Alfons Dworsky, Judith Leitner Überlegungen zum Bauen am Land

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Alfons Dworsky, Judith Leitner

Überlegungen zum Bauen am Land Landschaft Lesen Heft 2

LandLuft – Verein zur Förderung von Baukultur in ländlichen Räumen in Kooperation mit dem Forschungsbereich Städtebau Institut für Städtebau, Landschaftsarchitektur und Entwerfen Technische Universität Wien

Inhalt Karin Raith

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Erzählungen über tausend und ein Dorf Judith Leitner

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Das Projekt Alfons Dworsky, Judith Leitner

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Ideengeschichte und konzeptuelle Ansätze Was ist Struktur?

Strukturalistische Betrachtung eines einfachen Hauses Ideengeschichtlicher Faden Lob des Landlebens Die Urhütte gibt es nur als Idee!

Flucht ins Hameau Produktives Land und ideale Kulturlandschaft Nationale Identitätssuche im Bauernhaus Internationaler Heimatstil Haus- und Siedlungsforschung Lebensreform und kultivierte Bürgerlichkeit Ideologie der Stadtablehnung Wiederentdeckung des anonymen Bauens nach 1945 Das Karge als Inspiration

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Anspruch und Wirklichkeit Regionales Bauen versus regionalistische Architektur Ein Ansatz: Klassische Tendenz – manieristische Tendenz Transformationsprozesse Regelwerke Tendenza, verordneter Regionalismus, modern und doch warm Beziehung zum Außenraum und Inszenierung der Landschaft Dorferneuerung und Partizipation Landschaft und lokaler Kontext Judith Leitner

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Ausblick

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Literatur und Bildnachweis

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Biografie

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Impressum

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Erzählungen über tausend und ein Dorf Karin Raith

Alfons Dworskys Vorlesungen zu hören ist immer ein Vergnügen. Sie laden ein, scheinbar vertraute Landschaften und Bauweisen neu zu sehen und zu verstehen. Sie sind vergnügliche Ausflüge zu Orten am anderen Ende der Welt oder gleich um die Ecke, zu verschiedenen Baukulturen und Lebensweisen, zu historischen Situationen und aktuellen Entwicklungen. Der häufige Perspektivwechsel dient dazu, Zusammenhänge aufzudecken und die Logik bestimmter Entwicklungen verständlich zu machen. Damit sammelt Dworsky etwa Indizien für seine These, dass unter ähnlichen landschaftlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen, wo immer auf der Welt man sie findet, ähnliche Baugestalten und Siedlungsformen entstanden. Auch Gesetzmäßigkeiten der Formentwicklung können damit erforscht werden. So lassen sich etwa Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den traditionellen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden der einfachen Leute und den Palästen der Oberschicht einer Region erklären. Unterschiede ergeben sich z. B. daraus, dass sich jeweils andere gesellschaftliche Positionen und Lebensweisen in den Gebäuden abbilden und dass die einfachen Alltagsbauten strengeren funktionellen Zwängen und dem Gesetz ökonomischer Effizienz unterworfen sind, während sich die Herrschenden Verschwendung leisten können. Ähnlichkeiten beruhen darauf, dass beide Kategorien von Bauten unter den gleichen Umweltbedingungen entstanden und oft einen gemeinsamen Ausgangspunkt der typologischen Evolution aufweisen. Elementare Bauformen wurden durch Auswahl und Behandlung des Materials, Veränderung der Raumgrößen und Raumanordnung nobilitiert. Oft distanziert sich Hochkultur aber auch demonstrativ von der Volkskultur, indem für die Elitenarchitektur fremde oder radikal innovative Baugestalten übernommen werden.

Solche Zusammenhänge zu verstehen ist nicht nur spannend für diejenigen, die sich für traditionelles Bauen und vernakuläre Architektur interessieren.

Aus ökologischen und ökonomischen Gründen müssen wir das Bestehende nutzen, integrieren, weiterentwickeln und transformieren. Für einen intelligenten Umgang mit der existierenden Kulturlandschaft und ihren baulichen Komponenten ist daher eine genaue Kenntnis dieser Gesetzmäßigkeiten unverzichtbar. Dworskys Vorlesungen liefern Anleitungen zur differenzierten Betrachtung baulich-räumlicher Strukturen, weisen auf Irrwege bei der Auseinandersetzung mit der Kulturlandschaft hin und sind damit auch eine wertvolle Hilfe für das Entwerfen.

Missverständnisse bei der Interpretation ländlicher Bauweisen gab es genug, davon ist unter anderem in diesem Heft die Rede. Das mag auch damit zusammenhängen, dass das Anknüpfen an Bautraditionen heute intellektuell anspruchsvoller ist, als es in integrierten vormodernen Gesellschaften war.

Der Bauer, der vor hundert oder zweihundert Jahren einen neuen Hof errichten wollte, hatte einen recht genau definierten Bautyp vor Augen. Damit standen ihm Handlungsanweisungen zur Verfügung, die einerseits Zwang zur Konformität, andererseits hilfreiche Leitlinien waren. Er hatte einen gewissen Spielraum für Innovation, aber er musste den Hof insgesamt nicht neu erfinden. Das traditionelle Bauen war ein Produkt aus einem generationenlangen kollektiven Prozess von Experiment, Erfahrung und Verbesserung. Die Anpassung an die Umwelt, gesellschaftliche Anforderungen, Erfordernisse des Gebrauchs und Bautechnik wurden aufeinander abgestimmt, synthetisiert und verfestigten sich in baulichen Konventionen, in Bautypen, die sich auch veränderten Bedingungen anpassen konnten, solange keine radikalen gesell-

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Vorwort

schaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche stattfanden. Diese Einbettung des Bauens in die Tradition gibt es nicht mehr. Die Kontinuität der typologischen Entwicklung wurde durch tiefgreifende sozioökonomische Transformationen unterbrochen. Ortsbezogene Optimierungsprozesse finden aufgrund der Globalisierung mit ihren weltumspannenden Material- und Informationsflüssen nicht mehr statt. Das Bedürfnis, dennoch die lokale Identität zu wahren, verführt daher oft zu einem Ortsbildschutz, der formale Merkmale traditioneller Gebäude auch für Neubauten vorschreibt, unabhängig von deren ursprünglichem Sinn. Solche rein ästhetisch-motivische Imitationen führen zu einer sinnentleerten Bilderproduktion. Eine adäquate Weiterentwicklung der Kulturlandschaft erfordert eine profunde Auseinandersetzung. Dworsky zeigt dazu methodische Wege auf, etwa den strukturalistischen Ansatz.

Die hier abgedruckten Vorlesungen lassen Dworskys mäandrierende Vortragsweise erkennen, eine Art von analytisch-didaktischem Dérive quer durch sämtliche mit dem Bauen direkt oder indirekt verbundenen Einflusssphären und Forschungsgebiete. Er unternimmt Abstecher in die Geologie und Hydrologie, beschreibt das Klima, die Vegetation und andere Aspekte der natürlichen Umwelt, aber auch die Wechselwirkungen des Bau- und Siedlungswesens mit anthropogenen Konstrukten wie Wirtschafts- und Sozialsystemen, Rechtsordnungen, Religion, Technik etc. Auf diese Weise werden alle Untersuchungsebenen integriert, die Erkenntnisse zu den Entstehungsbedingungen der Kulturlandschaft liefern können. So wird auch klar, dass man keine relevanten Erkenntnisse gewinnen kann, wenn man nur ein Element, nicht aber seinen Kontext untersucht. Die Maßstabsebenen Landschaft, Siedlung und Gebäude sind nicht voneinander trennbar.

Wenn Dworsky also von einem Fenster spricht, dann spricht er auch über das verwendete Holz, über den Baum, aus dem das Holz geschnitten wurde, und die Landschaft, in der der Baum gewachsen ist. Er erläutert die verwendeten Werkzeuge, den Raum, dem das Fenster Licht, Luft und Aussicht verschafft und das Gebäude, in dem der Raum sich befindet. Die Erzählbögen sind oft ausladend und es dauert eine Weile, bis der Vortrag wieder beim Fenster angelangt ist. Doch in der Zwischenzeit hat man über Waldnutzungsrechte und Verhaltenskodizes, über den sozialen Status der Bewohner dieses Gebäudes, ihre ökonomischen Verhältnisse, Religionszugehörigkeit und damit verbundene Konventionen erfahren, die sich in der Position, der Gestaltung und Funktionalität des Fensters manifestieren. Daraus ergibt sich eine Vorstellung davon, wie die gebauten Räume die räumliche Organisation des Alltagslebens abbilden und formen. Vernakuläre Architektur ist die physisch-materielle Konkretisierung immaterieller Konstrukte (politischer, gesetzlicher, sozialer Ordnungen) oder – wie Dworsky es ausdrückt – „umbaute Lebensform“.

Karin Raith ist Professorin für Baukonstruktion am Institut für Architektur der Universität für angewandte Kunst Wien und lehrt dort auch Geschichte und Theorie der Landschaft.

Wer seinen Sprachduktus kennt, wird aus den hier publizierten Passagen auch den Tonfall heraushören, die Begeisterung über durchdachte Konstruktionen, den Unmut über falsche Verklärung des Landlebens oder geistlose Nachahmung traditioneller Architektur, die Lust an Abstechern in scheinbar architekturferne Disziplinen wie Musikinstrumentenbau oder Schriftkunst.

Man wird auch die rhetorischen Pausen wiederfinden, die sich vordergründig daraus ergaben, dass Alfons seine Pfeife stopfte und sie mit kurzen, den Redefluss synkopisch rhythmisierenden Zügen anrauchte ( ja, es gab Zeiten, da war das Rauchen während einer Lehrveranstaltung noch durchaus üblich!).

In Wahrheit waren diese Pausen wohl dramaturgisch raffiniert gesetzt, damit das Publikum das soeben Gehörte kurz reflektieren konnte oder aber, um die Spannung zu steigern und erst nach diesem retardierenden Moment die Schlusspointe zu präsentieren. Wer Alfons Dworsky nie gehört hat, muss sich das alles dazudenken.

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Das Projekt Judith Leitner

Über Jahrzehnte hat sich Alfons Dworsky an verschiedenen Universitäten (u.a. in Wien, Hannover, Michigan und Bangkok) sowie in Planungsaufträgen und Studien in unterschiedlichen Gemeinden und Regionen mit baulich-räumlichen Strukturen in ländlichen Räumen auseinandergesetzt, nicht zuletzt auch als Beiratsmitglied des Vereins LandLuft. Seit einigen Jahren verfolgt LandLuft das Projekt, das Wissen von Alfons Dworsky, seine Erfahrungen und Anschauungen, Skizzen und Zeichnungen, Thesen und Theorien in anschaulicher Form zu dokumentieren und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Nach einem ersten Konzept für ein Buchprojekt hat sich in weiterer Folge die Idee zu einer Publikationsserie, dem dazugehörigen Webarchiv dworsky.landluft.at und begleitenden Vorträgen entwickelt.

Der erste Schritt war die filmische Aufzeichnung von Alfons Dworkys Vorlesung an der TU Wien im Rahmen des Moduls „Territoriale Transformation“ im Frühjahr 2017 als Basis für die weitere Aufbereitung.

Die Website dworsky.landluft.at bietet Videopassagen aus der Vorlesung, aus Vorträgen und Interviews, ältere Skripten und Texte zum Download sowie Auszüge der vorliegenden Serie „Landschaft Lesen“. Die Transkription der Vorlesung ist Ausgangspunkt der Verschriftlichung, die Texte wurden allerdings stark redigiert, um fehlende Aspekte, ausführliche Zitate, Verweise und Bilder ergänzt, sowie in mehreren Gesprächen inhaltlich präzisiert. Jedes der noch geplanten Hefte soll seine eigene textliche Form finden.

Architektur als soziales Ereignis live Links: Performance als Abschluss eines Vortragsabends von Alfons Dworsky (Gambe) gemeinsam mit Lothar Lässer (chromatisches Knopfgriffakkordeon) in der Kammer der ZiviltechnikerInnen in Graz: Teil des auf Initiative des Landes Steiermark organisierten Programms waren auch Gedichte von Friedrich Achleitner, improvisiert von Beteiligten aus dem Publikum.

Foto: Alexandra Pototschnik Rechts: Präsentation der Reihe „Landschaft Lesen“ im April 2018 in Wien Foto: Friedrich Hauer

Heft 1: Architektur als soziales Ereignis Das erste Heft der Serie mit dem Titel „Architektur als soziales Ereignis“ wurde im Frühjahr 2018 veröffentlicht. Es ist als Einführung in Dworskys Architekturverständnis zu sehen und handelt von räumlichen Ordnungen und ihren materiellen und immateriellen Grenzen, von Übergangsriten und Zwischenzonen bis zum Hausbau als sozialem Ereignis.

