wort über Pesche fallen lässt, würde ich

kam Pesche ins Musikgeschäft. Und am Futter spart

mich sogar für ihn prügeln.

er auch heute nie. In der Mühle Hunziken wird man grossartig verköstigt. Und wenn man zum ersten Mal in den Backstagebereich tritt und geräucherten Speck vom kalten Plättli verdrückt, überkommt einen ein

Mühle Hunziken, Rubigen, muehlehunziken.ch Simon Jäggi ist Journalist und Sänger der Berner Band Kummerbuben, kummerbuben.com

Transhelvetica / Das Kreuz / Bretter der Heimat Bild: Tabea Hüberli

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Von Appenzeller Saris Text und Bild: Gerhardus Breedt

«An den Federn erkennt man den Vogel.» Mit welchen Federn machen Sie sich kenntlich? Vom Mensch gemachte Federn, veredelt mit Stickerei, sind im zeitgenössischen Kleiderschrank rar geworden. Dabei verbirgt sich hinter der Textilie filigranes Kunsthandwerk: Spitze, Stickerei & Co sind traditionell herstellungsaufwendig und hochwertig. Wer freut sich nicht über solche Qualitäten im Alltagsgefieder? Wir möchten Sie gerne auf eine Reise in die Kulturlandschaft der Stickerei einladen. Der Weg zum SpitzenSchatz führt in die vom Säntis überwachte und vom Bodensee angelächelte Region der Ostschweiz. Nun wünschen wir viel Freude bei der Flügelausbreitung zum Start des Eigenausflugs. Adleraugen auf!

Transhelvetica / Das Kreuz Saris / XXX Transhelvetica / Das Kreuz / Von Appenzeller 86

Fotografie: Alex Wydler

Angewandt

87

Es empfiehlt sich, die Sensibilisierungstour in Sachen

Beruf gemacht haben, führt die 1948 in die Familie

Textilherstellung im Appenzeller Volks­ museum in

Eingeheiratete bis heute – mittlerweile im Einfraube-

Stein zu beginnen. Bereits der Weg ins Musealische

trieb – fort.

tut der Seele gut, denn wie auf einer Märchentapis-

Doch wo früher klare Arbeitsteilung herrschte – Sti-

serie entfaltet sich die hügelig wellende Landschaft,

cken an der Maschine war Männersache; Frau und

eingezäumt von der Alpsteingebirgskette. Pittores-

Kindesgut fädelte, bespannte und nadelte – sorgt ihre

ke Dörfer und Sennenhöfe begleiten den Weg, wel-

liebevolle Hand heute nicht nur für die garnverzierte

cher an Bach, Wiese und Gestein vorbeiführt – sanft

Farbpracht der «Tüechli», sondern sie erledigt auch

rollend, beruhigend und Kraft spendend. Im Volks-

die aufwändige Vorbereitung und Bedienung der Ma-

museum werden die Gäste subtil-sphärisch und kaum

schine mit ihren 104 Sticknadeln. Ihre rhythmische

hörbar vom Klang des Sennenzäuerlis empfangen.

Kunstfertigkeit beim Stickvorgang ist beeindruckend.

Der textile Schwerpunkt der Ausstellung befindet sich

Darüber kann sich der nach Nachhaltigem Federsu-

im Untergeschoss, wo der Besucher jedoch nicht ei-

chende freuen.

ner passiven Geschichtsbetrachtung überlassen wird:

Als Motiv für die Stickerei auf Ihrem besonderen

am historischen Webstuhl und an der nostal­gischen

Taschen­tuch suchen Sie mit Frau Bischofberger nach

Handstickmaschine wird gespult, auf- und eingefädelt,

einem schönen Muster oder kreieren Sie eine eigene

geknüpft, gewebt und gestickt. Die herzlichen Kunst-

Vorlage, aus der Ihnen ein Stickzeichner ein Stickmus-

handarbeiterinnen erläutern die technischen Arbeits-

ter für die Handstickmaschine entwerfen kann. Eine

vorgänge und offerieren fundiertes histori­sches Wis-

individuelle Gestaltung ist aufwendiger, hebt einen je-

sen, etwa über die goldene Blütezeit der Appenzeller

doch von der Uniform im globalisierten Bekleidungs-

Stickerei im 19. Jahrhundert. Da waren sie erfinde-

dorf ab – wie die Arbeiten von Frau Bischofberger

risch, die Appenzeller Textilhandwerker! 1823 haben

bezeugen. Diese Kombination traditioneller Hand-

sie die Plattstichlade erfunden und damit weben und

werkskunst mit modernen Federn macht die Gardero-

sticken vereint. Vorsprung durch Technik.

be authentisch. Beispielsweise mit einem Einstecktuch

Die begehrten Stoffe oder «Stückli» wurden über die

als Blickfang bei Herr und Frau Vogel.