Heft 2: Überlegungen zum Bauen am Land Das nun vorliegende zweite Heft beginnt mit einer Ideengeschichte des ländlichen Raums, einem fragmentarischen Überblick über die Sichtweisen auf das Land und das ländliche Bauen in verschiedenen Epochen bis in die Gegenwart, ausgehend vom europäischen Kontext. Ein zentraler Aspekt ist dabei die Auseinandersetzung mit vernakulärer Architektur, also mit anonymen Bauten, die nicht gezielt geplant und entworfen wurden, sowie mit

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Das Projekt

Vortrag von Alfons Dworsky beim Architekturfrühling Haslach im Juni 2018, wo auch eine Vorlesung für Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Rohrbach auf dem Programm stand.

Foto: Judith Leitner

ihren Nachahmungsversuchen in regionalistischen Stilprogrammen. Da die Geschichte des ländlichen Bauens weniger eine der Persönlichkeiten und Einzelleistungen ist, sondern eine Geschichte der Strukturen und der Bedürfnisse des Alltags, bietet deren Analyse gewisse Chancen. Der romantische Blick auf das Land führte allerdings häufig auch zu Idealisierungen und Projektionen, deren Kehrseite die herablassende Behandlung der Provinz und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner ist. Die in verschiedenen Epochen immer wieder in etwas anderer Form auftauchenden Parole „Zurück zur Natur!“ wird uns in der Auseinandersetzung ebenso begleiten wie die Konzeption einer harmonischen Kulturlandschaft. Dazu kommen völkisch-nationale und heimattümelnde Vorstellungen und Ideologien von Bauen und Landschaft.

Der Text ist eine Anregung, das Wesen, die Art, die Struktur der gebauten Umwelt und ihre Hintergründe zu verstehen, also hinter die Erscheinungsformen von Kulturlandschaft, Siedlung und Objekt zu blicken. Wer diesen Weg konsequent verfolgt, also bis in die tiefsten Kellerlöcher hinunter und einfachsten Elemente nach dem „Warum?“ fragt, wird zumindest mit der einen oder anderen überraschenden Geschichte, warum die Welt oder einer ihrer überschaubaren Flecken so aussehen, wie sie aussehen, belohnt werden.

Etwa der Aufklärung der Frage, wie es möglich war, dass in einem so holzreichen Gebiet wie dem niederösterreichischen Waldviertel über Jahrhunderte kaum in Holz gebaut wurde.

Je mehr man sich mit realen Hintergründen, sowohl mit den Umweltbedingungen als auch mit den gesellschaftlichen Bedingungen von baulichen Strukturen auseinandersetzt, umso weniger wird man auf die Idee kommen, sie in irgendeiner Weise formal, als Dekoration oder ländliches Motiv zu verwenden. Wer sich mit den vielfältigen Veränderungen der gebauten Umwelt beschäftigt, wird auch kaum noch Gefahr laufen, dem „Urhüttensyndrom“ – also der Suche nach dem vermeintlich Ursprünglichen – zu verfallen oder andere ideologische Irrwege zu verfolgen, sondern einen eigenen, kritischen Standpunkt entwickeln.

Judith Leitner hat an der TU Wien Architektur studiert und ist seit 2011 Mitarbeiterin des Vereins LandLuft mit den Schwerpunkten Baukulturvermittlung, Wissenschaft und Forschung.

Ich möchte mich bei allen bedanken, die zum Gelingen der Reihe und der dazugehörigen Website beigetragen haben und sich für die Weiterverfolgung des Projekts einsetzen. Für die inhaltliche Unterstützung danke ich insbesondere Alfons und Roswitha Dworsky, Barbara Feller, Lukas Gnaiger, Roland Gruber, Doris Gugler, Tobias Hanig, Friedrich Hauer, Melanie Hollaus, Georg Kugler, Rosa Leitner, Marcel Neundörfer und Erich und Karin Raith.

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Ideengeschichte und konzeptuelle Ansätze Die Ideengeschichte der „ländlichen Architektur“, falls es so etwas gibt, ist begleitet von ideologischen Verzerrungen: Das Landleben wird einerseits als Idylle und Hort der Ursprünglichkeit idealisiert, das Land und seine Bewohnerinnen und Bewohner – das Provinzielle – andererseits mit Herablassung betrachtet. Dazu kommt die meist vermeintlich zeit- und geschichtslose Darstellung der anonymen, regionalen Baukultur. Nicht selten handelt es sich um die Perspektive der städtischen Eliten auf das „Land“. Dabei taucht in der Geschichte immer wieder und jeweils in etwas anderer Form die Parole „Zurück zur Natur!“ auf, visualisiert in diversen Urhüttenphantasien. Die Identitätssuche des Nationalismus widmet sich mit Leidenschaft dem bäuerlichen Bauen. Das Karge als Inspiration ist bis heute ein wesentlicher Reiz in der Auseinandersetzung mit Baukultur in ländlichen Räumen. Der Versuch, die Strukturen hinter den Erscheinungsformen von Kulturlandschaft, Siedlung und Objekt zu erkennen, schärft im Idealfall den Blick für die Unterscheidung zwischen baulich-räumlicher Realität und Projektion.1 1 Einige der im folgenden Text wiedergegebenen Passagen aus der Vorlesung von Alfons Dworsky im Rahmen des Moduls „Territoriale Transformation“ an der TU Wien sind auch als Videos online zu sehen.

Verfügbar unter: dworsky.landluft.at

Als Einstieg erzähle ich Ihnen, zugegeben etwas verkürzt und polemisch, welche Probleme ich am Anfang meiner Studien damit hatte, mich überhaupt mit der Sache der ländlichen Architektur, die ja eine Strukturgeschichte ist, zu beschäftigen. Das ist nämlich ganz einfach. Im Architekturstudium lernten wir: Ganz früh hat es die Mesapotamier gegeben, dann sprang es zu den Ägyptern über. Dann Mitte der Ägypter ist in Griechenland, kretisch-minoisch was losgegangen, die Griechen sind dann vorklassisch und hauptklassisch geworden und während die Griechen klassisch waren, haben sich die Römer auch schon irgendwie was einfallen lassen. Die weitere Erzählung hüpft von den Römern weiter über die Alpen und dann haben wir unsere europäische Architektur. Und ab der klassischen Moderne gibt es ein bisschen was in Japan und in Amerika auch noch. Und damit hat es sich im Großen und Ganzen.

In der Auseinandersetzung mit der sogenannten anonymen oder vernakulären Architektur gibt es in dem Sinn keine geschriebene, chronologische Architekturgeschichte, sondern oft eine vermeintlich zeitlose Darstellung.

Es handelt sich über weite Strecken um eine Persönlichkeiten- und Ereignisgeschichte, die an einzelnen Beispielen festgemacht wird. Ich weiß nicht, wie es Ihnen im Studium heute geht, aber wir mussten noch zahllose historische Bauwerke auswendig zeichnen können, z. B. den Apollotempel zu Bassae-Phigalia im Maßstab 1:200 auf kariertem Papier. Und wenn die Zeichnung nicht ganz gestimmt hat, haben wir in Baukunst schon eine eher lausige Note bekommen.

In der Auseinandersetzung mit der sogenannten anonymen oder vernakulären Architektur gibt es dagegen in dem Sinn keine geschriebene, chronologische Architekturgeschichte, sondern oft eine vermeintlich zeitlose Darstellung. Es handelt sich also schon um eine ideologische Verzerrung, mit der ich ganz am Anfang meiner Beschäftigung konfrontiert war. Damals war auch die Fachliteratur über ländliche Architektur effektiv versaut von dem Zeug, das in der Zeit des Nationalsozialismus publiziert worden ist.

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Ideengeschichte des ländlichen Bauens

Videoaufnahmen der Vorlesungsreihe von Alfons Dworsky im Rahmen des Moduls „Territoriale Transformation“ an der TU Wien im Sommersemester 2017 Kamera: Lukas Gnaiger, Bernhard Mayer

Es gab ja einen völlig idiotischen Fundamentalismus, der hieß: Aus der Urkraft des germanischen Volkes ist etwas entstanden, das war ganz toll. Und dann sind die Zersetzungen der Stadt gekommen und es ist alles miserabel geworden und den Bach runtergegangen. Völlig ahistorisch!

Die Geschichte vom Gegensatz zwischen dem vermeintlich geschichtslosen Bauen am Land und der historisch wachsenden, sich verändernden, quirligen Stadt ist vielleicht sogar so alt wie die Stadt selbst. Ich muss Ihnen sagen, selbst die heutige Fachliteratur über das sogenannte Land ist nicht völlig frei von solchen ideologischen Verzerrungen. Da man in der Beschäftigung mit der anonymen, vernakulären Architektur natürlich schwer eine Persönlichkeitsund Ereignisgeschichte identifizieren konnte, suchte man andere Wege. Es gibt beispielsweise ein Buch – ich will es gar nicht zitieren – über Südtiroler Bauernhöfe, in dem ein Kapitel mit dem Titel „Urhöfe“ zu finden ist. Wenn so ein Wort fällt, müsste man so ein Buch bereits zuklappen und sagen: Das kann nur ein Topfen sein, denn uralt ist ja nur der Lavendel und der Asbach, wenn das jemand kennt! Das eine ist ein Parfum, das heißt „Uralt Lavendel“ und das andere ein Getränk, ein deutscher Weinbrand, der „Asbach Uralt“.

Sonst ist nichts uralt, sonst hat alles seine Geschichte! Und darum setzen wir uns mit dieser Strukturgeschichte auseinander, weil es anders gar nicht geht.

Was ist Struktur?

Jetzt ist die Frage: Was ist denn überhaupt Struktur? Als Studenten in den 1960er-Jahren sympathisierten meine Kollegen und ich sehr mit einer Denkweise, die als Strukturalismus bezeichnet wird, die zum Teil auch eine intellektuelle Modewelle war, die auch auf die Architektur übergeschwappt ist.

Bekannt sind vor allem die niederländischen Architekten Aldo van Eyck, Piet Blom und Herman Hertzberger.

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Zu Strukturalismus vgl.:

Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt a.M. 1962 Helga Gallas: Strukturalismus als interpretatives Verfahren.

Darmstadt 1972 Christopher Alexander: Eine Muster-Sprache: Städte, Gebäude, Konstruktion. Wien 1995 Umberto Eco: La struttura assente. Milano 1989; bzw. in der deutschen Übersetzung: Einführung in die Semiotik. München 2002

Der Strukturalismus ist im Grunde eine vergleichend-typologische Analysemethode, die aus den Sprach- und Sozialwissenschaften übernommen wurde und die in den 60er- und 70er-Jahren auch stark die architekturtheoretische Debatte prägte. Dabei sind unter Struktur allgemeine Regeln zu verstehen, nach denen architektonische Elemente eine zeichenhafte, typische Gestalt bilden können. Auch Intuition und vermeintlich freie Kunstausübung werden nur als dialektische Aspekte innerhalb der kontextual geregelten Strukturen gesehen, also als Gestaltung innerhalb funktionaler und sozialer Zusammenhänge.2 Weil sie übergeordnete Zusammenhänge über die entwerferische Leistung einzelner Persönlichkeiten stellen, eignen sich typologisch-vergleichende Analysen besonders gut zur Untersuchung anonymer Architektur.

Ideengeschichte

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Titelbild des Skriptums „Reihe, Raster und Division“ Alfons Dworsky: Reihe, Raster und Division. Verwandtschaftsbeziehungen ländlicher Gehöftfamilien. Skizze am Leitfaden der Dachgerüstentwicklung.

Wien 1986 Online verfügbar unter: http://dworsky. landluft.at/publikationen.html

Ein strukturalistischer Seitenblick auf die Welt des Hammers: Die meisten der abgebildeten Hämmer sind als das allseits bekannte Werkzeug verwendbar, manche kommen nur für sehr spezielle Tätigkeiten zum Einsatz und einige der abgebildeten Hämmer sind vor allem Symbol und Zeichen für Tatkraft oder proletarische Revolution. Wieder andere, wie der Hammerhai oder das Hammerklavier, sind von der Form abgeleitete Bezeichnungen für ganz andere Wesen und Dinge.