St. Galler Textilhändler in die ganze Welt exportiert; hauchfeine, floral-arabeske Spitzen-Federn, für noble

Herisauer Handwebwerk

Vögel in Paris und Leipzig. Es heisst, dass sogar farb-

Bevor Sie den Rückzug in die Westschweiz antreten,

prächtige Saris von Indien einstmals in kühlen Kellern

oder bevor Sie den Alpstein in Angriff nehmen, können

der Heimwerkstätten gewebt und bestickt wurden:

wir Ihnen auch wärmstens einen Ausflug nach Herisau

Appen­zeller Saris! Als einheimischer Zeuge der Stick-

ans Herz legen, wo die Handweberin Gabriella Rutis-

stubenindustrie blieb immerhin die imposante Appen-

hauser ihr Handwerk pflegt, als wäre das Web 2.0 nie

zeller Spitzhaubentracht.

erfunden worden. In ihrer Webstube präsentiert sie kunstvolle Feinarbeit von höchstem Webniveau. Chic

Haltbare Textilkunst von Lina Bischofberger

sind die farbigen Taschen, gestaltet aus Garnrestbe-

Wenn Sie Lust verspüren, die eigene textile Ausstat-

ständen einer ehemaligen Stickstube. Aus alt mach

tung mit Appenzeller Stickereihandwerk zu berei-

neu – das gefällt! Besondere Raffinesse spiegelt sich im

chern, fangen Sie beim Kleinen an: dem Taschentuch.

Lichtreflexspiel der eigens entwickelten Wellenweb­

Vereinbaren Sie einen Besuchstermin bei Frau Lina

strukturen wieder. Wer inspiriert von der nachhaltigen

Bischofberger und begeben Sie sich von Stein ins Ap-

Handwerkskunst diese nicht nur erwerben möchte,

penzeller Vorderland nach Steinegacht, bei Reute, wo

sondern gleich das Weben zu erlernen wünscht, be-

mitten in der Blumenpracht das historische Haus der

kommt hier die Chance, dies bei einer ideenreichen

Lina Bischofberger steht.

Fachmeisterin im Handweb-Kurs zu tun.

Ende des 19. Jahrhunderts gab es noch 3 000 Handstickmaschinen im Appenzeller Stickstubenbetrieb.

Heute ist sie die letzte Stickerin im Appenzell, welche

appenzeller-museum-stein.ch gabriellaswebstube.ch

an der Handstickmaschine arbeitet. Die Begegnung mit der aufrichtig lachenden Dame ist ein besonderes Erlebnis und ihre Lebensgeschichte erweckt Bewunderung.

Was die Bischofbergers in mehreren Generationen zum Transhelvetica Das Kreuz Saris / XXX Transhelvetica / Das Kreuz / Von /Apenzeller 88

Illustration: Fotografie: Gerhardus Alex Wydler Breedt

XXXX

89

Die sündige Seele vom Märjelensee In dunkler Tiefe sitzt sie, die einsame sündige Seele, verbannt dazu, im Märjelensee für ihre Missetaten zu büssen. Einer, der ihr begegnete, war jener junge Ziegenhirt, der sich Tag für Tag zum Fieschertal aufmachte, um mit seinen Tieren am See zu rasten.

Text: Nicole Hess, Illustration: David Boller

Jeden Morgen bestimmte der alte

der Tiefe, sah mit elenden Augen zu

sündige Seele des Hirten noch immer in

Alpen­vogt eine Ziege, von deren Milch

ihm hinüber und tauchte zurück ins

der dunklen Tiefe des Sees und hofft auf

der Junge während des Tages seinen

eisige Wasser. Einen Augenblick noch

Erlösung? Wanderung zum Märjelen-

Durst stillen durfte. Jedoch nur von die-

schäumte und kräuselte es, dann lag der

see: Bettmerhorn. Kühl steigt die Luft

ser und von keiner anderen! Stunden

See wieder in vollkommener Stille.