Mit dem Verlust evidenter Funktionalität wird oft die ästhetische Wahrnehmung wertbestimmend. Mit der Unterscheidung zwischen „evidenten Zeichen von etwas“ und „abgeleiteten Zeichen für etwas“, zwischen selbstreferenziellen und codifizierten Zeichen kann die strukturale Perspektive zum Ausgangspunkt von Gestaltungstheorien und -programmen werden. (Vgl.: Max Bense: Aesthetica.

4 Bd., Stuttgart 1954-1960) Sreenshot Bildersuche Hammer, Bearbeitung: Judith Leitner

Die strukturalistisch orientierten Architektinnen und Architekten haben eigentlich Struktur oft wie einen Gitterkasten verstanden. Die Grundthese der Strukturalisten ist, dass ein Bauwerk wächst, sich addiert, größer wird, kleiner wird, aus Zellen besteht. Das Entwerfen war von Ideen beeinflusst, in denen Selbstähnlichkeitsmodelle eine Rolle spielen, in denen ein Bauwerk quasi organisch wachsen und schrumpfen kann, wozu auch gehört, dass ein Bauwerk genauso wie eine Stadt niemals fertig sein kann. In Städtebauübungen haben wir damals als Studenten z. B. Termitenbauten studiert. Da haben wir gesagt: Was im Städtebauskriptum steht, interessiert uns eigentlich wenig, wir schauen uns an, wie ein Ameisenhaufen funktioniert. Am damaligen Gebäudelehreinstitut war sogar eine Zeitlang ein Formikarium aufgebaut, ein verglaster Kasten mit Ameisen. Und man hat versucht, anhand der lebenden Ameisen die Strukturen des Bauens zu verstehen und Erkenntnisse für die Urbanistik abzuleiten. Es war eine Gegenbewegung gegen den Nachkriegsstädtebau, wo man einfach diese Riegel, um Riegel, um Riegel aneinandergestellt hat. Philosophisch gesehen ist das natürlich eine Verirrung, genauso wie es eine Verirrung ist, wenn man sagt: Dekonstruktivismus besteht darin, dass man die Wände schief macht. Also wenn man das, was gerade und rechtwinklig vernünftiger wäre, schief macht. Das hat mit Dekonstruktion im philosophischen Sinn nicht das Allergeringste zu tun, fast im Gegenteil würde ich sagen.

Kinder in einem thailändischen Karen-Dorf warten geduldig hinter der am Eingang zum Dorf dafür vorgesehen Linie auf die ankommenden Gäste.

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Ideengeschichte

Baulich-räumliche Strukturen zu erfassen heißt, den Zusammenhang zwischen Naturraum, Kulturraum, Siedlungssystem und Haus zu erfassen und bei jeder Veränderung eines Teilsystems die Veränderung des Gesamtsystems im Auge zu behalten.

3 Vgl.: Alfons Dworsky: Land – Architektur. In: Bauen und Gestalten im ländlichen Raum.

Berufungsvorträge 78/79 zur Neubesetzung des Institut für landwirtschaftliches Bauwesen und ländliches Siedlungswesen.

Technische Universität Graz 1980, S. 39f

Einfaches Steinhaus im Tessin mit verputztem Trichterfenster

Jetzt ist die Frage: Kann die Idee des Strukturalismus irgendwie nützlich sein? Kann man das brauchen? Ich glaube – das ist jetzt ein Credo, das gebe ich ehrlich zu – ich glaube: ja. Ich glaube, die strukturalistische Betrachtung ist etwas, das das Verständnis fördert. Denn es geht um die Auseinander-​ setzung mit Gestalt, die sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt, die auf eine bestimmte Art und Weise miteinander verknüpft sind, die wir eine Struktur nennen. Und es hat etwas mit dem klaren Denken und dem klaren Verwenden von Begriffen zu tun. Baulich-räumliche Strukturen zu erfassen heißt, den Zusammenhang zwischen Naturraum, Kulturraum, Siedlungssystem und Haus zu erfassen und bei jeder Veränderung eines Teilsystems die Veränderung des Gesamtsystems im Auge zu behalten.3

Strukturalistische Betrachtung eines einfachen Hauses Auf dem Foto sehen Sie die Fassade eines sehr einfachen, mehr als dreihundert Jahre alten Gebäudes. Das ist bei Brontallo im Tessin, wenn man von Locarno das Maggiatal hinauffährt. Was können wir, wenn wir es jetzt analysieren, darin erkennen? Ich mein’, es schaut sehr romantisch aus, deswegen bring ich auch das Bild, klar. Aber was können wir daraus herauslesen? Eine ganze Menge: Also erstens, dass die Leute, wenn sie etwas aus Bruchstein gemauert haben, an der Ecke immer relativ lange Binder verwendet haben, damit die Ecke stabilisiert wird. Sie kennen sicher Nachbildungen in Putz dieser Art, also im Putzschnitt gemachte Eckquader, an historistischen Gebäuden. Etwa, wenn Sie in Wien ein Palais ansehen, wo eine Rustizierung gemacht wurde.

Der evidente Sinn dieser Sache im Steinbau ist, dass man in dieser Mauerwerkstechnik lange Binder an den Ecken zur Stabilisierung verwenden muss.

Ideengeschichte

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Das ist dann in der römischen Antike eine Mode geworden, wo man mit der Haue grob behauene Steine verwendet hat. Oder auch bei Renaissancebauten wie dem Palazzo Pitti in Florenz mit seinen Rustikabeulen an den Ecken, die an die vierzig Zentimeter stark sind und fast einen Klafter lang. So hat man das auf diese Art übertrieben, was als rustikal und angemessen galt. Doch warum? Die Untergeschoße waren bei diesen Palazzi oft feucht und wurden als Werkstätten, Räume für Bedienstete und als Pferdestallungen verwendet.

Analog zur untergeordneten Nutzung hat man das als rustikales Motiv ausgeführt. Und in dem abgebildeten Haus im Tessin haben Sie das noch in der ursprünglichsten Form, dass das Mauerwerk an der Kante anders ausgeführt ist als in der Mitte. Gerade dieser kleine Unterschied in der Genauigkeit, weil es an der Ecke einfach statisch wichtig ist, sie so auszuführen, das macht den Charme und die Lebendigkeit aus. Wenn jetzt jemand herkäme und das ganze Gebäude mit einer Art steinernen Tapete überziehen würde, weil ihm beispielsweise die Denkmalbehörde vorschreibt, das Haus müsse eine Steinplattenfassade haben, also, wenn jemand die Fassade einfach mit Steinplatten versehen würde, dann würde er wahrscheinlich diese Eckausführung nicht anders als die Wandfläche machen und damit würde es diese Art sinnstiftender Lebendigkeit verlieren. Sie wäre nicht da und deswegen schaut das dann immer blöd aus und wird zu einem Zeichen für etwas, z. B. für Rustikalität.

Man macht damit Architektur! Und weil es gar so schön ist, macht man noch einen Stern dazu. Das bezeichnet den Stolz: Jetzt hab ich etwas Tolles geschafft!

Die Chesa Albertini in Zuoz, Graubünden (Revitalisierung, Umnutzung als Galerie und Wohnhaus, Architektur: Hans-Jörg Ruch) Foto: Friedrich Hauer

In der Analyse kommen wir jetzt zum nächsten Element: dem Fenster. Der Erbauer dieses charmanten Hauses war möglicherweise weder in Mailand noch in Rom und hat wahrscheinlich von der Renaissancearchitektur nur wenig mitbekommen. Dass es aber etwas mit Ecken und Zacken zu tun hat, hat er offenbar schon gewusst. Und das Trichterfenster, das Sie hier sehen, ist eigentlich eine sehr funktionale Angelegenheit. Wenn Sie sich diese Steinmauer ansehen, stellt sich die Frage, wie man vernünftig ein Fenster einbinden kann. Es handelt sich um sehr grobe Steine und Fenster sind teuer und aufwändig. Glas war damals wahnsinnig teuer, also versuchte man mit wenig Glas auszukommen. Innen ist es, mit Verlaub gesagt, saukalt in so einem Steinhaus. Also hat man an der Innenseite eine Holzvertäfelung angebracht, einfach, damit es nicht gar so kalt ist. Was liegt dann näher, als das Fenster, wenn man jetzt schon bei der Tischlerarbeit ist, in die Holzvertäfelung einzubinden? Und damit es nicht stockfinster wird, macht man einen Trichter. Damit es wirklich hell wird und damit nicht durch die Fugen die Gelsen und Wespen durchkommen, wird der Steinrahmen verputzt und gekalkt. Doch mit Putz und Kalk muss man ebenfalls sehr sparsam sein. Das ist dort alles Urgestein, ein spaltbarer Gneis, aus dem man Platten spalten kann, um sie aufs Dach zu legen, und mit dem man sehr dicke und schwere Mauern machen kann. Das ist alles gut und schön, aber man kann keinen Kalk daraus brennen. Daher hat man die Fugen nicht vermörtelt, sondern in mühevoller Arbeit ein mit kleinen Steinchen ausgezwicktes Trockenmauerwerk gemacht. Und an der Innenseite hatte man ja sowieso die Holzvertäfelung. Dass die Mauer etwas zugig war, ist klar. Aber um das Fenster herum, damit man das Fenster überhaupt sauber einputzen konnte und nicht überall seitlich die Insekten hineinkrabbeln, hat man das bisschen Kalk, das man sich leisten konnte, zum Vermörteln und Verputzen der Fensteröffnung verwendet. Auch natürlich, weil man den Anschluss ordentlich machen wollte. Man macht damit Architektur! Und weil es gar so schön ist, macht man noch einen Stern dazu. Das bezeichnet den Stolz: Jetzt hab ich etwas Tolles geschafft!

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Ideengeschichte

Ideengeschichtlicher Faden Ich nehme das jetzt als Anlass und mache einen kleinen Exkurs zur Frage der Forschungslage und der Forschungsinteressen. Die längste Zeit hat man sich für die Bau- und Alltagskultur der ländlichen Bevölkerung nur sehr beschränkt und aus einer sehr eingeengten Perspektive heraus interessiert. Oft handelt es sich um einen verklärten und gleichzeitig auch herablassenden Blick einer privilegierten und urbanen Schicht auf das einfache Leben auf dem Land.

Dabei gibt es einen, ich würde mal sagen ideengeschichtlichen Faden der Idealisierung des Landlebens, der mindestens bis in die Antike zurückgeht.

Frühe Beispiele sind die bukolischen Dichtungen im Hellenismus, die sich auf das Leben der Hirten beziehen, etwa Theokrits Idyllen (um 270 v. Chr.).

Ein berühmtes Beispiel aus der römischen Antike ist Vergils Georgica (um 30 v. Chr.). Damals, also in der römischen Kaiserzeit, konnte es in der Stadt Rom sehr unbequem werden. Heute würde man sagen: Für Oligarchen ist es meist nützlich, sich möglichst in der Hauptstadt in der Nähe des Präsidenten aufzuhalten, es kann aber auch schnell sehr unkomfortabel werden. Das ist nicht leicht vorhersehbar. Und das galt damals für die senatorischen Großgrundbesitzer in ähnlicher Weise.

Lob des Landlebens Vergil war der Meinung, es sei doch eigentlich etwas Feines, wenn man in einer Gesellschaft von Gleichgesinnten in ländlicher Umgebung lebe. Da müssen Sie sich aber Landgüter vorstellen mit zahlreichen Sklaven, mitunter Gutsbetriebe von gewaltigen Ausmaßen, das war damals die ländliche Bescheidenheit. Und es galt als Ideal, dass man dort lebt und sich mit Fragen der Bienenzucht beschäftigt und nicht mit Fragen der Sesterzen, also mit Geld und Wirtschaftsmacht, oder den Problemen des Senats in Rom. Hände weg davon! Was will ich damit sagen? Eine leichte Krisensituation in einer städtischen Zivilisation kann zur komplementären Vorstellung führen, dass das Landleben das Gesunde und das Richtige sei und dass es besser sei, sich aufs Land zurückzuziehen. Gut: Lob des Landlebens. Da gäbe es eine ganze Menge solcher Gedichte, die die Männer der Flur besingen, die mit gebogenem Pflug das Erdreich furchen, die ihr Land und ihre Enkelchen nähren, ein Land, in dem die Kühe ihre milchschwellenden Euter herabsenken und das Jahr nie rastet, um die Menschen mit Obst zu beglücken und so fort.

Eine leichte Krisensituation in einer städtischen Zivilisation kann zur komplementären Vorstellung führen, dass das Landleben das Gesunde und das Richtige sei und dass es besser sei, sich aufs Land zurückzuziehen.

4 Luigi (auch Alvise) Cornaro, der sich in Padua für die Trockenlegung von Sümpfen und die Pflege der Lagunenlandschaft einsetzte, führte seine Agilität bis ins hohe Alter u. a. darauf zurück, dass er abwechselnd in zwei prächtigen Villen wohnte, perfekt entworfen für den Genuss der Jahreszeiten.

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in der frühen Neuzeit beobachten, wenn Sie an die Villenarchitektur der Renaissance denken, als Cornaro als Bauherr, Palladio, Scamozzi und Serlio als Architekten z. B. entlang der Brenta diese schönen, wunderbaren Villen gebaut haben.4 Eine feine Sache! Warum haben sie das getan? 1453 wurde Konstantinopel durch die Osmanen erobert. Mit dem Niedergang des Byzantinischen Reichs wurde der Seehandel im östlichen Mittelmeer immer gefährlicher und die wirtschaftliche Hegemonie der Venezianer war gebrochen. Die „Investoren“ sagten sich: Ob man das Risiko, im östlichen Mittelmeer Seehandel zu betreiben, noch eingehen soll, ist fraglich, investieren wir lieber auf der Terra ferma, also am festen Hinterland, wo es die Brenta aufwärts riesige Landstriche gibt. Es ist zwar etwas ungesund, weil es dort wegen der vielen Sümpfe Malaria gibt, aber wenn wir einen ordentlichen Kanal buddeln und das Land trockenlegen, wenn es auch ein ganz schönes Geld braucht, dann können wir da wunderbar leben.

Ideengeschichte

5 Vgl.: Reinhard Bentmann, Michael Müller: Die Villa als Herrschaftsarchitektur: eine kunst- und sozialgeschichtliche Analyse. Frankfurt a. M. 1992 6 Eine Analogie aus der Gegenwart der globalisierten Welt wäre, dass Vermögende aus den USA und Asien in Immobilien und Grundstücke in Neuseeland investieren, weil es als sicheres Land gilt und von den negativen Folgen des Klimawandels weniger betroffen scheint als andere Weltgegenden.

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Vorher, in der Spätgotik, hätte es solche Bauten überhaupt nicht gegeben, allein weil keine Bauherren dazu da waren. Aber in der Renaissance gab es eine richtige Villenbegeisterung unter den Venezianern. Und der Rekurs schon damals auf das senatorische Landgut, auf Vergil und die Vergnügungen des Landlebens, ist in den Villenbüchern unmittelbar angesprochen worden.5 Und unter anderem deshalb hat auch Palladio mit der Wiedererweckung der römischen Baukunst so einen ungeheuren Erfolg gehabt. Es war eigentlich ein sehr historistischer Zug, die römische, sozusagen die „eigene“ Baukultur wieder neu zu interpretieren. Wenn Sie so wollen, auch wenn dieser Ausdruck vielleicht hier etwas gewagt ist, war das eine Art Regionalismus, ein früher populistischer Regionalismus, wo es eigentlich darum ging, dass sich die Reichen in neorömische Landgüter verzupft haben.6 Die Urhütte gibt es nur als Idee!

In Verbindung mit diversen „Zurück-aufs-Land-Bewegungen“ steht immer wieder die Frage nach den Ursprüngen der Behausung. So kann es eine lohnende Sache sein, die in den verschiedenen Epochen entstandenen Urhütten-

Darstellung einer Art Urhütte in Laugiers „Essai sur l‘architecture“: Eine hübsche Muse mit Winkelmaß und Zirkel und ihr geflügelter Genius zeigen auf ein Bauwerk, das auf in der Erde wurzelnden Baumstämmen fußt.

Marc-Antoine Laugier: Essai sur l‘architecture.

Paris 1755

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Ideengeschichte

Theorien zu verfolgen, die auch immer etwas mit dem Lob des Landlebens zu tun haben. Vitruv beschreibt im zweiten Buch der „Zehn Bücher über Architektur“ die ersten Behausungen als Nachahmung der Natur, z. B. von Schwalbennestern. Die Menschen übten im Wetteifer mit der Natur ihre Erfindungskraft und bauten immer bessere Hütten. Bei den mittelalterlichen Traktatisten wird interessanterweise der Stall von Bethlehem als Ausgangspunkt betrachtet. Leon Battista Alberti (1404-1472) gelangt in seiner Beschreibung schnell von der necessitas (Notwendigkeit) über die opportunitas (Zweckmäßigkeit) zur voluptas (Vergnügen). Oder Filarete (15. Jahrhundert) stellt sich vor, dass es geregnet habe, als Adam aus dem Paradies vertrieben wurde und er möglichst schnell eine Hütte baute, um sich vor Sonne und Regen zu schützen. Und 300 Jahre später beginnt Marc-Antoine Laugier (1713-1769) seinen „Essai sur l’architecture“ mit der bildlichen Darstellung einer hübschen Muse mit Winkelmaß und Zirkel und einem geflügelten Genius, die beide auf eine Art Urhütte im Hintergrund des Bilds zeigen: ein Bauwerk, das auf in der Erde wurzelnden Baumstämmen fußt. Und so werden im Laufe der Zeit immer tollere Urhütten konstruiert und erfunden.

Zentral ist dabei die Frage: Wie lebt der Mensch? Wie sollen wir leben? Was brauchen wir eigentlich wirklich?

Was sind die elementaren Bedürfnisse?

7 Martina Sedelmayer: Die Urhütte. Eine ideengeschichtliche Betrachtung. Diplomarbeit, Technische Universität Wien 1993

Ich hatte Anfang der 1990er-Jahre die Gelegenheit, Martina SedelmayerBarth, heute eine erfolgreiche Architektin, als Studentin zu betreuen, die eine bezaubernde Diplomarbeit über die Urhüttentheorien geschrieben hat.7 Sie hat verschiedene Ansätze miteinander verglichen und darin ganz klar herausgestellt, dass natürlich jeder, der so etwas verfasst, seine eigenen persönlichen Fluchtperspektiven oder Paradiesvorstellungen in diese Urhütte hineinprojiziert und es für viele der Ausgangspunkt eines Architekturprogramms ist.

Zentral ist dabei die Frage: Wie lebt der Mensch? Wie sollen wir leben? Was brauchen wir eigentlich wirklich? Was sind die elementaren Bedürfnisse?

Insbesondere zur Zeit der Aufklärung, als man begonnen hat, sich über vernakuläres Bauen und andere elementare Dinge den Kopf zu zerbrechen, hat man sich Gedanken über Fragen gemacht wie: Was ist die conditio humana?

Was sind die Minimalbedürfnisse? Woher kommt eigentlich die Architektur?

Und da gibt es ein kurioses, naives Beispiel in der Nähe von Hamburg, wo ein Baumeister um 1790 eine „Moos- und Borkenhütte“ gebaut hat, die man noch heute als Rekonstruktion besichtigen kann: Die Wände sind aus Weidenzweigen geflochten mit ovalen Löchern als Fenster und die Tragkonstruktion ist aus Stämmen zusammengezimmert. Das Haus sollte der Muße dienen und wurde ja eigentlich nur als Kuriosität geplant. Es ist ein gebautes Beispiel der Vorstellung einer Urhütte und des vermeintlich ursprünglichen Lebens auf dem Land.

8 Ein berühmtes Beispiel, das bis in die Gegenwart gelesen wird, ist Henry David Thoreaus Selbstversuch „Walden oder Leben in den Wäldern“ aus dem Jahr 1854 (auch erschienen als „Walden oder Hüttenleben im Walde“).

Und wie Sie wahrscheinlich ahnen, kann man auch die Lebensreformbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts und die sogenannte Alternativbewegung der 1960er-Jahre, die Hippies in Kalifornien, die sich ihre handmade houses gemacht haben, die Dome-Häuser um Buckminster Fuller, die tiny-house-Bewegung und alle, die sich als Aussteiger in ihren grassroot communities ebenfalls mit den basic needs beschäftigt haben, mit der Vorstellung von Urhütten und der Romantisierung des Landlebens in Verbindung sehen. Die bereits erwähnten „Zurück-aufs-Land-Bewegungen“ finden wir jedenfalls bis in die Gegenwart immer wieder jeweils in etwas anderer Form.8

Ideengeschichte des ländlichen Bauens

Links: Dammwärterhaus im Dessau-Wörlitzer Gartenreich, ein Vorzeigeprojekt der Aufklärung, angelegt unter Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau Rechts: Der Cecilienhof im Neuen Garten des Schlosses Potsdam, geplant von Paul Schultze-Naumburg, fertiggestellt 1917, also während der Krisenjahre des Ersten Weltkriegs. Die Bauten und Schriften von Paul Schultze-Naumburg sind besonders plastische Beispiele für die Widersprüchlichkeit des beginnenden 20. Jahrhunderts und die Kompatibilität von Lebensreform, Heimatschutz und völkischen Ideologien.

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Flucht ins Hameau Doch noch einmal zurück zur Aufklärung: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren das ancien régime und die feudale Ordnung schon in einem sehr kritischen Zustand. Gerade zu dieser Zeit werden auch eskapistische Spielereien mancher Adeliger in ihren künstlich angelegten Hameaus (französische Bezeichnung für kleines Dorf) Mode. Bereits von Prinz Eugen ist bezeugt, dass er damit angefangen hat, auf Bällen als Gärtner zu gehen und sich in seiner Gärtnerkluft gefreut hat, wenn ihn seine aristokratischen Leute nicht erkannt haben. Oder adelige junge Männer und Frauen haben sich als Schäfer und Schäferinnen verkleidet und sich irgendwo auf einer Rasenbank in der Abendsonne angehimmelt. Ein Extrembeispiel ist das Hameau de la Reine im Schlossgarten von Versailles, das um 1785 für Marie Antoinette angelegt wurde. Solche Eskapaden hätte es noch um 1700 nicht gegeben. Da war das nicht standesgemäß. Und man wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Das alles kann man als Zeichen für die Dekadenz einer adeligen Gesellschaft deuten, die eine Fluchtperspektive zum einfachen Leben entwickelt mit Hameaus, Schäferspielen, Urhütten und allem, was dazu gehört. Dass solche Projektionen mit dem realen Leben auf dem Land wenig zu tun haben, kann man sich denken.

Zur Zeit der Aufklärung taucht der Begriff der Kulturlandschaft auf: als Gesamtheit von Landschaft, Fluren, Menschen, Tieren und Häusern.

Produktives Land und ideale Kulturlandschaft Besonders Mitte bis Ende des 18. Jahrhundert, am Höhepunkt der Aufklärung, wird das Interesse am ländlichen Raum aber auch in anderer Hinsicht auf einmal ganz neu entdeckt. Nämlich als Kulturlandschaft, das heißt als Gesamtheit von Landschaft, Fluren, Menschen, Tieren und Häusern. Um 1750 wurden auch zahlreiche Landwirtschaftsgesellschaften gegründet, die sich unter anderem dem Versuchs- und Unterrichtswesen widmeten. Damals waren es vor allem gebildete Adelige oder Bürger, die sich der Entwicklung der Landwirtschaft verschrieben haben. In Österreich vertraten Josef II. (1741-1790) und später Erzherzog Johann (1782-1859) die Einstellung, das friedliche, produktive, kultivierte Landleben müsse eigentlich ein Ziel sein, das man durch liberale und merkantilistische Reformen erreichen könne.

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Anspruch und Wirklichkeit Im zweiten Teil wenden wir uns Anspruch und Wirklichkeit der gebauten Umwelt zu.

Wie lässt sich eine sinnvolle analytische Typologie für das eigene Entwerfen oder für die Erarbeitung von Regelwerken entwickeln? Inwieweit sind bestehende regionalistische Programme und Vorschriften gangbare Wege? Inwieweit handelt es sich dabei um ideologische Irrwege, die man lieber verlassen sollte? Und welche Bedeutung hat der strukturelle Untergrund, also welche Rolle spielen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Architektur und Bauproduktion wesentlich mitbestimmen?

21 Dieses Begriffspaar ist im Gespräch mit Friedrich Achleitner entstanden, der die Begriffe aber etwas anders verwendet, „wobei das Auseinanderhalten beider Begriffe nie ganz gelingen will“, wie Achleitner meint. Und weiter: „Es versagt also auch hier, wie in allen kulturellen Belangen, das Reinheitsgebot, das nach meiner bescheidenen Meinung ohnehin nur mehr bei der Biererzeugung von Bedeutung ist. Vielleicht liegt der Erkenntniswert dieses Versuchs nur in der Polarisierung des Merkmals, im dualistischen Aufdröseln ein und derselben Sache. [...]