vom Aletschgletscher empor. Etwas

kletterte das Büblein mit seiner Herde

Zu Tode verängstigt führte der Junge

mehr als eine Stunde dauert die Wan-

über Stock und Stein und erreichte end-

die Tiere zurück ins Tal und schwor

derung zum Märjelensee – so meint es der gelbe Wegweiser. Entlang

lich den See. Da legte er sich

WanderTIPP

des Gletscherfirns steigt man

rische Tier nichts davon wissen,

Bettmeralp – mit der Seilbahn hoch zum

nunter zum Gletscher. Die Aus-

machte einen wilden Satz und

Bettmerhorn – entlang des Aletschgletschers

sicht ist atemberaubend und

sprang davon. Wohl oder übel,

zum Märjelensee – vorbei an der Gletscher-

die Zeit scheint eingeschlafen.

und weil sein Mund so trocken

stube durch den Bergtunnel Richtung Tällig-

Ein bisschen rauf und ein biss-

und sein Durst so gross war,

rat – runter zur Fiescheralp – zurück zur Bett-

chen runter, geht es immer

trank er schliesslich die Milch

meralp. Dauer: ca. 4 bis 4.5 Stunden. aletsch.ch

weiter vorwärts. Plötzlich liegt

durstig unter die bestimmte Geiss, um zu trinken. Doch an diesem Morgen wollte das stör-

langsam über zierliche Pfade und grössere Geröllfelder hi­

von einer anderen Ziege. Da

er da, unten im Talkessel, am

rief eine geisterhafte Stimme

Ende des Fieschertals. Der

aus der Tiefe des Sees: «Hirtenbüblein,

sich beim heiligen Wendelin, nie mehr

sagen­umwobene Märjelensee. Einsam

versündige dich nicht an fremdem Gut!

etwas zu tun, was nicht erlaubt war.

und unscheinbar scheint er auf Be-

Ich war Hirt wie du und habe gesündigt

Heute rasten Wanderer gerne am idyl-

such zu warten. Und dann steht man

wie du. Nun sieh, wie mir geschah!»

lischen Ufer des Märjelensees. Und zu-

da, an seinem Ufer und kann einfach

Wie aber der Knabe erschrocken zum

weilen meint einer – für den Bruchteil

nicht anders, als in seinem schwarzen

Märjelensee herüber blickt, schoss un-

einer Sekunde – die Konturen einer

Schlund nach einem Zeichen der sün-

vermittelt eine erbärmliche Gestalt aus

Gestalt wahrzunehmen. Wohnt die

digen Seele zu suchen.

Transhelvetica / Das Kreuz / Es war einmal

90

es war einmal

91

KUNSTSTüCKE

Reality hacking

Schaufensterzoo

Strassenfarbe

Die Vermehrung der Steine

Immigranten an der Scheibe

Spinnennetz für Nachbarn

Peter Regli verändert die Realität, ent-

Sie sehen aus wie die schwarzen Folien­

Das Künstlerpaar Lang/Baumann arbeitet

wirft alternative Welten und regt dazu

vögel, welche ihre Artgenossen aus

im beschaulichen Burgdorf, wo sie For-

an, sich stets von Neuem auf seine Um-

Fleisch und Federn vor tödlichen Crashs

men und Farben der Kindheit mit zeitge-

welt einzulassen. Dabei unterwandert

in Fensterscheiben bewahren. Doch wer

nössischen Einflüssen zu neuen Utopien

er den Alltag und konfrontiert den Be-

die Tierchen genauer anschaut, stutzt:

vermischen. So kreieren sie Welten aus

trachter ohne Ankündigung mit neuen

Flamingos und Kolibris gehören übli-

warmen Farben, fliessenden Mustern

Situationen.

cherweise nicht zu den Vogelscheuchen.

und runden Formen, in die man ob der

Die abgebildete Arbeit ist Teil einer In-

Und schon gar nicht Schafe. Oder Nas-

ausgestrahlten Geborgenheit mit Anlauf

stallation aus sieben grossen Felsen,

hörner. Oder Kampfhelikopter.

eintauchen möchte.

die der gebürtige Urner in den Alpen

Die Heimat dieser Querschläger ist Bern,

Für ein Wohnprojekt in Zürich mit meh-

gefunden hat. Vor Ort hat er Negative

wo sich eine Gruppe von Grafikern und

reren Gebäuden haben L/B ein Muster

der Felsen hergestellt und im Atelier

Zoodirektoren der Folienviecher ange-

aus Linien entwickelt, das sie mit Stra­s­

bronzene Replikate daraus gegossen.

nommen hat und ihnen auf Fensterschei-

senfarbe direkt auf den Asphalt strichen.