Das regionale Bauen ist eingebettet in die realen Bedingungen einer Region, ist unmittelbarer und weitgehend unreflektierter Ausdruck einer in sich geschlossenen Lebenswelt. Das heißt, es ergibt sich aus den tradierten Erfahrungen dieser Lebenswelt, es artikuliert sich in erprobten Haustypen im Zusammenhang mit einer oft über Jahrhunderte entwickelten Arbeits-, Produktions- und Wirtschaftsform; es ist abhängig vom Klima, [...] von der Struktur und Topographie der Landschaft, ihren Ressourcen, der Gunst und Ungunst ihrer Lage in einem größeren Beziehungsnetz.

Vielleicht noch bedeutender sind ethnisch-kulturelle Faktoren, Mythen oder religiöse Traditionen, überkommene Bilder, Symbole für Zugehörigkeit oder Herkunft.

Nicht zu übersehen: politische Grenzen, feudale Besitzverhältnisse [...] oder Grenzen, die von der Natur vorgegeben sind.“ Achleitner, 1997. S. 104

Stellen wir uns vor, es ist ein Haus zu bauen. Dann weiß man entweder ganz selbstverständlich, wie das zu tun ist, man fragt: Wie groß soll es sein? Und wenn es heißt für sechs Leute, dann ist klar, wie es aussehen wird. Oder wir sind Architekten und fangen an nachzudenken, wie man denn dieses Haus bauen soll. Wenn Sie hier an einer Uni sitzen und Architektur studieren, dann bedeutet das, die Naivität, wie es gehört, so wird es gemacht, diese Naivität ist vorbei. Und durch das fast unbegrenzte Angebot, das den Individualismus herausfordert, ist es heute für alle weniger selbstverständlich, wie etwas zu bauen ist. Damit sind wir schon mitten in der Debatte um regionales Bauen versus regionalistische Architektur.21 Regionales Bauen versus regionalistische Architektur Wir unterscheiden also zwei Dinge: regionales Bauen und regionalistisches Bauen. Regionales Bauen, das ist im Wesentlichen alles, was in der Region gebaut wird: Das heißt, wenn in Fischamend jemand eine Fertigteilgarage zu seinem Haus dazustellt, dann leistet er einen Beitrag zur regionalen Architektur, auch wenn das höchst banal sein kann. Ob Kreisverkehr, Lawinenverbauung oder Mistkübel, Sportplatzzaun, Telefonzelle oder Wasserbunker, jeder bauliche Eingriff ist Teil der regionalen Architektur.

Wenn jemand ebenfalls in Fischamend oder Gramatneusiedl oder sonstwo ein alpines Blockhaus errichten lässt, weil er das für ländlich hält, dann ist das bereits regionalistische Architektur, „-istisch“ heißt immer abgeleitet von etwas. Wir alle miteinander können oft gar nichts anderes tun, als regionalistische Architektur zu machen, weil wir eben nicht die Naivität haben, dass wir genau wüssten, dass eine Bauaufgabe so oder so zu machen ist und nicht anders, sondern wir denken nach. Eben zum Beispiel über den lokalen Kontext. Und wenn wir nachdenken, brauchen wir ein Programm.

Und die regionalistische Architektur hat immer ein Programm! Das geht überhaupt nicht anders. Dabei stellt sich häufig die Frage: Geht man wieder zurück zu den vermeintlichen Wurzeln? Baut man auf etwas Bestehendem auf?

Das heißt, wenn jemand eine Fertigteilgarage zu seinem Haus dazustellt, dann leistet er einen Beitrag zur regionalen Architektur, auch wenn das höchst banal sein kann.

Man muss irgendein Gestaltungsprogramm verfolgen, muss das Verhältnis zur Umwelt und zum Naturraum klären, muss sagen: Was will ich eigentlich von dem Raum? Was soll das können? Was ist mir wichtig bei der Bauerei?

Anspruch und Wirklichkeit 22 Über regionalistische Architektur schreibt Achleitner: „Es war charakteristisch für die bürgerliche Kultur und Vorstellungswelt, daß sie auf die Veränderungen der Landschaft durch Industrie und Verstädterung, die auch als Zerstörung alter Werte empfunden wurde, nicht mit einer Bekämpfung der Ursachen, sondern mit einer Kosmetik der Symptome reagierte. Natürlich stellte man nicht die ökonomische Veränderung des Landes, die Verstädterung der agrarischen Kulturlandschaft in Frage oder den Wandel der Wirtschaftsformen, sondern deren ästhische, baukulturelle Auswirkung. [...] Die Frage war also nicht, ob und wo eine Fabrik gebaut werden sollte, sondern wie sie auszusehen hätte.

Man begann mit der Erforschung ländlicher Bauformen, bodenständiger Typologien und versuchte sie in die neuen Bauaufgaben zu transformieren. Dieser Vorgang ist ein künstlerisch höchst anspruchsvoller und man muß es nicht extra betonen, daß die Versuche in der Mehrzahl scheiterten, das heißt, sie blieben im Bereich der Einkleidung stecken.“ Achleitner, 1997. S. 106

23 Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur.

Hamburg 1957; Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie und esoterische Kombinationskunst. Hamburg 1959 Ein besonders anschauliches Beispiel für das Verstehen des Unterschieds zwischen klassischer und manieristischer Tendenz ist die Typografie. Ein „L“ in einer klassischen Schrift ist sofort erkennbar, während man bei einer barocken Initiale oft nur noch aus den folgenden Buchstaben entnehmen kann, dass eigentlich ein „L“ damit gemeint ist.

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Was kann ich aus dem Historischen lernen? Kann ich davon etwas lernen?

Kann ich darin Denkarten erkennen? Und, wenn ja, mit welchen Denkarten kann ich etwas anfangen? Das heißt, Sie müssen, abgesehen von allen Vorschriften und Rahmenbedingungen, ein Gestaltungsprogramm finden und das führt dann beim Entwerfen den Stift. Ohne das geht es nicht, es ist effektiv nicht möglich. Und mein Anliegen ist in erster Linie, dass Sie dieses Gestaltungsprogramm bewusst und sinnvoll entwickeln. Nicht einfach aus dem Bauch heraus sagen, weil mir rund lieber ist als spitz, mach ich es jetzt rund. Das ist meist, auch wenn beim Entwerfen natürlich auch Intuition und Spontanität eine wichtige Rolle spielen, nicht so wahnsinnig gut.

Dabei kann uns eine analytische Typologie, dass heißt ein Abfragen nach gewissen Strukturelementen helfen, z. B. nach Geologie, lokalen Baumaterialien, Topografie oder auch Klimafaktoren wie Sonne und Wind, lokalen Konventionen usw. Je nach Kontext gehören dazu Typologien einer vormals oder noch immer bestehenden landwirtschaftlichen Nutzung oder anderer Funktionen. Und wenn Sie ein Haus bauen oder umbauen, dann haben Sie gedankliche Bausteine im Kopf, die ich eine synthetische Typologie nennen würde. Ich werde Ihnen ein paar Gedanken und Beispiele vorstellen, die dazu anregen können, selbst ein brauchbares Programm zu entwickeln oder sich zu fragen: Was habe ich für ein derartiges Programm im Kopf? Wie lässt sich die Ideengeschichte regionalistischer Programme nachzeichnen und nachvollziehen? Gibt es darunter gangbare Wege für das eigene Schaffen oder handelt es sich um ideologische Irrwege, die man lieber verlassen sollte?22 Ein Ansatz: Klassische Tendenz – manieristische Tendenz Eine Möglichkeit zum Erkennen und Verstehen der gestalteten Welt – daher auch eine Art Weltformel für das Verstehen von Architektur – ist, sie als eine Entwicklung zwischen zwei Polen zu sehen: Der eine Pol ist die klassische Tendenz, der andere die manieristische Tendenz, analog zu Gustav René Hockes Konzept von Kunst und Literatur.23 Nur als Einschub: Es wird ja heute mit dem Wort „klassisch“ ungeheures Schindluder getrieben, also der Löskaffee der übelsten Sorte heißt Classic, das ist der Ramsch, und der Nächstbessere ist dann der Premium. Mit dem Begriff klassisch können wir aber noch etwas ganz anderes verbinden, nämlich den Wunsch, die Dinge zu objektivieren. Die klassische Tendenz ist also die objektivierende Tendenz, während die manieristische eine subjektivierende Tendenz ist.

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Anspruch und Wirklichkeit

Die manieristische Nachbildung des berühmten LC2 von Corbusier in Beton von Stefan Zwicky – „grand confort, sans confort, dommage à Corbu“ wird auch als einer der unbequemsten Stühle der Welt bezeichnet.

Klarerweise ist die Entwicklung des griechischen Tempels, eben des klassischen griechischen Tempels, das beste Beispiel für erstere. Der Vergleich ist zwar unglaublich abgenützt, aber ich muss ihn trotzdem auch noch einmal ziehen. Wenn Sie an den Heraiontempel in Olympia aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. denken, bei dem der Echinus wie eine Palatschinke im Grunde genommen auf einer zu dünnen Säule draufliegt und der Architrav eigentlich so ausschaut, als würde er herunterkippen, wo also die Geschichte noch nicht reif ist, und wenn Sie im Vergleich dazu den Parthenon betrachten, kann man daraus schließen, dass die Leute über mehrere Jahrhunderte mit Minimalkorrekturen die Konstruktion verfeinert und verbessert haben.

Oder wenn Sie sich einen Fahrradrahmen anschauen, den sogenannten Dia-​ mantrahmen, der hat sich eigentlich bis zu den klassischen italienischen Rennrädern der 1970er- und 80er-Jahre im Wesentlichen unverändert gehalten, ist also mehr als 70 Jahre optimiert, verfeinert und an Eleganz nicht mehr überboten worden: Die Muffen sind mit Silberlot gelötet, damit der kalt vergütete Stahl nicht zu heiß wird. Außerdem gibt es an einer Stelle ein kleines Loch, in dem ein winzig kleiner Gummi steckt, ich habe lange nicht gewusst, wozu. Doch einmal, als ich das Rad hochnehme und der Lenker umkippt, habe ich gemerkt, dass es genau die Stelle ist, wo der Lenker den Lack abschlagen würde, wenn dort der kleine Gummi nicht wäre. Also sogar daran haben die gedacht! Das ist eine objektivierende Tendenz in der Gestaltung, man verbessert, man verbessert, man verbessert ...

Ein besonders anschauliches Beispiel für das Verstehen des Unterschieds zwischen klassischer und manieristischer Tendenz ist die Typografie, die Schrift. Stellen Sie sich ein L in klassischen, antiken Majuskeln vor und im Gegensatz dazu eine barocke Initiale, wo an allen Ecken und Enden noch ein Ringerl oder ein anderer dekorativer Unfug dazukommt bis zur fast völligen Unverständlichkeit, sodass man nur noch aus den folgenden Buchstaben entnehmen kann, dass eigentlich ein L damit gemeint ist. Das heißt, im Manierismus legt man nur geringen Wert auf Klarheit, es kann ruhig etwas im Dunkeln bleiben und eine ganze Reihe von Deutungen offen lassen. Die Eindeutigkeit ist den Manieristen eigentlich ein Gräuel, das ist banal und abgeschmackt, während die Eindeutigkeit, die Klarheit, die Kürze, das Weglassen von Überflüssigem für die klassische Tendenz das Um und Auf ist.

In der Rhetorik gibt es den Begriff der attischen Kürze. Der Sal Atticus (von

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24 Vgl.: Alfons Dworsky: Entwicklung und Typologie der Salzburger Bauerngehöfte. Dissertation, Technische Universität Wien 1984, S. 74ff Alfons Dworsky, Hartmut Schider (Hg.): Die Ehre Erbhof: Analyse einer jungen Tradition. Salzburg, Wien 1980 Das Feichtnergut (erbaut 1703), ein Mittertenn-Einhof bei Mattsee im Flachgau mit abgeschlepptem Dach als Stallerweiterung im Vergleich zu einem T-Hof aus dem späten 19. Jahrhundert in Matzing ebenfalls im Flachgau. Die Mittertenne ist noch in einer Kümmerform als schmaler Gang zwischen Wohnund Wirtschaftsteil erhalten geblieben.

Der T-Hof kam erst gemeinsam mit dem Ziegeldach auf, deren Ichsen (Kehlen) in Blech ausgeführt wurden, da Ichsen aus Holzschindeln eine sehr aufwändige Angelegenheit wären.

Zeichnungen: Links: Feichtnergut bei Mattsee: Adalbert Klaar (1934) Rechts: Wastlgut Matzing: Wolfgang Brenner, Sylvia Koitsanou, Karl König und Josef Sams im Rahmen der Studienarbeit „Sanierung Wastlgut“ (1973), II. Institut für Hochbau für Architekten und Entwerfen, TU Wien. (publiziert in: Dworsky, Schider, 1980, S. 185)

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lat. Sal = Salz) ist der kurze Witz, also ein knapper Witz, ohne viel Erzählen, ein Dreiwortwitz oder so irgendetwas, das ist der attische Witz und der asianische oder manieristische Witz, denken Sie an Kleinasien und Troja, ist die dunkle Rede, das Ausgeschmückte, das Überraschende, das noch nicht Dagewesene. Symbolfigur für die Manieristen oder die manieristische Tendenz ist der Dädalus, der große Erfinder. Das Subjektive, die Person – interessanterweise nennt man von Dädalus einen Namen – das heißt, die Einheit von Werk und Person ist ein typisches Konzept des Manierismus. Von den meisten klassischen Tempeln wissen wir oft gar nicht mehr, wer die Architekten waren, die sozusagen auf den Schultern der Vorgänger gestanden sind und den nächsten Verfeinerungsschritt gemacht haben. Da stellen sich die Schaffenden eigentlich sehr bescheiden in eine Reihe hinein. Während bei den Manieristen jeder oder jede ein unverwechselbares Einzelgenie sein will.

In der modernen Architektur und Urbanistik nennt man das Branding, also man muss sofort erkennen, von wem ein Entwurf stammt bzw. verlangt das Marketing nach Alleinstellungsmerkmalen.

Klassisch und manieristisch, diese beiden Tendenzen betreffen natürlich auch die Art und Weise, wie man ein Gestaltungsprogramm entwickeln und vorhandene baulich-räumliche Typologien weiterstricken könnte.

Transformationsprozesse Das Bestreben zur Optimierung kann leider auch in die Hose gehen, das möchte ich gar nicht bestreiten, wenn mit den gewandelten Anforderungen eine Typologie an ihre Grenzen gerät. Denken Sie zum Beispiel an alpine Einhöfe, wie den Mittertennhof, dessen Breite durch die Art der Dachkonstruktion bestimmt ist und der eben nur eine begrenzte Anzahl von Tieren zulässt.

In manchen Gegenden in Salzburg, z.B. im Flachgau im nördlichen Voralpenland, hat man aus solchen Höfen als Folge des viel größeren Viehbestands im 19. Jahrhundert oft T-Höfe gemacht. Man blieb typologisch noch beim alten Einhof mit Querdurchgang (Tenne) und dem bergseitig liegenden Stall, stellte aber das Wohnhaus quer dazu.24

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Hof in St. Margarethen im Burgenland mit jeweils von außen erschlossenen Drei- bis Vierraum-Einheiten. Die Feuerstelle befand sich in der Mitte, rechts und links davon die Wohnräume, im Dachgeschoß wurde Getreide gelagert.

Foto: Georg Kugler Wohnteil eines Streckhofs In: Alfons Dworsky: Reihe, Raster und Division. Wien 1986, S. 28

Das stand einer funktionalen Entwicklung des Stalls im Weg. Da hätte man sagen müssen: Die Entwicklung ist am Ende. Ich mach jetzt was Neues, ich mach jetzt beispielsweise einen Paarhof draus.

Insgesamt kann der Stallbau natürlich auch nur so vernünftig sein, wie die Landwirtschaft, die dahinter steht. Je besser ein Rind in die Landschaft passt, beispielsweise, was die Kälteempfindlichkeit betrifft, desto weniger aufwändig ist der Stall, um nur einen von vielen Aspekten zu nennen.

Stellen Sie sich als weiteres Beispiel eine burgenländische Hofgasse im pannonischen Klima vor, die aus mehreren hintereinandergereihten Drei- oder Vierraum-Einheiten besteht: Der Grundtyp ist eine Feuerstelle in der Mitte und rechts und links anschließend eine Kammer bzw. eine Stube mit nur wenigen Metern Raumtiefe. Wenn Sie jetzt einen Bauherren haben, der sagt, er hat ein schönes burgenländisches Haus mit einer Hofgasse, die vielleicht früher als Mehrparteienhof genutzt wurde, und er will jetzt eine Wohnung draus machen. Er will aber nicht nach draußen ins Freie gehen, um von einer Einheit in die nächste zu kommen. Oder es handelt sich um einen Arkadenhof und die Bauherren möchten aus demselben Grund die Arkaden verglasen oder Ähnliches. Wenn Sie ehrlich sind, sagen Sie: Liebe Leute, entweder Sie gewöhnen sich dran, dass Sie sommers wie winters von einer Dreiraumeinheit zur anderen durchs Freie gehen oder seien Sie bei Umbauten sehr vorsichtig! Aber machen Sie nicht in den kleinen Räumen irgendwelche Durchbrüche, sondern überlegen Sie es sich vorher sehr genau, denn sonst können Sie die Räume praktisch nicht mehr vernünftig einrichten! Und verglasen Sie bitte die Arkaden nicht, denn dann ist womöglich die ganze Bauphysik im Eimer und nichts funktioniert mehr! Das macht der Typ von Haus nicht mit.

Je genauer ich mich mit den baulichen Strukturen und ihren konstruktiven und funktionalen Zusammenhängen auseinandersetze, desto eher bekomme ich ein Gefühl für die systematischen Grenzen, sodass ich sagen kann: Mehr geht nicht! Aus! Schluss! Wenn du das nicht willst, verkauf das Haus!

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Regelwerke Beim Planen und Bauen spielt natürlich nicht nur die persönliche Haltung der Entwerfer und Bauherren eine Rolle, sondern es findet immer innerhalb eines Rahmens von Regelwerken statt. Die weitverbreitete Vorstellung, es handle sich bei historischen Siedlungen um ein „natürlich gewachsenes“ Dorf oder die „natürlich gewachsene“ Stadt, zu deren harmonischer Logik man wieder zurückkehren könne, wenn man nur beim Weiterbauen die dahinterliegenden vermeintlichen „Naturgesetze“ befolgte, ist über weite Strecken eine Illusion. Zur Schule des Sehens gehört neben dem Erkennen von konstruktiven und funktionalen Zusammenhängen auch das Wissen über dahinterliegende Regelwerke, Heirats- und Erbbräuche, Herrschaftsverhältnisse und Materialzugänge.

25 Alfons Dworsky: Land – Architektur. In: Bauen und Gestalten im ländlichen Raum. Berufungsvorträge 78/79 zur Neubesetzung des Institut für landwirtschaftliches Bauwesen und ländliches Siedlungswesen. Technische Universität Graz 1980, S. 33f

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„Die traditionelle Hausforschung stützt sich oft sehr einseitig auf die völkische und klimatische Interpretation der historischen Siedlungs- und Hausformen und vernachlässigt meist die legistische Komponente der Entwicklung. Die Geschichte der gestaltwirksamen Politik und Gesetzgebung ist aber für Architekten und Raumplaner bedeutsam; ohne deren Kenntnis gibt es kein Verständnis und keine Kritikkompetenz für die gegenwärtigen Gesetzes- und Verordnungswerke.“25 Bauvorschriften, Amtsplanungen und fiskalisch wirksame Eingriffe gibt es nicht erst seit den modernen Bauordnungen, der Wohnbauförderung oder diversen Strukturbereinigungsaktionen. Z. B. hat die Ottonische Siedlungspolitik des 10. und 11. Jahrhunderts das Angerdorf als verbindliches, neues Siedlungsmodell verordnet. Oder 1778 wurde unter Maria Theresia ein Dekret erlassen, nach dem Häuser „von schlechtem Zeug“, das heißt in traditioneller Bauweise, nur acht Jahre steuerfrei, jedoch „gut gebaute“, das heißt mit gebrannten Ziegeln oder Stein für die Mauern und Ziegeldach, 16 Jahre steuerfrei waren. Daher ist es wenig überraschend, dass in an sich holzreichen Gebieten im Wirkungsbereich dieses Dekrets, etwa im heutigen Niederösterreich, kaum Holzbauten aus dem späteren 18. und 19. Jahrhundert vorgefunden werden.26 Dazu kommt, dass in manchen Gegenden, insbesondere in Salzburg und Tirol, das Holz von den Grundherren in großen Mengen für andere Zwecke, etwa für Salinen und für die Eisenverhüttung verwendet wurde, und auch aus diesem Grund der lokalen Bevölkerung nicht als Baumaterial zur Verfügung stand.

Zur Schule des Sehens gehört neben dem Erkennen von konstruktiven und funktionalen Zusammenhängen auch das Wissen über dahinterliegende Regelwerke, Heirats- und Erbbräuche, Herrschaftsverhältnisse und Materialzugänge.

Wenn dann z. B. für das Waldviertel das Leben in eiskalten Steinhäusern als besonders traditionell, ortstypisch und ursprünglich gehalten wird, muss man sich im Klaren darüber sein, dass man mit einem Fortschreiben solcher Traditionen unter Umständen eher historische, obrigkeitliche Verbote hochhält, als aus Klima und Landschaft erklärbare Bauweisen.

Wer verstanden hat, warum etwas wie aussieht und welche Transformationsprozesse bereits stattgefunden haben, kann bestehende Verordnungen einer seriösen Kritik unterziehen und im Idealfall tragfähigere Gestaltungsprogramme für die absehbare Zukunft entwickeln, egal ob es sich um konkrete Bauvorhaben oder um die Entwicklung eines Reglements handelt.

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Ein besonders schönes Ensemble: Barocke Häuser in Dobschitz bei Budweis (Tschechien) mit Mauern und Dächern aus gebrannten Ziegeln.

Tendenza, verordneter Regionalismus, modern und doch warm Wenn wir uns die Haltungen und Herangehensweisen der Architekten der letzten Jahrzehnte ansehen, dann hat man den Eindruck, dass viele – ob verordnet oder nicht – bis in die Gegenwart einen moderaten Folkorismus vertreten, sie bauen Häuser in zeitgemäßem Standard und mit moderner Technik, aber mit Satteldach und dezenten ländlichen Motiven. Ernst Hiesmayr nannte das modern und doch warm – ein Satz, den er auch manchmal auf Hüte anwandte.

Ein anderer Weg war beispielsweise in der Schweiz – vor allem im Tessin in den 1960er-Jahren – die sogenannte Tendenza. Viele ihrer Vertreter, darunter Luigi Snozzi, Livio Vacchini, Aldo Rossi, Mario Botta, Ivano Gianola und andere haben sich intensiv mit dem Bauen in den Bergen beschäftigt.

Ihre Argumentation, die man ebenfalls als regionalistisch deuten könnte, war nicht selten: Die Leute haben früher so gut gebaut, wie sie konnten und sie mussten dazu händisch gespaltenen Stein verwenden, wir können das auch und wir nehmen dazu Beton. Die skulpturale Festigkeit dieser Häuser kommt in hohem Maße von der Gleichsetzung von Stein und Beton.

Ebenfalls eine Entwicklung der 1960er-Jahre ist der verordnete Regionalismus. Das heißt, in der Zeit nach dem sogenannten Wiederaufbau wurden speziell in Österreich, aber auch in Deutschland und zum Teil auch in Frankreich und anderen Ländern regionale Bauformen in das Baureglement aufgenommen. Über Entwürfe für Krankenhaus- oder Hotelneubauten insbesondere im Alpenraum, die wie aufgeblasene Bauernhäuser ausssahen, hieß es dann: Das entspricht der regionalen, traditionellen Architektur, weil der Baukörper in zwei Zonen geteilt ist – einen massiven Sockelbereich und einen hölzernen Dachbereich – und die Dachneigung von 26 Grad entspricht dem alpinen Satteldach. In Wahrheit handelte es sich um einen mehrgeschoßigen Massivbau mit einer Holzfassade in den oberen Geschoßen. Und damit war das ein genehmigungsfähiges Projekt und etwas anderes wäre gar nicht gegangen.

Und dieser verordnete Regionalismus, der bis in die Gegenwart hinein wirkt, entsprach der Vorstellung von „Ländlichkeit“, die man damals in fast egal welcher Bauaufgabe am Land als angemessen ansah.

Beziehung zum Außenraum und Inszenierung der Landschaft Die viel interessantere Frage, wie man denn eigentlich mit der Innen-​ Außen-Beziehung umgeht, diese sozusagen Naturverbundenheit von Architektur, die sich beim Entwerfen im ländlichen Kontext oft stellt, wurde nur von wenigen aufgegriffen. In meiner Studienzeit – ich habe ja 1962 begonnen an

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der Technik in Wien zu studieren – da fand diese Auseinandersetzung und die moderne Architektur im Allgemeinen für uns vor allem in Skandinavien und Finnland statt, nicht in Wien. Damals hat man gesagt: Die finnische Architektur, die hat soviel mit Natur zu tun!