Die fertigen Kopien wurden bemalt und

ben in der ganzen Stadt ein neues Habitat

Nun verbinden die Linien sämtliche

in einer Neubausiedlung im Unterland

bietet. Dazu luden die Zoogründer Tier-

Türen, Tore und Durchgänge der Sied-

installiert, deren Anwohner vom Künst-

liebhaber auf der ganzen Welt ein, sich

lung miteinander und führen die Nach-

ler den genauen Standortbeschrieb der

am Aufzuchtprogramm zu beteiligen und

barn zueinander hin oder auf wiesengrü-

Originale erhielten. Damit haben sie

weltweit Folientiere auszusetzen.

ne Farbflächen, auf denen sie sich treffen

nun die Möglichkeit, die «Zwillings­

Tatsächlich verläuft die Aufzucht der

und austauschen können.

steine» an beiden Standorten zu besu-

Jungtiere dank einem guten Netz von

Mit diesem Werk tragen L/B zur Nachbar-

chen und sich in Zukunft angesichts des

internationalen

sehr

verständigung bei und sorgen dafür, dass

einen Zwillings an das Umfeld des an-

erfolgreich und führte bereits zu welt-

sich die Siedlungsbewohner auf einem

deren zu erinnern.

weiten Exporten vieler Arten. Vielleicht

schwungvollen Strich oder auch im Grü-

auch in Ihrem Umfeld? Halten Sie die

nen treffen und näher kommen können.

Die Steine (Projekt 206) finden Sie in den Alpen oder am Hagenbuchrain in Zürich; realityhacking.com

Augen offen! windowzoo.com

Artenschützern

Lang/Baumann «Street Painting #2» 2003, Siedlung Hegianwandweg, Zürich, 110 x 26 m Das Werk finden Sie auf Google Earth oder direkt am Hegianwandweg in Zürich, langbaumann.com

Transhelvetica / Das Kreuz / Kunststücke 92

Bild: Fotografie: Peter Regli, PeterFlickr, MusterHannes Heinz

Space Invaders

Croissant-Rouge

Theaterbonbon

Pixel für die Stadt

Kreuz, Kristall und Halbmond

Bauhaus Juwel

Können Sie sich an das pixelige Video-

Wenn Sie bei Croissant-Rouge als er-

1927 beauftragte die aus Belgien in die

spiel «Space Invaders» erinnern? Der

stes an Frühstück denken, dann wird

Schweiz geflohene Familie Bachrach den

Streetart Künstler Invader war offenbar

es höchste Zeit, dass Sie ein Ticket nach

deutschen Künstler und Architekten Carl

ein Fan davon. Seit 1998 baut er die

Genf lösen und sich die Geschichte des

Weidemeyer mit dem Bau des Teatro San

Vide­ ospiel-Figuren

Keramikplätt-

Roten Kreuzes und des Roten Halbmon-

Materno, in welchem die Tochter des

chen nach und lässt sie dann auf der

des im sehr übersichtlichen Museum er-

Hauses, Charlotte Bara, ein Zentrum

ganzen Welt über Städte herfallen.

klären lassen.

für sakrale Tänze und Ausdruckstanz

Die nach ästhetischen, strategischen

Als Schweizer sind wir stolz darauf, dass

einrichtete.

und konzeptuellen Motiven in einer

der Gründer des Internationalen Komi-

Das Theater mit 100 Sitzplätzen ist als

Stadt verteilten Figuren kreiert der Pari-

tees vom Roten Kreuz ein Schweizer war

erster

ser Künstler in seinem Atelier. Wenn er

und die Organisation ihren Sitz seit der

der Schweiz ein wichtiger Zeuge seiner

eine Armada fertig hat, packt er diese in

Gründung 1863 in Genf hat. Doch worauf

Zeit. Charlotte Bara nutzte es bis in die

seinen Rucksack, fährt in eine Stadt, be-

bezieht sich der Bundesrat genau, wenn

50er Jahre für eigene Auftritte, richtete

sorgt sich einen Stadtplan und plant die

er von der humanitären Verpflichtung

darin ihre Schule für Ausdrucksgestal-

Invasion aus Keramik und Zement.

und Tradition der Schweiz spricht? Wer

tung ein und stellte es als Bühne für viele

Invader hat die Kunstschule besucht. Mit

verteidigt die Rechte der Gefangenen in

berühmte Autoren zur Verfügung. 1978

dem weltweiten Projekt verfolgt er keine

Guantanamo? Wozu dient der Rote Kri-

verkaufte sie es der Gemeinde Ascona,

tiefschürfenden Ziele, sondern freut sich

stall? Was isst man im Café Dunant zum

welche es angesichts hoher Renovations-

lediglich über die Übergriffe der Ausser-

Frühstück? Informieren Sie sich!

kosten dem Zerfall preisgab. Erst 2004

mit

irdischen und die kleinen Farbtupfer, die er seinen Opfern damit verpasst.