Um nur ein Beispiel zu nennen, nehmen wir die Kapelle am Campus in Otaniemi aus den 1950er-Jahren: Man geht da durch einen Hain um eine Kurve herum und kommt in einen Hof hinein. Da steht die Kapelle umgeben von Bäumen und draußen davor steht in der Wiese das Kreuz. Und die Konstruktion ist eigentlich ein 1:1 übernommener Systembau, der für die Landwirtschaft vorgesehen war. Die Architekten Kaija und Heikki Sirén hatten sehr wenig Budget für diese Kapelle, also die evangelische Studentengemeinde hatte sehr wenig Geld, und die Siréns haben gesagt: Ok, wenn das so ist, dann kriegen wir das auch hin. Wir kaufen eine Fertighalle, die an sich als Futterlager gedacht ist, und machen daraus eine Kirche mit einem ganz einfachen Terracotta-Boden und einer Unterflurkonvektor-Heizung und das Nobelste sind die mit Windprofilen ausgesteiften großen Fensterscheiben hinaus in den Hof. Und im Hof, dort steht eigentlich das Kreuz. Um diese Kirche gab es einen langen Disput, weil Leute gesagt haben: Also bitte, das ist keine christliche Kirche, das ist ein heidnischer Hain. Und die Siréns haben vermutlich geantwortet: Bitte, wenn ihr den Christus gefragt hättet, dem wäre ein Platz im Freien auch lieb gewesen, er hätte sicherlich gar nichts dagegen gehabt.

Und wenn man da so durchgeht durch diesen ganz unspektakulären Wald und dann im Herumgehen den Wald noch einmal sieht, im Grunde genommen nichts anderes, nur steht das Kreuz auf der Lichtung, dann ist das schon ein sehr, sehr starker Eindruck. Und der ist nicht mit irgendwelchen baulichen Mitteln gemacht, sondern einfach dadurch, dass die Architektur den Freiraum zeigt und veredelt. Und das ist ein überaus interessantes Motiv!

Studenten-Kapelle in Otaniemi von Kaija und Heikki Sirén (geplant: 1954-1957)

Innen-Außen-Beziehung im Robie House in Chicago von Frank Lloyd Wright, errichtet 1910

Es ist vergleichbar mit dem sehr häufig als Musterbeispiel für das Bauen in den Bergen gebrachten Haus Settari von Lois Welzenbacher in Bad Dreikirchen in Südtirol aus den 1920er-Jahren. Weil es in den Bergen etwas kühler als im Hauptwohnsitz in Bozen ist, nur als Sommerhaus für die Familie geplant, ist es relativ klein. Was Sie in der Literatur darüber immer wieder lesen können, die expressive Form des Dachs würde das Gebirge imitieren, ist mir eigentlich egal. Ich finde das auch gar nicht so aufregend und sogar ein bisschen kitschig. Aber, wenn Sie das Haus im Grundriss anschauen: Man geht in einer Kurve an den beiden Fenstern vorbei hinein, über einen Vorraum kommt man in einen Wohnraum und weiter über eine Treppe kommt man zu dem Zimmer mit dem berühmten Balkon. Das ist das Schlafzimmer.

(Erinnern Sie sich, was ich Ihnen über Frank Lloyd Wright erzählt habe, der im Robie-Haus am Stadtrand von Chicago das Schlafzimmer unten auf einen kurz gefassten Grünraum blickend angeordnet hat, während das Wohnzimmer den Blick damals noch in die Prärie hatte).

Lois Welzenbacher hat sich bei den Settaris nach ihren Gewohnheiten erkundigt, die sagten, wenn sie im Sommer in dem Haus sind, wollen sie die Fen-

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27 Sigrid Hauser: Idee, Skizze, ... Foto: zu Werk und Arbeitsweise Lois Welzenbachers. Wien 1990

Blickbeziehungen Haus Settari von Lois Welzenbacher in Bad Dreikirchen Südtirol, erbaut 1922/23

ster offen haben und lang schlafen. Das Bett ist so aufgestellt, dass man im Liegen hinaussieht – ich bin nicht drin gelegen, aber ich konnte das einmal besichtigen. Es muss ein Traum sein! Man liegt im Bett und schaut so über die aufgestellten Füße in die Dolomiten hinüber und da geht die Sonne auf.

Phantastisch! Das heißt, dieses Haus dient der Inszenierung der Aussicht.

Das hat man bei einem Bauernhaus, einem traditionellen überhaupt nie. Aber bei vielen Häusern von Lois Welzenbacher kann man sehen: Wie in einem Film folgt ein Bild nach dem anderen, mit einer Steigerung zum Maximalblick entwickeln sich die Ausblicke aus dem Haus in die Landschaft. Darüber, über Lois Welzenbacher und sein Verhältnis zur Fotografie, hat Sigrid Hauser eine hochinteressante Dissertation geschrieben.27 Es war die Zeit der Schwarz-Weiß-Fotografie mit Kameras, die auf Stativ aufgebaut waren, also sehr statische Aufnahmen, die auf Schwarz-Weiß-Kontraste und auf Strukturen aus waren. Das war damals sehr modern. Und Welzenbacher war ein begeisterter Fotograf und hat auch das Filmen sehr geschätzt. Er hat seine Häuser sorgfältigst fotografiert, ohne Einrichtung, leer. Er wollte Raum, Licht, Struktur. Denn er war der Meinung, dass die Leute mit ihren Möbeln die Räume nur verderben. Wenn Sie das fotografisch sehen, sind die Häuser eine Inszenierung des Außenraumes. Jeder Blick aus einem Fenster ist komponiert, der nächste Blick, der nächste Blick, der nächste Blick: Ins Bett legen, schlafen, aufwachen! Wow! Die Welzenbacherschen Häuser verfolgen die Idee, Landschaft zu zeigen, indem die Fenster so gesetzt sind, dass man eine Steigerung des Landschaftseindrucks hat – eine logische Fortsetzung eines ganz normalen Hausbaus.

Einen geradezu manieristisch übersteigerten Willen zur Betonung des Landschaftseindrucks findet man bei zahlreichen zeitgenössischen Bauten, die in einer imposanten Umgebung errichtet worden sind, oder auch bei Landart-Projekten, wo beispielsweise auf einem Feld ein Rahmen aufgestellt wird.

Man meint, ich müsse da diesen Rahmen haben, um zu sehen, dass das eine tolle Landschaft ist, als könnte ich das ohne den Rahmen nicht sehen. Ähnlich geht es mir mit manchen Beispielen von „Branding-Architektur“, die Gletscher, Schnee, Berge und Bäume thematisieren. Meiner Meinung nach kann man aber mit dem tollsten Bauwerk, auch wenn es noch so weiß ist und wenn es noch so leuchtet, niemals mit dem Schnee der Nordkette konkurrieren. Das geht einfach nicht. Der Schnee wird immer viel, viel stärker sein.

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Schopf in einem Hof im Bregenzerwald mit in den Sommermonaten hochgeklappter Fensterwand Foto: Ernst Hiesmayr, erschienen in: Ernst Hiesmayr: Eine neue Tradition. 240 Jahre Handwerker- und Gewerbezunft Egg-Großdorf. Dornbirn 1995, S. 23

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Die japanischen Architekten, die angesichts des Fuji gebaut haben, haben nie versucht, baulich einen kleinen Fuji zu machen. Eine kleine, gerade Kiste und dahinter Fuji-san, das ist was Tolles! Kleiner Fuji, goßer Fuji ist was Lächerliches, hm. Tiefste Ideologie, aber das ist meine Meinung.

Mir wäre nur sympathisch, wenn Sie sich selbst eine Meinung bilden würden und wenn Sie selbst etwas entwerfen, ein durchdachtes, argumentierbares Konzept dafür entwickeln, warum etwas geht und andere Sachen nicht.

Links: Vorsäß im Bregenzerwald mit dem sogenannten Schopf, einer Veranda an der Traufseite Rechts: Heimgut im Bregenzerwald als Einhof mit Wohnteil und Schopf, Tenne und Stall

Dorferneuerung und Partizipation Die Fähigkeit, Zusammenhänge sehen zu lernen und dann auch argumentieren und vermitteln zu können, ist insbesondere wichtig für jede Planungsarbeit in Gemeinden, sei es als Mitglied eines Gestaltungsbeirats, in Studien für kommunale oder regionale Projekte, in der Dorferneuerung und in allen Planungen mit partizipativem Ansatz. Die Dorferneuerung war in ihren Anfängen in den 1970er- und 80er-Jahren stark mit Erwachsenbildung verbunden, es ging um konfliktorientierte Gemeinwesenarbeit und keineswegs um Behübschung. Da spielten, ausgehend von den Forderungen 1968, Fragen der Selbstermächtigung eine Rolle, antiautoritäre Konzepte und Kritik

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an abgehobenem Expertentum. Und auch unter den Architekten begann man, das eigene Berufsbild in Frage zu stellen. Die Arbeit in Gruppen und interdisziplinären Teams gewann an Bedeutung und es gab ein gesteigertes Interesse an den Architekturen des Alltags. Letzteres hatte sicher auch mit der rasant fortschreitenden Modernisierung zu tun, die selbst die hintersten Täler erfasste und die viele mit Bedauern betrachteten.

Zeichnungen aus der Dokumentation des Projekts Wienau, das 1977 Teil der Initiative „Planquadrat ländlicher Raum“ war. Damals war die Ortsdurchfahrt des Dorfes im nördlichen Mühlviertel noch eine Lehmstraße, die Häuser hatten keinen Kanalanschluss.

28 Detailliert nachzulesen in: Alfons Dworsky: Animation, eine Strategie zur Verbesserung der Gestaltqualität in der besiedelten Kulturlandschaft. In: Zeitschrift Raumordnung aktuell, Nr. 2/1977, Wien 1977, S. 17-22 Alfons Dworsky: Werkstattbericht Wienau. In: Zeitschrift Erwachsenenbildung in Österreich, Nr. 11-12/1979. Wien 1979, S. 693-701 Alfons Dworsky: Modell Wienau.

Architektur und Gemeinwesenarbeit. In: Gemeinwesenarbeit und Erwachsenenbildung. Österreichisches Institut für Erwachsenenbildung. Salzburg 1980, S. 40-53 Alfons Dworsky: Dorferneuerung – eine Strategie gegen Landschaftszersiedelung. Historische Aspekte und die Visionen vom neuen Dorf. In: Österreichisches Institut für Baubiologie (Hg.): Tagungsband St. Wolfgang, 1986, S. 143-148 Publiziert in: Alfons Dworsky: Gesammelte Publikationen zum ländlichen Bauwesen. Habilitationsschrift TU Wien 1989

Eine meiner ersten Erfahrungen mit Partizipation war 1977 die Mitarbeit am „Planquadrat ländlicher Raum“, einem Projekt der Filmemacher Helmut Voitl und Elisabeth Guggenberger in Kooperation mit dem ORF. In Wienau, einem von fünf für die Sendung ausgewählten Dörfern im Grenzgebiet zwischen Mühlviertel und Waldviertel, warteten die Dorfbewohner seit Jahren auf die Asphaltierung ihrer Ortsdurchfahrt durch die Abteilung Güterwegebau. Von der „Urigkeit“ des Dorfs beeindruckt, von dem Straßenbauvorhaben aber eher beunruhigt, animierten die Filmemacher die Bevölkerung dazu, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, allerdings mit professioneller Hilfe durch unser Institut.28

Für die Arbeit vor Ort nahm ich so viele Studenten mit, wie in ein Auto passten, wir machten photogrammetrische Vermessungen und als wichtigste Diskussionsgrundlage wurde innerhalb von einer Nacht ein Modell der gesamten Straße und der angrenzenden Höfe im Maßstab 1:200 gebaut. Eine unbeabsichtigte Nebenwirkung der Intensität der Arbeit, die durch die Präsenz des Filmteams noch verstärkt wurde, war, dass das weitverbreite Vorurteil, dass alle Studenten faule Kerls wären, die bis Mittag schlafen, schnell aus dem Weg geräumt war. Interessanterweise kamen die Studenten alle aus ländlichen Gegenden und ich, als kaum älterer Assistent, war eigentlich die einzige „Kaffeehauspflanze“ aus der Stadt.