Die in Paris gestartete Invasion hat bereits

Musée international de la croix-rouge et du croissant-rouge, Avenue de la paix 17, Genf, geöffnet Mi – Mo 10 – 17h, micr.org

klassisch-moderner

Kulturbau

konnten die Mittel gesichert werden, um die nötigen Untersuchungen und Arbeiten durchzuführen. Seit 2009 steht es

die Schweizer Städte Genf, Lausanne und

der Öffentlichkeit in seiner ganzen Far-

Bern infisziert. Halten Sie also Ausschau!

bigkeit – orange Wände, blaue Decken

space-invaders.com, Stadtkarte von Genf: space-invaders.com/mapgeneve.html

und gelb gestrichenes Holz – als Ort für Veranstaltungen aller Art wieder zur Verfügung.

Teatro San Materno, Ascona TI, teatrosanmaterno.ch

Bild: Flickr, pd, pd

93

Fotografie: Alex Wydler

Ausreise

«Unsere Königin könnt Ihr gerne haben.»

Björn 19, Eindhoven | Milan 20, Den Haag | Rocco 18, Utrecht | Pim 16, Den Haag

Die vier Studenten waren mit der holländischen Snow-

Für welches Restaurant würdet Ihr zurückkommen?

board-Nati an Wettkämpfen im Bündnerland. Ihre Pla-

Auf unseren Reisen rund um den Globus haben sich

cierungen Ende Saison 09/10: Björn 797/12 (Rang inter-

die Asiaten und die Italiener als zuverlässige Restaura-

national/unter den Holländern), Rocco auf 300/3 und

teure erwiesen. In Laax hat uns das Nooba atmosphä-

Pim auf 1240/16. Sie bestreiten Wettkämpfe auf der

risch und kulinarisch gut gefallen nooba.ch.

ganzen Welt und oft auch in der Schweiz. Sie reisen viel.

Was war das Gefährlichste, was Euch in der Schweiz widerfahren ist?

Was ist speziell an der Schweiz?

Uns scheint es hier im Allgemeinen nicht sehr gefährlich,

Die Berge. Von denen haben wir in Holland nicht so viele.

aber natürlich gehen wir bei den Wettkämpfen oft an die

Was habt Ihr vermisst?

Grenzen dessen, was noch als vernünftig gelten kann.

Den Stromadapter.

Welches Hotel könnt Ihr empfehlen?

Was werdet Ihr nach Eurer Abreise vermissen?

Uns hat das Rocks Resort in Laax sehr gut gefallen

Die Paprika Pommes Chips von Zweifel und die Wasabi

rocksresort.com – in dem wir aber leider nur zu Besuch

Nüsschen von Coop.

waren. Die Snowboard Rider waren in einem anderen

Was sollte die Schweiz von Holland übernehmen?

Hotel einquartiert.

Den Euro. Das würde uns das Reisen erleichtern und

Habt Ihr einen Kulturtipp für die Schweiz?

wir würden noch öfters kommen. Und die Königin, die

Leider hat sich das ganze Kulturland während unserem

könnt Ihr gerne haben.

Besuch unter einer dicken Schicht Schnee und Schwei-

Was würdet Ihr als Könige von Holland von der

gen verborgen.

Schweiz übernehmen?

Was unterscheidet die Schweiz von Schweden?

Die Fahrlehrer, damit die Holländer lernen, in den

In der Schweiz gibt es den besseren Käse und in Schwe-

Bergen richtig zu fahren.

den die heisseren Mädels.

Was ärgert Euch in der Schweiz?

Eigentlich nur, dass wir in Euren Läden oft daran erinnert werden, wie klein die Auswahl an Käse aus Holland ist.

Und dass es bei Euch so kalt ist. Aber immerhin ist es eine trockene Kälte – nicht wie bei uns, wo die Feuchtigkeit das Kältegefühl noch verstärkt.

Welches war der schönste Ort, den Ihr in der Schweiz gesehen habt?

Davos und Laax waren toll und bieten auch guten Ausgang – aber Zürich, mit seiner super Weitsicht über den See auf die Berge, gefällt uns auch sehr gut.