In groben Zügen konnten wir die Siedlungsgeschichte und Struktur des Ortes vermitteln, ein Spätrodungsgebiet aus dem 13. oder 14. Jahrhundert mit um einen schmalen Anger angelegten Dreiseithöfen und Hausäckern, die sich als lange Streifenfluren bis in den Wald fortsetzen. Besonderes Interesse weckten die kleinen Stein- und Grasterrassen, auf denen die Häuser standen und die vermutlich zum ältesten baulichen Bestand gehörten. Im Straßenprojekt war vorgesehen, sie abzuböschen, durch Blumenvorgärten zu ersetzen und die Straße annähernd geradlinig zu führen. Die Bäuerinnen sahen an dieser Lösung allerdings schon die Kühe ihre Blumen zertrampeln. So kamen wir in den Diskussionen am Modell von einer Frage zur nächsten, vom Kanal auf den Hausumbau und über die Siloabwässer zu agrartechnologischen Fragen, sodass einer am Schluss meinte, er hätte nie gedacht, dass man wegen

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300 Metern Straße seine gesamte Zukunft überlegen müsse. Von unseren Beispielentwürfen wurde zwar im Endeffekt nichts umgesetzt, aber solche Projekte waren wichtige Impulse und Experimentierfelder darin, wie man an Planungsaufgaben herangehen kann. Und die Ausstrahlung im österreichischen Fernsehen machten solche Ansätze auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

Bauen in den Alpen mit Fokus auf den lokalen Kontext Links: Durchwegung des REKA-Feriendorfs in Urnäsch (Appenzell Ausserrhoden), geplant von Roland Gnaiger, Helmut Dietrich und Much Untertrifaller, fertiggestellt 2007 Foto: Bruno Klomfar Rechts: Telefonzelle entworfen von Gion Caminada in Vrin, Graubünden

29 Vgl.: Tobias G. Natter, Ute Pfanner (Hg.): Architectura practica – Barockbaumeister und moderne Bauschule aus Vorarlberg. Bregenz 2006

Landschaft und lokaler Kontext In der jüngsten Vergangenheit finden wir wichtige Impulse für ein qualitätsvolles Bauen mit Bezug zur Landschaft vor allem in den alpinen Regionen, insbesondere in Graubünden, Südtirol und Vorarlberg.

Die Graubündner Moderne mit Gion Caminada, Bearth und Desplazes oder Peter Zumthor mit der Therme in Vals als bekanntestem Beispiel, hat eine vertiefte und erweiterte Lektüre der Landschaft in die Architektur gebracht, die den lokalen Kontext in den Vordergrund rückt. Und es gibt bekanntlich auch so etwas wie das Vorarlberger Architekturwunder mit Hermann Kaufmann, Helmut Dietrich, Much Untertrifaller, Dietmar Eberle oder Roland Gnaiger als erster Generation von Baukünstlern, die interessanterweise zum Großteil in Wien studiert haben, einige bei Roland Rainer, etliche davon auch bei uns, wobei ich unter uns das alte Hochbauinstitut von Ernst Hiesmayr meine. Wir waren nicht im Hauptgebäude, sondern hatten eine Exklave in der Gußhausstraße. Und, wer weiß, vielleicht unter anderem weil der Ernst Hiesmayr mit Tiroler Akzent gesprochen hat und auch Vorarlbergisch gut verstanden hat, haben sich die heimwehkranken Westösterreicher bei uns gesammelt. Der Hermann Kaufmann, Sohn einer Zimmermannsfamilie aus Reuthe im Bregenzerwald, hat sich fast den ganzen Tag bei uns am Institut aufgehalten. Und in unserem Zeichensaal hat man sozusagen in der Diaspora ein Konzept für das neue Vorarlberg entwickelt.

Jetzt stellt sich die Frage: Steckt hinter dem „Vorarlberger Architekturwunder“ auch eine Art regionalistisches Programm? Und wenn ja, welches?

Wesentlich war die Abwendung von allem Dekorativem und Folkloristischem, aber eine neue Wertschätzung des einfachen und minimalistischen Bauens mit Holz. Viele Vorarlberger Holzbauten und die Bregenzerwälderhäuser im Besonderen waren mindestens seit der Barockzeit zimmermannsmäßig auf einem sehr hohen Standard. Davon zeugen etwa die „Auer Lehrgänge“ – ein zweibändiges Werk zur Weiterbildung der Handwerker mit Anleitungen, Musterzeichnungen und Bauplänen.29 Mittlere und größere Höfe wurden nicht von den Bauern selbst gebaut, sondern von Zimmerleuten und zwar von

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Das REKA-Feriendorf befindet sich auf einem Hanggrundstück östlich des Bahnhofs von Urnäsch und wird im Süden von der Appenzellerstraße begrenzt.

Foto: Bruno Klomfar

Ausformung je nach späterer Verwendung in Scharfschnitt, Riftschnitt oder Radialschnitt

hochprofessionellen Zimmerleuten in einer sehr hohen Ausführungsqualität.

Diese Höfe haben ganz bestimmte Grundrisskonfigurationen mit Wohntrakt, Wirtschaftstrakt und Tenne und dazu gehört auch der sogenannte Schopf, eine Art Veranda, als ganz wesentliches Element. Und der Hermann Kaufmann und andere haben gesagt: Schopf muss einfach sein, das gehört dazu, das gehört sich einfach, dass man so etwas hat. Und Dinge, die wir heutzutage nicht mehr brauchen, die machen wir halt nicht. Und es lag den Leuten fern, in irgendeiner Weise heimattümelnd-folkloristisch zu argumentieren, sondern man hat sich bemüht, senkrecht und grad das zu planen und zu bauen, was man für richtig gehalten hat.

Zu meinen Lieblingsprojekten gehört die REKA-Siedlung von Roland Gnaiger, Helmut Dietrich und Much Untertrifaller in Urnäsch im Kanton Appenzell Ausserrhoden, also nur einen Katzensprung von Vorarlberg entfernt. Ich war damals in der Jury für den Europäischen Dorferneuerungspreis, da wurde auch Urnäsch eingereicht und wir haben das Feriendorf besichtigt, als es ganz neu in Betrieb war. Und ich habe sehr dafür plädiert, der Gemeinde aufgrund des Projekts den ersten Preis zu geben. Zum einen finde ich darin ganz klar umgesetzt, wie man in den Bergen bauen sollte: Man fährt hangparallel in der Horizontalen und man geht zu Fuß in der Falllinie und daraus ergibt sich eine Struktur. Der Roland Gnaiger hat mir später gesagt, dass er nie daran gedacht hätte, das überhaupt als eigenes Qualitätsmerkmal zu erwähnen, weil das für ihn selbstverständlich sei. Bei der Juryreise hat mir der Gemeindepräsident damals erzählt, dass während der Umwidmung, für die ein Bürgerentscheid notwendig war, Roland Gnaiger das Projekt das erste Mal öffentlich vorgestellt hat. Als die Gemeindebürger die Kisten mit Flachdach im Modell gesehen haben, waren viele eigentlich ziemlich enttäuscht: Solche Schuhschachteln, das mögen sie eigentlich nicht und sie haben sich schon ein bisschen was Appenzellerisches gedacht. Das waren zum Teil Leute, die aus diesen prachtvollen, mit Schnitzereien verzierten Appenzeller-Häusern kamen. Und angeblich hat der Roland sie mit einem Trick auf seine Seite gebracht und gesagt: Ja, wenn ich da ein Steildach drüber mach, dann ist eure Aussicht weg.

Und dann fanden sie es eigentlich ganz gut und es ist so durchgegangen.

Diese Architektur fängt im Grunde genommen im Wald an: Das Material für diese Häuser ist fast zur Gänze aus dem Gemeindewald gekommen. Aus Beton ist nur die Sockelzone, also was zum Boden gehört, wurde betoniert, ansonsten bestehen die Bauten fast zur Gänze aus Holz. Es waren nicht nur die Transportwege extrem kurz, sondern man hat das Holz auch rechtzeitig

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ausgesucht. Dann kommt es auch darauf an, auf welche Art die Stämme im Sägewerk ausgeformt werden: Ausformen nennt man die Art, einen Stamm in verwertbare Teile zu schneiden. Wenn man sie im sogenannten Riftschnitt schneidet, ist das zwar etwas komplizierter als in der heute meist üblichen Weise, dafür bekommen Sie Hölzer, die sich wesentlich weniger verformen, weil die Jahresringe annähernd rechtwinklig zur Oberfläche verlaufen.

Für das REKA-Feriendorf in Urnäsch hat man sowohl das Konstruktionsholz als auch das Holz für die Böden, für Innenausbau und Einrichtung aus heimischem Holz von ausgesuchten Bäumen hergestellt. Für die Konstruktion ist keinerlei Leimung verwendet worden. Und die Fußböden sind unbehandeltes, geschliffenes Tannenholz, das vollkommen ohne Versiegelung auskommt! Stehendes Holz aus dem Rift geschnitten, da gibt’s keinen Span, da kannst du die Kinder ohne Probleme mit nassen Füßen herumrennen lassen.

Natürlich waren die Leute besorgt, dass der Boden mit der Zeit schmutzig wird. Doch selbst das ursprünglich sehr skeptische Reinigungspersonal ist heute vollkommen überzeugt. Und nachdem das Holz so dick ist, könnte man es auch einfach abschleifen und es ist wieder neu.

Und jetzt, wo es gebaut wurde, begreifen die Leute auch die Qualitäten in ihrer Gesamtheit. Die ganze Geschichte des Projekts wäre sehr interessant, die Art, wie es zustande gekommen ist, wie es finanziert worden ist, wie es gebaut worden ist, all das zusammen ist meiner Meinung nach die richtige Herangehensweise, wie man aus einer regionalen Ressource heraus neue Architektur machen kann.

Neue Wohnbauten in Krumbach im Bregenzerwald (Architektur: Hermann Kaufmann, 2010) Foto: Georg Herder/LandLuft

Und wenn ich das jetzt abschließe und noch einmal zurückgehe zu der Frage regionale versus regionalistische Architektur und zum Versuch, die Ideengeschichte nachzuzeichnen, von den Urhüttenideen über die Aufklärung bis zu Nationalromantik und Blut-und-Boden-Ideologie, von der skulpturalen Architektur der Tendenza bis zum Folklorismus und dergleichen. Dann sind wir wieder bei sehr elementaren Gedanken und Themen, die wir heute Nachhaltigkeit nennen würden: Welchen Raum brauche ich wirklich? Wo nehme ich das Material her? Was passiert damit?

Impressum

Alfons Dworsky, Judith Leitner Überlegungen zum Bauen am Land Landschaft Lesen Heft 2 Herausgeber: LandLuft – Verein zur Förderung von Baukultur in ländlichen Räumen Judith Leitner, Doris Gugler, Roland Gruber Grafikkonzept: grafisches Büro, Wien Layout und Satz: Judith Leitner wissenschaftliche Mitarbeit: Friedrich Hauer Lektorat: Doris Gugler Druck: Druckerei Becvar, 1150 Wien ISBN: 978-3-9504600-1-8 dworsky.landluft.at © LandLuft 2019 www.landluft.at

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Das Projekt Landschaft Lesen wird zum Teil über Crowdfunding finanziert. Wir bedanken uns an dieser Stelle bei allen, die uns bereits unterstützt haben und freuen uns über alle, die sich noch anschließen wollen.

AH3 architekten, Karl Amtmann, Architekturfachgeschäft – Richard Steger, Architekturfrühling Haslach, architekturbüro arkade zt gmbh – Josef Schütz, Architektur Haus Kärnten, Uli Böker, Alfons Dworsky, Barbara Feller, Tobias Hanig, Wolfgang Hochmeister, Kunstuniversität Linz, Land Steiermark, Ludwig Leitner, MAGK architektur, Josef Mathis, Michael Pelzer, nonconform, Erich Raith, Karin Raith, Regionalmanagement Südweststeiermark, Bernhard Rihl, Clemens Schedler, Schneider & Lengauer Architekten ZT GmbH, Weinbau Lang Neckenmarkt

Die längste Zeit hat man sich für die Bau- und Alltagskultur der ländlichen Bevölkerung nur sehr beschränkt und aus einer sehr eingeengten Perspektive heraus interessiert. Oft handelt sich um einen verklärten und gleichzeitig auch herablassenden Blick einer privilegierten und urbanen Schicht auf das einfache Leben auf dem Land.

Und gerade eine leichte Krisensituation in einer städtischen Zivilisation kann zur komplementären Vorstellung führen, dass das Landleben das Gesunde und das Richtige sei und dass es besser sei, sich aufs Land zurückzuziehen.

ISBN: 978-3-9504600-1-8