Interview: Jon Bollmann, Bild: Alex Wydler

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Schweden

Wo die Kaffeetanten leben Text: Karl-Fredrik Karlsson

hweiz, D i e S c c h e , B e e re n El en musst nd der das La inen. So oft chweiz und , ie S den ond und Bl ben, dass d echselt wer sie w l r r r h e e e v t i m r nde cht wir m iteina le selber ni er oder viel m n e d i z e t e i i w e w e h r w h c e h r l S c e t r Sich eher S ir mit dass w , ob wir nun den sind. Zu te Heimat hwe ind wei c h e r s b e n d o c h S c e r u n s e re z o re n t h a l t e n b v e ü leicht n wir mehr Ihnen nicht eht. Denn g e h t r c l e u l wo da t nd h en – un weden zu u e verbrüder r h a f r i h e c w S d s n n a e i w w i e e s w i r d o c h i rg w i r a u c h e t ie wenn so sollten H e r de s i n d , u n s e re « a n . sen s über i w » mat

Wenn Sie ein Schwede fragt, ob sie

ches Café setzt und redet… redet…

«fika» wollen – die wohl meistge-

redet… redet… Wer meint, dass die

stellte Frage in Schweden – dann ist

Schweden ein eher ruhiges und stil-

das keine erotische Unverschämt-

les Volk sind, hat noch keine rechte

heit, sondern eine Einladung zum

«fika-session» erlebt.

Kaffeekränzchen; fika bedeutet Kaffeetrinken. Für ein fika braucht es

Kaffee wurde bereits im 17. Jahrhundert

1. eine grosse Tasse Kaffee nach

nach Schweden gebracht. Angeblich hat

Wahl (die jungen Damen in Stock-

Karl XII bei den Türken einen Kaffeekocher

holm meinen, dass nur ein «Latte»

entdeckt, ist süchtig geworden danach und

in Frage kommt), 2. süsses Gebäck,

hat die Zutaten nach Schweden mitgenom-

sogenannte «bullar», bei denen je-

men. Dort soll er pro Tag dreieinhalb Kilo

der schwedische Mann behauptet,

Bohnen verbraucht haben, womit er den

dass seine Mutter die Besten backen

Grundstein legte für den Kaffeefanatis-

würde, und 3. Freunde, mit denen

mus der Schweden. Weltweit trinken nur

man sich in variabel grossen Grup-

die Finnen mehr Kaffee als die Schweden

pen an die Sonne oder, während elf

(Schweiz: nach den Skandinaviern auf

Monaten pro Jahr, in ein gemütli-

Platz 5; deutlich vor Italien).

Impressum Herausgeber: Passaport AG, Alter Bahnhof Letten, Wasserwerkstrasse 93, 8037 Zürich, passaport.ch, T. 044 241 29 29 Geschäftsführung: Jon Bollmann, jon.bollmann@passaport.ch Redaktionsanschrift: post@transhelvetica.ch

Transhelvetica, das Schweizer Magazin für Reisekultur, Alter Bahnhof Letten, Wasserwerkstrasse 93, 8037 Zürich, transhelvetica.ch, T. 044 241 29 29,

Redaktion: Jon Bollmann, Sandra Leite, Alex Wydler, Pia Marti eMail Adressen:

Tomas Brader, Daniel Hertli, grafik@komun.ch

vorname.nachname@transhelvetica.ch

Art Direction:

Komun GmbH,

Layout: Tomas Brader, Daniel Hertli, Silvia Ramsay Anzeigen: Mediadaten finden Sie unter transhelvetica.ch Fotografie: Nico Schärer,

Alex Wydler Text: Franz Hohler, Anne Bergfeld, Simon Jäggi, Esther Kern, Omar Gisler, Eva Stroppel, Elisabeth Lösch, Nicole Hess, Gerhardus Breedt Bild: Alex Wydler, Nico Schärer, Esther Kern, Elisabeth Lösch, Franz Hohler, Corinne Kramer, Alois Jauch, Tabea Hueberli, Nicole Hess, Gerhardus Breedt Illustrationen: David Boller Lektorat: Claudia Walder Promotion: Anne Bergfeld, Andreas Grob

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Ausland: sFr. 75.-

Ziegler Druck- und Verlags-AG, Winterthur

Online: Allerhand, allerhand.ch Heftpreise: Einzelheft: sFr. 10.–, Jahresabonnement über 6 Ausgaben: sFr. 45.– ,

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